Die Herzen aller Mädchen. Bettina Bolls fünfter Fall - Monika Geier - E-Book

Die Herzen aller Mädchen. Bettina Bolls fünfter Fall E-Book

Monika Geier

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Beschreibung

Gregor Krampe, Literatur-Experte, hat für Medienrummel wenig übrig. Als Talkshowgast vor laufender Kamera mit dem angeblichen Vorleben seines Vaters konfrontiert zu werden, entspricht so gar nicht seiner Vorstellung von seriöser Unterhaltung. Aber seriös war sein Vater ja noch nie ... Kriminalkommissarin Bettina Boll ist bloß eine Halbtagskraft mit zwei Kindern. Doch da kommt unverhofft ihre große Chance: Die Einsatzleiterin des BKA will sie bei einer Aufsehen erregenden Ermittlung dabeihaben. Es geht um ein geheimnisvolles Buch – und einen Mordversuch. Verdächtigt wird der Sohn des Opfers, ein melancholischer Kettenraucher, den Bettina aus dem Fernsehen kennt. Sie soll ihn anzapfen, aber der Kerl interessiert sich nur für staubige alte Wälzer. Seltsam ist allerdings, dass ihn anscheinend noch jemand beschattet. Was steckt wirklich hinter all der Aufregung um eine Ausgabe mittelalterlicher Psalmen? »Sprachlich raffiniert, exakt dosiert witzig, toll geplottet: Monika Geier ist eine versierte Stilistin und hierzulande eine der Besten des Geschäfts.« Ulrich Noller, Deutsche Welle

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Seitenzahl: 504

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Über das Buch

Gregor Krampe, Literatur-Experte, hat für Medienrummel wenig übrig. Als Talkshowgast vor laufender Kamera mit dem angeblichen Vorleben seines Vaters konfrontiert zu werden, entspricht so gar nicht seiner Vorstellung von seriöser Unterhaltung. Aber seriös war sein Vater ja noch nie ...

Kriminalkommissarin Bettina Boll ist bloß eine Halbtagskraft mit zwei Kindern. Doch da kommt unverhofft ihre große Chance: Die Einsatzleiterin des BKA will sie bei einer Aufsehen erregenden Ermittlung dabeihaben. Es geht um ein geheimnisvolles Buch – und einen Mordversuch. Verdächtigt wird der Sohn des Opfers, ein melancholischer Kettenraucher, den Bettina aus dem Fernsehen kennt. Sie soll ihn anzapfen, aber der Kerl interessiert sich nur für staubige alte Wälzer. Seltsam ist allerdings, dass ihn anscheinend noch jemand beschattet. Was steckt wirklich hinter all der Aufregung um eine Ausgabe mittelalterlicher Psalmen?

»Sprachlich raffiniert, exakt dosiert witzig, toll geplottet: Monika Geier ist eine versierte Stilistin und hierzulande eine der Besten des Geschäfts.« Ulrich Noller, Deutsche Welle

Über die Autorin

Monika Geier

Die Herzen aller Mädchen

Bettina Bolls fünfter Fall

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2017

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Printausgabe: © Argument Verlag 2008

Lektorat: Ulrike Wand

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: April 2017

ISBN 978-3-95988-081-7

Noch nie wurde ein Mädchen von einem Buch verführt.

Eins

Janine stiefelte auf Pfennigabsätzen voraus, sie passte, fand Gregor, überhaupt nicht zu ihrem Namen, bei Janine dachte er spontan an geföhnte Locken und orangefarbenen Lippenstift. Diese junge Frau jedoch trug einen strengen Zopf, so voll Gel, dass man kaum die Haarfarbe erkennen konnte. Irgendwie halbdunkel, genau wie ihre sorgfältig bemalten Lippen. Und der schmale Rücken direkt vor Gregor war in etwas gestärktes Weißes gehüllt, darüber hauchdünne grüne Wolle, das musste der letzte Schrei sein, sonst wäre es kaum so hässlich. Aber falls man ihr Haar löste und sich all die spitzen Accessoires wegdachte ... Fräulein, nehmen Sie doch eben mal die Brille ab –

Sie öffnete, unverändert bebrillt, eine Glastür zu einem Raum voller Ledersofas. »Hier sind wir ungestört. – Bitte.« Sie ließ ihm den Vortritt und wartete, bis er sich setzte, ein selbstsicheres modernes Dienstmädchen. Dann nahm sie ihm gegenüber Platz und wurde zur Gastgeberin. »Hatten Sie denn eine gute Reise?«

Gregor bewunderte die ausgefeilte Körpersprache der jungen Frau. Alles an ihr signalisierte Interesse. Sie saß leicht nach vorn gebeugt und musterte ihn mit offenem Blick. Klar, sagten ihre Augen hinter der Brille, ich bin abgestellt zum Smalltalk mit dir, aber in der Sendung wird es nicht anders, wir machen dich hier schon ein bisschen warm. Außerdem – sie klemmte sich noch die letzten freien Härchen hinters Ohr – bist du spannend, ganz ehrlich.

Er bejahte einsilbig, nur um zu sehen, was sie sich als Nächstes einfallen lassen würde.

»Vielleicht brauchen Sie vor der Sendung noch etwas Ruhe?«, fragte Janine sofort verständnisvoll. »Soll ich uns noch einen Kaffee bringen lassen? Oder was anderes? Saft?«

»Nein«, antwortete Gregor, »ich möchte einfach nur hier sitzen.« Er lächelte. Janine war seine Sklavin für heute Abend.

»Kommen Sie mit mir, ich werde mich bis zur Sendung um Sie kümmern«, hatte sie am Eingang zu ihm gesagt, »Sie können mich alles fragen.« – »Alles?« Er brauchte noch eine Frau für die Nacht. »Alles.«

Nun ließ sie sich ein wenig zurücksinken in die schwarzen Polster, die glänzten wie Sitze in einem Taxi, und lächelte Gregor zum ersten Mal zu. Mit dem Lächeln, merkte er, war Janine sparsam, zuvor hatte sie hauptsächlich aufmerksam ausgesehen. Jetzt wirkte sie unter der vielen Schminke fast ein wenig schalkhaft. »Wir sind alle wahnsinnig gespannt auf Ihre Begegnung«, erklärte sie mit einem ganz neuen Ton in der Stimme. »Die Redaktion findet es bemerkenswert, dass Sie gekommen sind, wo wir doch Anna Oberhuber eingeladen haben. Das ist groß. Toll, dass Sie keine Angst wegen dem Niveau haben, aber die Leute, die sich deswegen Sorgen machen, sind meistens die Ersten, die sich ausziehen.« ... lassen, klang in Janines ironischem Tonfall mit. Sie blickte spöttisch, die Farbe ihrer Augen war hinter den Gläsern und unter dem heftig braun schattierten Augen-Make-up kaum auszumachen. »Na, jedenfalls freuen wir uns riesig auf die Sendung. Es wird hochinteressant, da wette ich.« Sie lehnte sich zurück und wartete auf seine Reaktion.

Anna Oberhuber. Gregor starrte seine selbstbewusste Sklavin an. Leichtes Boulevardprogramm, hatte der Redakteur im Vorgespräch gesagt, wir plaudern ein wenig über Ihren Vater und sein Werk, für Bildungsbürger, versteht sich, immerhin sind wir öffentlich-rechtlich und Sie kennen unsere Sendung ja. Es wird nett. Ein bisschen Studiopublikum, Caféhausatmosphäre, wenn es sein muss, dürfen Sie rauchen. Und Ihr Leben als Wissenschaftler interessiert uns natürlich auch. Wir werden Ihr Buch vorstellen – von Ovid, nicht? Dieser Fund, eine bibliografische Sensation, ein richtiger Schatz, und dann noch mit ungewisser Herkunft, das ist schon spannend. Aber vielleicht lesen Sie uns auch eine Stelle aus den Aufzeichnungen Ihres Vaters, da haben Sie doch auch Sachen, eben was Persönliches, das lieben die Leute. Außer Ihnen werden wir noch sechs weitere Gäste haben, die Liste faxen wir gleich morgen, falls Sie das möchten.

Von einer hochinteressanten Gegenüberstellung mit einer Fremden war nie die Rede gewesen. Die bewusste Liste war für Gregor nur eine Reihe Namen mit Berufsbezeichnung. Eine Schauspielerin, eine Tänzerin, ein Mitglied der Brave Bloodhounds, wer immer das war, ein Sternekoch aus dem Osten, ein Sportreporter, eine Wahrsagerin und er selbst, Sohn des bekannten Abenteuerromanautors Georg Krampe, Semiprominenz eben, sonst wäre gerade er kaum eingeladen worden.

»Anna Oberhuber, ist das die Wahrsagerin? Sollte ich sie kennen?«

»Hahaha«, lachte Janine und ihre Brillengläser funkelten. »Sie sind ja richtig gut.«

Auch als Anna Oberhuber ihm auf dem Gang gegenüberstand, selbst als sie ihm einen tiefen Blick schenkte und anschließend unerwartet zwei Küsse auf die Wangen knallte, blieb sie für Gregor eine Fremde. Diese Frau kannte er nicht, bestimmt nicht, an die hätte er sich erinnert. Sie war eine vitale Erscheinung, groß, braungebrannt, mit dickem gelblichem Haar und hellen blauen Augen. Auf dem Kopf trug sie eine völlig unpassende Mütze, ein ballonförmiges Etwas aus Leder mit einem komischen kleinen Schirm vorne und einer dunklen Bommel ganz oben, sicher aus Menschenhaut. Und sie war ohne das geringste Zögern auf ihn zugekommen. »Der kleine Grregor!«, hatte sie mit leichtem fränkischem Rollen in der Stimme gerufen und seine Hände gepackt, vielleicht um zu fühlen, ob er schon fett genug war.

»Guten Abend.« Rasch entzog Gregor der Dame seine Finger. Eigenartig, wie genau anscheinend jeder hier wusste, wer er war.

Und nicht nur das: »Ich kenne Ihrren Vater gut«, sprach Frau Oberhuber nun.

»Er ist seit über zwei Jahren tot«, entgegnete Gregor.

Oberhuber seufzte. »Aber er ist immer interressant geblieben.«

»Stimmt, ein paar Leser hat er noch.« Gregor überlegte. Unter den vielen erstaunlichen Bekanntschaften des Abenteuerromanautors Georg Krampe konnte leicht eine blonde bayerische Wahrsagerin gewesen sein. Andererseits hatte sein Vater biografische Aufzeichnungen hinterlassen, die Gregor fast Wort für Wort kannte. Anna Oberhuber kam darin nicht vor. »Er hat nie von Ihnen erzählt.«

Sie lächelte nur mitleidig. »Dafür umso mehr von Ihnen. Sie sind sein ganzer Stolz, Grregor, wissen Sie das?«

Gregor starrte die Frau an und merkte, wie Wut in ihm aufstieg. Was sie sagte, war absurd – und perfide. Georg Krampe hatte sich um sein einziges Kind kaum gekümmert. Damit hatte Gregor inzwischen abgeschlossen, soweit das eben ging, und es war auch kein großes Geheimnis. Jeder einigermaßen Interessierte konnte das aus den überlieferten Berichten der Skandalpresse um Georg Krampes allzu glanzvolles Leben schließen. Nichts Neues, sagte Gregor sich trotzig. Nichts Neues. Trotzdem fühlte er sich plötzlich wehrlos.

»Darf ich fragen, woher Sie ihn kannten? Mein Vater hat Wahrsager gehasst. Er hielt sie für Scharlatane.«

Das entlockte Oberhuber ein winziges, überlegenes Lächeln. Sie faltete die Hände, legte sie unters Kinn und bohrte ihren Blick in seinen. Kühle, hypnotische Augen hatte sie, auf deren Grund etwas stand, das Gregor nicht fassen konnte, Gier vielleicht. Oder Besessenheit. Jedenfalls keine Spur von Ironie, was die Situation wenigstens einigermaßen erträglich gemacht hätte. »Zwei Seelen, die sich begegnen«, antwortete sie sanft, und hätte ebenso das Hexeneinmaleins aufsagen können, » zwei Schiffe, die in der Nacht aneinander vorrüberziehen, zwei Einsame –«

Janine, die neben Gregor stand und lächelte, zupfte ihn unauffällig am Ärmel und deutete auf den Bühneneingang.

»Ich glaube, es geht los«, unterbrach Gregor seine neue Bekanntschaft und wandte sich den Lichtern zu.

Es war Abend, die Kinder schliefen nebenan. Nein, eigentlich war es Nacht, die Dunkelheit hing seit vielen Stunden über der Stadt, oder seit Tagen. Wenn nicht schon Wochen und Monaten. Kriminalkommissarin Bettina Boll konnte sich kaum erinnern, wie die Sonne aussah. Draußen war es nur noch kalt. Und hier drin, ja –

Hier war es unerträglich. Dabei gab es eigentlich nichts auszusetzen an Barbas Wohnung. Sie war groß, Altbau, liebevoll eingerichtet und nicht mal übermäßig niedlich. Was im Übrigen viel gnädiger gewesen wäre, denn eine Kitschausstattung hätte Bettina leichten Herzens weggeworfen, aber da waren keine Kunstblumen oder Salzteighühner, mit denen man den Müllsack hätte füllen können. Nichts Reales zum Zerschmeißen, nichts Schweres zum Wegtragen, nichts Buntes, von dem sie sich sowieso befreien wollte. Im Grunde war es eine gute Wohnung, das war das Schlimme. Es gab eine bequeme Couch, eine große Küche, vergessene Lichterketten und Weihnachtskugeln über der Palme, die traditionell als Christbaum herhielt, zwei Filmposter, Wände in warmen Farben und im Wohnzimmer über der Anrichte Barbas große alte Italienkarte, ihr Schatz. Nichts störte, außer die Unordnung vielleicht, und es fehlte auch nichts: Das Weiß war weiß in dieser Wohnung, das Blau im Bad schattig, die Kaffeemaschine italienisch und das Wachstuch auf dem Küchentisch sah aus wie ein Original aus den Fünfzigern. Doch all das Echte und Persönliche vermisste umso schmerzlicher seine Besitzerin. Barbara. Ihre Schwester Barbara, Mutter von Enno und Sammy.

Sie zündete sich eine Zigarette an. Barbara war tot, und Bettina hatte ihre Wohnung übernommen, den Kindern zuliebe. Damit die ihre Heimat behielten. Das war eine leichte Entscheidung gewesen, fast eine Selbstverständlichkeit, aus ganz praktischen Gründen: Bettinas alte Wohnung wäre sowieso zu klein für drei, so hatte sie auch den größeren Umzug gespart, ihr eigener Hausrat moderte nur selten vermisst in einem Lagerraum in Mundenheim.

Bettina war es plötzlich viel zu eng, raus, dachte sie und öffnete die Wohnungstür, aus dem ungefegten Treppenhaus zog es ihr feucht entgegen. Sie klemmte einen Schuh in den Türrahmen und setzte sich draußen auf die kalte Treppe, ohne Licht zu machen. Dann paffte sie und beobachtete die Glut, wie sie sich ins graue Zigarettenpapier fraß. Spontan hielt sie das glimmende Lichtlein von sich fort, wie um einen Heckenschützen um einen lächerlichen halben Meter zu täuschen. Und fröstelte. Sie wusste, dass sie umräumen musste, ausmisten, andere Bilder aufhängen, ihre eigene Musik hören, neue Kleidung und eigenes Geschirr besorgen. Aber wie sie es machen sollte, das wusste sie nicht. Sie hatte kein Italien, kein gelobtes Land. Ihre alten CDs hörten sich fad an gegen Barbas extravagante Sammlung. Sie kannte kein Bild, das sie aufhängen wollte, kein Buch, das sie berauschte. Sie hatte nichts. Aber alles in der Wohnung wegschmeißen und nicht ersetzen, das konnte sie auch nicht. Sie hielt es nicht aus, dieses viele Leben, das noch in den Räumen hing.

Sie hielt es nicht aus.

Die Zigarette verschmorte am Filter, die Kälte kroch aus der Treppe in Bettinas Beine. Sie musste wieder rein, sonst würde sie krank. Weiterleben. Fernsehen.

Gregor Krampe, einziger Sohn des gefeierten Enfant terrible Georg Krampe, saß unter den Lichtern in der Runde illustrer Gäste, die er allesamt nicht kannte, und betrachtete Anna Oberhuber, Wahrsagerin, mutmaßliche Fränkin und Unruhestifterin. Links von ihm sprach eine unglaublich junge Tänzerin geziemend blasiert über ihre kürzlich gemachten Erfahrungen mit Polanski. Der war sogar Gregor ein Begriff, Tanz der Vampire gab es jetzt auch als Musical. Bei der Gelegenheit dämmerte ihm, dass er nicht allein als Platzhalter hier saß. Womöglich hatte man sie alle eingeladen, um den Glanz eines jeweils Größeren zu beschwören. Die Kleine neben ihm war Polanski, der Junge ohne Nachnamen (»Sebastian«) aus der Bloodhound-Boygroup stand vermutlich für irgendeinen mächtigen Musikproduzenten, der Sportreporter hatte unlängst eine DVD über den FC Bayern herausgebracht und der Koch bei Witzigmann gelernt. Er selbst war der Einfachheit halber direkt als »Sohn von« vorgestellt worden.

Wen aber vertrat Anna Oberhuber? Auch seinen Vater? Das wäre der Ehre ja fast zu viel. Wie alt sie wohl war? Sie sah so freiluftgestählt aus. Fünfundvierzig? Um die fünfzig? Nicht ganz die Generation Georg Krampes, aber sie war eine Frau. Eine Geliebte? Wie mochte sie ausgesehen haben vor zwanzig, dreißig Jahren? Er konnte es sich nicht vorstellen. Nicht mit dieser Mütze, die ihr schönes, aber faltiges Gesicht entstellte. Und diesen hellen Augen. Wie hätte sein Vater sie beschrieben? Er versuchte, sich an alte Spitznamen zu erinnern, eine Bibi fiel ihm ein, eine Becky und eine Socks. Bibi kannte er, Becky war tot. Socks? Nein, entschied Gregor, Socks war in seiner Vorstellung eine dürre, elegante Frau, aschblond, in englischen Tweed gehüllt, vielleicht etwas zu große Zähne und auf jeden Fall lautes Lachen. Wenn diese Gebirgsbäuerin Socks war, dann war Großbritannien auch nur eine Erfindung der Filmindustrie.

Er blickte in die kühlen Augen Anna Oberhubers und merkte, dass sie es genoss, von ihm beobachtet zu werden. Man hatte sie ihm direkt gegenüber platziert, getrennt nur durch Herrn Kachelmacher, einen der Moderatoren, um sie alle drei bequem mit einer einzigen Kamera abfilmen zu können, vermutlich. Ihre Interviews waren aufeinander folgend geplant, ziemlich am Ende der Sendung, aber nicht ganz zum Schluss, »der beste Platz«, hatte Janine Gregor noch zugeflüstert, bevor sie ihn in die Arena aus Lampen und Kameras entließ. Das hieß, sie wollten eine Auseinandersetzung. Showtime. Und er fühlte sich seltsamerweise fast entspannt. Ob dies das Erbe seines Vaters war, das nun, nach fast zwanzig Jahren hochseriöser wissenschaftlicher Germanistenkarriere, unerwartet durchbrach? War ihm das mitgegeben worden, die Lust am glamourösen Auftritt, am spontanen Kampf vor Publikum, am besten Platz?

Und wieso eigentlich nicht?, dachte er, während er sich eine Zigarette anzündete, die Beine übereinanderschlug und dann fast lächelnd in seinen bequemen Sessel zurücksank.

Es lag schon eine gewisse Komik darin, dass man ausgerechnet ihn unter falschem Vorwand hergelockt hatte.

Als der Bote mit der Pizza endgültig überfällig war, überlegte Bettina, den Fernseher auszumachen oder zumindest umzuschalten, denn der Sternekoch, der jetzt das Wort hatte, vergrößerte erstens allein durch seine Profession ihren wütenden Hunger und kapierte zweitens das Prinzip der Sendung nicht. Mehrfach war er aufgefordert worden, seine Lehrzeit beim großen Witzigmann zu schildern, stattdessen sprach er lieber über sich selbst. Was Bettina sogar sympathisch gefunden hätte, wäre sein Thema nicht die Menschenführung. Die hatte er noch vorm Mauerfall im Osten gelernt, war eben doch nicht alles schlecht gewesen, Kochen war sowieso Diktatur, die Küche ein Bild der Welt und strenge Hierarchie allgemein vonnöten. Bettina hatte den Finger schon am »Aus«-Knopf, da schwenkte die Kamera auf einen Gast, der ihr zuvor bereits aufgefallen war, wieso, war ihr nicht genau klar. Weil er so eine eigenartige Spannung ausstrahlte? Der Mann war schmal, aschblond und gepflegt, fast zu sehr, er lehnte gelöst in seinem Sessel, rauchte aber unablässig. Er mochte um die vierzig sein, oder aber, dachte Bettina, er war viel jünger und spielte das mittlere Alter nur. Irgendetwas störte an seiner Erscheinung. Da war so ein hintergründiger Ernst in seinem Gesicht, als wüsste er als Einziger, dass unter dem Sessel des Moderators eine Bombe lag.

Jetzt klingelte es an der Tür und Bettina erhob sich, um ihr Essen in Empfang zu nehmen, und als sie schließlich alles bezahlt und ausgepackt und vor sich auf dem Wohnzimmertisch aufgebaut hatte, da war über den Koch alles gesagt und der ernste Mann saß voll im Bild, jetzt rauchte er nicht mehr, sondern hörte stirnrunzelnd einer blonden Dame zu, die mit großem Körpereinsatz redete und ihre Hände ab und zu auf die ihrer Nachbarn legte. »Er war ein wunderbarrer Mann«, sagte sie nachdrücklich. »Ich hab ihm alles zu verdanken.«

Bettina biss in ein Stück ihrer Pizza Mare Nordico, eine große rosa Krabbe kullerte hinab, es tropfte an allen Seiten, Fett, viel geiles Fett, sie hatte immer noch einen Kloß im Hals, doch das Fett half. Geschmolzener Käse und Remoulade und lauwarmer Lachs waren gut für die Verfassung, wieso hatte sie das früher nicht bemerkt? Statt Tränen ließ sie sich nun den tröstlichen Saft über die Finger laufen und kaute kräftig und spülte mit viel Wein nach und hörte die unglaubliche Geschichte des mutigen Georg Krampe, Autor von schlechthin allen verfilmten deutschsprachigen Spionageromanen der Nachkriegszeit, hatte sie von dem nicht sogar irgendwo ein Werk im Regal stehen? (»Jeder hat des.«) Von der schwärmerischen bayerischen Dame auf der Mattscheibe erfuhr sie nun, dass die Bücher nicht nur erfolgreich, sondern in gewissem Sinne auch alle, alle wahr! waren, das war weniger bekannt, aber Georg war ein wirklicher und sehr bescheidener Held, der sich nur zuweilen hatte hinsetzen und seine eigene spannende Jugend aufschreiben müssen und der seinerzeit ein deutsches Kind vor einem entsetzlichen Tod in einem italienischen Gewässer und Schlimmerrem! bewahrt hatte, indem er es kurz darauf noch aus einer hochbrisanten geheimdienstlichen Verwicklung rettete, die den mutigen Autor über mehrere grundsätzlich unpassierbare Grenzen in den Osten und wieder zurückbrachte. »Und wenn er des net getan hätte«, schloss die Dame strahlend, »wärren all seine wunderbarren Bücher nie geschrrieben worrden.«

Worauf sich in der Runde Misstrauen breitmachte. Große Begeisterung erntete die Blonde nicht, auch wenn sie so volkstümlich hübsch und von gesunder Hautfarbe war. Bettina goss sich Wein nach und betrachtete den wesentlich blasseren Raucher, der immer noch zurückgelehnt saß. »Mein Vater«, antwortete er kühl, »war nie hinter dem Eisernen Vorhang.«

Aha, dachte Bettina und erwischte mit dem nächsten Bissen zwei Krabben auf einmal. Showtime.

»Sie sprechen jetzt natürlich mit dem Spezialisten, gnädige Frau«, erklärte Moderator Kachelmacher der Dame schadenfroh, Anna Oberhuber hieß sie, eben wurde ihr Name eingeblendet. »Gregor Krampe ist der Sohn des Autors und, nebenbei bemerkt, promovierter Germanist und Wissenschaftler. Er arbeitet als Sprecher der Medea-Gruppe, eines literaturwissenschaftlichen Forschungsprojekts, das sich mit einem sensationellen Fund aus dem Mittelalter beschäftigt. Darüber hinaus ist er aber auch für die sogenannte schöne Literatur tätig, denn als Nachlassverwalter Georg Krampes hat er nach dem Tod seines Vaters dessen fast vollendete Autobiografie herausgebracht. Ist vor anderthalb Jahren erschienen.« Kachelmacher hielt das fragliche Werk in die Kamera, es sah schon etwas abgegriffen aus, war aber immer noch schwarz und edel, vorne drauf saß der alte Krampe, intelligent blickend. Im Dunkeln hieß es.

Krampe junior nahm seine Zigaretten. Er klopfte auf das Päckchen, exakt ein Glimmstängel schaute heraus, den pickte er mit spitzen Fingern auf. »Eins stimmt schon«, gestand er mit schmalem Lächeln. »Das Italophile. Papa liebte die italienische Adria. Urlaube in Rimini. Die Fahrt über den Brenner, Zelten am Strand, Spaghetti und Chianti, Tanzen unter Lichterketten, das ganze Programm. Er entsprach dem Zeitgeist. Vielleicht prägte er ihn auch.« Er paffte, es hatte etwas Verschämtes, obwohl der Typ sonst kein bisschen schüchtern wirkte. »Alle rannten ihm nach an die Strände der Emilia-Romagna, und alle phantasierten mit ihm von Spionen im Osten. Aber er ist nie östlicher als Westberlin gekommen. Wie die meisten seiner Leser.«

Es gab Geraune im Publikum. Dieser Ton kam nicht allzu gut an. Blasiert tat Krampe, als merke er das nicht, aber die eifrige Eleganz, mit der er sein silbernes Feuerzeug anknipste, verriet Anspannung. Seinen rauchigen Atem blies er Richtung Oberhuber. »Der Held meines Vaters, Johnny Montes, ist eine Kunstfigur. Die Montes-Romane sind nur Unterhaltung.« Er blickte die blonde Frau so ernst an, dass es fast unverschämt war.

Oberhuber jedoch vergab ihm. Ihre Miene war freundlich, überlegen, als hätte sie diesen Spott erwartet. »Tun Sie Ihrrem Vater da net Unrrecht?«, sprach sie. »Und auch all seinen Lesern und Leserrinnen? Verachten Sie ihn vielleicht so ein bisschen?«

Krampes Hand mit der Zigarette verharrte kurz vor seinem Mund. »Wie kommen Sie denn darauf?«

»Na, nur Unterhaltung – sagen Sie als Gerrmanist. Des klingt net sehr frreundlich. Und des stimmt auch net. Ihr Vater war ein Held.«

»Ich schätze das Werk meines Vaters sehr. Mit der Biografie habe ich sogar ein Buch darüber veröffentlicht. Und davon abgesehen finde ich es ehrenhafter, Unterhaltung zu machen, als ein Held zu sein. Unterhaltung dient wenigstens einem vernünftigen Zweck. Helden dagegen sind fast immer Monster.«

Das Publikum war anderer Meinung. Man sah es an den zweifelnden Mienen.

»Nein«, schloss sich Oberhuber an, ihr Lächeln einem leichten Schock opfernd. »Sagen Sie des fei net. Nennen Sie net Ihrren lieben Vater ein Monster!«

Krampe hob die Achseln und inhalierte Rauch.

»Frau Oberhuber«, mischte sich nun Kachelmacher ein, »sind Sie sich denn hundertprozentig sicher, dass Sie von Georg Krampe, dem Autor, sprechen?«

»Ja.«

»Er hat ...«, Kachelmacher nahm kurz einen Stapel Karteikarten zur Hand, »im Ernst diese Vierjährige aus dem Tyrrhenischen Meer gezogen? Und ist dann mit ihr nach Rumänien gereist? Ganz in echd?« Er imitierte ihren fränkischen Dialekt. Die Leute kicherten angespannt.

»Ja.« Energischer konnte höchstens noch ein öffentliches Heiratsversprechen klingen.

»Haben Sie auch einen Beweis?«

Ein Beweis. Gregor begann sich zu langweilen. Oberhuber zu widerlegen wäre das Leichteste, aber völlig nutzlos, denn natürlich hatte die Frau ihr Ziel bereits erreicht, es gab immer Willige, die wahllos glaubten, was über die Mattscheibe flimmerte, selbst wenn es sich um amerikanische Kriegsberichterstattung oder spontane Selbstverbiegung von Kaffeelöffeln handelte. Dass der Name genannt wurde, allein darauf kam es an. Dass es unterhaltsam war. Dass es irgendeine Verbindung gab zu dem, was man anschließend verkaufen wollte. Wenn Gregor recht sah, lag auch vor Oberhuber ein Buch, das Kachelmacher demnächst hochhalten würde. Und sicher nahm sie Klienten, oder wie immer man das in ihrem Gewerbe nannte. Gregors Groll über all das hielt sich jedoch in Grenzen, was er als erstaunlich und angenehm empfand. Er ärgerte sich nicht, jedenfalls nicht übermäßig. Im Gegenteil, fast amüsierte ihn die absurde Situation, zumal es nicht sein Name oder sein Held waren, die hier ausgeschlachtet wurden. Für Johnny Montes würde sich Gregor nicht prügeln, im Leben nicht. Da waren sie wirklich an den Falschen geraten, an den einzigen Montes-Hasser im ganzen Land. Sicher, der Typ war ein Mythos, ein deutscher Bond, ein Winnetou, Allgemeingut, aber für Gregor gerade darum stets Konkurrent und Ärgernis. Nicht, dass er das Werk seines Vaters verachtet hätte. Oder ihn gar für ein Monster hielt. Aber der alte Krampe war seit zwei Jahren tot, und er war ein schlechter Vater gewesen. Plötzlich empfand Gregor es als große Entlastung, hier zu sitzen und sich einmal ganz öffentlich frei zu fühlen. Nicht getroffen, wie noch vor der Sendung. Nicht verantwortlich. Ein selbstbestimmtes Leben zu haben. Und einen eigenen Plan.

Als eingeblendet wurde, dass die blonde Bayerin mit der Mütze Wahrsagerin sei, kämpfte Bettina eben mit einem mächtigen Stück Lachs. Es rutschte von der Pizza, sie pflückte es vom Karton, schob es in den Mund und betrachtete dann die Blonde genauer. Irgendetwas stimmte mit der nicht, das war klar. Sie sah verkleidet aus, erkannte Bettina nach kurzem Nachdenken. Sie war nicht das, wofür sie sich ausgab. Sie spielte eine Rolle. Doch welche? Die einer Wahrsagerin? Einer Fränkin? Wozu so etwas spielen?

»Wenn mein Vater über wirkliche Erlebnisse geschrieben hätte, wäre sein Erfolg sicher nicht so überwältigend gewesen«, sagte Krampe junior gerade. »Die Wahrheit ist oft unbefriedigend.« Er lächelte Oberhuber quer über den Bildschirm zu, und Bettina merkte plötzlich, dass sie zurücklächelte. Als sei sie gemeint. »Aber das kennen Sie sicher auch aus Ihrem eigenen Beruf.« Krampe grinste charmant und das Publikum schlug sich wieder auf seine Seite. Man lachte.

»Des ist kein norrmaler Berruf«, antwortete Oberhuber friedlich. »Es wirrd einem gegeben.«

»Von wem?«, fragte Kachelmacher.

Oberhuber sandte einen bescheidenen Blick gen Decke. »Von da. Des ist ein Prrivileg, und auch eine Bürrde. Lerrnen kann man es net.«

»Ach«, machte Kachelmacher scheinheilig. »So wird man Wahrsagerin? Man weiß alles, obwohl man nichts gelernt hat?«

Lacher.

Oberhuber faltete ihre kräftigen Hände und erklärte sanft, ihre Interessen seien alles andere als finanzielle, sie diene der Allgemeinheit und ausgewählten Persönlichkeiten, die sie brauchten, et cetera, und ihr salbungsvoller Ton ermüdete Bettina. Zumal die Dame nun ihre siebzehnstündigen Arbeitstage zur Sprache brachte. Fleiß war nun mal nicht unterhaltsam. Jetzt beugte sich auch noch der hübsche Krampe zur Seite und verschwand halb aus dem Bild. Bettina wünschte, sie wäre die Kamera und könnte ihm folgen und zuhören. Ihn einfangen.

Gregor zündete sich noch eine Zigarette an und lächelte dann probehalber seiner Nachbarin zur Linken zu, der jungen Polanski-Schauspielerin. Argwöhnisch lächelte sie zurück. Immerhin. Sie war eine anmutige Frau mit einer hohen Stirn und sehr dunklen Augen, die aussah wie eine mittelalterliche Madonna. Für Polanski hatte sie eine Nonne gespielt, was ihr sicher nicht schwergefallen war. Jetzt trug sie viel Glitzerschmuck, der nicht zu ihr passte. Sie blickte sehnsüchtig auf seine Zigaretten.

»Glauben Sie an Wahrsagerei?«, fragte er halblaut.

Sie zuckte die Achseln und zupfte an ihrer Strasskette herum.

»Möchten Sie Ihre Zukunft wissen?«

»Ich verstehe nicht mal meine Gegenwart«, flüsterte sie gesenkten Kopfes.

Gregor schob ihr in einer Welle von Zuneigung die Zigaretten rüber.

»Ich höre gerade auf«, erklärte sie düster.

Er öffnete einladend den Deckel.

Sie blickte Gregor misstrauisch in die Augen. Er zwinkerte, so wie sein Vater ihm ganz selten zugezwinkert hatte, leicht nur, fast unmerklich. Da nahm sie eine. Galant beugte er sich rüber, um ihr Feuer zu geben. Sie roch sehr gut. Wahrscheinlich rauchte sie wirklich nicht viel. Und er hatte sie nun verführt, Vater sei Dank.

»... schäkert derweil mit den Damen. Herr Krampe!«, störte Kachelmacher.

»Bitte.« Gregor setzte sich aufrechter hin und grinste in die Kamera. »Ich bin sicher, Frau Oberhuber hat ein faszinierendes Leben, entschuldigen Sie, dass ich einen Moment unaufmerksam war.«

»Ich muss Sie um Verzeihung bitten«, sagte Oberhuber knapp an Gregor vorbei Richtung Publikum, »dass ich Sie net eher über den wunderbarren Kontakt zu Ihrrem Vater aufgeklärrt hab. Sie hätten ihn vielleicht viel zu frragen gehabt.« Hier hob sie wieder den Blick zur Decke.

Gregor war irritiert, weil ihn alle so gespannt anstarrten. Nun hatte er es tatsächlich geschafft, genau in dem Moment, da Oberhuber nach allem Geschwafel endlich mit ihrem Anliegen rausrückte, unaufmerksam zu sein.

»Oh Grregor.« Sie beugte sich vor und streckte die Hand nach ihm aus, dass er unwillkürlich in seinen Sessel zurückwich, was ihm wieder ein paar Lacher einbrachte. »Er wollte es nicht.«

Nun kapierte Gregor gar nichts mehr. »Wer wollte was nicht?«

»Ihr Vater«, antwortete Kachelmacher trocken. »Mit Ihnen reden. Von dort oben.« Nun hob auch er den Blick, leicht übertrieben, was im Publikum Gelächter auslöste. »Während er Frau Oberhuber sein neuestes Buch, wie soll ich sagen –«

»Diktierrte«, erklärte sie fest. »Er hat es mir Worrt für Worrt eingegeben.«

»Diktierte«, wiederholte Kachelmacher mit ergebener Geste, aber sensationslüsternem Funkeln im Auge. Und Oberhuber nahm von ihrer Seite des Tischs ein Buch, das ebenso schwarz aussah wie Im Dunkeln, das auch groß und dick und gebunden war, nur prangte auf dessen Einband nicht das Gesicht von Gregors Vater. Sondern sein Name. Georg Krampe stand da in großen roten Lettern. Und darunter, nur unwesentlich kleiner: Angelina: Johnny Montes’ erste Mission.

Zu Hause vor ihrem Fernseher ließ Bettina die Reste ihrer Pizza sinken und blickte gebannt Krampe junior an, der nun in Großaufnahme gezeigt wurde. Sein hübsches Gesicht zeigte in kurzer Folge lauter verschiedene Ausdrücke, es war wie ein Glücksrad, man fragte sich, wo es stehen bleiben würde. »Verstehe ich das richtig?«, brachte er schließlich heraus. »Mein Vater, den ich vor zwei Jahren persönlich zu Grabe getragen habe, hat Ihnen kürzlich ein Buch eingegeben? Aus dem«, er blickte sich suchend um, »Jenseits? Ja? Und Sie haben das jetzt unter seinem Namen veröffentlicht?!«

Sofort war auch Oberhuber wieder mit im Bild. »Na, ich musste den Namen zumindest erwähnen«, bestätigte sie sichtlich befriedigt, ihr Sprüchlein war gesagt, ihr Produkt ins Bild gehalten, nun durfte sie sich zu ihrer Unverschämtheit beglückwünschen lassen.

Krampe hingegen kämpfte mit sich, man sah es. Er atmete durch, dann nahm er mit zitternden Fingern die nächste Zigarette aus seinem Päckchen und zündete sie an. Während der ganzen Zeit war die Kamera auf ihn gerichtet, das Publikum blieb mucksmäuschenstill.

Er zog und stieß hörbar den Rauch aus. Seine Augen waren Schlitze. »Warum?«, fragte er.

Die blonde Fränkin lächelte nur. Gregor blickte sich um, die anderen Talkgäste schauten weg, direkt neben ihm stand ein Kameramann, der hektisch sein Gerät justierte, das Publikum hinter den hellen Lichtern wartete gespannt auf Fortsetzung.

Das Publikum wartet auf Fortsetzung. Gregor schwieg, um nicht zu schreien.

Kachelmacher indessen blätterte lässig in Johnny Montes’ erster Mission. »Was werden Sie jetzt unternehmen?«, fragte er im Plauderton. »Immerhin steht der Name Ihres Vaters vorne drauf.«

»Morrgen ist es überrall im Handel erhältlich«, ergänzte Oberhuber eifrig Richtung Kamera.

»In Esoterikläden, Hexenzirkeln ...«, witzelte Kachelmacher.

»In Buchhandlungen«, korrigierte die Autorin. »Ganz norrmalen Buchhandlungen. Überrall. Neunzehn Eurro fünfzig.«

Gregor musste sich an der Sessellehne festhalten. Mama, dachte er. Hallo, Mama. Wenn du da draußen bist und zuschaust, dann mach den Fernseher aus. Schau dir das bloß nicht an. Es war jetzt eindreiviertel Jahre her, da hatte Gregors Mutter wider besseres Wissen das Erbe seines Vaters angetreten. Seitdem wohnte sie allein in dem großen kalten Haus und zahlte Schulden ab. Von Georg Krampes Dasein war nichts geblieben außer Tagebüchern, Verbindlichkeiten und den ärgerlichen Briefen gewisser Damen. Sogar heute brachte die Post zuweilen noch welche, und Gregors Mutter regte sich jedes Mal auf. Immer wieder ließ sie sich verletzen. Sie hatte es nicht fertiggebracht, das Erbe einfach auszuschlagen, so wie Gregor seinen Teil, dafür war sie zu unvernünftig. Sentimental. Sie hoffte nicht mal auf ein Wunder wie eine Neuverfilmung oder ein verschollenes Manuskript, das endlich Geld bringen würde, sie wollte einfach nur die Habseligkeiten ihres Mannes behalten. Und jetzt das.

Kachelmacher redete unterdessen munter weiter, verteilte seinen Spott gerecht auf beide Seiten, sprach über Urheberrechte und die Option des Einstampfens, dann fragte er die Wahrsagerin übers Channeln aus.

»Na, ich hab es von Georrg empfangen«, antwortete Oberhuber geheimnisvoll, was Kachelmacher mit einem ungeheuer durchtriebenen Blick quittierte. Die blonde Autorin zwinkerte, erstmals verlegen. »Des war Magie. Kontakt pur«, sprach sie trotzig. »Wie, wie –«

»Wie Tanzen?«, schlug Kachelmacher unschuldig vor.

»Nein, mehr wie –«

»Sex?«

Und in dem Augenblick fragte sich Gregor, was Johnny Montes, der Mistkerl, der ihn seine ganze Jugend über verfolgt hatte, in seiner Situation wohl getan hätte. Eigentlich hasste er die Momente, in denen Johnny Montes übernahm. Johnny war nicht billig, er kostete Seelenfrieden und Stolz. Ihn zu Hilfe zu nehmen war wie den Vater um Geld anbetteln. Johnny Montes war ein Almosen. Dafür wusste er stets, was zu tun war. »Frau Obermeier«, sagte er mit Gregors Stimme.

»Oberhuber«, verbesserte sie lächelnd.

»Ich danke Ihnen«, sagte Johnny Montes ernst und blickte aus Gregors Gesicht in die Runde.

»Gerrne.« Die Wahrsagerin wähnte sich in Sicherheit. Sie kannte Johnny Montes eben doch nicht. Und unverdienten Dank entgegennehmen war ihre Profession.

Er dankte? Bettina schmeckte Pistazieneis und merkte jetzt erst, dass sie den Becher aufgemacht hatte. So ganz ohne Ironie, so ehrlich? Das konnte er aber nicht glauben, dass sein Vater im Himmel saß und einer Tante wie der Oberhuber Abenteuerromane eingab. Im Leben nicht.

»Ich wusste immer, dass mein Vater nicht ganz fort ist«, erklärte Krampe junior indessen. »Irgendwo dort oben ist er noch präsent.«

Das Publikum schwieg ungläubig, Oberhubers Gesicht war braun und harmlos, Kachelmacher zog eine Grimasse.

»Und eins weiß ich außerdem. Die ganze Leidenschaft meines Vaters war das Schreiben. Nichts hat er so sehr geliebt.« Nun hob Krampe den Blick zur Decke. »Wenn er wirklich mit einem neuen Buch in den Sphären hinge, dann würde er alles tun, wirklich alles, damit jemand es aufschreibt. Er würde so handeln, wie Sie gesagt haben. Er würde sich ein Medium suchen, irgendeines, egal wen, die Nächstbeste, die sich anbietet.« Nun konnte er ein kleines freches Grinsen nicht unterdrücken. »Viel anders war er im wirklichen Leben auch nicht, da hat er seine Sachen, wenn es sein musste, auf Klopapier notiert.«

Bettina begann zu lachen.

»Er war so unglaublich überzeugend.« Das musste nicht mal Johnny Montes sagen, das kam aus Gregors Mund, das stimmte. Georg Krampe hatte sich immer verschafft, was er wollte. »Bei der Lektüre seiner Tagebücher hat es mich immer wieder überrascht, wozu er manche Frauen offensichtlich bringen konnte.«

»In meinen Tagebüchern kann ich die Frauen auch zu Gott weiß was bringen«, warf Kachelmacher ein.

»Aber diktieren Sie mal einer Frau aus dem Jenseits einen Roman«, entgegnete Gregor feierlich.

»Stimmt.« Kachelmacher schnurrte wie eine fette Katze. »Das ist die Oberliga.«

»Und schaffen Sie es vor allem, dass Sie auch als Urheber genannt werden. Da müssen Sie jemand Redliches finden, denn wie leicht wäre es, so einen Roman einfach unter eigenem Namen zu veröffentlichen.«

Nun gab es einen einzigen Lacher im Publikum, tief und vergnügt, der gab Gregor Auftrieb. Oberhuber dagegen schien endlich Gefahr und ihr Stichwort zu wittern, Vertragsrecht. »Grregor«, sprach sie, »wir haben des dutzendfach geprrüft, es hat alles seine Richtigkeit, solange ich als Herrausgeberrin und Co-Autorrin auftrrete, sagt der Verlag –«

Dieser Verlag, genau, dachte Gregor, was die sich geleistet hatten, war ungeheuerlich, der Laden gehörte sofort zugemacht. Andererseits würden Leute mit solchem Geschäftsgebaren die Vorteile seiner, nun ja, der Johnny-Montes-Lösung klar erkennen. Die würden nicht lange in falscher Loyalität an einer unbekannten Wahrsagerin festhalten, wenn sie sich einen teuren Prozess sparten und obendrauf den ›echten‹ Krampe haben konnten. »Ich muss Ihnen danken, Frau Oberhuber. Mein Vater wird für sich selbst gesprochen haben, aber meine Mutter, seine Erbin, wird sich ebenso freuen. Wir werden das Buch unter seinem Namen vertreiben, wie Sie es wünschen. Die Tantiemen kann sie gut gebrauchen. Sie bekommen für Ihre Arbeit natürlich eine Abfindung. Sie haben viel für uns getan.« Damit erhob sich Gregor von seinem Sessel, machte zwei Schritte um den Tisch und den erstaunten Kachelmacher und ergriff Oberhubers Hände. »Vielen Dank.«

Ihre Augen waren ganz nah und hell und kalt und das Licht der Scheinwerfer reflektierte darin, sodass ihre Pupillen einen Moment breit und eckig wirkten wie die einer Ziege. »Bitte«, sagte sie schließlich in das wartende Schweigen hinein.

Zögerlicher Applaus setzte ein. Gregor grinste triumphierend. Oberhuber aber ließ ihre braune und überraschend kalte Hand in seiner liegen und musterte ihn mit sehr merkwürdigem Gesichtsausdruck. »Diese Vorstellung war alberrn, junger Mann«, sagte sie mitten in den Lärm hinein, sodass nur Gregor sie verstehen konnte. »Und vor allem umsonst. – Sie wissen es gar net, oder?«

»Was?«, fragte Gregor durch seinen Beifall hindurch.

»Ihrre Mutter hat der Veröffentlichung zugestimmt.«

Bettina hatte ihre tote Schwester völlig vergessen. Dieser Krampe, dachte sie, war nicht nur hübsch, der war gut, den würde sie gern mal kennenlernen. Dann nahm sie sich in Ermangelung des hübschen Mannes wohlgelaunt der Reste ihres Pistazieneises an.

Zwei

Am nächsten Morgen klingelte Bettina Bolls Handy schon, als sie noch auf dem Weg von der neuen Babysitterin zurück in die Stadt war. Sie hatte zwar nur Bereitschaft, aber es war Samstag früh, da gab es immer zu tun, da mussten die Leichen der Nacht weggeräumt werden. Wenn es so kalt war wie jetzt, wurde mehr gestorben. Winterreifen, dachte Bettina, als ihr alter Taunus in einer Kurve ins Schleudern geriet. Ich hätte die Winterreifen drauflassen müssen. Dabei war schon Mitte April. Sie klemmte das Telefon ans Ohr, die Freisprecheinrichtung kriegte sie doch nie richtig zum Laufen. »Boll.«

»Reinhert. Morgen, Boll, bist du wach und bereit?«

Bettina hörte ein Schlürfen, Reinhert frühstückte gerade. Im Hintergrund quäkte ein Funkgerät. »Würde es mir was nützen, wenn nicht?«

Es wurde geblättert. »Nein. Aber ich hab hier was Erholsames für den Anfang. Kein Blut, keine Gewalt, nur ein kleiner Escortservice.«

»Für wen?«

»Das BKA. Es ist endlich so weit. Die Soko Ovid schlägt zu. In dieser Bibliothek bei – Ramsen. Du weißt, wo das ist. Ich hab hier stehen, ihr vom K11 seid alle dabei. Also du und Willenbacher auch.«

»Oh.«

»Ja?«

»Ja.« Die Sonderkommission Ovid war für Bettina bislang nur ein Papiertiger gewesen, Aktionismus von ganz oben, der formelle Zusammenschluss verschiedener Polizeifunktionäre und Spezialisten, die sich nicht ein Mal wirklich getroffen hatten. Bettina selbst gehörte nur dazu, weil ihr Kommissariat die niedere Ermittlungsarbeit vor Ort organisieren sollte, falls die jemals nötig war, und danach hatte es nie ausgesehen. Denn eigentlich lag kein Verbrechen vor: Ein altes Manuskript war anonym bei einem privaten Sammler aus der Gegend aufgetaucht. Das war alles. Kein Fall für die Polizei. Doch ganz so einfach war es dann eben doch wieder nicht, denn bei dem Buch handelte es sich um eine ganz besondere mittelalterliche Handschrift, die Kuratoren und Bibliothekare aus dem In- und Ausland um den Schlaf brachte. Ihretwegen hatte es unzählige diplomatische Anfragen gegeben, worauf jene Untersuchungskommission mit dem Namen »Ovid« gebildet worden war. Viele Dossiers machten seither als Geheimsachen die Runde, und Bettina hatte keins davon gelesen. Das schien sich nun zu rächen.

»Sie wollen jetzt, heute, rein in die Bibliothek. Mit vorzugsweise Leuten vom K11, weil ihr dieses Auftreten habt, Boll. Tun sollt ihr vorerst gar nichts. Nur wachsam und klug aussehen und auf Anweisungen des BKA warten. Termin ist in einer Stunde. In ...« Eine Pause entstand.

»Reinhert?«

»Ich überlege gerade, ob du eine Wegbeschreibung brauchst.« Erneutes Papierrascheln.

»Gib mir Willenbacher mit, der hat ein Navi im Auto.«

»Hätte ich eh.« Reinhert schlürfte wieder. »Euch würde doch keiner trennen.«

»Danke«, sagte Bettina ironisch. »Vielen, vielen Dank.« Jeder auf der Dienststelle wusste, dass heute Willenbachers letzter Tag war. Sie bog so langsam in eine Einbahnstraße, dass der Fahrer des blauen Golfs hinter ihr eine gestenreiche Schimpfkanonade losließ, für Bettina hübsch klein im Rückspiegel. »Nachher um drei in unserem Büro, Reinhert, Sekt und Kuchen. Wo müssen wir hin? – Moment, ich halte eben an, sonst kann ich nicht schreiben.« Sie parkte ihr Gefährt in einem schmutzigen Schneehaufen am Straßenrand und kramte einen Stift aus dem Handschuhfach. »Ich höre.«

Doch nun sprach Reinhert mit jemand anderem, sie hörte seine tiefe Stimme nur leise im Hintergrund brummen, und als er sich dann plötzlich kräftig in ihr Ohr räusperte, erschrak sie, auch weil sein Ton nun ein unmissverständlich anderer war. »Boll.«

»Ist was passiert?«

»Nein. Du fährst mit Willenbacher.« Er räusperte sich wieder. »Treffpunkt ist direkt an der Bibliothek. Mit einer Frau Kriminalrätin Syra vom Bundeskriminalamt. Sie verspätet sich vielleicht. Adresse lautet Bibliothek Ritter, Kloster Rosenhaag; das liegt bei Ramsen, Eisenberg. Mehr Info gibt es nicht. Wenn es das Navi nicht findet, müsst ihr halt noch mal anrufen.«

»Gut.«

»Ein bisschen heikel ist es, Boll, die Syra ist wichtig für uns, weißt du ja, jedenfalls, der Herr Hauptkommissar bittet euch, einen entsprechenden Eindruck zu machen.« Im Hintergrund hörte Bettina nun schwach Hauptkommissar Härtings dünne Stimme. »Die Teilnahme an der Soko ist gut für uns«, fasste Reinhert dessen unverständliche Rede zusammen. »Ihr wollt den Fuß weiter rein beim BKA und vor allem Kontakte zu dieser Genfer-Herold-Versicherung, die da mit drinhängt, denn ihr macht ja jetzt die Kunstsachen mit. – Ja, ich sag’s ihr. Also, diese Versicherungsfritzen haben die größte private Ermittlungsabteilung in ganz Europa, die sind fit, die will Herr Härting persönlich zum Freund, Boll.«

»Okay. Reinhert?«

»Ja?«

»Warum wollen wir ausgerechnet heute rein?«

»Sagt dir das BKA«, sagte Reinhert knapp und legte auf.

Willenbacher wusste es, natürlich. Er war früh im Büro gewesen und kannte alle Meldungen. Doch er verriet Bettina nichts davon. Seinen Wissensvorsprung kostete er selbst heute bis ins Letzte aus. »Dieser Typ«, sagte er nur achselzuckend, während er mittels einer Art Zahnstocher Daten in den Minicomputer seines Navigationssystems eingab. »Klar. Ich hab mich schon gewundert, dass wir den nicht längst mal überprüft haben. Der ist eindeutig nicht ganz joker.« Und piekste weiter auf das Navi ein.

Bettina fand ihn ziemlich undankbar. Immerhin hatte sie extra eine neue Babysitterin aufgetrieben, weil sie an diesem Samstag auf eine letzte Tour mit ihm gehen wollte. »Welcher Typ?«

»Na, dieser Schriftsteller«, erwiderte Willenbacher. »Wie schreibt sich Rosenhaag noch mal?«

Unwillig buchstabierte Bettina und dachte, dass ein Sekt am Nachmittag und ein warmer Händedruck für Willenbacher dicke gereicht hätten. Stattdessen ließ sie ihre Kinder für den Gegenwert einer Flasche Champagner beaufsichtigen, saß frühmorgens in einem kalten Auto, sah ihren Atem vor sich und musste ihrem Kollegen auch noch die Würmer aus der Nase ziehen. »Was für ein Schriftsteller?«

Willenbacher tippte erst sorgfältig alle Buchstaben auf dem winzigen Computerdisplay an. Dann schenkte er Bettina einen mitleidigen Blick. »Der Typ war gestern Abend im Fernsehen. In so einer Talkshow. Krampe, das weißt du doch, wir haben ein Dossier über den gemacht.«

Bettina schüttelte alarmiert den Kopf: Das wüsste sie.

»Na, dann war ich es allein. Aber die Dossiers sind zum Lesen da, Bolle.«

Willenbachers Gerät gab ein paar muntere Töne von sich, dann startete der Kollege endlich den Wagen. »Du informierst dich nicht«, nörgelte er.

»Das ist dieser Krampe?«, fragte Bettina, die jetzt noch viel mehr bereute, die Dossiers nicht zu kennen.

»Dieser.« Willenbacher drückte ein paar Knöpfe, worauf eisige Luft in Bettinas Gesicht geblasen wurde. »Dauert ein bisschen, bis der Motor warm wird«, erklärte er zufrieden, rollte aus der Parklücke und gab Gas.

»Ich hab ihn gesehen«, sagte Bettina. »In der Sendung. Er war der Hammer, weißt du.«

Willenbacher warf ihr einen Blick zu. »Krampe ist der wissenschaftliche Bibliothekar dort. Er kann mit allen Büchern, inklusive dem Ovid-Manuskript, machen, was er will, und das tut er. Er hat eine Forschungsgesellschaft gegründet, die sogenannte Medea-Gruppe, und er schreibt eine Arbeit über das Werk. Er ist rührig, gut organisiert und groß im Geschäft, ganz groß sogar, seit seine Bibliothek dieses Buch an Land gezogen hat.« Willenbacher drückte an seinem CD-Player herum. »Er profitiert. In verdächtigem Maße.«

»Er sieht interessant aus«, sagte Bettina träumerisch.

Willenbacher schnaubte. »Wenn du mich fragst, hat er das Ding in irgendeiner alten Bibliothek geklaut und an sich selbst geschickt.«

»Ist er heute da?«, fragte Bettina.

Die Musik sprang überlaut an.

... dein kleines Bettchen vom Blut ganz rot ...

»Natürlich nicht«, schrie Willenbacher und fummelte gereizt am Lautsprecher. »Deswegen gehen wir ja hin. Weil irgendein Typ vom BKA ihn im Fernsehen gesehen und sich wieder an die Soko erinnert hat. Und weil wir da in seinem Schreibtisch schnüffeln können.«

... die Sonne geht auf und du bist tot ...

Der Ton wurde leiser. »Ich dachte, Annette steht nur auf Kuschelrock«, sagte Bettina. Annette war Willenbachers Freundin. Inzwischen bestimmte sie die Musikauswahl in diesem Auto, auch in körperlicher Abwesenheit.

... schlaf, mein Kindchen, schlaf jetzt ein ...

»Nein«, seufzte der Kollege.

... am Himmel stehn die Sternelein ...

Die Ärzte. Das waren die Ärzte.

... schlaf, mein Kleines, träume schnell –

Er schaltete die CD aus. »Sie will Kinder.«

»Komische Musik dafür«, sagte Bettina.

Willenbacher fixierte starr die Straße. »Sie will es behalten«, sagte er dann.

Oh, dachte Bettina. Oh. »Und du nicht?«, fragte sie vorsichtig.

Willenbacher machte eine unerwartet heftige Bewegung, sodass das Auto mit einem Ruck nach links zog. »Na, also bitte.«

»Ist das so ungewöhnlich? Wolltet ihr nicht heiraten?«

»Ich bin siebenundzwanzig«, murmelte Willenbacher.

»Und?«

»Na ja, weißt du.«

»Meinst du, dein Leben ist zu Ende, wenn du Kinder hast?«

Willenbacher sah nach dem Radio, nestelte an seinem Sitz, schaute wieder raus auf die Straße, überallhin, nur nicht zu Bettina.

»Guck dich doch an«, sagte er dann zu seinem Tacho.

Das Kloster Rosenhaag lag so versteckt, dass Willenbacher, so schätzte jedenfalls Bettina, es ohne das Navigationssystem niemals gefunden hätte. Es war nicht in Ramsen selbst, nicht einmal in der Nähe. Um es zu erreichen, musste man die Felder verlassen und auf einer kleinen Straße in ein düsteres Wäldchen eindringen. Wenn man dann meinte, dass die Baumgruppen sich endlich lichteten, bog mitten in einer engen Kurve ein dunkler und unbeschilderter Waldweg zu dem Kloster ab. Er führte noch ein gutes Stück tiefer ins Unterholz hinein. Bettina dachte schon, dass es in der Gegend doch überhaupt keine großen Wälder gab und sie vermutlich fehlgeleitet von der Stimme aus dem Navi Runden drehten, immer im Kreis um die Bäume herum, da öffnete sich das eintönige Gesträuch und ein strenges Gebäude, unmissverständlich sakral, wurde im eisigen Morgennebel sichtbar.

»Wow«, machte Willenbacher ehrfürchtig.

Bettina fand ihn total unausstehlich. Sein Baby war ihm nichts wert, andererseits musste er sofort niederknien, wenn sie es mit Kultur zu tun bekamen. Waren diese gedrungenen Bauten etwa auch wieder steingewordene Musik, Poesie, die sie nicht sah, wie der Kollege es einmal unfreundlich ausgedrückt hatte? Wieso glaubte er, dass sie etwas Schönes nicht erkannte, nur weil sie keine Kunsthochschule besucht hatte? Er ja übrigens auch nicht.

»Schau doch!«, sagte Willenbacher und stieß sie aufgeregt in die Seite.

Und da sah Bettina es auch: Aus dem Nebel funkelte, am Fuße der Kirche, malerisch vor einem knorrigen, blattlosen Baum geparkt, ein schwarzer Sportwagen, ein echter Kracher, glänzend und kantig und flach wie ein Mantelrochen.

»Also ein Porsche ist das nicht«, sagte Willenbacher und hatte seine Tür schon auf.

Bettina blieb sitzen. Sie war schuld. Ihr Beispiel als zweifache Mutter war so abturnend, dass ihr bester Freund (eigentlich war Willenbacher überhaupt ihr einziger) sein Kind nicht wollte.

Der beste Freund indessen spazierte um die Erscheinung herum. »Ein Vector!«, rief er mit kindlichem Staunen in der Stimme. »Oder was meinst du?« Hemmungslos spähte der Kollege durch die Fenster ins Innere des Sportwagens.

»Keine Ahnung.« Jetzt stieg sie doch aus. Die Windschutzscheibe war der Wahnsinn, die sah aus wie die glänzende Oberfläche einer Flüssigkeit, etwas Flüchtiges, das dank eines technischen Kniffs im Windkanal erstarrt war. Der schwarze Lack der Lamellen auf der Kühlerhaube vibrierte vor den stumpfen Farben des kalten Vorfrühlingstags; hier auf der schwer zerfurchten Erdscholle wirkte das rassige Gefährt beinahe so unwirklich wie ein Ufo.

»Geil«, huldigte Willenbacher.

»Ja.« Andächtig standen sie und schauten, doch bald schon bemerkte Bettina Schlammspritzer auf dem Lack. Auch die breiten Reifen waren schmutzig, und auf dem lederbezogenen Beifahrersitz lagerte ein ganz gewöhnlicher zerbrochener Blumentopf auf einer ziemlich schmuddeligen Plastiktüte und nebendran ein angerostetes Schäufelchen.

»Komisch«, sagte sie.

»... wurde nur zweimal gebaut«, sinnierte Willenbacher. »Oder ist das ein W8? Hat was von einem Lamborghini Countach. Aber natürlich schicker. – Was ist komisch?«

»Wer nimmt so ein Auto mit hier raus und parkt es im Eisregen?«

»Jemand, der es eilig hatte, herzukommen«, antwortete eine helle Stimme hinter ihnen.

Das zur Stimme gehörige Gesicht war gleichzeitig Lächeln und Vorwurf. »Und das so grundlos. Sie haben mich dringend bestellt, und jetzt warte ich schon seit anderthalb Stunden auf Sie.« Eine junge Frau, nachlässig in einen schmutzigen Cordherrenmantel gehüllt, stand nun mit verschränkten Armen vor ihnen. »Sie sind doch von der Polizei, oder?«

»Ja. – Boll. Kriminalpolizei.« Bettina reichte der Frau die Hand, die sie kurz und kräftig schüttelte.

»Marny. Sind Sie allein?«

»Der Kollege Willenbacher und ich, ja.«

»Vom BKA?«

»Nein«, sagte Bettina. »Wir sind auch mit den Kollegen hier verabredet.« Sie warf einen unwillkürlichen Blick auf das schwarze Geschoss. »Und Sie? Gehören Sie zur Genfer-Herold-Versicherung?«

Marnys Blick folgte Bettinas zu dem Auto. Sie lächelte fein. Der Genfer Herold mag verdammt gut zahlen, sagte dieses Lächeln, aber nicht so gut. »Ich bin eine Privatangestellte von Dr. Ritter.«

»Der Finanzier der Bibliothek und Besitzer des Gebäudes«, sagte Willenbacher sofort halblaut zu Bettina.

Und des Autos, dachte die. »Ist er auch hier?«

Das zauberte echtes Amüsement in Marnys Gesicht. »Im Moment nicht.« Es klang, als pflege Dr. Ritter nur mit einer Leibgarde aus hundert musizierenden Jungfrauen zu erscheinen. »Möchten Sie nicht reinkommen?«

»Tut uns Leid«, sagte Bettina mit ehrlichem Bedauern. »Wir warten auf die Leute vom BKA.«

Nach einer Stunde und etlichen Telefongesprächen, mit denen sie nur die Einsatzzentrale, nicht aber das BKA erreichten, war die Laune im kalten Twingo auf den Nullpunkt gesunken. Da klopfte Marny an Willenbachers Fenster. Er kurbelte herunter.

Frierend beugte sich die junge Frau herab. Ihren Mantel hatte sie sehr eng und dekorativ um sich gezerrt. »Mögen Sie vielleicht warmen Kaffee? Hm?«, lockte sie.

Sie mochten.

* * *

Der Postbote war neu.

»Ich möchte, dass Sie klingeln«, sagte Elisabeth Krampe atemlos, sie hatte den ganzen Morgen auf der Lauer gelegen, um ihn abzupassen, und nun stand er halb abgewandt und mürrisch an ihrem Gartentor, den Blick auf sein Fahrrad gerichtet. »Hat Ihr Kollege Ihnen das nicht gesagt?« Mühsam bückte sie sich, um den Briefkasten am Tor zu öffnen. Er klemmte.

Der Bote versuchte zu verschwinden. Er murmelte etwas und bewegte sich fort.

»Halt!«, rief Elisabeth. »Bleiben Sie mal da!«

Der junge Mann wandte sich unwillig zurück.

»Ich möchte die Post sehen, bevor ich sie annehme«, teilte Elisabeth ihm über den Zaun hinweg mit. »Ich bin prominent. Ich bekomme manchmal Briefe von Verrückten, und ich bin kein Freund von Verrückten.«

Der Bote blickte sie unverschämt an.

»Drohbriefe«, setzte sie hinzu.

Der junge Mann nickte ungläubig.

»Ist Ihr Kollege in Urlaub?«, fragte Elisabeth ohne viel Hoffnung, sie hatte den alten Briefträger schon wochenlang nicht mehr gesehen.

»Nein«, sagte der neue. »Er ist zu Hermes gegangen.«

»Ach je«, sagte Elisabeth. »Also, ich nehme keine Postkarten an, egal von wem, können Sie sich das merken?«

Der Postbote sah genervt aus und sagte nichts.

»Und keine Briefe ohne Absender.«

»Briefe ohne Absender kann ich nicht zurückschicken«, entgegnete der Postbote. »Die müssen Sie selbst entsorgen. Und Postkarten auch.«

»Ich nehme sie nicht an«, sagte Elisabeth bestimmt.

»Wenn Sie meinen«, sagte der Postbote, schwang sich auf sein Rad und ließ sie stehen.

Aufgebracht blickte sie ihm hinterher. Dann riss sie mit einem Ruck, der ihr schmerzhaft in die Bandscheiben fuhr, den Briefkasten auf und sah die Post durch. Rechnungen, ein Buchprospekt, eine Einladung zu einer Lesung, und dazwischen, gut versteckt, die Postkarte. Als hätte sie es geahnt. Elisabeths Atem ging rascher, als sie das glänzende Bild betrachtete: ein Strand, ein Himmel, ein Meer. »Mille saluti del Lido di Ostia« stand grünweißrot darüber. Ostia. Mit zitternder Hand öffnete Elisabeth den vereisten Deckel ihrer Mülltonne, um die Ansichtskarte, wie vom Postmann empfohlen, selbst zu entsorgen. Aber zuvor drehte sie die Karte eben doch um. Und natürlich stand dort etwas in Bleistift auf dem Grußfeld. Munus habe caelum: caelo spectabere sidus, las Elisabeth, ohne den Sinn zu begreifen. Vorerst sah sie nur die kleine, enge, pingelige Schrift, das mädchenhaft Runde der Buchstaben, in all den Jahren hatte diese Schrift sich nicht geändert, sie war kindlich geblieben. Und natürlich der Bleistift, immer musste mit Bleistift geschrieben werden. Elisabeth fröstelte. Trotzig warf sie die Postkarte in den Müll. Doch die lateinische Botschaft konnte sie nicht mit entsorgen. Die hatte sich in ihrem Gedächtnis eingegraben, die würde sie verfolgen, das war der Fluch der Bildung: Wenn sie auch die Bedeutung der Worte nicht gleich erkannte, würde sie sich doch an den Satz erinnern. Schwerfällig trottete sie zurück ins Haus, das lateinische Wörterbuch suchen.

»Das ist hübsch«, sagte Gregors etwas ungeduldige Stimme am Telefon. »Nimm den Himmel zum Geschenk: am Himmel wirst du als Sternbild zu sehen sein. Wirklich hübsch. Hab ich auch schon mal gehört. Kenn ich.« Er verstummte. »Wo hast du es her?«, setzte er desinteressiert hinzu.

»Von einer Postkarte«, sagte Elisabeth ausdruckslos. Die Sache mit den Postkarten hatte sie ihrem Sohn nie näher erklärt. Das war nichts für ihn.

»Hm«, machte Gregor. Seine Stimme klang hohl über das Handy, er sprach von einem Hotelzimmer aus. »Hör mal, Mama, hast du gestern Abend Fernsehen geguckt?«

»Nein.«

»Ich war in einer Talkshow.«

»Ach je«, sagte Elisabeth, die keine Freundin von Talkshows war.

»Ich hab da eine Frau Oberhuber getroffen, eine Wahrsagerin.« Gregor schilderte eindringlich, was geschehen war. »Sie hat ein Buch unter Papas Namen veröffentlicht«, schloss er. »In vollem Ernst. Und sie sagte, du hast ihr das erlaubt, Mama.« Er holte tief Luft. »Wie kann sie so etwas behaupten? Kennst du diese Frau?«

Elisabeth schwieg.

»Kennst du sie?«, fragte Gregor scharf.

»Oberhuber«, sagte Elisabeth mit zittriger Stimme. »Oberhuber. Ja, ich glaube, da war mal ein Manuskript.«

»Mama! Was hast du ihr gesagt? Was hast du ihr erlaubt? Hast du was unterschrieben?!«

»Ach je«, sagte Elisabeth unglücklich. »Ach je. Sie hat das rausgebracht, ja. Aber es ist doch ein ganz kleiner Verlag.«

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. »Erstauflage einhunderttausend Stück«, sagte Gregor dann trocken.

»Ach je«, sagte Elisabeth.

»Hast du was dafür bekommen? Geld? Rechte?«

Erbittert schüttelte Elisabeth den Kopf. Doch sie riss sich zusammen. »Tausend Euro vom Verlag. – Die Ölrechnung«, sagte sie betont einfältig. Gewöhnlich half es ihr, sich einfach dumm zu stellen. Einer älteren Hausfrau nahm das jeder ab, selbst der eigene Sohn. »Du weißt, im Herbst musste ich den Tank vollmachen lassen, und irgendwoher –«

»Mama!«

»Ach je«, sagte Elisabeth.

»Ich komme«, beschloss Gregor. »Ich fahre jetzt sofort los und guck mir alles an, was du hast. – Konntest du wenigstens mit Dr. Herberger sprechen?«

»Nein«, sagte Elisabeth kleinlaut. Eine Rücksprache mit dem Familienanwalt hatte sie wirklich vergessen.

»Oh Gott, Mama!«

Elisabeth dachte an die Postkarte in ihrem Mülleimer. Am Himmel wirst du als Sternbild zu sehen sein. »Das ist nicht hübsch«, sagte sie. »Überhaupt nicht hübsch.«

* * *

»Wir haben hier modernste Sicherheitsanlagen«, sagte Marny zu Bettina, vermutlich um höflich ein Thema anzuschneiden, das Polizisten interessierte. Sie war jung, sehr attraktiv, und sie benahm sich wie die Tochter des Hauses. Ungezwungen warf sie Kleidungsstücke über einen Stuhl, ihren Cordmantel, einen Schal, Handschuhe, dann richtete sie ihre braunen Haare und sah Willenbacher und Bettina wichtig an. »Sie brauchen eine Karte mit Chip, um die Türen zu öffnen, und für den inneren Bibliotheksbereich müssen Sie zusätzlich den Code wissen. Das große Magazin erreichen Sie nur über eine Iriskontrolle, und der Safe ist eine Spezialanfertigung. Mit eingebautem Klimaregler. Vierzig Prozent Luftfeuchtigkeit und zwanzig Grad Celsius. Konstant. Pergamentklima.« Zufrieden hob die junge Frau die Hände. »In den meisten anderen alten Bibs ist man froh, wenn die Türen schließen und das Dach den nächsten Winter übersteht. – Wissen Sie, wem wir den Verlust der wunderbarsten Schriften zu verdanken haben?«

»Dem Feuer«, riet Bettina.

»Der spanischen Inquisition«, sprach Willenbacher launig.

»Tauben«, antwortete Marny. »Die hausen in den alten Dächern, kacken alles voll. Deren Scheiße ist das Schlimmste, was einem Buch passieren kann. Die frisst sich durch alles durch.« Anklagend schaute sie Willenbacher an, als betreibe der in seiner Freizeit einen Taubenschlag. »So, dann gucke ich mal nach unserem Kaffee.«

Bettina nickte und sah sich um. Sie befanden sich in einem langen kalten Zimmer mit unbefeuertem Kamin. Bis auf einen riesigen Tisch und ein paar antiquarische Stühle war der Raum leer. Seine Wände strahlten weiß, die Fenster ragten hoch auf. »Ein ganzer Saal«, sagte Bettina, »nur mit einem Tisch drin. An Geld fehlt’s hier wahrlich nicht.«

»Das war mal das Refektorium«, vermutete Willenbacher. Er sah zu salopp gekleidet aus in dem edlen Raum, seine Jacke war olivgrün mit einem riesigen roten Kreuz drauf, das war jetzt der letzte Schrei. Willenbacher, der Lebensretter. Der Berner Sennenhund. Von wegen, dachte Bettina. Von wegen.

»Vielleicht war’s doch keine so gute Idee, mit reinzukommen«, sagte er. »Wir sollen hier schließlich keine Freundschaften schließen.«

»Wir machen uns ein Bild«, erwiderte Bettina. »Wo wir schon mal da sind. Wir sehen uns alles an, was wir gezeigt kriegen.«

Marny erschien mit einem Teewagen voll silbernem Geschirr. »So«, sagte sie munter. »Wer mag geschäumte Milch?«

Bettina ließ sich Zucker in den Kaffee geben und erkundigte sich nach dem berühmten Ovid-Manuskript.

»Es ist wunderbar«, sagte Marny und zog dabei die Nase ein wenig kraus, was sie noch viel hübscher machte, »wirklich etwas ganz Besonderes. Ein Schatz. Ich hab es einmal sogar im Original gesehen.«

Darauf wollte Bettina hinaus. »Können Sie es uns zeigen?«

Marny blickte belustigt. »Nein.«

»Dieses Buch ist Ihnen anonym gespendet worden.«

»Ja.«

»Wie lief das ab?«, fragte Bettina, obwohl Willenbacher sie inzwischen informiert hatte: Das wertvolle Stück war vor gut einem Jahr in einem einfachen Pappumschlag nach Rosenhaag geschickt worden, zu einem Zeitpunkt, da der Umbau des Klosters gerade erst begonnen hatte.

»Nun«, sagte Marny, »das war im Februar vor einem Jahr. Da kündigte Dr. Ritter in der Presse an, dass die Ritter-Sammlung hier ein neues modernes Gebäude bekommen würde. Und jetzt nach der Renovierung ist es eins der sichersten und technisch aufwändigsten Bibliotheksgebäude überhaupt. Hier bei uns sind wertvolle alte Werke geschützt und zugänglich zugleich. Wir haben einen modernen Katalog, große Datenbanken, und im Sommer werden wir so weit sein, das Gebäude zur öffentlichen Benutzung freizugeben. Wir vermuten, dass der Spender von unserem Konzept einfach überzeugt war.«

Von eurem vielen Geld, dachte Bettina mit Blick auf die versilberte Kaffeetasse. »Aber wieso anonym?«, fragte sie.

Marny zuckte elegant die Schultern und legte den Kopf schräg. »Keine Ahnung.« Sie leistete sich keine Spekulation.

»Ist es nicht wertvoll, dieses Buch? Hätte man dafür keinen hohen Erlös erzielen können?«

»Das kommt drauf an«, antwortete die junge Frau freundlich. »Es war unbekannt und musste erst geprüft werden. Expertisen sind teuer. Außerdem ist der Markt für alte Handschriften überschaubar. Die meisten sind unverkäuflich. Das ist wie mit –« Suchend sah sie sich in dem kahlen Raum um, bis sich ihr Gesicht erhellte. »Nehmen Sie den Speyrer Dom. Sie könnten vielleicht seinen korrekten Wert ermitteln, aber versuchen Sie mal, ihn zu verkaufen.«

»Den Speyrer Dom kann man nicht in ein Pappkuvert packen.«

»Ein Buch ist ein Gedankengebäude«, sagte Marny in heiligem Ernst.

»Das Sie mit vier realen Schlössern sichern«, erwiderte Bettina.

Darauf grinste Marny, ihre kleine Nase kräuselte sich lustig, und Bettina fragte sich plötzlich, wofür diese Frau bezahlt wurde. Sie sah selbst aus wie ein Liebhaberobjekt, charmant, gebildet, aber nicht den ganzen Raum füllend, ein Mensch mit Platz für andere, für Rätsel. »Sie haben recht«, sagte sie, »aber dieses Buch ist wirklich was Besonderes. Und jetzt, wo bald jeder seine Schönheit sehen kann und soll, da muss es geschützt werden. Inzwischen würde es vermutlich einen angemessenen Preis erzielen. Es hat das Zeug zum Star.« Wieder zog sie die Nase kraus. »Es ist sexy.« Sie lächelte, schritt zum Tisch und nahm von einem kleinen Papierstapel, der vornehm ganz in der Mitte lag, ein schmales, hochglänzendes Faltblatt. »Leider kann ich es Ihnen nicht zeigen, aber Sie dürfen gern den Prospekt ansehen.«

Willenbacher nahm das Faltblatt, klappte es auf und pfiff durch die Zähne.

»Was steht denn drin in dem Buch?«, fragte Bettina. Sie stand am Fenster mit dem kahlen Wald im Rücken. »Es ist von Ovid, das weiß ich, aber außer seinem Namen kenne ich nichts von dem.«

Willenbacher blickte auf. »Ein Dichter aus der frühen römischen Kaiserzeit. Er hat uns die gesamte antike Mythologie überliefert. Die Metamorphosen.«

Bettina schüttelte den Kopf.

»Aber lesen Sie zuerst Ars amatoria. Die Liebeskunst.« Marny schenkte Bettina einen verschwörerischen Blick und reichte auch ihr einen Prospekt. »Und die Amores. Sein Frühwerk, die Liebesgedichte. Ovid wusste, wovon er schrieb.« Sie grinste. »Er war ein echter Lebemann. Adelig, ohne übermäßiges Vermögen. Elegant, aber nicht gelangweilt. Und«, Marny beugte sich vor, wobei eine ihrer langen hellbraunen Haarsträhnen hübsch über ihre Wange fiel, »seine Ars amatoria wurde von Augustus auf die schwarze Liste gesetzt.« Das klang so stolz, als spräche sie von einer Sendung, die es geschafft hatte, im bayrischen Fernsehen nicht ausgestrahlt zu werden.

»Weswegen?«, fragte Bettina, die auf der Rückseite des Faltblatts las, die Digitalisierung des Manuskripts sei in Arbeit und pünktlich zur Eröffnungsfeier der Bibliothek im Sommer könnten schon einzelne Seiten als hochwertige Faksimiles präsentiert werden. »Ist der Text obszön?«

»Nicht sehr«, sagte Marny. Ihre Augen strahlten goldbraun und kess. »Eigentlich gar nicht«, gab sie zu. »Es war der Stil. Ovid benutzte die Liebe, das harmloseste Beispiel, um seinen Mitmenschen vorzuführen, wie freies Denken funktioniert. Eigentlich ist er nur für seine Eleganz bestraft worden. Er wurde sogar verbannt.«

Letzteres führte sie ehrfürchtig an wie einen Nobelpreis. Bettina fragte sich, ob der Dichter selbst auch stolz auf seine Strafen gewesen war. »Wohin?«

»Bitte?«

»Wohin wurde Ovid verbannt?«