Neapel sehen. Bettina Bolls zweiter Fall - Monika Geier - E-Book

Neapel sehen. Bettina Bolls zweiter Fall E-Book

Monika Geier

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Beschreibung

Zwischen Apathie und Aggression brütet die Pfalz in der Sommerhitze. Nerven liegen blank, nicht nur bei Kriminalkommissarin Bettina Boll. Für die sorgenzermürbte Polizistin, deren schwerkranke Schwester spurlos verschwunden ist, bedeutet die Leiche im Steinbruch eine geradezu willkommene Ablenkung. Die Tote ist Aurelie, eine junge Lehrerin, die geholfen hat, wo sie konnte: Neben ihrem Engagement für den Naturschutz griff sie Sorgenkindern finanziell und sozial unter die Arme. Aber die allseits geschätzte Wohltäterin hatte nicht nur Freunde. Hat jemand sich gegen die obsessive Fürsorge mit Gewalt gewehrt? Die Ermittlungen führen zu den »üblichen Verdächtigen« aus der Containersiedlung am Galgenhübel: Aussteiger, Außenseiter, Verwirrte. Bettina Bolls Recherchen fördern allerlei kriminelle Umtriebe und dunkle Gelüste zutage. Doch welches Motiv genügt für einen Mord? »Monika Geier verfügt über die Bösartigkeit aller guten Krimiautorinnen, über Witz und die Raffinesse für wirklich subtile Plots. Ihre Bücher sind mehr als eine Entdeckung, sie sind eine Befreiung.« Besser als Tobias Gohlis kann man es nicht sagen!

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Über das Buch

Zwischen Apathie und Aggression brütet die Pfalz in der Sommerhitze. Nerven liegen blank, nicht nur bei Kriminalkommissarin Bettina Boll. Für die sorgenzermürbte Polizistin, deren schwerkranke Schwester spurlos verschwunden ist, bedeutet die Leiche im Steinbruch eine geradezu willkommene Ablenkung.

Die Tote ist Aurelie, eine junge Lehrerin, die geholfen hat, wo sie konnte: Neben ihrem Engagement für den Naturschutz griff sie Sorgenkindern finanziell und sozial unter die Arme. Aber die allseits geschätzte Wohltäterin hatte nicht nur Freunde. Hat jemand sich gegen die obsessive Fürsorge mit Gewalt gewehrt?

Die Ermittlungen führen zu den »üblichen Verdächtigen« aus der Containersiedlung am Galgenhübel: Aussteiger, Außenseiter, Verwirrte. Bettina Bolls Recherchen fördern allerlei kriminelle Umtriebe und dunkle Gelüste zutage. Doch welches Motiv genügt für einen Mord?

»Monika Geier verfügt über die Bösartigkeit aller guten Krimiautorinnen, über Witz und die Raffinesse für wirklich subtile Plots. Ihre Bücher sind mehr als eine Entdeckung, sie sind eine Befreiung.« T. Gohlis, Die Zeit

Über die Autorin

Monika Geier, Jahrgang 1970, wurde in Ludwigshafen geboren. Nach dem Abitur folgte eine Ausbildung zur Bauzeichnerin. Für ihr Debüt wurde Geier mit dem Marlowe geehrt. Inzwischen ist sie Diplom-Ingenieurin für Architektur, Mutter von drei Jungs, freie Künstlerin und Schriftstellerin.

Monika Geier

Neapel sehen

Bettina Bolls zweiter Fall

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2015

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Printausgabe: © Argument Verlag 2008

Lektorat: Ulrike Wand

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 20.07.2015

ISBN 978-3-944818-96-2

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Sterben: Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Neapel: Die Reise
Im Zimmer
In der Suite
Draußen
Ulrikes Best Shots

Mama, just killed a man, Put a gun against his head, Pulled my trigger, now he’s dead. Mama, life had just begun, But now I’ve gone and thrown it all away. Mama, ooo – Didn’t mean to make you cry – If I’m not back again this time tomorrow – Carry on, carry on

-1-

Sport hätte vielleicht wirklich geholfen. Lachhaft, da hatte er gut zwanzig Jahre gebraucht, um in Betracht zu ziehen, dass seine blöden Sportlehrer recht gehabt haben könnten. Der Aul, der immer die »Blinden und Lahmen« öffentlich verspottet hatte. Wolfgang warf von seinem Bett aus einen Dart. Zwanzig.

Schau dir nur diese Schwächlinge an, hatte der Aul irgendwann zu ihm gesagt. Bulls Eye. Wolfgang hatte den Aul angesehen. Er hatte bis heute keine Ahnung, weshalb ausgerechnet er von dessen Verachtung verschont geblieben war. Triple Drei. Toll.

Damals war er kräftig gewesen, jetzt war er fett. Und der Aul, der alte Sack, sicher lange tot. Wolfgang betrachtete von seinem Bett aus die Dartscheibe. Insgesamt 161 Punkte mit sechs Darts. Er hatte keine Lust, aufzustehen und die Pfeile rauszuziehen. Die Hitze war nicht zum Aushalten. Das offene Fenster weiter vorne sollte eigentlich kalte Nachtluft hereinlassen, doch die Nacht war ungefähr so kalt wie ein Wannenbad. Träge zockelte ein Satellit über die schwarzen Silhouetten der Obstbäume draußen. Grillen zirpten. Wolfgang lehnte seinen Kopf an die geschlossene Scheibe neben seinem Kopfende. Sein Bett stand direkt an dem Fensterband, das er oben in die Giebelseite der Scheune eingebaut hatte. Aurelie hatte das nicht gefallen. Sie hatte befürchtet, gesehen zu werden. Und sie wollte nicht gesehen werden; nicht hier, nicht mit ihm. Er hätte sein Bett für sie verschoben, aber sie würde ohnehin nicht mehr kommen, also war es sinnlos.

Wolfgang nahm die Flasche Paddy’s, obwohl er vom Alkohol definitiv wusste, dass er nicht half. Nichts half. Allenfalls – vielleicht – an der Scheune zu arbeiten. Danach fühlte er sich meistens ganz gut. Doch es war vier Uhr nachts und zu schwül, um auch nur aus dem Bett zu steigen. Er hatte noch ein Glas auf dem Tisch weiter vorne stehen, das war ihm zu weit weg. Er trank aus der Flasche. Der Whiskey war zu warm. Erstaunlich, natürlich, bei der Witterung. Wolfgang schaltete den Fernseher ein und blaues Licht erfüllte die Scheune. Die Süße und der Wacholder brannten in seinem Mund. Er mochte Scotch lieber, aber der war nun mal nicht da.

Eine Weile starrte er den Bildschirm an, bis er überhaupt registrierte, was er sah: geschminkte Frauen, die sich um Telefonnummern wanden. Er zappte durch die Programme, die Frauen wiederholten sich. Um diese Zeit gab es nur lasche Sexfilme und die Talkshows vom Vortag. Nichts, was ihn interessierte. Er schaltete den Ton aus und sah eine Weile einer blonden Frau zu, die ihn an Aurelie erinnerte. Sie tat so, als würde sie sich selbst befriedigen.

Wolfgang drückte seine Stirn gegen die kühle Scheibe. Sein Körper fühlte sich schwer an (er war schwer!), und die Luft war zäh und umschloss ihn besitzergreifend. Er hob den Kopf wieder und musterte die Flasche. Wenn er weitertrank, hätte er morgen einen Kater, und das wäre nicht gut, denn er würde den ganzen Tag Auto fahren müssen, und Katrina, seiner Beifahrerin, musste er nicht unbedingt auch noch die Schnapsleiche geben. Katrina war ein kluges Mädchen. Außerdem schmeckte der blöde Paddy’s sowieso nicht.

Dann ein Video.

Nein, sagte sich Wolfgang. Deine ganzen Probleme kommen nur von diesen blöden Videos.

Wenn es die Videos nicht gäbe, hättest du noch viel mehr Probleme.

Genau das war eben die Frage. Eine theoretische allerdings, denn er konnte sowieso nicht ohne die Videos leben. Zumindest besitzen musste er sie, wenn er auch versuchte, kürzer zu treten. Die wirklich harten Sachen hatte er in letzter Zeit nicht mehr so oft gesehen. Und heute Nacht konnte er sich ohnehin nicht aufraffen, noch mal runter an den Stahlschrank zu gehen. Stattdessen schaltete er den Videorekorder ein und machte den Ton wieder an. Und wachte bis zum Morgengrauen über einem Film, der ein ganz guter Kompromiss war: dem dritten Teil einer frei verkäuflichen Videoserie mit dem Titel Die gefährlichsten Raubtiere der Erde: Löwen:Der schnelle Tod in der Serengeti.

Ganz am Ende der Nacht, als ein Gewitter kam, träumte er doch von Blut.

* * *

Das kleine Gewitter bewirkte nichts, was der neue Tag nicht sowieso geschafft hätte: Wie jeden Morgen seit Beginn des Junis verwandelte sich die nächtliche Schwüle in strahlend frische Helligkeit. Vielleicht war die Landschaft ein bisschen feuchter; über dem Garten vor Livia Giallos Fenster hing zarter Dunst.

Livia stand früh auf, obwohl sie zu Hause arbeitete und eigentlich nur die fünf Meter vom Bett zum Computer fallen musste – sie designte Homepages. Doch sie mochte die Frühe. Da war die Welt noch leer und ihr Sohn schlief. Und es gab niemanden, der sich als Besitzer aufspielen konnte – ihres Computers zum Beispiel, ihres Zimmers, dieses Hauses, der eleganten Uhr von Baume & Mercier, die so herrlich schwer und kühl in Livias Hand lag.

Etwas kratzte an ihrer Zimmertür.

Vor Schreck ließ Livia ihren Schatz fast fallen. Das konnte nicht Aurelie sein – durfte sie nicht sein – nein, es war der Hund. Nur der Hund.

Rocco, so sein affektierter Name, kratzte erneut. Das tat er sonst nie und erst recht nicht um diese Zeit. Normalerweise schlief Rocco lang und ignorierte Livia. Er war Aurelies Hund und stand somit – seiner Meinung nach – in der Rangordnung ihres Haushaltes über Livia. Sie selbst hingegen fand Hunde im Haus schlicht unhygienisch, besonders wenn es ein Kleinkind gab. Doch Aurelie in ihrer Gedankenlosigkeit hatte ihn einfach mitgebracht, ohne vorher auch nur Bescheid zu sagen. Aurelies Mildtätigkeiten waren Livia in letzter Zeit ziemlich auf die Nerven gegangen.

Sie warf einen Blick in das Bettchen ihres Sohnes. Er schlief fest, die kleinen Fäuste angestrengt zusammengeballt, ein dünner Faden Spucke lief ihm aus dem Mund.

Draußen vor dem Fenster erhob sich die blassrote Sonne über den Wipfeln des angrenzenden Waldes. Schon wieder machte sich der Hund bemerkbar. Wenn er den Jungen aufweckte, wäre der Morgenfrieden zerstört. Livia erhob sich von ihrem Stuhl, verstaute die Uhr in einer Aktenablage aus Pappe und öffnete ihre Zimmertür. »Sch!«, zischte sie.

Der Hund bellte. Er war dunkel, reichte Livia bis zur Mitte ihres Oberschenkels und hatte einen kräftigen Kopf. Seinen Zähnen wollte sie nicht zu nahe kommen, doch sie war so verärgert, dass sie ihn mit dem Handrücken von ihrer Tür wegschubste. Er knurrte tief und drohend, bellte wieder, dann winselte er. Und bellte. Laut. Aufgebracht trat sie in den Flur hinaus und schloss die Tür hinter sich. Im Flur herrschte nur Dämmerlicht; der Hund schien sofort größer und gefährlicher zu sein. Er lief ein Stück vor, kam zurück und bellte auffordernd. Er hatte noch die Leine um, sie schleifte neben ihm auf dem Boden. Livia machte sie vom Halsband ab. Jetzt sollte das Vieh wohl Ruhe geben.

Doch Rocco bellte wieder.

»Halt deine blöde Schnauze!«, schimpfte sie im Flüsterton. »Du willst wohl raus, was? – Los, wir gehen in den Garten.«

Er lief ihr voraus die Treppe hinunter bis zu der Tür, die aus dem Haus zum Carport führte und offen stand. Mitten in der Nacht offen stand. Das war auch typisch Aurelie. So ein Leichtsinn! Rocco rannte durch diese Tür aus dem Haus, an Livias schäbigem altem Corsa vorbei in den Vorgarten und bellte erneut.

Livia machte die Tür zu. Jetzt hörte sie Rocco nur noch gedämpft Laut geben. Dann klickten seine Krallen wieder auf dem Zementboden des Carport, scharrten an der geschlossenen Tür. Sie hatte sich schon fast abgewendet, als sie von dem halbdunklen Flur aus sah, wie sich der Türgriff ruckartig nach unten bewegte.

Selbstverständlich wusste sie, dass Rocco Türen aufmachen konnte. Dennoch hatte diese Klinke, die von außen, von einem wilden und sonst nicht sonderlich intelligenten Wesen gedrückt wurde, eine irrational bedrohliche Wirkung auf sie. Mit wenigen Schritten war sie an der Tür und hielt dagegen. Natürlich kein Schlüssel da. Also packte Livia einen der Klappstühle, die neben der Tür in einer Ecke standen, und klemmte ihn unter den Griff. Dann ging sie wieder hoch in ihr Zimmer, in dem Elia gerade vorzeitig aufzuwachen begann. Sie kniff die Lippen zusammen.

Die dicke Lederleine hielt sie immer noch in der Hand.

»Aurelie!« Zweieinhalb Stunden später schlug Livia gereizt gegen die helle Holztür zum Schlafzimmer ihrer Mitbewohnerin. Sie hatte keine Lust, die Tür zu öffnen. Doch Jeremy, ein englischer Kollege Aurelies, der zurzeit mit seiner Austauschklasse in Deutschland weilte und den die junge Lehrerin in ihrer unermesslichen Großherzigkeit in ihr Haus eingeladen hatte (selbstverständlich ohne Livia vorher zu fragen), saß unten am Frühstückstisch, trank den von Livia gekochten Tee und wurde nervös, weil es an der Zeit war, zur Schule zu fahren. Und natürlich war er zu verklemmt, um sich selbst an diese Tür zu wagen. Das war seiner Meinung nach die Aufgabe einer Frau.

Genau wie Frühstück machen. Und Jeremy nahm als Brite ein üppiges Frühstück. Abgesehen vom heutigen Morgen. Denn Livia kochte nicht für Kerle. Ihr einziges Zugeständnis an die deutsch-englische Völkerverständigung war der Tee gewesen. Ihr eigenes Frühstück bestand aus drei Tassen Kaffee und ebenso vielen Zigaretten. Und den Resten von Elias Bananenbrei. Davon hätte sie Jeremy anbieten können.

Sie hämmerte noch einmal laut gegen die Tür, sodass es im Treppenhaus widerhallte.

Dann musste sie wohl rein. Sie hasste das. Egal, was dahinter war, egal, ob sie wusste, was sie erwartete, die Türen zu anderer Leute Privaträume rührte Livia ungern an. Es war die beklemmende Nähe zum Bewohner, die dahinter harrte. Die machte sie ungeduldig und ärgerlich.

Außerdem ahnte sie, dass diese Tür heute besser geschlossen bliebe.

»Sie ist nicht da?«, fragte Jeremy entgeistert und erhob sich. »What on earth –«

»Ganz ruhig«, sagte Livia. »Das kommt vor.«

Jeremy hatte ein eckiges Gesicht, sehr dunkle Augen und blond gefärbtes Deckhaar. Für Livia sah er so echt aus wie eine Big-Ben-Tischuhr. Er bewegte sich merkwürdig, hatte etwas Elegantes an sich und gab sich doch linkisch. Und seine Augen waren so düster verschattet, dass da eigentlich nur triviale Ursachen wie Eitelkeit und Lidschatten eine Rolle spielen konnten.

Er wandte sich zur Treppe und blickte hilfesuchend nach oben.

»Möchten Sie selbst nachsehen?«, fragte Livia maliziös.

»No. – No«, sagte er hastig, und dann feierlich: »Ich glaube Ihnen.«

»Wie schön – ich seh mal nach, ob das Auto da ist.«

Es war da.

»Okay«, sagte sie zu Jeremy, der ihr wie Elia aus dem Holzhaus auf die Straße gefolgt war, »Sie müssen allein zur Schule fahren. Sie können das Auto nehmen.«

Das gefiel Jeremy gar nicht. Der Rechtsverkehr. Und überhaupt, es war doch strange, dass Aurelie nicht da war. Schließlich hatte sie in ihm einen Gast. Und sie hatte nichts gesagt. Nicht mal angerufen hatte sie. Und wie wollte überhaupt sie dann zur Schule kommen, wenn er das Auto nahm? Jeremy war der Meinung, es sei etwas passiert.

»Jeremy«, sagte Livia, und die Tatsache, dass sie seinen Namen benutzte, war ein großes Zugeständnis an ihn und die Situation (was Jeremy natürlich nicht einmal auffiel), »regen Sie sich bitte nicht auf. Aurelie ist etwas – unstet.«

»Unstet«, wiederholte Jeremy verständnislos.

Und so was war Deutschlehrer. »Aurelie bleibt manchmal nachts fort«, sagte Livia übertrieben deutlich. »Und sie meldet sich selten telefonisch ab.«

»Aber sie muss doch zur Arbeit gehen.«

»Keine Angst, das wird sie. Sie ist garantiert bei einem Freund hängen geblieben und schon längst auf dem Weg zur Schule.«

»Wenn ihr nun etwas geschehen ist?«

»Was wollen Sie machen, die Polizei rufen?« Livia wurde ungeduldig. »Die lachen Sie aus, Aurelie ist erwachsen, die kann tun und lassen, was sie will.«

Elia nahm Jeremy ins Visier und stolperte auf ihn zu.

»Falls wirklich etwas passiert sein sollte, werden wir es erfahren.« Livia blickte sich nach ihrem Sohn um. Elia grapschte nach den langen dunklen Haaren auf Jeremys nackten Schienbeinen. Es würde ein sehr warmer Tag werden und Jeremy trug Shorts. Der Engländer betrachtete das Kind gleichzeitig angewidert und hilflos. Dann trat er einen Schritt beiseite, doch Elia gefiel das neue Spiel, und er folgte dem Mann mit den interessanten behaarten Beinen.

»Natürlich können Sie auch den Vormittag hier bleiben«, sagte Livia mit einem kleinen Lächeln. Ein breiteres hatte sie nicht auf Lager. Man konnte Jeremy ansehen, wie begeistert er von der Aussicht war. Von wegen britische Höflichkeit. Hastig griff er sich den Autoschlüssel, den sie ihm hinhielt wie ein Stück Hundekuchen.

»Auf Wiedersehen.« Bedauernd entfernte sie Elia aus seiner Reichweite und wandte sich wieder der petrolblauen Haustür zu. Sie wollte mit dem Kind aus der Sonne.

»Wann haben Sie Aurelie denn zuletzt gesehen?«, fragte Jeremy, der wieder mutiger wurde, nachdem die Gefahr der Epilation einstweilen gebannt war.

Livia schnippte ihre Zigarettenkippe in den großen dunkelgrünen Steinguttopf mit Aurelies geliebtem Orangenbäumchen. »Als sie abends zum Joggen gegangen ist, glaube ich«, sagte sie. »Und Sie?«

»Mittags in der Schule«, bekannte Jeremy.

»Tja«, machte Livia abschließend. Jeremy sah immer noch nicht überzeugt aus.

»Sie finden es doch allein?«, fragte Livia mit wachsender Verdrossenheit.

»Mein Gefühl ist nicht gut«, sagte Jeremy. »Vielleicht sollten wir lieber nach ihr suchen?«

»Ich halte Sie nicht ab«, sagte Livia. Jeremy sah noch einen Moment zweifelnd aus, dann zuckte er die Achseln und ging zu Aurelies schwarzglänzendem BMW, der vorm Haus in der Sonne stand. In dem Ding musste es glühend heiß sein. Livia war nur froh, dass sie gestern Nachmittag den Platz im Carport ergattert hatte.

* * *

Katrina kam zu spät zur Arbeit. Besonders schlimm war das nicht, denn es gab im Umweltamt niemanden, der mit der Stoppuhr an der Eingangstür auf die Belegschaft lauerte. Und Martina, die frisch ausgelernte Bürokauffrau, der Katrina zugeteilt war, erschien auch nie pünktlich.

Aber es handelte sich um fast anderthalb Stunden. Und das bedeutete, dass Wolfgang, mit dem sie heute eigentlich wieder hätte rausfahren sollen, jetzt garantiert schon weg war. Sicher hatte er sich einfach den Praktikanten oben bei den Bacherneuerern ausgeliehen. Nun war ihr nicht nur die Schelte fürs Zuspätkommen, sondern auch noch ein heißer, langweiliger Tag neben der dämlichen Martina im Amt sicher. Ganz bestimmt durfte sie wieder Schreibübungen machen. Oder für die Umweltberatung Infoblättchen kopieren und falten. Und Martina würde wie ein zum Geier aufgeblasenes Huhn nebendran sitzen und darauf achten, dass die Kanten richtig saßen.

Weiter vorn öffnete sich eine Tür. Katrina zog schnell ihre Tasche hinter sich. Musste ja nicht jeder mitkriegen, dass sie eben erst gekommen war. Doch die Person, die dort plötzlich die Bürotür ausfüllte, wusste genau, dass sie noch nicht in Angelegenheiten des Amtes unterwegs war.

»Wolfgang!«, sagte Katrina leicht nervös. »Morgen. Ich bin zu spät. Es tut mir Leid – ich dachte, du wärst schon längst weg.«

»Ich hatte noch zu tun«, sagte er. »Es dauert auch noch ein bisschen, bis wir loskönnen. Eine halbe Stunde etwa. Ich hole dich ab.«

»Krass«, sagte Katrina. Wolfgang runzelte die Stirn. Katrina versuchte ein Lächeln. »Bis gleich.«

»Ja.«

In Wolfgangs Büro war niemand außer ihm. Seine Kollegen machten Außendienst. Jeder, der bei Verstand war und seinen Tag selbst einteilen konnte, war heute draußen. Es hatte jetzt schon fünfundzwanzig Grad, obwohl es erst kurz nach neun war, und die kaputte Jalousie, deren Lamellen sich nicht mehr drehen ließen, war eine lächerliche Verteidigung gegen die harten, heißen Sonnenstrahlen. Wolfgangs Büro ging nach Südosten. Wäre Katrina rechtzeitig gekommen, wäre er längst weg. Er setzte sich wieder an seinen Tisch und blätterte in seinem Kalender. Letzten Freitag hatte er auch gearbeitet. Er tippte die Arbeitszeit in den Computer.

Katrina war unzuverlässig (anderthalb Stunden!), und er bereute, sie gebeten zu haben, ihm bei seiner Arbeit zu helfen. Sie beide hatten im Grunde nichts miteinander zu schaffen, und je auffälliger Katrina sich benahm, so fürchtete Wolfgang, desto eher würde sein Abteilungsleiter oder gar die Amtsleiterin ihm vorhalten, dass Exkursionen mit Ökologen nicht zu den niedrigen Handlangerdiensten gehörten, die man Lehrlingen zur Not aufbrummen konnte. Und dass Kartelesen im Außendienst definitiv nicht auf dem Lehrplan der Bürokauffrau-Azubis stand und dass sie zu dem Zweck weiß Gott genügend Praktikanten beschäftigten. Doch der einzige freie Praktikant, der oben in der Abteilung Bachrenaturierung hockte, war ein Biologiestudent anstrengendster Sorte, ein Enthusiast, den Wolfgang keine ganze Woche ertragen hätte. Den er nicht mal einen Tag lang ertragen hätte.

Und jetzt war Katrina ja da.

»Meine Mitfahrgelegenheit ist nicht gekommen«, sagte Katrina zu Martina, ihrer Ausbilderin, »deshalb musste ich den Bus nehmen. Und die Verbindung von Irrlich hierher ist ganz mies. Ich hatte noch Glück, dass ich den frühen erwischt habe.«

Martina war zwei Jahre älter als Katrina und seit einem dreiviertel Jahr ausgelernt. Sie war nicht besonders helle, aber klug genug, um zu wissen, dass sie ihre feste Stelle hier im Amt hauptsächlich der Tatsache verdankte, dass sie die Tochter eines bekannten Ludwigshafener Bauunternehmers war. Worauf sie stolz war. Und von ihren Lehrlingen verlangte sie Respekt. Sie setzte eine strenge Miene auf und fragte: »Wer ist deine Mitfahrgelegenheit überhaupt?!« Ihr Ton ließ durchblicken, dass sie nicht nur Katrina, sondern auch dem Ausdruck Mitfahrgelegenheit tiefes Misstrauen entgegenbrachte.

»Die kennst du nicht«, sagte Katrina.

Martina nahm sich vor, künftig ihre Lehrlinge zu siezen. »Mit wem?!«, fragte sie scharf.

»Frau Loor heißt sie«, sagte Katrina patzig. »Aurelie Loor. Sie ist wohl krank. Es ist noch nie passiert, dass sie einfach nicht gekommen ist.«

Martina sah ungläubig aus und sagte nichts. Das war ihr bester Trick; so brachte man Leute zum Sprechen.

»Sie ist Lehrerin an der Christian-Morgenstern-Realschule, wenn du das nachprüfen willst«, sagte Katrina prompt.

»Das mache ich vielleicht auch«, erklärte Martina. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und betrachtete Katrina schweigend.

Katrina sah die Papiere durch, die auf ihrem Tisch lagen. Es waren ein paar Arbeitsaufträge, nichts Weltbewegendes, in einer halben Stunde zu erledigen.

»Die Umweltberatung braucht wieder von den Autofreies-Eistal-Blättchen«, sagte Martina. »Und die Hesse will ein paar Artikel für einen Vortrag kopiert haben.«

»Ich fahre heute mit Wolfgang raus.«

Martinas Augen wurden wachsam. Sie nahm es Wolfgang übel, dass er Akademiker war und ihr einfach so ihr Lehrmädchen wegnehmen konnte, noch dazu für eine Arbeit, die ganz klar nicht zu Katrinas Aufgaben gehörte. »Der hat schon vor einer Stunde nach dir gesucht.« Martinas Nase zuckte genau so, wie wenn sie sich mit Kollegin Petra über die Scheidung der unglücklichen Hesse ausließ. »Was habt ihr eigentlich gestern die ganze Zeit dort draußen gemacht?«

Eine Bank überfallen und Drillinge gezeugt, war Katrina versucht zu sagen. Heute Morgen fand sie Martina besonders schwer zu ertragen. »Das weißt du doch, Wolfgang macht diese Bewertung der Saumgesellschaften des Acker- und Weidewirtschaftslandes. Wir sind eben herumgefahren, er hat geguckt, und ich habe Protokoll geführt.«

Martina schüttelte den Kopf. »Also der muss längst weg sein. Wahrscheinlich mit dem Stefan oben von den Bacherneuerern.«

»Nein, er hat auf mich gewartet«, erwiderte Katrina.

»Ach was.« In Martinas Augen begann etwas zu leuchten.

Katrina bereute ihre Formulierung sofort. Wolfgang hatte nicht wirklich auf sie gewartet. »Ich hab ihn eben getroffen, er hatte noch was zu tun«, erklärte sie rasch.

»Natürlich«, sagte Martina befriedigt. Langsam kristallisierte sich heraus, was sie ihrer Kollegin Petra beim Mittagessen erzählen konnte.

Als sich dann ein paar Minuten später die Tür öffnete, konnte Katrina an Martinas Reaktion erkennen, wer es war. Viel zu lange schon musste sie hier mitten im Raum und mit dem Rücken zur Tür sitzen. Sie konnte die Leute allein an ihrem Schritt und der Art, wie sie die Tür aufmachten, erkennen. Oder eben an Martinas Gesicht. Und das war in diesem Falle eindeutig: Kupplerinnenlächeln, freudiges Nasenzucken und vielsagender Blick: Deine Mitfahrgelegenheit, Katrina.

Wolfgang stand in der Tür und musterte Martina befremdet. Der Raum war schattig und still; er ging nach Norden und es gab darin neue Jalousien. Es war ein Großraumbüro; normalerweise hielten sich hier mindestens sieben Personen auf, aber das halbe Umweltamt hatte Urlaub, und außer Katrina, Martina und dem Buchhalter König, der sich hinter seinem Computer versteckt hielt, war niemand da.

»Also eigentlich kann ich ja die Katrina nicht weglassen«, sagte Martina mit geheucheltem Bedauern. »Wir haben furchtbar viel Arbeit.«

Alle drei wussten, was für eine dicke Lüge das war. Nicht nur das Büro, auch die Ablagekörbe waren leer. Ein paar von den Fenstern des Nachbargebäudes reflektierte Sonnenstrahlen malten Kringel auf die verwaisten Schreibtischplatten.

»Ich sehe es«, sagte Wolfgang.

Martina ließ sich nicht in Verlegenheit bringen. »Wenn die anderen Urlaub haben, ist es immer am schlimmsten«, erklärte sie scheinheilig. »Wir müssen deren Arbeit mit machen.« Auf ihrem Tisch lag offen der neue Opel-Speedster-Prospekt. Aufgeschlagen auf der Seite mit den Sonderausstattungen.

Martina folgte Wolfgangs Blick dorthin und grinste herausfordernd. Sag doch was, du Biologe mit einer halben ABM-Stelle.

»Komm«, sagte Wolfgang zu Katrina. Er wandte sich zum Gehen, denn Martina holte schon Luft, um zu protestieren.

»Und was soll ich der Hesse erzählen, wenn sie nach dir fragt, Katrina?« Ihre Stimme klang gefährlich. Diesen Ausflug wirst du teuer bezahlen.

Katrina stand auf und nahm ihre Tasche. »Die Wahrheit ...?« Einen Tag im Büro hätte sie heute sowieso nicht ausgehalten.

Sie fuhren durch eine grüngoldene Landschaft, die, wenn das Wetter anhielt, bald braun sein würde; sie fuhren systematisch Feldwege ab. Sie fuhren durch stille Landschaften, durch Weinberge, winzige Weiler und durch den einen oder anderen größeren Ort. Wo sonntags Touristen und Wanderer herumliefen, war es heute, am Freitagmittag, malerisch. Sie sprachen nicht viel. Sie hatten Karten bei sich, Bestandspläne und ein paar Luftaufnahmen, und sie begutachteten die Feldgehölze und die Wiesen-, Weiden- und Feldsäume. Und es war schon erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit Wolfgang sagen konnte: »Okay, da haben wir wieder unsere Schlehen-Liguster-Gesellschaft – aber mit Nitratflora in der Saumzone. Lass uns schauen, ob sie noch die alten Maße hat.« Und dann stiegen sie aus, wanderten zehn Minuten durch die Wiese oder das Feld und er wusste Bescheid. Gut, es ging nur um eine grobe Überprüfung des bereits kartierten Bestands, und Katrina wusste natürlich, dass Ökologen Jahre ihres Lebens auf Wiesen und in Wäldern verbringen mussten, bevor man ihnen ein Diplom ausstellte. Trotzdem fand sie die Sicherheit, mit der Wolfgang zu Werke ging, beeindruckend. Bei der Arbeit dabei zu sein war eben doch etwas anderes.

Katrina las die Karte. Sie war dafür zuständig, dass sie alle Feldwege entlangfuhren, die innerhalb des Suchgebietes lagen, und dafür, dass diese Fahrt in einer möglichst logischen Reihenfolge verlief. Und sie musste die Ergebnisse dokumentieren, sprich, in die Pläne eintragen. Es war keine besonders schwierige oder aufregende Aufgabe; das Schwierigste war, bei der Fahrt in Wolfgangs schaukelndem altem Golf durch die träumerisch stille Sommerlandschaft nicht einzuschlafen. Und aufregend war höchstens, dass Katrina für eine kurze Zeit der ständigen und eifersüchtigen Kontrolle im Amt entkommen war. Weil sie Lehrling war, musste sie dort andauernd um Erlaubnis fragen. Martina mäkelte selbst an den Kopien des Speiseplans herum, die Katrina jeden Montag anzufertigen und aufzuhängen hatte. Und leider war das nicht allein auf Martinas Bosheit zurückzuführen. Diese Behandlung war im Amt und, soviel Katrina wusste, auch sonst überall ganz einfach üblich, wenn man Lehrling war.

Außer bei Wolfgang. Er hatte noch kein einziges Mal nachkontrolliert, ob sie nicht etwa ein paar Felder vergessen hatten, er machte nicht die geringsten Anstalten, ihr die Karte zu entreißen und nachzusehen, ob sie sich noch innerhalb deren Grenzen befanden. Er fragte auch nie, ob sie wirklich sicher sei und dergleichen. Er folgte Katrinas Führung ohne Kommentar. Anfangs war ihr dieses blinde Vertrauen fast unheimlich gewesen – wenn sie nun doch einen Fehler machte? Was, wenn sie sich irrte? Was war dann?

Dann hätten sie sich halt verfahren.

Wolfgang konzentrierte sich auf die Landschaft, die vor ihnen lag. Es war altes Kulturland, ein sanft abfallendes, aber nicht allzu weites Tal mit den typischen Waldbeständen auf den Hügeln und Mais- und Getreidefeldern in der Senke. Um einen Hof mit mächtigen weiß gekalkten Gebäuden gab es neben den Feldern ein paar Weiden und Streuobstwiesen. Der Bach, der hier irgendwo sein musste und der normalerweise im Talgrund eine Aue erzeugen sollte, war unsichtbar, also kanalisiert oder gar verrohrt. Alles sah sehr hübsch und gepflegt aus, es gab frei laufende Hühner beim Hof, ein paar Kühe auf einer riesigen Weide, einen überschaubaren Horizont. Doch auch hier lagerte Bauschutt an den Hecken. Der Wald setzte sich vorwiegend aus Fichten zusammen, auf den Wiesen gab es zu viel Löwenzahn und zwischen den Feldern zu wenig Gehölze. Der Bienenbesatz – eines ihrer Suchkriterien – konnte nicht mehr so groß sein wie eigentlich nötig.

»Sollen wir zum Hof fahren, um nach einem Imker zu fragen?«, fragte Katrina, von ihrer Karte aufsehend. »Dann müssen wir nämlich jetzt gleich nach links. Genau. Dort runter.«

Wolfgang bog ab. Es war sein Auto, kein Dienstfahrzeug. Vor zwei Tagen, als sie ihre erste Tour unternahmen, war er kurz erschrocken, als Katrina in den Golf stieg. Der ganze Müll! Wie war es nur möglich, dass ihm diese uralte Kaffeetasse, die da am Boden klebte, nicht aufgefallen war? Und die Rückbank lag voll gammeliger McDonalds-Tüten. Und leeren Dosen. Und Silberpapier. Katrina allerdings hatte sich das Ganze unbeeindruckt angesehen; ihr einziger Kommentar war, sie habe geglaubt, Biologen – und erst recht Ökologen! – seien alle Vegetarier.

»Ich nicht«, hatte Wolfgang gesagt. »Ich lebe praktisch von Big Macs.« Und er kannte eine Reihe von Leuten, die dazu nur süffisant gemeint hätten, so siehst du auch aus. Fast erwartete er, Katrina das sagen zu hören.

Doch sie hatte es natürlich nicht gesagt. Sie hatte gelächelt. Obwohl sie es eigentlich vermied, ihn direkt anzusehen, hatte sie ihm dieses Mal vertrauensvoll in die Augen geblickt und gesagt, sie äße am liebsten Pommes mit ganz viel Ketchup, und sie könne sich auch vorstellen, praktisch davon zu leben.

Und das, so war ihm später aufgefallen, abends nämlich, als sie einen langen, heißen Tag hinter sich hatten und stundenlang gemeinsam in der Sonne herumgelaufen waren, hätte mit etwas mehr Gefühl in der Stimme fast ein Antrag sein können.

Diesen Gedanken hatte er sich natürlich sofort wieder aus dem Kopf gerissen. Eins war sehr klar: Er wollte nichts weniger als Fantasien mit Katrina in der Hauptrolle. Erstens, weil er nicht von jetzt ab morgens aufwachen und feststellen wollte, dass er noch seine Jeans bügeln musste. Für Aurelie hatte er sich da genug zum Affen gemacht. Und nicht nur in puncto Garderobe. Zweitens, weil Katrina tabu war. Lieber Himmel, sie war nicht mal achtzehn! Und drittens – aber das war eigentlich albern. Nein, ein Drittens gab es nicht.

Obwohl –

Es war ihm noch keine Frau so ausgeliefert gewesen wie Katrina.

Sie stieg aus und klingelte an der Tür des Haupthauses. Seit Katrina vorgestern von einem freundlichen Imker ein Glas Honig geschenkt bekommen hatte, befragte sie die Bauern gern persönlich nach ihren Bienen. Wolfgang war ebenfalls ausgestiegen; er lehnte am Auto und drehte sich eine Zigarette. Hinter ihnen begrenzten ein Blumengärtchen und ein Weizenfeld den Hof. Eine Schar Gänse lagerte in einem umzäunten Abschnitt des Gartens unter ein paar Bäumen im Schatten. Einige der Tiere zischten ihnen – den Eindringlingen – entgegen, doch nicht allzu laut. Für richtige Aggression war es zu heiß.

»Da ist niemand«, sagte Katrina. Sie sah unglaublich frisch aus. Ob sie überhaupt jemals schwitzte?

»Wir kriegen auch so raus, was wir wissen wollen«, sagte Wolfgang und blickte sich um. Die Gegend kannte er. In der Nähe gab es einen alten Steinbruch mit einem See. »Dann können wir Mittag machen.«

Katrina hatte sich dem blühenden Teil des Gärtchens zugewandt. Rosen und Rittersporn, Akelei und ein paar schon etwas aus den Fugen geratene Stiefmütterchen standen dort neben einem verwilderten Salatbeet. Interessiert beugte sie sich über die Rosen. Sie kannte sich ein bisschen damit aus, hatte sie ihm erzählt, irgendjemand in ihrer Familie oder so war Rosenliebhaber. Mit einer Mischung aus Eifer und Hochmut musterte sie den Strauch. Wie eine alte Gärtnerin, dachte Wolfgang amüsiert, die einen Blick auf die Beete der Nachbarin wirft.

»Nur ganz gewöhnliche Teehybriden«, befand sie. »Nichts Besonderes.«

Nachdem dies geklärt war, kam sie zum Auto zurück, klappte ihren Sitz nach vorn und fischte sein Bestimmungsbuch, die Karte und ihren Block aus dem Gerümpel auf dem Rücksitz. Wolfgang steckte die Zigarette an. »Die hier rauch ich noch, dann schauen wir uns die Feldholzinsel da vorne an.«

Katrina nickte und wandte sich ein wenig nachdenklich dem Acker zu.

»Claviceps purpurea?«, fragte Wolfgang. Katrina hatte ihn gestern gebeten, ihm den Pilz zu zeigen, »aus dem man LSD macht«. Er hatte ihr einen so langen Vortrag darüber gehalten, wie giftig er war, dass sie schließlich abgewunken und gemeint hatte, es sei nicht ihre Absicht, die Familie auszurotten, sie habe nur mal sehen wollen, wie das Zeug aussah, von dem sie schon so viel gehört habe. Sie werde jemand anders fragen. Wo sie denn so viel darüber gehört habe, hatte Wolfgang sich nicht verkneifen können zu fragen. Ihre Antwort war seltsam gewesen. »Na zu –«, hatte sie gesagt und sich dann verschluckt. »In der Disco.« Wolfgang war überzeugt, dass sie hatte zu Hause sagen wollen.

»Bitte?«

»Suchst du Mutterkorn?«

»Was?«

»Das Zeug, aus dem das erste LSD gemacht wurde.«

Katrina sah auf das Buch in ihrer Hand, dann wieder über das Feld.

»Da vorne«, sagte Wolfgang etwas abrupt und deutete auf eine Ähre mit schwärzlichen Auswüchsen, die vor ihnen im Feld stand. »Was sagt das Buch?«

»Hm«, machte Katrina. »Wir werden sehen.«

»Das ist es.«

Sie sah genauer hin, blinzelte. »Glaub ich nicht. Wollen wir wetten?« Das sagte Katrina ungefähr hundertmal am Tag.

»Worum?« Das hatte er noch nie gesagt.

Eine Lerche stieg über ihnen in die Luft und begann zu schlagen. Das Feld wogte leise, im Schatten des Waldsaums wandelte sich sein Grüngelb in tiefes Oliv.

»Eine Fahrstunde.«

»Und was, wenn ich gewinne?«

Sie blickte in das Feld. »Tust du nicht.«

»Eine Partie Darts.«

Katrina sah ihn an. »Du kannst immer noch zurück. Wenn du Angst um dein Auto hast oder so.«

»Ach, auf einmal bist du nicht mehr sicher?«

»Ich will dich nicht ruinieren«, sagte sie achselzuckend.

»Das schaffst du nicht«, erklärte Wolfgang ernst.

»Wollen wir –?« Sie unterbrach sich und lächelte unwillkürlich. Er nicht.

»He«, sagte Katrina. »Jetzt zeig ich dir mal, wie leicht du zu besiegen bist – komm!«

Er folgte ihr ins Feld.

»Käfer«, triumphierte sie, »das sind nur Käfer.«

Das vermeintliche Mutterkorn entpuppte sich tatsächlich als ein Grüppchen Getreidehähnchen.

»Ich brauch wohl eine Brille«, sagte Wolfgang.

»Du musst dich nur besser konzentrieren.«

Wie wahr. Wolfgang schnippte seine Kippe im hohen Bogen auf den Sandboden im Hof und machte, dass er aus diesem Feld herauskam. Er trat die Zigarette sorgfältig aus. »Komm«, sagte er dann.

-2-

Dass ihre Schwester Barbara eine Verabredung vergaß, war nicht ungewöhnlich. Kriminalkommissarin Bettina Boll stellte Sekt, Zeitung und ein üppiges Kuchenpäckchen neben dem Stapel graublauer Papiermüllsäcke vor Barbas Wohnungstür ab und suchte in ihren Taschen nach dem Schlüssel. Sie hatte einen Zweitschlüssel, für alle Fälle. Es konnte nämlich nicht mehr lange dauern, hatte der Arzt gesagt, und: »Es wird ganz schnell gehen.« Als ob das ein Trost wäre. Ein Wunder wäre jetzt angebracht, hatte er dann gemeint. Und dass solche Wunder passieren konnten, man durfte nur nicht damit rechnen.

Aber irgendwie taten sie es doch. Barba wirkte auch überhaupt nicht richtig krank, sie war nur etwas blasser. Und ab und zu verzweifelt. Doch manchmal bröckelte die Fassade der Munterkeit, nicht nur bei Barba. Auch Bettina spürte den Druck. So wie in dem Moment, als ihr ein Ring vom Finger gerutscht war, den sie sich zuvor immer hatte überzwingen müssen. Er war einfach so zu Boden gefallen, im Büro, vor Willenbachers Augen, sie hatte es nicht mal gemerkt. Willenbacher jedoch hatte nachgesehen, was da so geklimpert hatte. Er hatte den Ring gefunden und plötzlich sehr besorgt ausgesehen. Das konnte Bettina zwar nicht leiden – fremde Besorgnis –, aber dadurch hatte sie erst erkannt, wie viel sie in den letzten Monaten abgenommen hatte. Es war alles eine Frage der Kraft, und die konnte einen schnell verlassen. Der Tod war in Wahrheit näher, als man dachte. – Aber sie wollte die Tür aufsperren.

Und jetzt hatte sie den Schlüssel nicht bei sich. Bettina klopfte an die Tür. »Barba! Ich bin’s. Barba! Happy Birthday! – Barbara Boll! Hier ist die Polizei!«

Nichts. Sie waren nicht da. Wären sie da, dann hätte zumindest Adrienno, ihr kleiner Neffe, geantwortet, oder Sammy, ihre Nichte, zu schreien begonnen, und überhaupt würde man Radio hören und der Kinderwagen würde vor der Tür stehen. Also waren sie einkaufen. Typisch Barba. Gestern Abend noch hatten sie darüber gesprochen, wie sie feiern wollten. Dass Bettina alles mitbringen würde. Und jetzt hatte Barba wohl wieder irgendein absonderliches Gelüst befallen. Wahrscheinlich hatte sie sich aufgemacht, um etwas Kaviar zu besorgen. Oder Hagebuttengelee. Oder weiß der Geier was. Es war doch immer dasselbe. Bettina beschloss, sich nicht aufzuregen. Es war immerhin Barbas Geburtstag.

Bedauernd musterte sie die schmutzige Treppe. Ach, was soll’s, dachte sie dann, die Hose muss sowieso gewaschen werden. Und setzte sich und öffnete das Kuchenpäckchen.

Irgendwo oben im Haus klappte eine Tür. Es war der Student mit den blonden Rastas aus der WG im dritten Stock, der manchmal für Barba babysittete. Er polterte die Treppe herab. »Na, kleines Picknick?«, fragte er, als er Bettina sah.

Bettina hielt ihm den Kuchen hin.

Er nahm ein Stück Bienenstich. »Du kannst gern oben warten«, bot er mit einem Blick auf die ungeputzte Treppe an.

»Danke«, sagte Bettina, »aber bei Barbaras engem Terminkalender kann ich das nicht riskieren. Am Ende verpass ich die fünf Minuten, die sie braucht, um ihre Einkäufe hier abzuladen.«

»Hey«, sagte der Student, »sie ist sehr tapfer.« (Er war Soziologiestudent.)

»Ja.« Bettina nahm sich die Zeitung vor.

»Wir haben noch Kaffee oben.« Er sah sie einen Moment an. »Ich bring dir einen runter.«

»Danke, aber ich hoffe, dass sie gleich kommt.«

»Das glaub ich weniger«, sagte der Student, »sie ist gerade erst weggefahren.«

Bettina legte die Zeitung fort. »Weggefahren?! Womit denn?«

»Mit so einem komisch braunen Ford Taunus. Ich hab ihr geholfen, die Sachen runterzutragen.«

Sie starrte ihn an. »Hör mal zu, das ist das original Goldbraunmetallic ... Moment.« Sie schüttelte den Kopf. »Was für Sachen?!«

»Na, den Koffer«, sagte der Soziologiestudent.

* * *

»Zur Mittagspause können wir nachher zu einem Steinbruch hier in der Nähe fahren«, sagte Wolfgang und richtete sich aus dem fast reifen Weizen auf. »Auch hier stimmen die Abmessungen nicht mehr. Das sind höchstens noch drei mal fünf Meter Gehölz, und die Saumzone fehlt fast völlig.«

Katrina kritzelte es in die Karte.

»Dem Irrlicher«, sagte sie dann und lächelte ihn an. »Dem mit dem See.« Das Lächeln fiel ihr nicht mehr so schwer wie zu Beginn ihrer Zusammenarbeit. Sie hatte sich fast an sein Aussehen gewöhnt. Oder vielmehr an das Zusammensein mit ihm. An dieses Aussehen, das wusste sie, würde sie sich niemals gewöhnen können, aber sie musste den Typen ja nicht heiraten. Es reichte, wenn sie während dieser Arbeit, die sie nun mal zusammen machten, gut mit ihm auskam. Und das tat sie. Sie sah ihn einfach nicht so genau an. Wenn sie fuhren, konnte sie mit ihm reden, ohne ihn anzublicken, das merkte er gar nicht, denn er musste ja auf die Straße schauen. Wenn sie durch die Felder gingen, konnte sie ihre Nase in das Bestimmungsbuch stecken. Wenn sie nebeneinander saßen und Mittag machten, war es schon schwieriger, aber auch das hatte Katrina bis jetzt ganz gut hingekriegt. Sie sah also an den Schweißflecken auf seinem T-Shirt, seiner schlechten Haut, dem ungepflegten Bart, der schiefen Nase vorbei und lächelte. »Ich kenne die Gegend auch«, sagte sie leichthin. »Ich wohne hier in der Nähe.«

»Wirklich? Wo denn?«

»Am Galgenhübel.«

»In der Containersiedlung?«

Katrina nickte.

»Ach herrje«, rutschte es Wolfgang heraus. »Soll die nicht – ich meine –« Er war verlegen. Das hätte sie ihm nicht zugetraut.

»Wir sollen schon seit Jahren umgesiedelt werden«, sagte Katrina, »aber das werden sie nicht mehr durchkriegen. Nicht nach der langen Zeit.« Sofort bedauerte sie, damit angefangen zu haben. Hatte sie etwa geglaubt, Wolfgang sei anders? Jetzt sah sie die üblichen Filme hinter seiner Stirn ablaufen. In der Containersiedlung gab es kein Leitungswasser, Strom nur über Generator, und wenn sie aufs Klo mussten, gingen die Bewohner auf ihre chemischen Toiletten oder einfach in den Wald. »Aber an jedem Fenster eine Satellitenschüssel«, hatte mal in einem Artikel der Rheinpfalz gestanden. Normalerweise verriet sie ihre Adresse nicht freiwillig. Wenn Wolfgang es im Amt herumtrug, hatte die dämliche Martina einen Grund mehr, auf ihr herumzuhacken. Mädchen, heute stinkst du ja überhaupt nicht. Sie war zu doof.

Wahrscheinlich würde er auch gleich sagen, er kenne jemanden, der seit Ewigkeiten versuche, seine Kellerwohnung zu vermieten. Die sei zwar dunkel, aber dafür gäbe es dort eine Dusche. Oder: Das sieht man dir gar nicht an. Das sagten die meisten Leute, wenn sie erfuhren, wo Katrina herkam. Ihr Klassenlehrer aus der Berufsschule hatte ihr angeboten, sie in einer Behinderten-WG unterzubringen. Fürs Erste. Er wollte seine Beziehungen für sie spielen lassen, hatte er gemeint.

»Hey«, sagte Wolfgang und sah auf seine Hände, »da sind wir ja fast Nachbarn. – Hier sind wir, glaube ich, fertig.« Er wandte sich zum Gehen.

»Dann wohnst du bestimmt in Irrlich«, sagte Katrina, die sich immer noch über sich ärgerte und die Karte achtlos in die Hosentasche stopfte. Irrlich war der Ort unterhalb des Galgenhübels.

Wolfgang schüttelte den Kopf. »Antoniushof«, meinte er.

Auf Katrinas Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Ha!«, machte sie. »Gibt’s da überhaupt Strom?«

* * *

»Wohin«, fragte Bettina Boll mit betonter Ruhe, »ist sie gefahren?!« Sie hatte den Studenten mit den Rastas raus auf den Parkplatz gezerrt. Der Parkplatz lag etwa auf halber Strecke zwischen Barbaras und Bettinas Wohnung. Von hier aus war Barbara losgefahren. Mit dem Ford Taunus. Sie hatte also das kostbare Goldbraunmetallic-Auto ihrer Schwester genommen. Schön. Rasta konnte Bettinas Aufregung trotzdem nicht verstehen.

»Keine Ahnung«, wiederholte er geduldig.

»Aber irgendwas muss sie doch gesagt haben!«

»Hey«, sagte Rasta. »Es tut mir Leid. Okay? Sie hat wirklich nichts gesagt. Nur dass sie einkaufen wollte oder so.«

»Mit einem Koffer?!«

»Ich hab sie nicht danach gefragt.«

»Wieso nicht?!«, schrie Bettina.

Die Sonne flirrte über den glänzenden Autoreihen. Die Luft roch nach Asphalt und warmem Gummi. Rasta hob die Hände. »Jetzt beruhige dich erst mal.«

»Verdammt noch mal!« Bettina funkelte den Studenten an. »Sie ist krank.«

Rasta wurde es langsam zu bunt. »Und da bin ich dran schuld, ja?!«

»Sie muss Medikamente nehmen. Ich darf sie nicht aus den Augen lassen!«

»Sie kommt schon klar, Mama«, sagte Rasta.

»Und das blöde Mama kannst du dir sowieso sparen.«

»Okay«, sagte Rasta, dem es endgültig reichte. »Ich muss los. Tschüss.«

Bettina rieb sich die Stirn. »Warte. Ich wollte dich nicht anschreien. – Ich bin im Moment ziemlich gut drauf, was?«

»Hey, Doris-Day-mäßig«, sagte Rasta und blickte sie an. »Du machst dir Sorgen.«

Bettina sah über die Autos hinweg und biss sich auf die Fingerknöchel. »Das war nicht nur so gesagt«, meinte sie dann. »Mit aus den Augen lassen und so. Es ist wegen der Kinder, weißt du.« Und klar ausdrücken konnte sie sich auch nicht mehr. »Dabei hat sie heute Geburtstag –« Hastig kramte sie nach einem Tempo. »Mist!«

»Hey Mann, verdammte Kacke«, sagte Rasta.

Und das kam wenigstens von Herzen.

* * *

Sie waren also hoch zum Steinbruch gefahren und hatten sich einen Moment lang unterhalten wie alte Freunde. Jetzt hatten sie ein Gesprächsthema: die Vorurteile der Irrlicher. Die Antoniushöfler galten in Irrlich als wunderliche Eigenbrötler, denen man den jahrhundertelangen Inzest schon am Gesicht ansehen konnte (stimmt tatsächlich, dachte Katrina in dem Moment, verdrängte den Gedanken aber sofort), die Containersiedler dagegen hielt man für verrückte Aussteiger, Huren und Kleingauner, die sonst nirgends unterkamen. Gemeinsam waren Wolfgang und Katrina der Meinung, dass die Irrlicher ihrerseits – mit ganz wenigen Ausnahmen – jeden Moment in ihrem kleinbürgerlichen Mief ersticken konnten, und sie versicherten sich gegenseitig, dass sie keine zehn Pferde in dieses Spießernest bringen würden, zumindest nicht für mehr Zeit, als sie für die nötigsten Besorgungen brauchten. Sie beglückwünschten sich, dass sie es geschafft hatten, dem zu entkommen, was sonst wo für normal gehalten wurde.

Obwohl sie beide nicht aus eigenem Antrieb das Außenseiterdasein gewählt hatten. Katrina hätte ihren mageren Monatslohn darauf verwettet, dass Wolfgang ganz gern wie ein normaler Irrlicher ausgesehen hätte. Wolfgang sah wirklich aus »wie vom Antoniushof«. Sein Gesicht bestätigte das Vorurteil in allen Punkten. Und Katrina wusste nur zu gut, dass es in der Containersiedlung kalt und unbequem sein konnte und dass sich dort tatsächlich einige kaputte Typen herumtrieben. Aber, so dachte sie plötzlich, mir sieht man es nicht an. Ich bin im Vorteil. Ich könnte immer noch einfach fortgehen und in einer anderen Gegend – einer Großstadt! – neu anfangen. Wolfgang dagegen könnte wohl abnehmen und sich anständig rasieren und zur Kosmetikerin gehen und Gewichte stemmen, aber sein Gesicht bliebe dasselbe. Und er war schon uralt. Einiges über dreißig. Sie sah Wolfgang vorsichtig von der Seite an. Er blickte zu ihr her. »Ob jemand am See ist?«, fragte er mit dunkler Stimme.

Und mit einem Mal hoffte Katrina, es würde jemand am See sein. Es war verrückt: Gerade eben hatte sie mit Wolfgang gelacht und Witze gemacht. Und jetzt plötzlich fühlte sie sich bedrängt. Er hatte so einen Ton in der Stimme, irgendwie – entschlossen. Er erinnerte sie an diesen seltsamen Mann, den sie einmal auf einem einsamen Feldweg getroffen hatte. Er war ihr lächelnd entgegengekommen und hatte sie dann gefragt, ob sie keine Angst hätte, so ganz allein? Das war unheimlich gewesen. Sie beobachtete, wie Wolfgang schaltete, ein Schlagloch umfuhr. Er war unheimlich. Oder? Oder holte sie jetzt nur die Tatsache ein, dass sie den armen Kerl nie richtig angeschaut hatte, immer darauf bedacht, ihn nicht anzustarren, nicht zu beleidigen, Distanz zu halten zu einem, der aussah wie vom Antoniushof? War Wolfgang einfach immer so? Er schwitzte sehr stark. Er war auch sehr behaart. Und er trug eine sehr unelegante kurze Hose, die seinen Bauch einschnürte. So wie er sich da hinters Steuer gezwängt hatte, konnte er sich gar nicht wohl fühlen. Er sah hilflos, unförmig aus, aber seine Augen und seine Stimme waren nicht hilflos. Katrina lächelte ihn an. Versuchsweise. Seine Augen blieben ernst. Sie sah weg. Hatte sie jetzt drei Tage lang ins Leere gelächelt und es nicht gemerkt?

»Vielleicht können wir baden, bei der Hitze«, sagte er und verrieb einen Schweißtropfen auf seiner Wange.

Katrina erstarrte. Sie würde nicht, auf keinen Fall, mit diesem Typen zusammen irgendetwas machen, wobei man sich ausziehen musste. Und ins Wasser würde sie mit Wolfgang auch nicht gehen. Im Wasser verlor man zu leicht den Boden unter den Füßen. Sie betrachtete seine Arme von der Seite. Er war viel stärker als sie. Sie konnte wahrscheinlich schneller rennen, aber nicht mal das war sicher. Außerdem hatte sie ihre Plateausandalen an. Wenn er wollte, hatte er sie zweifellos in weniger als drei Minuten hinter einen Busch gezerrt. Wie um den Gedanken zu bestätigen, trat er plötzlich heftig aufs Gas. Katrina wurde in ihren Sitz gedrückt.

Du spinnst, schalt sie sich dann. Tagtäglich fuhren Tausende von Männern und Frauen, die zusammen arbeiteten, miteinander durch die Gegend, ohne dass er gleich an der nächsten Ecke über sie herfiel. Die Volkswirtschaft würde zusammenbrechen, wenn all diese Frauen sich plötzlich weigerten, allein mit einem Mann unterwegs zu sein. Außerdem wusste man im Amt, mit wem sie hier war. Wenn ihr etwas zustieß, dann konnte Wolfgang sich genauso gut ein rotes T-Shirt anziehen, auf dem stand: Ich war es. Sie stellte sich Wolfgang in einem engen roten T-Shirt vor und musste lächeln. Es wäre natürlich eins mit einem kleinen runden Halsausschnitt, durch den er gerade noch so seinen Kopf quetschen konnte. Er würde aussehen wie eine knallrote Knackwurst, dachte sie rachsüchtig. Wie eine knallrote Knackwurst vom Antoniushof. Das mulmige Gefühl verschwand.

Sie war eine kleine Hure vom Galgenhübel.

Wolfgang schaltete einen Gang runter, wich einem Schlagloch aus. Er wünschte, Katrina hätte ihm das nicht erzählt. Sie sah doch jung und hübsch und unberührt aus, sogar unauffällig, wenn man sie mit den anderen Damen aus der Containersiedlung verglich, die Wolfgang kannte. Katrina war nicht bemalt und gefärbt und vom Alkohol gezeichnet. Aber trug sie nicht ein Fußkettchen und ein viel zu enges, grellfarbenes bauchfreies Top? Es war sinnlos, sich da etwas vorzumachen: Die Containersiedlung war ein Puff.

Das war kein Vorurteil. Wolfgang wusste es mit hundertprozentiger Sicherheit. Gut, Katrina arbeitete im Amt wie er, aber das mochte Tarnung fürs Jugendamt sein. Er hatte sie auch noch nie im Exxtrabreit, der Disco unterhalb des Hübels, gesehen, aber das Exxtrabreit hatte eine Menge Winkel und Ecken. Genau genommen war er auch schon ziemlich lange nicht mehr dorthin gefahren. Ein paar Jährchen musste es her sein. Möglicherweise war Katrina jetzt die große Attraktion auf dem Galgenhübel. Wahrscheinlich war sie teuer. Sicher musste man sich zu ihr durchkaufen, Andeutungen machen, handeln, denn sie war erst sechzehn oder siebzehn. Und eine der anderen Damen nach ihr zu fragen wäre vielleicht gar nicht klug, für die war ein Mädchen wie Katrina zweifellos schwer geschäftsschädigend. Oder womöglich würden sie ihn gar nicht zu ihr lassen, weil sie noch wussten, was er mochte.

Jetzt lächelte Katrina ihn an.

Wolfgang war froh, dass es so heiß war, sonst hätte sie sicher gemerkt, wie ihm plötzlich der Schweiß ausbrach. »Vielleicht können wir baden, bei der Hitze«, sagte er unwillkürlich und verrieb einen Schweißtropfen auf seiner Wange.

Sie sah plötzlich stocksteif geradeaus. Eben noch hatte sie ihn angeschaut. Was hatte er getan? Er hatte vorgeschlagen zu baden. Das wollte sie nicht. Das war ihr gutes Recht. Er wurde ganz plötzlich wütend. Das Auto tat einen zornigen Ruck vorwärts, als er das Gaspedal durchtrat. Sie musterte ihn misstrauisch von der Seite. Du miese kleine Hure, dachte Wolfgang.

Dann schämte er sich dafür. Oben am Galgenhübel standen mindestens fünfzehn Container herum, ganz zu schweigen vom Exxtrabreit, in dessen Obergeschoss die beiden Damen des horizontalen Gewerbes ihrer Tätigkeit nachgingen. Oder zumindest vor Jahren nachgegangen waren. Das bedeutete aber nicht, dass alle Mädels aus der Siedlung Freiwild waren. Hatte er nicht gerade vor fünf Minuten über die kleinkarierten Vorurteile der Irrlicher gelästert? Er war sehr wütend auf sich selbst.

Weil es jetzt nämlich so weit war. Jetzt hatte er es geschafft. Jetzt würde er wirklich morgens aufwachen und den Tag mit Katrina fürchten.

In dem Moment sahen sie beide den Hund. Katrina schrie auf, und Wolfgang stieg fluchend auf die Bremse.

* * *

Dass sie diesen blöden Zweitschlüssel nicht gleich bei sich gehabt hatte. Wozu hatte sie ihn eigentlich. Bettina widerstand der Versuchung, die Eingangstür gegen die Wand schlagen zu lassen. Barba machte das immer, seit der Türstopper auf unerklärliche Weise verschwunden war. Sie führte einen ziemlich einseitigen Grabenkrieg mit dem Vermieter, weshalb, hatte Bettina nie richtig herausfinden können. Er war mit Abstand einer der Gelassensten, die Bettina je kennen gelernt hatte. Wahrscheinlich deswegen. Barba war ja schon immer verdreht gewesen.

Es war kühl und still im Hausflur, und sie fröstelte, obwohl in ihrem Nacken unter den langen Haaren der Schweiß stand. Sei da, Barba, dachte sie, sei einfach da. Sie stieg die Treppe hoch zum ersten Stock. Kein Kinderwagen, alles war ruhig. Sie lauschte. Öffnete da nicht jemand die Haustür? Waren da nicht Kinderstimmen?

Nein.

Sie sah auf die Uhr. Vor anderthalb Stunden waren sie verabredet gewesen. Und da standen auch noch das offene Kuchenpäckchen und der Sekt vor der Tür; die Zeitung hatte sich jemand mitgenommen.

Frechheit, dachte Bettina. Einfach unglaublich.

Dann sperrte sie die Tür auf.

* * *

Wolfgang war ausgestiegen und rief den Namen des Hundes. Rocco. Wolfgang kannte den Hund, registrierte Katrina. Es war ein schokoladenbrauner Labrador, ein kräftiges, schlankes, gut gepflegtes Tier. Und sehr aufgeregt. Rocco bellte, knurrte knapp und rannte davon, winselte und kam wieder.

»Verrückter Hund«, sagte Wolfgang und nahm Roccos Kopf in seine großen Hände, »was machst du denn hier?«, und zu Katrina: »Der ist uns doch praktisch vors Auto gesprungen. Da muss was passiert sein.«

Dieser Meinung war Katrina auch. »Im Steinbruch«, sagte sie.

Rocco machte sich unwillig aus Wolfgangs Umklammerung frei, knurrte wieder kurz, bellte und lief davon. In Richtung Steinbruch. Sie folgten ihm zu Fuß; das Auto stand vergessen in der sandigen Zufahrt. Hier kam sowieso kaum jemand vorbei.

Und da im Steinbruch lag sie dann. Wie gestrandet sah sie aus. Wie angespült worden. Obwohl das technisch gesehen natürlich unmöglich war. Nichts an diesem kargen Loch, das weit in die Landschaft hineingehauen war, bewegte sich, schon gar nicht rhythmisch oder fließend. Sogar die leichte heiße Luft stockte. Helle Steine wiesen das Licht zurück. An der tiefsten Stelle stand eine klare Wasserfläche, aus der einzelne vergessene Felsblöcke hervorschauten. Unter alldem lag der tiefe gemeinsame Summton der Insekten. Und mittendrin, zusammengekrampft vor dem Ufer des Sees, die Tote. Es war fast so, als hätte der See, der so unheimlich glatt war, sie ausgespuckt. Wie sollte sie sonst dorthin gekommen sein? In einer kleinen bösen Stunde, in einem unbeobachteten Moment hatte das sonst unbewegte Wasser sich einer jungen Frau bemächtigt, sie kurz missbraucht und wieder ausgestoßen. Die Frau war schön. Und sie war tot. Es war Aurelie. Ihre Freundin Aurelie. Aurelie Loor.

Katrina schrie.

Oder dachte sie nur, sie hätte geschrien? Wo war Wolfgang? Es war absurd. Er war doch in der Nähe. Er musste das doch auch sehen.

Wolfgang kniete. Er war gefallen. Er war vor dem Anblick zurückgeprallt. Er kannte es. Er kannte es! Er kannte das Bild. Er kannte die Frau. Er kannte sogar den See, den Steinbruch, diese lauernde Stille in der Öde aus seinen Träumen. In den Träumen war es anders, aber unwesentlich. Es kam ja nicht darauf an, wie die Szene aussah, wenn sie nur das gleiche Gefühl transportierte. Wie grell das Licht war! Doch, eins war anders: Hier gab es keine Höhenflüge. Das hier war ein Tal. Ein tiefes. Und Aurelie.

Sie lebt noch, dachte Katrina plötzlich. In ihrem Magen wartete ein hysterisches Lachen. Hatte sich da eben nicht etwas gerührt? War da nicht eine Bewegung, ein leises Heben und Senken, ein Atmen? »Aurelie?«, sagte sie und ging auf sie zu.

Da war Katrina. Sie ging auf Aurelie zu. Das Blut! Das Blut war wichtig. Es war Blut über Aurelie verschmiert, aber nicht so viel wie in seinen Träumen. Es war anders. Es war zu wenig. Und nicht hell und heiß, sondern dunkel und fest aussehend. Wolfgang stand auf.

Katrina ging weiter. Wolfgang holte sie mit wenigen Schritten ein und packte sie am Arm. Sein Griff war zu fest. Er bebte. Er sah Insekten. Er nahm die Bewegung wahr, die um die Tote kreiste. Für ihn summten die Insekten hungrig. Und raschelte da nicht ein Vogel im Busch?

»Komm fort«, sagte er. Seine Stimme klang fremd, tief und ruhig.

Katrina machte sich los. »Nein! – Sie hat sich bewegt.« Und sie ging zögernd, aber zielstrebig weiter auf Aurelie zu. Sie fasste sie an. Streichelte sie. Weinte. Wolfgang würgte es. Konnte sie denn nicht sehen, spüren, dass sie hier nur noch ein paar Pfund Fleisch und Knochen vor sich hatten, schon ein bisschen angenagt, schon als Brutstätte genutzt, schon käsig?

»Ich glaube, sie lebt noch«, sagte Katrina unter Tränen.

»Katrina«, sagte Wolfgang. Sie hielt Aurelies Hand. Fliegen schwirrten. Es stank. Sie war tot. Sie musste tot sein. »Komm weg da!«

Katrina sah auf.

»Komm!« Er ging auf sie zu, abwendend, was er nur abwenden konnte, riss sie fort.

»Aber –«

Dann rannte er, denn sie sollte nicht sehen, wie er sich übergab.

-3-

Wenigstens hatte sie die Medikamente mitgenommen. Das war ja schon mal etwas. Die Wohnung sah ungewohnt aufgeräumt aus; das Kinderspielzeug fehlte vor allem. Und Barbas Klamotten, die sie sonst konsequent über alle Sitzgelegenheiten verteilte. You’ll never expect the Spanish Inquisition, schrie Michael Palin höhnisch von Barbas Lieblingsposter an der Küchenwand und hob sich leicht in dem kaum spürbaren Zug. Die Wachsdecke auf dem Küchentisch war sauber abgewischt, darauf stand ein Wasserglas mit einem Gänseblümchen und davor lag ein Zettel: Tina. Such mich bitte nicht. Ich rufe dich an. Bin heute Abend wieder da. Sorry. Und darunter ein roter Kussmund.

Ja, ich liebe dich auch, dachte Bettina. Sie riss den Zettel, den ihre Schwester hinterlassen hatte, vom Tisch und stieß dabei das Glas mit dem Gänseblümchen um. Es fiel zu Boden und zerbrach. Bettina scherte sich nicht darum. Sie betrachtete den Brief von allen Seiten. Reizend. Der Geburtstagsausflug war eigentlich für morgen vorgesehen gewesen, da Bettina heute Nachmittag arbeiten musste. Aber Barbara hatte diesen einen Tag nicht warten können. »Ich rufe dich an.« Und dieser blöde Kussmund. Als wäre sie ein verdammter Liebhaber. Komm du mir nach Hause, dachte Bettina.

Ihr Handy klingelte. Aha.

Aber es war nicht Barba, sondern ihr Kollege Müller von der Einsatzzentrale. Sie musste zu einem Fall. Sie sollte sofort zur Dienststelle kommen und sich von Seisel, der Urlaubsvertretung ihres Chefs, instruieren lassen.

»Was ist überhaupt passiert?«, fragte sie Müller.

»Ungeklärter Todesfall in Irrlich, das ist so ein Städtchen oberhalb von Grünstadt. Die Kollegen vom Dauerdienst sind schon draußen und nehmen auf.«

»Wer ist gestorben?«

»Eine Frau. Ist in einen Steinbruch gestürzt. Na, Sie werden ja sehen, Frau Boll.«

Und als sie dann auf dem Parkplatz stand, realisierte sie erst richtig, dass Barba das Auto genommen hatte. Barba hatte das Auto genommen. Ihren Ford.

»Sorry«, sagte Bettina Boll so unaufgeregt wie möglich, »mein Auto wollte nicht anspringen, und es war so schwer ein Taxi zu kriegen.«

Seisel saß in Oberkommissar Härtings Zimmer, auf Härtings Stuhl, hinter Härtings Schreibtisch. Er hatte nichts an der Einrichtung verändert, und doch sah das Zimmer mit Seisel darin ganz anders aus. Kleiner. Seisel war ein kompakter alter Bulle mit tief hängenden Tränensäcken, einem breiten Nacken und grauen Stoppelhaaren. Er war keiner, der in Gesprächspausen demonstrativ seine Grünpflanzen hätschelte, wie Härting das seit neuestem mit einem Monster von Hibiskus zu tun pflegte. Der Hibiskus ließ seine Blätter hängen, stellte Bettina mit Befriedigung fest. Mona, Härtings arme Sekretärin, würde was zu hören bekommen, wenn er wieder da war.

»Sie können mit Menschen umgehen«, sagte Seisel, und Bettina war klug genug, um nicht bescheiden abzuwinken. »Sie werden sich den Tatort ansehen und vor Ort mit den Leuten reden. Die Tote ist in ihrem Wohnort gefunden worden. Sie war Lehrerin, um die dreißig. Frau Aurelie Loor. – Sie nehmen Willenbacher dazu, mit dem haben Sie schon erfolgreich gearbeitet.«

»Schön.« Bettina freute sich. Nachdem Härting festgestellt hatte, dass sie sich mit Willenbacher verstand, vermied er es, sie zusammen einzusetzen. Teile und herrsche, das war sein Motto, doch Seisel waren solche Überspanntheiten fremd.

»Der Kollege Ackermann hat heute noch mit diesem Journalisten zu tun, der erschlagen in seiner Wohnung gefunden wurde, kümmert sich aber morgen um die Angehörigen und die persönlichen Sachen der Toten. Bauer hält sich bereit, falls es nötig ist. Sonst sind ja alle auf Mallorca oder beschäftigt.«

»In Ordnung«, sagte Bettina. Es war neu, dass sie statt Ackermann oder Bauer quasi die Leitung einer Ermittlung übertragen bekam. Ackermann war im gleichen Dienstalter wie sie, wurde aber von Härting stärker gefördert. Bauer war sogar älter. Er hatte eigentlich Urlaub, wie Bettina wusste. Doch weil er nicht wegfuhr und auch keine Familie hatte, war es im K11 schon fast ein Sport, ihn »da rauszuholen«.

Seisel beugte sich ein Stück vor und legte die Hände zusammen. »Ja, dann los, Frau Boll – zeigen Sie mal, was Sie draufhaben, wie man so schön sagt.«

»Okay.«

Sie nahmen Willenbachers Wagen.

»Es ist der dort vorne«, sagte Willenbacher etwas steif, als Bettina sich auf dem Parkplatz vor der Dienststelle vergeblich nach seinem heißgeliebten Uralt-Quattro umsah.

»Der Twingo?!«

Als Antwort sperrte Willenbacher ihn auf.

»Wow«, sagte Bettina, als sie in dem knallblauen Gefährt saß und ihr Kollege anfuhr, »was für eine Farbe. – Der leuchtet sicher auch im Dunkeln.«

»Das ist Aquamarin«, sagte Willenbacher stolz.

»Seit wann hast du den?« Sie waren neuerdings per Du.

»Seit einer Woche«, sagte Willenbacher und streichelte liebevoll das Lenkrad.

»Und was ist mit dem Quattro?«

»Ach, die alte Spritschleuder«, meinte Willenbacher wegwerfend.

Bettina war sprachlos.

Willenbacher bemerkte die Pause und den Blick. »Was ist?«

»Ich hab das noch nicht ganz kapiert«, sagte Bettina.

»Was gibt’s da dran zu kapieren? Überleg doch mal, was der Quattro frisst, und die Steuer und die Versicherung kannst du ja nach der neuen Abgasverordnung auch nicht mehr bezahlen. Da muss man schon so verrückt sein wie du mit deinem Taunus.« Er sah in den Rückspiegel und überholte einen Radfahrer. »Für mich ist ein Auto immer noch ein Gebrauchsgegenstand.«

Gebrauchsgegenstand. »Moment.« Bettina schüttelte den Kopf. »Und was ist mit Verona?«

Das war der Spitzname des Mädchens, das Willenbacher auf die Kühlerhaube seines Quattro hatte sprühen lassen.

»Verona? Ich kenne keine Verona.«

»Hm«, machte Bettina. »Ich schon. Hübsch, blond, Körbchengröße G –«

Willenbacher hupte und fluchte zum Fenster hinaus. Ein erschreckter Passant stolperte rückwärts auf den sicheren Bürgersteig zurück. Alle alten Gewohnheiten hatte er noch nicht abgelegt.

»... und Gegenstand einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen zwei seither verfeindeten Angehörigen der Ludwigshafener Kriminalpolizei.«

»Ach, der scheiß Kunstfälscher.«

Na, wenigstens das Feindbild war noch nicht verblasst. Der unvorsichtige Kollege vom Fälschungsdezernat hatte sich erlaubt zu bemerken, die Aussage des fraglichen Werks erschöpfe sich in einem dringenden Appell an Blondinen, stets für hinreichende Befestigung ihrer Blusenknöpfe zu sorgen. Im Prinzip hatte er, so fand Bettina, nichts als die Wahrheit gesagt. Doch Willenbacher hatte sich aufgeregt. Und sich für das gemalte Mädchen geprügelt.

»Was ist los, hast du eine neue Freundin?«