Die Hexen von Woodville - Geisterzauber - Mark Stay - E-Book

Die Hexen von Woodville - Geisterzauber E-Book

Mark Stay

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Beschreibung

Die Hexen von Woodville sind in höchster Aufregung, denn der Vorsitzende des Hohen Rates hat sein Kommen angekündigt, um Großbritannien vor einem Angriff zu schützen. Selbstredend, dass die Hexen ihn bei diesem großen Zauber unterstützen wollen. Das heißt, bis zu dem Moment, in dem sie erfahren, dass sie sich dafür an den Klippen von Dover versammeln müssen – und zwar nackt. Für solche Ungehörigkeiten war in Woodville noch nie Platz! Doch als sich mehr und mehr Hexen in Woodville versammeln, geschehen plötzlich mysteriöse Dinge und in Faye Bright erhärtet sich der Verdacht, dass es einen Spion in den Reihen der Hexen gibt. Hilfe kommt von unerwarteter Seite: einem widerspenstigen Geist ...

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Seitenzahl: 431

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DASBUCH

Die Hexen von Woodville sind in höchster Aufregung, denn der Vorsitzende des Hohen Rates hat sein Kommen angekündigt, um Großbritannien vor einem Angriff zu schützen. Selbstredend, dass die Hexen ihn bei diesem großen Zauber unterstützen wollen. Das heißt, bis zu dem Moment, in dem sie erfahren, dass sie sich dafür an den Klippen von Dover versammeln müssen – und zwar nackt. Faye Bright allerdings hat gar keine Zeit, sich viele Gedanken wegen des Rituals zu machen, denn in der Scheune von Larry Bell treibt der Geist eines verstorbenen Piloten sein Unwesen, und dann geschieht auch noch ein Mord. Mithilfe ihrer stetig wachsenden magischen Kräfte macht sich Faye auf die Suche nach dem Täter und entdeckt dabei einen schrecklichen Verrat, der ganz Woodville in höchste Gefahr bringt …

DERAUTOR

Mark Stay ist gebürtiger Londoner und arbeitete viele Jahre lang im Verlagswesen. In seiner Freizeit schrieb er an seinen eigenen Texten, inzwischen ist er als freischaffender Autor und Podcaster tätig. Mark Stay lebt in Kent.

Mehr über Mark Stay und seine Romane erfahren Sie auf:

www.markstaywrites.com

Mark Stay

DIE HEXEN VON WOODVILLE

Geisterzauber

Band 3

Roman

Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Thiele

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der englischen Originalausgabe THEGHOSTOFIVYBARN (THEWITCHESOFWOODVILLEBOOK 3)

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 03/2023

Redaktion: Joern Rauser

Copyright © 2022 by Unusually Tall Stories, Ltd

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München, unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.com/Pixejoo

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27553-2V001

www.heyne.de

Gewidmet allen Lehrerinnen und Lehrern, die mich gelehrt haben, wohlklingend zu schreiben und mich darin bestärkt haben. Vor allem (aber nicht nur) Mrs. Godfrey von der Duncombe School in Islington, Miss Molony von der Woodville School in Leatherhead und Mrs. Wright von der Therfield School in Leatherhead.

August 1940

Die Luftschlacht um England tobt weiter, da Hitlers geplante Invasion in Großbritannien – das Unternehmen Seelöwe – von der Zerstörung des RAF-Oberkommandos abhängt. Die Luftwaffe bereitet sich auf den »Adlertag« vor, den ersten Schritt zur Vernichtung der Royal Air Force. In der Zwischenzeit gehen in einer Scheune in einem kleinen Dorf in Kent seltsame Dinge vor sich …

1

Krach in der Scheune

Bertie Butterworths Luftschlacht-um-England-Tagebuch

Freitag, 9. August 1940

Heute Morgen Geschützfeuer in einiger Entfernung. Fliegeralarm von 15 bis 19 Uhr. Abends großer Luftkampf. Viele Blitze. Vielleicht zwanzig Maschinen abgeschossen. Glaube, in der Nähe sind zwei Flugzeuge zusammengestoßen. Muss ich noch genauer untersuchen. Habe heute Bratkartoffeln mit Eiern und Dosenfleisch gemacht. Bisschen salzig. Hatte einen seltsamen Traum, in dem Faye und ich am Himmel Fahrrad gefahren sind. Da oben war es so friedlich. Ich hätte gern ihre Hand gehalten, aber der Wind hat uns auseinandergetrieben. Muss ständig an Faye denken. Wenn ich aufwache, denke ich an sie, und wenn ich Dads Traktor repariere, denke ich auch an sie. Ich denke an sie, wenn ich im Pub ein Pint zapfe, und beim Einschlafen denke ich wieder an sie. Ist das normal?

Faye Brights Zähne klapperten, als ihr Pashley Model A-Fahrrad über die holprige Küstenstraße auf Woodville zurollte. Der Mond stand noch blass am Himmel, auch wenn die Morgensonne bereits warm schien, und das Meer glitzerte. Die Wellen lockten sie hineinzuspringen. Faye war nicht abgeneigt, doch die Strände waren voller Stacheldraht und Tschechenigel und anderer Verteidigungsmaßnahmen gegen eine Invasion, weshalb ein schneller Abstecher ins Wasser ohnehin nicht infrage kam.

Außerdem war Faye völlig erledigt. Die ganze Nacht war sie mit Freddie Paine bei einer Air-Raid-Precaution-Schicht die Küste entlangpatrouilliert, und jetzt wollte sie sich nur noch unter ihrer Bettdecke zusammenrollen und den ganzen Tag schlafen.

Die Nacht war anstrengend gewesen. Irgendwann hatte Faye aufgehört zu zählen, wie viele Flugzeuge ins Meer gestürzt waren. Mindestens zwanzig. Die Luftwaffen-Bomber blieben hoch am Himmel, manche Maschinen flogen allerdings auch tief und schossen auf Sperrballone, als wäre das alles nur ein Spiel. Mr. Paine hatte durch sein Fernglas gesehen und ihr in aller Ruhe erzählt, wie am Tag zuvor die Leichen der Piloten aus dem Wasser gefischt worden waren, während der Himmel wie von einem Feuerwerk erleuchtet gewesen war. Faye hatte sich bei den ARP-Patrouillen mit Mr. Paine immer sicher gefühlt, doch gestern Nacht war ihr zum ersten Mal der schreckliche Gedanke gekommen, dass sie den Krieg verlieren könnten. Sie hatte ihn abzuschütteln versucht, doch wie ein widerlicher Geruch hing er ihr auch jetzt noch nach.

Schon seit Wochen fühlte sich Faye nicht gut. Seit der Geschichte mit dem bayerischen Druiden Otto Kopp. Um drei jüdische Kinder zu retten, die aus Deutschland mit dem Kindertransport nach Woodville gekommen waren, hatte Faye sie über eine magische Schwelle in einen grenzenlosen Leerraum mitnehmen müssen. Einige Zeit lang hatte sie allein mit dem Mond in der unheimlichen Finsternis gestanden, und seine unglaubliche, uralte Macht war durch sie pulsiert. Sie spürte noch immer, wie sie in ihrem Bauch und ihrem Gehirn vibrierte, als warte sie auf etwas.

Faye bog um eine Kurve und sah den Glockenturm von St. Irene über den Baumwipfeln aufragen. In diesem Augenblick rannte Larry Dell auf die Straße und hielt sie auf.

»Faye! Faye Bright, hast du kurz Zeit?«

Larrys Farm war eine der größten in der Gegend. Er baute hauptsächlich Kohl, Hopfen und Gerste an und hatte sich kürzlich auch zwölf Schafe angeschafft. Er war ein netter Kerl mit Unterbiss und einer mächtigen Delle an seiner rechten Stirnseite. Angeblich hatte er sie sich zugezogen, als er einen Angriff in den Flandernschlachten angeführt hatte, doch Fayes Dad sagte, ein Pferd hätte Larry getreten, als er ihm ein neues Hufeisen verpassen wollte, und davon hätte er sich nie ganz erholt.

Faye bremste schlitternd ab.

»Guten Morgen, Larry. Wo brennt’s denn?«

»Nirgends, Faye, aber …« Larry kniff ein Auge zusammen und schob seinen Unterkiefer noch ein wenig weiter vor, als hätte er nicht ganz durchdacht, was er sagen wollte. »Irgendetwas Komisches geht in einer meiner Scheunen vor sich. Hast du vielleicht einen Moment Zeit, um dir das mal anzusehen?«

»Es ist aber nicht schon wieder ein Schaf mit fünf Beinen, oder, Larry? Was gibst du ihnen denn zu fressen?«

»Nein, es hat nichts mit der Farm zu tun, Faye. Aber da du die Tochter deiner Mutter bist und dich mit Mrs. Teach und Miss Charlotte triffst …«

»Oh.« Faye hob das Kinn. »Um so etwas geht es.«

Larry nickte eifrig und lächelte. Wenn jemand im Dorf ein Problem hatte, das nur mithilfe von Magie oder Hexen gelöst werden konnte, fragten sie so verdruckst wie möglich und vermieden jede Erwähnung von Magie oder Hexen. Falls sie plötzlich zugeben müssten, dass diese Dinge real waren, dann müssten sie sich auch mit der Vorstellung auseinandersetzen, dass es auf der Welt mehr gab als sie selbst, und die wahre Fremdartigkeit des Universums würde sie zu sehr verstören. Und das wollte niemand.

Seit dem Vorfall im letzten Monat, als ein bayerischer Druide das ganze Dorf kontrolliert und ein Dämonenhund Faye und die drei verängstigten Kinder verfolgt hatte, konnten die Dorfbewohner die Tatsache nicht länger ignorieren, dass Woodville ein ziemlich merkwürdiger Ort war. Und wenn merkwürdige Dinge geschahen, suchten sie Hilfe bei denen, die die personifizierte Merkwürdigkeit waren. Also kamen sie immer öfter zu Faye, und allmählich gefiel ihr das.

Sie folgte Larry über die gewundene, staubige Straße zu seinem Hof. Kleine Kohlweißlinge tanzten um sie herum, und am Wegrand sahen ihnen Schafe nach.

Sie kamen zu einer großen Scheune am Rand von Larrys größtem Kohlfeld. Sie war über und über mit Efeu bewachsen, und jemand hatte gekonnt das Wort »Ivy« – Efeu – über die Türen gemalt.

»Efeuscheune«, sagte Faye. »Mir ist klar, warum du sie so genannt hast.«

»Nein, nein. Der Efeu ist Zufall. Ich benenne meine Scheunen alle nach, na ja …« Larry errötete.

Faye zwinkerte ihm grinsend zu. »Nach Verflossenen?«

Larry bewegte den Kiefer wie eine wiederkäuende Kuh und deutete auf ein Gebäude auf der anderen Seite des Feldes. »Das da ist Ruby, die beim Farmhaus ist Gladys, und mein Traktor steht in Gustav.«

Faye blinzelte. »Gustav?«

Larry nickte und blickte träumerisch drein. »Wir haben eine Nacht zusammen im Schützengraben verbracht. Beide waren wir vor Angst wie gelähmt. Ich ein Tommy, er ein Hunne, aber jeder von uns Bauer. Netter Kerl. Hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Aber egal.« Er löste sich aus seinen Erinnerungen. »Hier wären wir.«

Sie blieben vor Ivy, der Scheune, stehen, und sofort hatte Faye ein seltsames Gefühl. Ein beunruhigendes Vibrieren lag in der Luft, vor dem jeder normale Mensch zurückweichen würde. Faye blieb stehen.

»Sind hier gestern Nacht die Flugzeuge abgestürzt, Larry?«, fragte sie und warf einen Blick zurück auf das Kohlfeld.

»Stimmt.« Ein sorgenvoller Unterton lag in seiner Stimme. »Eine Hurricane und eine Messerschmitt Bf 110. Haben ziemlich großen Schaden in meinem Feld angerichtet.« Er deutete auf einen großen Krater in der Erde. »Ich hab es selbst gesehen. Die Maschinen sind in der Luft zusammengestoßen und auseinandergebrochen und dann wie Konfetti heruntergestürzt. Das war eine schöne Bescherung. Das meiste habe ich hier hereingebracht.«

Larry zog die Scheunentüren auf, wobei er Staub aufwirbelte, und ein Haufen Schrott kam zum Vorschein. Propellerblätter lehnten an der Wand, ein verschmortes Rumpfstück der Bf 110, die gläserne Kabinenhaube und das von Kugeln zerlöcherte Heck der Hurricane. Diverse Motorenteile lagen auf dem Boden verstreut, zusammen mit Metall, das zu unkenntlichen Klumpen verschmort war, außerdem eine Maschinenpistole, deren Lauf bananenförmig verbogen war.

»Verdammt, Larry, das sieht ja aus, als wäre ein Luftwaffenstützpunkt in einen Schrottplatz gestürzt. Äh, solltest du das denn alles hier aufbewahren?« Faye bemerkte ein paar Räder in einer Ecke, und über einer Stuhllehne hing die fellgefütterte Jacke eines RAF-Piloten.

»Das meiste hat die Army mitgenommen, aber das Zeug hier habe ich in die Scheune geschafft, bevor sie da waren.« Larry hievte sich auf die Werkbank an der hinteren Wand. Hinter ihm hingen Sägen, Hämmer und Meißel. »Wer es findet, darf es behalten, oder?«

»Da bin ich mir nicht so sicher, Larry, aber dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben. Also, wo liegt das Problem?«

Plötzlich lief ihr ein Schauder über den Rücken, ihr Atem stand in Wölkchen vor dem Mund, und die Sommerhitze verflüchtigte sich. Die hintere Scheunentür schlug klappernd auf und zu. Die Bretter in den Wänden knarzten und verteilten noch mehr Staub in die Luft. Eine Sense löste sich von einem Haken an der Wand, schwebte in der Luft und steuerte dann auf Faye und Larry zu.

»Pass auf!« Faye schubste Larry zu Boden, als sich die Sense genau an der Stelle in die Scheunenwand bohrte, an der sein Kopf gerade noch gewesen war. »Raus! Schnell!« Faye packte den Farmer am Ellbogen, zog ihn nach draußen in die Sonne und schlug die Scheunentüren zu. Von innen flogen donnernd Schrottteile gegen die Wände.

»Etwas …« Larry schnappte keuchend nach Luft. »Etwas ist da drin. Auch wenn es beim letzten Mal nichts herumgeschleudert hat. Was könnte das sein, was meinst du?«

Die Scheunentüren erbebten, als etwas Schweres dagegen prallte.

»Was auch immer es ist, es hat richtig schlechte Laune.«

»Das ist ein Poltergeist«, ertönte eine Stimme.

Faye blinzelte ins Sonnenlicht und entdeckte zwei vertraute Gestalten, die sich näherten. Die eine wirkte birnenförmig und bewegte sich mit feinen Trippelschritten, die andere war so schlank wie eine Messerschneide und rauchte eine Tonpfeife.

»Mrs. Teach und Miss Charlotte«, sagte Faye und fragte sich, ob das plötzliche Auftauchen ihrer zwei Hexenmentorinnen gut oder schlecht sein mochte. »Was bringt euch beide denn hierher?« Etwas Schweres donnerte gegen die Scheunentüren und warf Faye und Larry beinahe um.

»Als wäre das nicht offensichtlich.« Charlotte hob eine Augenbraue.

»Mir sind Gerüchte von merkwürdigen Aktivitäten in Larrys Scheune zu Ohren gekommen, und da dachten wir, wir erlauben uns, uns mal schnell ein wenig umzusehen«, sagte Mrs. Teach. »Sieht so aus, als wären wir gerade rechtzeitig gekommen.«

Faye wandte sich an Miss Charlotte. »Wie haben Sie das Ding genannt? Einen Puten-was?«

»Poltergeist.« Charlotte presste die Lippen aufeinander. »Ein wütender Geist.«

»Ein Geist?«, wiederholte Larry und wurde selbst gespenstisch bleich. Er bekreuzigte sich und wich zurück, überließ es Faye, die Scheunentüren gegen die Angriffe aus dem Inneren festzuhalten.

»Larry, mein Lieber.« Mrs. Teach nahm den armen Mann an der Hand und führte ihn von der Scheune weg. »Warum laufen Sie nicht schnell ins Haus und setzen Teewasser auf? Eine kleine Pause würde Ihnen nach der ganzen Aufregung guttun. Ein ordentliches Schläfchen.«

»Teewasser! Und was ist mit dem Ding in meiner Scheune? Ein wütender Geist, haben Sie gesagt? Aber auf wen ist er denn wütend?« Er warf einen Blick auf den Krater im Feld, den die beiden abgestürzten Flugzeuge hinterlassen hatten. »Vergebt mir, ihr Geister. Ich wollte euch euren Schrott nicht wegnehmen. Ich ergebe mich eurer Gnade und …« Er hustete, als Miss Charlotte ihm Rauch aus ihrer Pfeife ins Gesicht blies.

Sie trug verschiedene Tabaksorten mit sich herum, für alle möglichen übernatürlichen Notfälle. Dieser besondere Rauch versetzte Larry sofort in einen angenehmen Dämmerzustand. Faye wusste aus eigener bitterer Erfahrung, dass man sich Miss Charlotte besser nicht bis auf Rauchwolkendistanz näherte.

»Wie wäre es jetzt mit einem Tee, mein Lieber?« Mrs. Teach deutete in Richtung Larrys Cottage.

»Tee … ja«, sagte er abwesend. »Ich … Ich setze mal Wasser auf. Eine schöne Tasse Tee und etwas Shortbread. Hmm.«

Während er benommen nach Hause trottete, stellten sich Mrs. Teach und Miss Charlotte vor die bebende Scheune. Faye lehnte sich immer noch mit aller Kraft gegen die Türen, während ein schwerer Gegenstand nach dem anderen dagegen geschleudert wurde.

»Wollt ihr beiden nur herumstehen wie bestellt und nicht abgeholt oder mir helfen?«, fragte sie.

»Vielleicht ärgert den Poltergeist ja gerade, dass die Türen zugehalten werden?«, überlegte Mrs. Teach.

Miss Charlotte krempelte die Blusenärmel hoch. »Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.« Sie band die langen weißen Haare zum Pferdeschwanz und nickte. »Faye, öffne die Türen.«

2

Puten-Geist

Poltergeist. Das Wort kam ihr vage bekannt vor. Faye war überzeugt, es im Magiebuch ihrer verstorbenen Mutter gelesen zu haben. Das Buch, das Kathryn Bright (geborene Wynter) für Faye zusammengestellt hatte, damit diese nach ihrem Tod die Hexenkunst erlernen konnte. Das Buch, das auf Befehl von Vera Fivetrees, Oberster Hexe des British Empire, aufgrund der strikten Regel, dass nichts Magisches niedergeschrieben werden durfte, verbrannt worden war. Die Regel existierte, damit keine magischen Geheimnisse in die falschen Hände gerieten. In die richtigen Hände gerieten sie dadurch aber leider auch nicht. Fayes Ausbildung bei Mrs. Teach und Miss Charlotte ging im Tempo einer ganz und gar nicht magischen Schnecke voran, mit nur ein paar Unterrichtseinheiten über Mond- und Sonnenmagie. Sonst nichts. Daher ging nichts über ein bisschen praktische Erfahrung, und genau das würde sie an diesem Morgen bekommen.

Miss Charlotte warf Faye einen ungeduldigen Blick zu. »Worauf wartest du, Mädchen? Mach die Türen auf.«

»Sind Sie sicher?« Faye musste lauter sprechen, um das Poltern und Krachen aus der Scheune zu übertönen. »Wenn ich diese Türen jetzt öffne, fliegt uns wahrscheinlich ein Flugzeugmotor ins Gesicht, oder eine Sense wird uns die Köpfe absäbeln.«

»Wir sind vorbereitet.« Miss Charlotte stand groß und aufrecht in Hosenrock und Stiefeln da und holte einen kleinen Beutel aus ihrer Weste, den sie in der Hand wog.

Faye wusste, dass Miss Charlotte eine Vorliebe für magisches Pulver hatte. Schwarzes Salz, weiße Asche und blauer Staub waren Teil ihres übernatürlichen Waffenarsenals, neben den verschiedenen Tabakmischungen, mit denen sie den Geist von Menschen benebeln konnte.

»Ja, Liebes, öffne die Tür und geh zur Seite.« Mrs. Teach holte ein mit einem Faden geschnürtes Bündel Salbei aus ihrer Manteltasche und zündete die Spitzen der Salbeiblätter mit einem Streichholz an. Sie schwenkte das Bündel durch die Luft und verteilte grauen Rauch.

Eine Leiste in der Nähe von Fayes Ohr zerbrach, Splitter und Staub flogen durch die Luft. Das Hämmern wurde immer lauter.

»Ist jetzt endlich mal Ruhe da drin?«, brüllte Faye den Poltergeist an. Nach der langen Nacht war sie mit ihrer Geduld am Ende. Sie drehte sich zu Miss Charlotte um. »Jetzt?«

»Nach drei.« Charlotte hielt ihren Pulverbeutel wie eine olympische Kugelstoßerin. »Eins. Zwei. Drei!«

Faye riss die Scheunentüren auf und warf sich geduckt zur Seite. Als sie über die trockene Erde rollte, hielt sie die Arme über den Kopf und rechnete fast damit, dass ihr ein Propellerblatt hinterherflog. Erst nach ein paar Sekunden wagte sie es aufzublicken.

Das Hämmern und Klappern hatte aufgehört, und bis auf ein paar plappernde Blaumeisen und das leichte Rauschen des Windes war es still.

Mrs. Teach und Miss Charlotte standen vor den weit geöffneten Türen. In der Scheune herrschte Chaos, ansonsten aber war es friedlich.

»Wo ist er hin?«, fragte Faye, doch Miss Charlotte bedeutete ihr, still zu sein.

Mrs. Teach hob ihr rauchendes Salbeibündel und trat langsam über die Schwelle in die Scheune.

»Hinfort mit dir, Geist«, sagte sie laut und bestimmt. »Du bist hier nicht willkommen.« Sie sprach noch einige Wörter, die Faye nicht kannte, und schwenkte den Salbei wie einen Zauberstab.

Faye rappelte sich auf, klopfte den Staub von ihrer ARP-Uniform und eilte zu Miss Charlotte.

»Ist das ein Bannritual?«, flüsterte sie.

Miss Charlotte nickte und murmelte aus dem Mundwinkel: »Bleib dicht bei mir und mach keine plötzlichen Bewegungen. Verstanden?«

Faye zeigte ihr den erhobenen Daumen. Zusammen bewegten sie sich langsam auf die Scheune zu. Sie traten vom Licht in den Schatten, und kleine Schweißtropfen liefen Faye über den Rücken. Es sah aus, als wäre ein Tornado durch die Scheune gewirbelt. Neben dem Flugzeugschrott lagen jetzt auch überall Farmwerkzeuge herum. Alte Farbdosen waren über den Boden gerollt, und vor der Hintertür lag eine Leiter. Ein Wasserschlauch und Seile hingen an Nägeln an den Wänden.

Die drei Hexen gingen in die Mitte der Scheune.

»Ist er jetzt weg?«, durchbrach Faye die Stille.

Mrs. Teach zuckte zusammen und legte die Hand auf die Brust. »Junge Dame, könntest du mich bitte vorwarnen, bevor du mir einen Herzinfarkt verpasst?«

»Tut mir leid. Ich frage ja nur.« Faye verzog das Gesicht. »Also, ist er weg?«

»Schh!« Miss Charlotte hob witternd die Nase. »Ich glaube nicht.«

»Vielleicht hat er auch nur Angst«, meinte Faye.

Charlotte schnaubte.

»Wer sagt denn, dass es nicht Furcht einflößender ist, ein Geist zu sein, als kein Geist zu sein?«

»Das spielt keine Rolle.« Miss Charlotte umfasste den schwarzen Beutel in ihrer Hand fester. »Er sollte nicht hier sein und muss wieder gehen.«

Faye sah sich in der Scheune um. Staub schwebte sanft in der Luft, und Vögel tschilpten in einem Nest in der Dachrinne.

»Was auch immer das war, es ist jetzt weg«, sagte sie, als im gleichen Moment die Scheunentüren zuschlugen und dabei Schmutz und Stroh vom Boden aufwirbelten. Das einzige Licht fiel durch die Ritzen zwischen den Brettern, die Temperatur sank wieder, und Faye hatte das Gefühl, Ameisen würden ihre Schulterblätter hinaufkrabbeln.

»Was war das gerade?«, drang Mrs. Teachs Stimme an ihr Ohr.

Die Bretter klapperten, Staub rieselte herab. Die Vögel flatterten panisch in ihrem Nest und suchten nach einem Fluchtweg, den es nicht gab. Mäuse und Ratten schossen aus ihren Verstecken und schoben sich unter den Scheunentüren nach draußen.

»Bildet einen Kreis«, befahl Miss Charlotte.

»Wir sind zu dritt«, sagte Faye. »Da können wir ein Dreieck bilden.«

»Du weißt, was ich meine«, erwiderte Miss Charlotte scharf. »Rücken an Rücken, Gesicht nach außen.«

Eine Männerstimme kreischte Zentimeter von Fayes Ohren entfernt. Ihr Herz hämmerte wild, und das Blut rauschte in ihren Ohren. »Was zum Teufel war das denn?«

Die Stimme kreischte wieder. Es klang nicht wie ein Geist in einem Film, also wie ein weit entferntes Echo. Sondern so, als stünde er direkt neben ihr. Seine qualvollen Schreie hörten gar nicht mehr auf, und Faye stellten sich die Haare auf.

Sie spürte noch etwas Beunruhigendes. Die Magie des Mondes wärmte ihren Bauch.

»Hey«, rief sie über den Lärm hinweg. »Mir gefällt das überhaupt nicht.«

»Das soll es vermutlich auch nicht, meine Liebe.« Mrs. Teach wedelte stärker mit ihrem Salbei.

Faye überlegte, ob sie sie korrigieren und von dem merkwürdigen Gefühl in ihrem Bauch erzählen sollte, doch sie konnte es nur mit den Blähungen vergleichen, die sie letztes Weihnachten gehabt hatte. Da jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um Mrs. Teach und Miss Charlotte magische Darmwinde zu beschreiben, behielt sie es doch lieber für sich.

»Meine Damen«, sagte Charlotte, »auf meinen Befehl hin macht ihr einen Schritt nach vorn.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das möchte«, erwiderte Faye.

»Warum nicht?«

»Weil ich glaube, dass er genau vor mir ist.«

Mrs. Teach gab ein überhebliches Geräusch von sich. »Und weshalb denkst du das, Liebes?«

»Weil ich seine Augen sehe.«

Das stimmte. Faye stand mit Blick auf die Scheunentüren, und in einer Armlänge Entfernung schwebten zwei blutunterlaufene Augen in der Luft.

Sie blinzelten.

»Oh, Mist.«

»Nimm das hier.« Charlotte gab Faye eine Handvoll Asche aus ihrem schwarzen Beutel. Sie war warm und krümelig und roch wie die Gezeiten am Strand.

»Was ist das?«

»Wirf es ihm ins Gesicht.«

Das Ding kreischte wieder. Die Augen schwebten näher.

»Was passiert dann?«, fragte Faye, doch Charlotte ignorierte ihre Frage.

»Einen Schritt vor … jetzt!«

Faye gehorchte und schleuderte die Asche in die Luft.

Die Augen klappten zu, die Schreie wurden lauter.

Faye zuckte zusammen. Das Gefühl in ihrem Bauch wurde immer stärker. Ihr war schwindelig, und in ihren Augenwinkeln flimmerte es.

Mrs. Teach murmelte immer noch ihre Beschwörung, als Miss Charlotte Faye den ganzen Beutel gab.

»Noch mal«, befahl sie, und sie traten einen weiteren Schritt nach vorn.

Faye schleuderte noch eine Handvoll Asche. Die Augen erschienen wieder, noch röter als zuvor, und zuckten hin und her, begleitet von einem weiteren gequälten Schrei.

»Ich tue ihm weh. Das gefällt mir nicht«, rief Faye.

»Nur so können wir ihn aber davon überzeugen, sich zurückzuziehen«, rief Charlotte zurück. »Noch einen Schritt. Jetzt!«

Die drei Frauen traten vor und waren nun eine Armlänge voneinander entfernt. Sie bildeten einen Kreis oder ein Dreieck – das würde man ein anderes Mal besprechen müssen – und drängten den Geist zurück. Faye schleuderte noch mehr Asche. Dieses Mal blieben die Flocken an ihm kleben, und sie erkannte seinen Umriss, als er sich wand und den Kopf hielt.

»Zurück, geh zurück ins Licht«, befahl Miss Charlotte. »Wir sind Hekate, und du hast hier keine Macht.«

»Wir sind was?«

»Unterbrich mich nicht, Liebes, es funktioniert«, sagte Mrs. Teach zwischen den Beschwörungen.

»Noch einen Schritt«, befahl Charlotte.

Faye warf eine weitere Handvoll Asche, und der Geist heulte auf. »Ich habe nur noch eine Handvoll, dann ist der Beutel leer«, verkündete sie und sah dem Geist ins Gesicht.

Er war ein junger Mann, nicht viel älter als sie selbst. Seine Haare waren strähnig, als hätte er geschwitzt, seine Wangenknochen traten scharf hervor. Seine Lippen waren voll, seine Haut milchweiß. Mit weit aufgerissenen, geröteten und tränenden Augen starrte er sie an.

»Noch einen Schritt … jetzt!«, rief Charlotte, doch Faye blieb stehen.

Der Junge trug einen braunen Pilotenanzug mit einer hellgelben Schwimmweste. Auf seinem Arm hatte er einen Aufnäher mit drei Möwen, auf seiner Gürtelschnalle eine Art Vogel. Faye wusste aus Berties Büchern, dass dieser junge Mann ein Pilot der Luftwaffe war.

Sein Mund bewegte sich, doch er hatte keine Stimme. Faye las in seinen Augen, dass er sie anflehte, ihn von seiner Qual zu erlösen.

»Du musst nicht hier sein«, sagte sie sanft. Ihre Stimme schwankte, weil die Mondmagie sie schwindeln ließ. »Du kannst jederzeit gehen. Na los, geh. Finde Frieden.«

»Noch einen Schritt!«, rief Charlotte. Faye sah zu den beiden Hexen, die sich immer mehr den Scheunenwänden näherten.

Sie konzentrierte sich wieder auf den Geist, hinter dem sich ein schwarzer Wirbel vor den Scheunentüren bewegte. Er kam ihr seltsam vertraut vor. »Dort entlang«, sagte sie.

Er drehte sich um und zögerte.

»Ich weiß, dass das gruselig ist, mein Freund. Aber ich glaube, deine Zeit ist vorbei. Du kannst entweder hierbleiben, bei den beiden da drüben, die dich anschreien und mit Kräutern vor dir herumfuchteln … oder du kannst herausfinden, was sich auf der anderen Seite befindet.«

Faye hatte keine Ahnung, ob er sie überhaupt hörte, geschweige denn verstand, doch er senkte den Kopf und nickte. Er lächelte Faye dankbar zu und rannte zu den Scheunentüren.

Die Schwärze ballte sich wie eine Rauchwolke um den Piloten, als die Türen aufschwangen und das Tageslicht Faye blendete. Sie schloss die Augen und genoss die warme Sonne auf der Haut.

Als sich ihre Augen schließlich an die Helligkeit gewöhnt hatten und sie sie wieder aufschlug, waren Schwärze und Geist verschwunden.

»Gute Arbeit, meine Damen«, ertönte Mrs. Teachs Stimme vom anderen Ende der Scheune. »Ich glaube, wir haben es geschafft.«

Miss Charlotte schnüffelte wieder. »Du hast recht. Gute Arbeit. Gut gemacht. Ich schicke Vera einen Bericht und erzähle euch später, was sie gesagt hat.« Sie grüßte knapp und marschierte den Weg durch Larry Dells Kohlfeld entlang davon.

»Ich sage dem armen Larry, dass seine Scheune wieder sicher ist.« Mrs. Teach spazierte in Richtung Cottage davon.

Faye blickte ihnen nach und fragte sich, ob sie ihnen sagen sollte, was sie gesehen und was sie gespürt hatte. Doch jetzt war es vorbei und der junge Pilot nicht mehr hier. Das seltsame Gefühl in ihrem Bauch ließ bereits nach, und sie fühlte sich allmählich wieder wie sie selbst.

Sie drehte sich um, um die Scheunentüren zu schließen, als sie einen weiteren Piloten bemerkte.

Dieser trug die blaue Uniform der RAF. Eine Hälfte seines Gesichts war rot verbrannt. Er sah verängstigt aus, wie ein Kind, das man beim Schuleschwänzen erwischt hatte, als er einen Finger an die Lippen hob. Schh.

Faye blinzelte. Der Pilot war nicht mehr da.

3

Das Cottage auf der Enteninsel

Am Rand des St. James’ Park in London befindet sich ein kleines Cottage. Es wurde 1841 im Stil eines Schweizer Chalets erbaut, mit Stuck an den Wänden und Dachschindeln aus Terracotta, und es verbindet die Horse Guards Road mit einer kleinen Insel im See des Parks. Manche behaupten, dass das Haus den Vogelhüter des Parks beherbergt und dort Treffen der Ornithologischen Gesellschaft von London abgehalten werden. Dem ist allerdings nicht so.

Zugegeben, auf der Insel wimmelt es von Vögeln, darunter auch Pelikane, die regelmäßig hinüber in den Zoo zum Mittagessen fliegen. Mitglieder der Ornithologischen Gesellschaft Londons dürfen sich auch tatsächlich manchmal in der Küchenerweiterung treffen, doch sie wissen nichts vom wahren Zweck des Gebäudes. Einigen Mitgliedern ist allerdings der intensive Geruch nach seltenen Kräutern und Gewürzen aufgefallen, ebenso wie der Esstisch, in dessen Platte ein Pentagramm eingraviert ist.

Aufmerksame Beobachter könnten bemerken, dass das Cottage nur einen kurzen Fußweg von der Downing Street und nur einen Katzensprung von den Cabinet War Rooms, der Kommandozentrale der Kriegsführung, auf der anderen Straßenseite entfernt liegt.

Passanten sagen, es wirke wie ein Haus aus einem Märchen. In dem eine Hexe wohnt, die Kinder mit Süßigkeiten anlockt und sie dann in einen riesigen Ofen schiebt.

Bei den Kindern irren sie sich, doch mit der Hexe haben sie recht.

Die erste Bewohnerin des Duck Island Cottage war eine gewisse Peggy Sage, die das Haus selbst entworfen hatte, samt Tunneln zur Downing Street und zum Buckingham Palace. Peggy – oder Lady Sage, wie sie später hieß – war die erste Oberste Hexe des British Empire, die mit Premierminister Robert Peel und Königin Victoria zusammenarbeitete, um die Hexengemeinschaft besser zu koordinieren und magische Bedrohungen für das Empire abzuwehren.

Missgünstige Charaktere vermuteten, sie habe nur ein billiges Haus in London gewollt, mit einem hübschen Gemüsegarten. Doch es lässt sich nicht leugnen, dass es die Stellung der britischen Hexenzunft im Empire durchaus festigte, sich nur einen Steinwurf von den Machtzentralen entfernt zu befinden.

Als die Sonne an einem warmen Tag im August über dem St. James’ Park unter die angebundenen Sperrballone sank, traf Bellamy Dumonde, ein Hexenmeister von gewissem Ansehen, die amtierende Oberste Hexe im Garten an, wo sie gerade ihre Salatbeete goss.

»Vera Fivetrees, ist das nicht ein wundervoller Abend?«, rief er und ging mit einem – hoffentlich – freundlichen Lächeln auf sie zu. Sie würde wissen, dass Bellamy geradewegs von den War Rooms kam und dass die beiden Agenten des Secret Service, die ihn in zu schweren und zu langen Mänteln flankierten, ihre ganz eigene Botschaft aussandten. »Doch, doch, das ist er«, gab sich Bellamy fröhlich selbst die Antwort.

Vera war nicht dumm. Nach dem Debakel letzten Monat in dem Dorf in Kent würde sie sicher wissen, was sich anbahnte, auch wenn sie sich nichts anmerken ließ. Mit einem ruhigen Lächeln sah sie von ihrem Gemüsebeet auf, doch er bemerkte, dass sie die Gießkanne wie eine Waffe umklammerte. Bellamy ließ sich von dem hellen Sommerkleid oder dem Strohhut auf ihrem Kopf nicht täuschen. Im Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen unterschätzte er auf keinen Fall eine Frau mit karibischer Hautfarbe. Vera Fivetrees war zweifellos eine der mächtigsten Hexen des Landes, wenn nicht sogar der Welt, weshalb er in ihrer Gegenwart immer auf der Hut war, nie ganz sicher, wozu sie eigentlich in der Lage sein mochte. Nicht so sehr ihre Magie machte ihm Angst, sondern eher die tödlichen Blicke. Sie erinnerten ihn an sein Kindermädchen. Bellamy unterdrückte den Impuls, sich wie ein Schuljunge vor ihr zu ducken. Er war zwar nur halb so alt wie sie, doch er hatte einen ordentlich gestutzten Bart und trug einen edlen dreiteiligen Anzug sowie exquisite Schuhe. Er war mehr als bereit, ihren Platz einzunehmen.

»Ah, Wasser für den Lactuca sativa an diesem warmen Tag.« Bellamy nickte zu Veras Gemüsebeet, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

»Warum sagst du nicht einfach Salat, Bellamy?«, erwiderte Vera.

Bellamy lachte. Die Sehnen an seinem Hals spannten sich an, als er die Zähne wie ein Wachhund zusammenbiss und dann wie eine Dampflokomotive an einer Steigung schnaufte. Sein Lachen währte nur wenige Sekunden, doch das reichte, um einige Enten aufzuschrecken, die sich in den See stürzten und rasch davonpaddelten.

»Kann man Dinge nicht automatisch in Kategorien einsortieren?«, fragte er an niemand bestimmten gewandt. »Nein, das ist unmöglich. Salat gehört zur Asteraceae-Familie, weshalb er eigentlich ein Gänseblümchen ist, was den Salat in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt, nicht wahr? Doch, doch.« Er schwafelte. Wie immer, wenn er nervös war. Er konnte nichts dagegen tun. Hör auf zu schwafeln. Doch er hörte nicht auf. »Wusstest du, dass er ein wenig einschläfernd wirkt? Ja, ja, unser Freund, der Salat, wurde von den Angelsachsen sleepwort genannt, Schlafkraut. Irgendetwas in den Stängeln, glaube ich. Die Jesiden im Irak essen ihn gar nicht. Ein jesidischer Heiliger wurde auf einem Salatfeld abgeschlachtet, weshalb der Salat für sie so etwas wie Mohnblumen für uns sind. Ein Symbol …«

»Bellamy«, unterbrach ihn Vera mit erhobener Stimme. »Du bist sicher nicht hier, um mit mir über die faszinierende Geschichte des Kopfsalats zu sprechen. Falls doch, würde ich gern die Gelegenheit ergreifen, Wasser aufzusetzen. Falls nicht, komm zum Punkt.«

»Bitte entschuldige, manchmal lasse ich mich ablenken. Ja.« Er sah zu den beiden Männern neben sich, atmete tief durch und tat das Notwendige. »Ich habe leider schlechte Nachrichten, Vera.«

»Wegen der Ereignisse in Woodville?« Vera goss weiter ihren Salat.

»Leider ja. Geht es um Schuldzuweisungen? Nein. Aber untersucht werden müssen die Vorfälle.«

»Natürlich.«

»Ich bin auf deiner Seite, Vera, wirklich. Und wir haben diese Entscheidung nicht leichtfertig getroffen, daher auch die Verzögerung. Aber Otto Kopp … Du hast ihn Unheil anrichten und entwischen lassen.«

»Ich dachte, hier ginge es nicht um Schuldzuweisungen?«

»Nein, nein. Natürlich nicht. Vergiss das. Ich weiß, was für ein hinterlistiger Mistkerl er sein kann. Doch es ist die Pflicht des Hexenrates, solche Vorfälle zu untersuchen.«

»Mir sind die Pflichten des Gremiums bewusst, dem ich vorsitze, Mr. Dumonde.«

»Natürlich. Dann ist dir auch bewusst, dass du …« Bellamys Mund war auf einmal wie ausgetrocknet. »Dass du für die Dauer der Ermittlungen suspendiert wirst.«

Vera zeigte weder Ärger noch Überraschung, während sie weiter ihre Salatköpfe goss. Bellamy wusste, dass einige Ratsmitglieder nur auf einen Fehler von ihr gewartet hatten, und im letzten Monat war es in dem kleinen Dorf in Kent so weit gewesen. Eine Situation, die bemerkenswert schnell aus dem Ruder gelaufen war. Angefangen hatte es als Versuch, den wichtigsten Magier der Nazis, Otto Kopp, zu verhexen, und geendet hatte es damit, dass der alte Druide ein ganzes Dorf unter seine Kontrolle gebracht hatte, Vera eingeschlossen. Hätte eine junge Hexe namens Faye Bright nicht eingegriffen, hätte alles verloren sein können.

»Ich verstehe.« Vera hob das Kinn.

»Diese ganze Angelegenheit ist mir überaus peinlich.« Bellamy wrang die Hände und versteckte sie schnell wieder hinter dem Rücken. »Soll Vera Fivetrees die Oberste Hexe des British Empire bleiben? Natürlich sollte sie das. Ich wäre der Erste, der dafürstimmen würde. Aber steht sie wegen ihrer Position über dem Gesetz? Nein, und da gibst du mir sicher recht.«

Vera goss die letzten Tropfen Wasser über den Lactuca sativa. »Ich stehe dann also unter Hausarrest?«

»Äh, nein. Man würde dich höflich bitten, das Haus zu räumen. Manche – nicht ich! – denken, dass es so ähnlich wäre, wie wenn man Billy the Kid Zugriff auf eine Waffenkammer gewährte, dürftest du weiter in einem Haus mit so mächtiger Magie wohnen.«

Vera warf den Männern des Secret Service hinter Bellamy einen Blick zu. »Du dachtest, ich würde nicht ohne Gegenwehr gehen?«

Ausnahmsweise reagierte Bellamy nicht mit einer Frage oder einer Antwort darauf. »Wir haben dir ein Zimmer im Dorchester gebucht. Für eine Inhaftierung ist das eine erstklassige Wahl.«

Vera hob die Gießkanne. Schnell und entschlossen. Beide Secret-Service-Mitarbeiter griffen nach ihren Waffen in den Holstern unter den langen Mänteln.

Bellamy hob die Hand, um sie aufzuhalten. Dummköpfe.

»Ich verstehe.« Vera lächelte und gab Bellamy die Gießkanne. Er war überzeugt, dass sie es darauf angelegt hatte, dass sie dabei nasse Erde von ihrem Boden auf seinem Anzug hinterließ.

»Kümmer dich um das Haus«, sagte sie. »Der Kamin ist vor einem Monat von einer Bombe beschädigt worden, und ich warte immer noch auf jemanden, der ihn repariert.«

»Überlass das nur mir«, erwiderte Bellamy in dem Wissen, dass weder Geld noch Arbeitskräfte dafür zur Verfügung standen.

»Das hier ist mehr als ein bloßer Arbeitsplatz.« Vera sah zu dem Cottage zurück. »Meine Mutter war eine Freundin von Lady Sage, und die beiden haben mich in Magie ausgebildet. Die alte Obeah- und Myal-Magie aus Afrika und die Hexenkunst aus Europa. Dieser Ort bedeutet mir alles, Bellamy. Ich werde bald zurückkehren.«

Zum ersten Mal im Lauf des Gesprächs hörte Bellamy einen Hauch von Zweifel in ihrer Stimme. Wenn sie für schuldig befunden wurde, würde sie das Haus nie wiedersehen.

4

Gespräch unter sechs Augen

Bertie Butterworth stand allein hinter der Bar des Green Man und war bereit für alles, womit ihn das Wirtsleben konfrontieren könnte.

Fayes Dad – Terrence Bright, Wirt des Green Man und Woodvilles führender Versorger von Ale aus Kent – hatte vor ein paar Wochen einer Probeschicht für Bertie zugestimmt, allerdings ohne viel Hoffnung. Die Arbeit in einem Pub erforderte einen gesunden Instinkt für die Nuancen der menschlichen Natur, für den Bertie bisher keine Veranlagung gezeigt hatte. Ein Wirt musste gesellig sein, und Bertie war fast schon krankhaft schüchtern. Ein Wirt musste sich geduldig lächelnd allen möglichen Unsinn von den Gästen anhören, wohingegen Bertie gern stumm in seinen Cider starrte. Ein Wirt musste das Lieblingsgetränk eines jedes Stammgastes fast schon hellseherisch kennen, wohingegen Bertie kaum wusste, welcher Wochentag gerade war.

Doch stellte man diesen schüchternen Jungen hinter eine Bar, so wandelte er sich vor aller Augen wie eine Raupe zu einem Schmetterling. Als hätte jemand einen Schalter in seinem Gehirn umgelegt, blühte Bertie zu einem redseligen Barkeeper auf, der viel lachte und sich lange und komplizierte Bestellungen merken konnte, was sogar Terrence verblüffte.

»Der Junge ist ein Naturtalent«, sagte er zu Faye, als die beiden Bertie beobachteten, wie er einer Gruppe Piloten Pints zapfte. Terrence beugte sich dichter zu Faye und senkte die Stimme. »Stell dir vor, heute Nachmittag hatte ich … Wie nennt man das noch gleich? Das, was andere Menschen haben?«

»Geld?«, schlug Faye vor.

»Nein.«

»Saubere Unterwäsche?«

»Sei nicht so frech. Nein.«

»Ein verlässliches Gedächtnis?«

Terrence schnippte mit den Fingern. »Freie Zeit!« Er lächelte und legte sein Gesicht damit in unzählige Falten. »Eine ganze Stunde!« Das Lächeln verblasste. »Ich wusste gar nicht, was ich mit mir anfangen sollte.«

Faye stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Weißt du, was du brauchst?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ein Hobby.«

Terrence gab ein Geräusch von sich, wie es ein Kleinkind macht, das kein Gemüse essen will. »Ich habe keine Zeit für Hobbys.«

»Offensichtlich schon.« Faye deutete auf das Gedränge im Pub. »Und du brauchst ab und zu mal eine Pause von diesem Wahnsinn. Um den Kopf zur Ruhe kommen zu lassen.«

»Ich könnte an die Wand starren. Gilt das als Hobby?«

»Mr. Hodgson sammelt Toby-Jugs.«

»Was soll es für einen Sinn haben, hässliche Keramikkrüge zu sammeln?«

Faye zuckte mit den Schultern. »Wie wäre es dann mit Puzzles?«

»Hör auf. Ich bin doch kein Kind.«

»Das ist sehr entspannend. Ich habe noch ein paar, die kann ich dir geben. Sie sollten auch vollständig sein.«

»Die kannst du behalten.«

»Versuch es doch mal, du alter Griesgram.«

Ihr Gespräch wurde von dem Krachen und Klirren der Kasse unterbrochen, als Bertie die Schublade mit Wucht zuschob und bei dem Lärm selbst zusammenzuckte.

Faye ging zu ihm, als er gerade den Tresen abwischte. »Dad sagt, du bist ein Naturtalent.«

»Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll«, antwortete Bertie und erging sich prompt in einer ausführlichen Erklärung. »Es liegt an dem Tresen zwischen mir und den Gästen. Sie freuen sich, mich zu sehen, weil sie ein Bier von mir bekommen, und ich freue mich, sie zu sehen, weil ich ihnen ein Bier zapfen und sie glücklich machen kann. Ein perfekter Kreis aus Glück. Als ich auf der Farm meines Dads gearbeitet habe, konnte ich nichts richtig machen, und er hat mir nie gesagt, was er wollte. Er hat immer erwartet, dass ich es weiß, aber hier passt einfach alles zusammen, wie bei einem Puzzle.«

»Einem was?«, sagte Terrence, der hinzukam. Faye brachte ihn zum Schweigen, und Bertie, der den Austausch nicht bemerkt hatte, sprach weiter.

»Die Gäste bitten um etwas, und ich gebe es ihnen gern. Ergibt das Sinn?«

»Tut es, Bertie, tut es«, sagte Faye lächelnd.

»Bertie.« Terrence deutete mit dem Finger auf eine andere Gruppe durstiger RAF-Piloten, die bestellen wollten.

»Ah.« Bertie drehte sich rasch um. »N’ Abend, Männer. Was darf’s denn sein?«

Faye beobachtete den Jungen mit dem verkürzten Bein, wie er ans Ende der Bar eilte, wo jeder Pilot ihn mit Namen begrüßte.

Faye war dankbar, dass ihm die Arbeit so gut gefiel. Sie brauchte mehr Zeit, um die Hexenkunst zu lernen und herauszufinden, was zum Teufel in ihrem Bauch und ihrem Gehirn passierte, weshalb sie nicht ständig im Pub sein konnte. Zum Glück hatte Bertie nicht gezögert auszuhelfen.

Seit den seltsamen Ereignissen auf dem Sommerfest im letzten Monat waren sie sich noch nähergekommen. Der schöne Tag, an dem sie miteinander ausgegangen waren und zum ersten Mal Händchen gehalten hatten, war allerdings vom Nazi-Okkultisten Otto Kopp sabotiert worden. Mit seinen außergewöhnlichen Kräften hatte er alle Dorfbewohner unter seine Kontrolle gebracht, um Faye und die Kinder, die sie beschützte, zu jagen. Eine besondere erste Verabredung, gelinde gesagt.

Seither hatten sie wegen der ständigen Luftangriffe, der anstrengenden Arbeit im Pub, Berties Schichten bei der Home Guard und Fayes magischer Ausbildung und den ARP-Patrouillen nicht viel Zeit gehabt, um über alles zu reden. Faye wusste nur, dass sie Berties Lächeln sehen wollte, wenn er durch die Tür kam. Sie liebte sein Lachen und wie er die Nase kräuselte, wenn er nachdachte, und sie sah ihm und ihrem Dad gern hinter der Bar zu.

Und manchmal wollte sie den Jungen einfach packen und ihm einen dicken Schmatzer auf die Lippen drücken. Früher hatte sich Faye nie für Jungen oder irgendwelche Fummeleien interessiert, weshalb dieses Gefühl neu für sie war und zu ihrer Überraschung auch ganz schön aufregend. Doch sie und Bertie hatten so wenig Zeit für sich, dass sich die Gelegenheit für ein bisschen leidenschaftliches Knutschen nicht ergab. Doch das sollte sich ändern. Sie hatten sich gegenseitig versprochen, morgen erst zu Reverend Jacobs’ geselligem Abend im Gemeindesaal und dann spazieren zu gehen, und da würde Faye Berties Hand nehmen und ihn ganz nah zu sich heranziehen, und sie würde die Arme um ihn schlingen, die Lippen spitzen und …

»Ähäm.«

Faye zuckte zusammen und drehte sich um. Mrs. Teach und Miss Charlotte standen dicht vor ihr.

»Himmel, ihr beiden wart aber schnell.« Faye legte die Hand auf ihr hämmerndes Herz. »Habt ihr was gesehen?«

»Nein.« Miss Charlotte hob die Augenbraue in Berties Richtung. Er grüßte knapp und schenkte ihr einen Gin ein sowie einen süßen Sherry für Mrs. Teach und einen halben Cider für Faye.

»Nein?« Faye rückte blinzelnd ihre Brille zurecht, die nach ihrem heißen Tagtraum fast ein wenig angelaufen war. »Ich weiß, was ich gesehen habe. Da ist noch ein zweiter Geist in der …«

»Meine Damen.« Mrs. Teach unterbrach Faye mit einem Lächeln und deutete auf die bequemen Sessel in dem kleinen Nebenraum beim Kamin. »Wollen wir uns in eine ruhige Ecke zurückziehen? Wir haben viel zu besprechen.«

»Prost, altes Haus, und nieder mit den Nazis.« Mrs. Teach toastete, und die anderen beiden Hexen hoben die Gläser. Mittlerweile drängten sich die Gäste im Pub. RAF-Piloten und Mechaniker vom Stützpunkt in Mansfield, Bauern aus der Gegend und junge Farmarbeiterinnen löschten ihren Durst nach einem langen Tag. Der Geräuschpegel erlaubte es den drei Hexen, entspannt im Nebenraum über ihre übernatürlichen Angelegenheiten zu reden.

»Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen«, beharrte Faye. »Er war älter, etwa in Ihrem Alter, Miss Charlotte …«

»Kaum jemand ist in meinem Alter«, erwiderte Charlotte.

»Das stimmt, aber er sah etwa so alt aus wie Sie – oder so alt, wie Sie wären, wenn Sie normal wären. Eine Hälfte seines Gesichts war verbrannt, das Fleisch ganz rot und wund, es sah schrecklich aus. Der Arme. Er hat einen Finger an die Lippen gelegt und mir bedeutet, still zu sein.«

»Ich mag ihn.« Miss Charlotte grinste und trank von ihrem Gin.

»Faye, Liebes, wir haben die Scheune auf deine Bitte hin noch einmal überprüft, und da war nichts. Keine übernatürliche Präsenz. Glaubst du …« Mrs. Teach legte eine Hand auf Fayes, was freundlich wirken sollte, aber einfach nur überheblich war. »Glaubst du, dass es eine deiner komischen Visionen gewesen sein könnte?«

Faye verzog das Gesicht. Im letzten Monat hatten sie Visionen gequält, von denen sie ohnmächtig geworden war. Mrs. Teach nannte das »die magische Pubertät«, doch seit Faye Otto Kopp verjagt hatte, war das Phänomen nicht mehr aufgetreten. Sie zog ihre Hand zurück und beschloss, nichts von den merkwürdigen magischen Blähungen zu erzählen, um nicht weiter aufgezogen zu werden.

»Nein, es war keine Vision«, beharrte sie. »Es war vollkommen anders. Es war, als hätte er direkt vor mir gestanden.«

»Nun, jetzt ist er aber nicht hier«, sagte Miss Charlotte.

»Vielleicht habt ihr zwei ihn auch verschreckt, nach dem, was ihr mit dem anderen Geist gemacht habt, und jetzt hat er zu viel Angst, sich zu zeigen?« Faye bereute ihre Worte sofort, als Mrs. Teach sie indigniert von oben herab ansah.

»Angst?« Ihre Stimme wurde höher, und sie legte die abwehrend gespreizten Hände an die Brust. »Vor uns?«

Faye wollte gerade genauer darauf eingehen, dass die zwei Frauen vor ihr – die eine eine weißhaarige Hexe und mindestens vierhundert Jahre alt, die andere die Wichtigtuerin des Dorfes, die gestandene Männer mit einem Wimpernflattern zusammenschrumpfen lassen konnte – durchaus einschüchternd waren, doch Miss Charlotte kam ihr zuvor.

»Das ist jetzt unwichtig.« Sie winkte ab, als würde sie eine Fliege verscheuchen. »Wir haben Neuigkeiten.«

Faye runzelte die Stirn. »Das ist mir egal. Was ist mit meinem Geist? Der arme …«

»Vera Fivetrees ist suspendiert worden«, sagte Mrs. Teach.

Der Geist war vergessen. Das waren tatsächlich wichtige Neuigkeiten. Ihre Mentorinnen schüchterten Faye ein, doch in Gegenwart von Vera Fivetrees, der Obersten Hexe des British Empire, war sie geradezu gelähmt vor Bewunderung.

»Wir haben eben ein Telegramm bekommen«, erklärte Miss Charlotte.

»Aber warum?«, fragte Faye, doch dann fiel es ihr ein. Natürlich, wegen der Ereignisse im letzten Monat. »Oh. Weil Otto Kopp das ganze Dorf unter seine Kontrolle gebracht hat, auch euch beide und …«

»Nein«, unterbrach Miss Charlotte sie scharf, die nicht daran erinnert werden wollte, dass Kopp sie kurzzeitig überlistet hatte. Sie nahm ihre Tonpfeife aus der Tasche und stopfte sie mit Tabak. »Nicht nur deswegen.«

»Vera war von Anfang an dagegen gewesen, Otto Kopp mit einem Hex zu belegen.« Mrs. Teach beugte sich vor, begierig, erstklassigen Klatsch zu verbreiten. »Sie wollte nie, dass wir uns direkt an Politik und Kriegen und so etwas beteiligen.«

»Wir werden kein Werkzeug der Armee werden«, warf Miss Charlotte ein.

»Doch es geht das Gerücht, dass einige Kollegen und Kolleginnen sie unter Druck gesetzt haben, einen größeren Beitrag für die Kriegsanstrengungen zu leisten.«

Miss Charlotte grunzte, als sie ihre Pfeife anzündete. Faye wusste nicht, ob sie zustimmte oder nicht, doch sie erinnerte sich, dass die alte Hexe sehr darauf aus gewesen war, Otto Kopp zu verhexen.

»Manche glauben, dass man sie gezwungen hat, den Befehl für den Hex zu erteilen«, fuhr Mrs. Teach fort. »Und dass man es gewissermaßen darauf angelegt hat, dass sie scheitert.«

»Ach herrje«, sagte Faye. »Und wie geht es jetzt weiter?«

»Es wird eine Ermittlung geben.« Pfeifenrauch umwehte Charlotte. »In der Zwischenzeit ist sie suspendiert, und der Hexenrat hat einen neuen Interimsvorsitz.«

»Wie heißt sie?«

»Bellamy Dumonde«, sagte Charlotte und genoss Fayes verwirrten Gesichtsausdruck.

»Ist das ein Mann?«

»Ja, das ist er«, sagte Mrs. Teach.

»Es gibt männliche Hexen?«

»Hexenmeister«, erklärte Charlotte.

»Und wo ist der Unterschied zu einem Zauberer?«

»Zum einen gibt es sie wirklich«, sagte Charlotte. »Wie wir sehen werden, wenn er morgen kommt.«

Faye wurde unruhig. »Warum kommt er her?«

Mrs. Teach beugte sich vor. »Er sagt, er hätte eine Mission für uns.«

»Eine, die den Verlauf des Krieges ändern könnte.« Bei der Vorstellung schürzte Charlotte erfreut die Lippen.

»Lies das.« Mrs. Teach zog ein Telegramm aus ihrer Handtasche und gab es Faye. »Der zweite Satz.«

Faye überflog das Telegramm und las den Text laut vor. »Ich freue mich auf unser Treffen. Stopp. Mit der mächtigsten Hexe, der ich wohl je begegnen werde. Stopp. Mit ergebenen Grüßen, Bellamy Dumonde. Stopp.«

Faye blickte in zwei äußerst selbstzufriedene Gesichter, die beide davon ausgingen, dass »die mächtigste Hexe« sich auf sie bezog.

Faye seufzte. »Oh je.«

5

Bellamy Dumondes großartiger Plan

Bertie Butterworths Luftschlacht-um-England-Tagebuch

Samstag, 10. August 1941

Heute Morgen hat wohl eine Sirene geheult. Habe sie offenbar völlig verschlafen. Den ganzen Nachmittag über sehr entfernte Schüsse. Habe auf einem Trödelmarkt ein feines Sakko und eine Hose für heute Abend gefunden. Faye und ich gehen zusammen zu Reverend Jacobs’ geselligem Abend im Gemeindesaal. Danach wollen wir einen langen Spaziergang machen. Faye hat gesagt, wir könnten runter zu der alten römischen Brücke gehen und endlich mal in Ruhe schmusen. Musste das Wort in Dads Wörterbuch nachschlagen. Kann es kaum erwarten!

Nach dem Frühstück holte ein Armeelastwagen Faye ab. Miss Charlotte saß bereits in der Fahrerkabine, und Mrs. Teach belegte rasch den anderen freien Platz. Faye kletterte gern auf die Ladefläche, allein schon, um dem unausgesprochenen Wettbewerb aus vielsagenden Blicken zwischen den beiden älteren Hexen zu entgehen, wer von dem neuen Boss zur mächtigsten Hexe gekrönt werden würde.

Ihr Ziel war der Stützpunkt Mansfield, der offizielle Name für ein großes Flugfeld, einen Schuppen und ein paar Doppeldecker, eine zwanzigminütige Fahrt von Woodville entfernt. Faye hatte selten einen Grund, hierherzukommen. Das letzte Mal war kurz nach der Kriegserklärung gewesen, als Bertie sich unbedingt die Spitfires hatte ansehen wollen. Doch sie hatten nur eine traurig aussehende De Havilland DH.80 Puss Moth und einen Traktor gesehen, der nicht so wirkte, als könne er einen Langstreckenflug meistern.

Heute sah das Flugfeld schon ganz anders aus. Faye roch es, bevor sie es sah. Die Luft war so voller Treibstoff, dass Miss Charlotte besser nicht ihre Pfeife anzündete, um den Lastwagen nicht in die Luft zu jagen.

Als sie von der Straße abbogen, kamen sie zu einem Wachtposten, an dem Soldaten ihre Papiere überprüften. Faye spähte durch einen Spalt zwischen den Segeltuchplanen und schnappte nach Luft. Der Flugplatz war von Kratern übersät, die so groß wie der Lastwagen waren, und einige Soldaten zerlegten gerade die verkohlten Überreste eines Spitfire-Rumpfes.

Auf dem Weg ins Zentrum des Stützpunktes kam der Lastwagen an Reihen von Hurricanes und Spitfires vorbei, manche waren von Kugeln durchlöchert, anderen fehlten Tragflächen und Heckstücke.

Der Stützpunkt war zu einem kleinen Dorf geworden, mit einer Offiziersmesse, einem Wasserturm, Lagerschuppen, Unterkünften, Werkstätten, einer Feuerwehr und Hangars.

Sie näherten sich ein paar Blechhütten, zwischen denen ein Dutzend RAF-Piloten in Liegestühlen saßen. Einige lasen Zeitungen oder Bücher, zwei spielten Schach, doch die meisten machten ein Schläfchen. Faye wusste aus den Gesprächen mit den Männern, die ins Pub kamen, dass sie drei-, viermal am Tag in schwere Gefechte verwickelt und zutiefst erschöpft waren. Ihre übliche gute Laune war Anspannung gewichen, und Fayes Dad hatte letzte Woche sogar eine Schlägerei zwischen zweien auflösen müssen.

Der Lastwagen blieb stehen, und Faye sprang von der Ladefläche. Sie eilte zur Beifahrertür, um Mrs. Teach herauszuhelfen. Miss Charlotte lehnte Fayes ausgestreckte Hand ab und sprang zu Boden.

»Hier entlang.« Ihr Fahrer deutete auf eine Hütte, und die drei Hexen folgten ihm.

Über ihnen ertönte das vertraute Dröhnen eines Merlin-Motors, und eine schwarze ungekennzeichnete Spitfire näherte sich über den Bäumen am anderen Ende des Flugfeldes. Sie sah wie die Zweisitzermaschine aus, in der Vera Fivetrees eingetroffen war, um nach dem Zwischenfall mit dem Krähenvolk aufzuräumen.

»Das muss er sein«, sagte Faye, und alle beobachteten, wie das Flugzeug landete. Faye spürte die Missbilligung des unruhigen jungen Fahrers, der vermutlich den Befehl hatte, sie rasch in eine Blechhütte zu bugsieren, doch er würde sich nicht mit drei Hexen anlegen. »Was wisst ihr über ihn?«

»Ich habe gehört, er soll jung und gut aussehend sein.« Mrs. Teachs Wimpern flatterten. »Und moderne Vorstellungen haben.« Ihre Betonung legte nahe, dass sie diese modernen Vorstellungen nicht unbedingt billigte, ihnen aber eine Chance geben wollte.

»Er legt es von allen am meisten darauf an, dass wir uns stärker an den Kriegsanstrengungen beteiligen.« Miss Charlotte schob die Hände in die Taschen, während die schwarze Spitfire auf sie zurollte.

»Ich weiß noch, dass ihr beide zu mir gesagt habt, das sei eine schlechte Idee«, meinte Faye.

»Wahrscheinlich ist es das auch«, antwortete Charlotte. »Aber ich weiß nicht, ob wir darum herumkommen.«

»Wir müssen pragmatisch sein«, fügte Mrs. Teach hinzu.

Die schwarzen Propeller drehten sich weiter, als der Pilot aus dem Sitz sprang. Faye versuchte zu erkennen, ob es sich um die junge Frau handelte, die Vera geflogen hatte, doch die Person behielt die Kappe auf und war zu weit entfernt. Der Pilot stand auf der Tragfläche und half Bellamy beim Aussteigen. Er salutierte, setzte sich wieder ins Cockpit und steuerte auf die löchrige Startbahn zu.

Bellamy richtete seinen Tweedanzug und winkte ihnen fröhlich zu. Faye war überrascht, dass er so jung war. Mit aufgeregt flatternden Händen rannte er auf sie zu und lächelte eifrig.

»Danke, junger Mann«, sagte er zu dem Fahrer. »Ich übernehme.«

Der Fahrer salutierte und marschierte zum Lastwagen zurück.

Bellamy Dumonde stand mit gespreizten Beinen und in die Hüften gestemmten Händen vor ihnen.

»Sind das die unschätzbaren Hexen von Woodville? Oh ja!« Zuerst schüttelte er eifrig Mrs. Teach die Hand. »Sie müssen Mrs. Teach sein? Natürlich sind Sie das. Ich habe so viele bemerkenswerte Geschichten über Ihre jugendlichen Abenteuer mit Vera Fivetrees gehört.«

Faye sah zu Mrs. Teach und fragte sich, warum sie noch nie von diesen jugendlichen Abenteuern gehört hatte. Mrs. Teach errötete und schüttelte den Kopf.

»Das ist lange her«, sagte sie.

»Nichtsdestotrotz würde ich gern mehr hören«, erwiderte Bellamy.

Ich auch, dachte Faye.

Mrs. Teach drückte Bellamys Hand und wartete darauf, dass er sie offiziell als die mächtigste Hexe ansprach, doch er löste sich aus ihrem Griff und ging weiter.

»Und wen haben wir hier? Kann das denn wirklich die legendäre Miss Charlotte Southill sein?«