Die Hexen von Woodville - Rabenzauber - Mark Stay - E-Book
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Die Hexen von Woodville - Rabenzauber E-Book

Mark Stay

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Beschreibung

Faye Bright hatte schon immer das Gefühl anders zu sein, als die anderen Mädchen in Woodville. Als sie das Tagebuch ihrer verstorbenen Mutter entdeckt, erfährt sie auch endlich warum: Fayes Mum war eine Hexe und hat ihre magischen Fähigkeiten an ihre Tochter vererbt. Jetzt muss Faye nur noch lernen, diese auch einzusetzen, und das ein bisschen plötzlich, denn als eine Armee von verzauberten und äußerst angriffslustigen Vogelscheuchen auf Woodville zumarschiert, ist in dem beschaulichen kleinen Dorf im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle los ...

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Seitenzahl: 349

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DASBUCH

Woodville ist ein kleines beschauliches Örtchen im ländlichen Kent. Man trifft sich abends im Pub, wo man miteinander und vor allem übereinander schwatzt. Faye Bright, die Tochter des Wirts, ist besonders häufig Gegenstand der dörflichen Konversation. Irgendetwas scheint mit dem Mädchen nicht zu stimmen. Und in der Tat ist Faye anders als die anderen jungen Frauen des Ortes. Den Grund dafür findet sie selbst heraus, als sie beim Stöbern in den Habseligkeiten ihrer verstorbenen Mutter deren Tagebücher entdeckt und daraus Unglaubliches erfährt: Ihre Mutter war eine Hexe – und Faye ist ebenfalls eine. Als Woodville vom geheimnisvollen Rabenvolk, einer Armee von verfluchten und äußerst aggressiven Vogelscheuchen, angegriffen wird, kommen Fayes neue Fähigkeiten gerade recht. Mithilfe der Tagebücher ihrer Mutter, zwei schrulligen alten Damen und dem ortsansässigen Musikverein stellt sich Faye der größten Bedrohung entgegen, die Woodville je gesehen hat …

DERAUTOR

Mark Stay ist gebürtiger Londoner und arbeitete viele Jahre im Verlagswesen. In seiner Freizeit schrieb er an seinen eigenen Texten, inzwischen ist er als freischaffender Autor und Podcaster tätig. Mark Stay lebt in Kent.

Mehr über Mark Stay und seine Romane erfahren Sie auf:

www.markstaywrites.com

Mark Stay

DIEHEXENVONWOODVILLE

RABENZAUBER

BAND 1

Roman

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Titel der englischen Originalausgabe

THECROWFOLK

(THEWITCHESOFWOODVILLEBOOK 1)

Deutsche Übersetzung von Sabine Thiele

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 04/2022

Redaktion: Joern Rauser

Copyright © 2021 by Unusually Tall Stories, Ltd

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München,

unter Verwendung eines Motivs

von Shutterstock.com/Pixejoo

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27551-8V001

www.heyne.de

Für Claire und ihre Magie

Juni 1940

In Europa tobt der Krieg. Die unterlegenen British Expeditionary Forces, das Britische Expeditionskorps, und ihre Verbündeten haben sich aus Dünkirchen zurückgezogen, und Frankreich hat sich Hitlers Westfeldzug ergeben müssen. In Großbritannien sind die Lebensmittel rationiert, Kinder werden aus den Städten aufs Land geschickt, um den zu erwartenden Bombardierungen zu entgehen. Die meisten Männer sind an der Front, weshalb die Frauen zu Hause das Land am Laufen halten müssen. Die Women’s Land Army – eine Organisation von Landarbeiterinnen – hilft auf den Farmen aus, dieWachleute der Air Raid Precautions suchen auf ihren Patrouillen den Himmel nach Luftangriffen ab, und der Women’s Voluntary Service hilft mit seinen Freiwilligen überall, wo sie gebraucht werden. Männer, die zu alt für den Kriegsdienst sind, melden sich bei den Local Defence Volunteers (die sich bald in Home Guard umbenennen werden), einer Bürgerwehr, und bereiten sich auf die Invasion vor.

Währenddessen geschehen in einem ruhigen, abgelegenen Dorf in Kent seltsame Dinge …

Prolog

Ein Feld in England …

Der Himmel ist von rosa und gelben Streifen durchzogen. Auf einem Feld steht eine einsame Vogelscheuche. Mit ihrem zerschlissenen rot karierten Kleid, das früher einmal ein feiner Sonntagsstaat gewesen war, dem Sack, der als Kopf dient, den Knöpfen anstelle der Augen und der Naht aus kreuzförmigen Stichen anstelle eines Lächelns, bietet sie einen traurigen Anblick. Ein modriger, alter Schal liegt um ihre Schultern, und sie hängt wie vergessene Wäsche an ihrem Kreuz. Sie hat einen Namen, Suky, doch ihr Geist ist so leer wie ihre Taschen.

Über den bestellten Acker schallt das rhythmische Läuten einer Kuhglocke.

Eine Gestalt stapft durch die Furchen, schwingt die Kuhglocke wie ein Priester den Weihrauch, doch sie bewegt sich seltsam künstlich, abgehackt. Der staubige Frack bläht sich hinter ihr, der abgewetzte Zylinder sitzt schief auf dem Kopf. Dohlen wollen sie lautstark verscheuchen, doch die Gestalt geht unbeirrt weiter. Der Kopf: ein leuchtend orangefarbener Kürbis. Das Lächeln: zwei Reihen geschnitzter Zacken. Die Augen: schwarze Dreiecke.

Die Dohlen sind klug genug, davonzuflattern und Suky mit ihm allein zu lassen. Er läutet noch einmal die Kuhglocke, damit sie auch wirklich nicht zurückkommen. Das Echo verklingt, nur noch das leise Rauschen des Windes ist zu hören. Die Luft ist sommerlich mild, die Erde trocken, der Himmel mittlerweile blutrot. Pumpkinhead verstaut die Kuhglocke in seinem Frack und kommt näher. Mit tänzelnden Schritten umrundet er Suky, dann legt er die Hände um ihren Sackleinenkopf und flüstert Worte in einer Sprache, die niemand mehr gehört hat, seit seine Art verbannt worden war.

Die Worte dringen in sie ein, durchströmen sie. Es dauert lange. Pumpkinhead ist geduldig.

Suky schaudert, ihre Strohfüllung raschelt. Als sie aufsieht, leuchtet ein Licht in ihren Knopfaugen.

»Geschafft«, sagt Pumpkinhead zu ihr. »Moment, ich helfe dir.« Er zieht ein Klappmesser aus dem Hutband des Zylinders und zerschneidet die Seile, die sie an dem Kreuz halten.

Suky sieht sich hektisch um. Ein verschrecktes Neugeborenes.

»Du bist frei, Schwester«, sagt er. »Wie wir alle.«

Klirren und Scheppern wird laut. Suky sieht zum Horizont, von wo sich ein gutes Dutzend Vogelscheuchen tanzend über das Feld nähert.

Sukys Sackleinenkopf knirscht, als sich die gestickten Kreuze zu einem Lächeln verziehen.

1

Wynters Buch der Rituale und der Magie

Faye Brights Vater hatte ihr einmal erzählt, dass die alte hohle Eiche den Mittelpunkt des Waldes bildete. Damals war sie sechs Jahre alt, und sie waren gerade mit Mr. Barnetts Hunden spazieren gegangen, als sie an der Eiche vorbeikamen. Fayes Vater sagte, es sei der älteste Baum des Waldes. Die kleine Faye erwartete fast, dass ein Märchenwolf dahinter hervorspähte.

Mittlerweile war Faye siebzehn. In Kent gab es keine Wölfe. Und bei der hohlen Eiche war sie so weit wie möglich entfernt von neugierigen Blicken. Dort würde sie das Buch zum ersten Mal aufschlagen.

Faye hatte es in einem Koffer mit altem Krimskrams gefunden, als sie und ihr Dad eine Ecke im Keller des Pubs entrümpelt hatten. Sie suchten gerade nach alten Aluminiumtöpfen für die »Saucepans for Spitfires«-Sammelaktion von Mrs. Baxter – Metallspenden für die Rüstungsindustrie –, als Faye den Koffer öffnete, der hinter den Ale-Fässern verborgen stand. Darin befand sich eine Kiste mit Briefen, eine Haarbürste mit Elfenbeingriff, ein paar billige Ketten und Ohrringe, eine rissige Grammophonplatte von Bessie Smiths »Graveyard Dream Blues« sowie das ledergebundene Buch.

Fayes Dad Terrence durchsuchte gerade eine Kiste mit stumpfem Besteck, weshalb sie das Buch aus dem Koffer nahm. Es wirkte unauffällig und mit dem roten Ledereinband wie ein Konto- oder Tagebuch aus dem Schreibwarenladen. Nirgendwo standen Autor oder Titel, weder auf dem Rücken noch auf der Vorderseite. Trotzdem sagte eine leise Stimme in Fayes Kopf, sie solle den Fund für sich behalten. Sie öffnete das Buch auf der ersten Seite. Beim Anblick der mit bläulicher Tinte geschriebenen Worte blieb ihr beinahe das Herz stehen.

Wynters Buch der Rituale und der Magie, von Kathryn Wynter.

Wynter. Der Mädchenname ihrer Mutter.

Darunter stand in dunklerer Tinte geschrieben:

Für meine geliebte Faye, wenn die Zeit gekommen ist.

Faye schloss den Koffer, versteckte das Buch in ihrer Latzhose und sagte zu Dad, sie müsse zum Glockenläuten. Dann machte sie sich eilig davon.

Faye wollte das Buch nicht im Pub näher in Augenschein nehmen, auch nicht im Dorf, sie wagte nicht einmal, in ihrem eigenen Zimmer einen Blick hineinzuwerfen. Sie musste so weit wie möglich von allen anderen Menschen entfernt sein, weshalb sie schnurstracks zu der hohlen Eiche in der Mitte des Waldes fuhr.

Zwar hatte man alle Straßenschilder abmontiert, um eventuelle Nazispione zu verwirren, aber Faye hätte den Weg auch mit verbundenen Augen gefunden. Sie radelte vom Dorf aus auf dem Reitweg an der Butterworth-Farm vorbei, über die römische Brücke in den Wald, bis der Weg im dichten Farngestrüpp endete. Dort lehnte sie ihr Fahrrad an eine Birke und ging zu Fuß weiter, wobei sie die ganze Zeit überlegte, wie eine Erklärung für das Buch in ihrer alten Schultasche aussehen könnte, sollte jemand sie darin lesen sehen.

Der alte Wald war mit den Jahren geschrumpft, Ackerbau, Straßen und Häuser hatten an ihm genagt. Jetzt war er nur noch ein paar Quadratmeilen groß und voller uralter Eichen, Eiben, Kiefern, Birken, Buchen und Erlen, die alle dicht beieinanderstanden.

Wenn man ihn weit genug durchstreifte, gelangte man zur Küste mit ihren Kalkklippen, doch verwurzelt war der Wald in Woodville. Das Dorf lag dicht an seinem Rand, und die beiden existierten in einer Art stillem Abkommen nebeneinander. Die Dorfbewohner nahmen sich nur, was sie brauchten, und der Wald ertrug ihre seltsamen, kleinen Rituale, wenn sie zum Beispiel in Gruppen mit Landkarten und Kompassen darin herumspazierten und sich verirrten, oder wenn ihre Hunde Eichhörnchen jagten und gegen die Bäume pinkelten. Das Mädchen in der Latzhose mit dem nussbraunen Haar und der großen, runden Brille ließ er nur zu gern in dem abnehmenden Licht der Dämmerung über die versteckten Wege laufen. Hätte der Wald gewusst, was noch kommen würde, hätte er es an dieser Stelle vielleicht aufgehalten, doch er war schon alt und damit behäbig geworden.

Faye überquerte auf den Trittsteinen den glitzernden Wode River und eilte das schlammige Ufer hinauf, wo sie einmal einen Axtkopf aus Feuerstein gefunden hatte. Der Dorfpfarrer, Reverend Jacobs, vermutete, dass er noch aus der Steinzeit stammte, als die ersten Menschen hier gesiedelt hatten. Er hatte den Axtkopf in der Kirche ausgestellt, neben ein paar sächsischen Tonscherben, die er beim Wandern mit den Pfadfindern gefunden hatte. Faye erwog kurzzeitig eine Laufbahn als Archäologin, doch vor zwei Jahren hatte einer der anderen Pfadfinder, Henry Mogg, zu ihr gesagt, dass Mädchen nicht zäh genug wären für Arbeiten im Freien, weshalb sie ihm vors Schienbein getreten hatte, um ihm das Gegenteil zu beweisen. Daraufhin war sie wegen Aufsässigkeit von den Pfadfindern ausgeschlossen worden.

Aber Faye kam sich ohnehin zu alt für sie vor. Sie war siebzehn und bereit für alles. Sogar für einen Krieg.

Die Sommersonne versank gerade hinter den Bäumen, als Faye auf die Lichtung mit der hohlen Eiche trat. Sie vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war und sah, wie ein Grünspecht zwischen den Bäumen davonflog. Dann setzte sie sich an den Fuß der jahrhundertealten Eiche, die sich wie eine neugierige Zuschauerin über Fayes Schulter lehnte. Die knotigen Wurzeln ragten aus dem Erdreich und umfingen sie wie ein Nest, während sie es sich bequem machte.

Faye blätterte durch die Seiten des ledergebundenen Buches.

»Donnerwetter, Mutter«, sagte sie voller Bewunderung.

Jede Seite war mit Bleistift- und Kohleskizzen von Symbolen, Runen und magischen Objekten bedeckt, zusammen mit Wasserfarbenzeichnungen merkwürdiger Wesen, die es in keinem Zoo gab. Dazwischen hatte sie mit Tinte Anmerkungen geschrieben. Einige waren gut lesbar, die meisten wirkten jedoch wie in einem Anfall erschrockener Eingebung hektisch hingekritzelt und verschmiert.

Ein solches Buch hatte Faye noch nie gesehen. Sie mochte Detektivgeschichten, in denen schlaue Köpfe Morde aufklärten. Dagegen war dies hier allerdings etwas völlig anderes. Hier las sie von Ritualen, Magie, Monstern, Dämonen und, aus welchem Grund auch immer, von einem Rezept für Marmeladenrolle.

Sie blätterte durch die Seiten, bis die Zeichnungen und Wörter verschwammen. Ein Stück Papier fiel heraus. Faye fing es auf und drehte es um.

»Was zum …«, murmelte sie und konnte kaum glauben, was sie da sah.

Acht handgeschriebene Zahlenreihen bedeckten den Zettel, durch die zickzackförmig blaue und rote Linien verliefen. Die wenigsten Menschen wüssten, was sie da vor sich hatten. Manche würden vielleicht einen Code vermuten, doch Faye erkannte das System sofort.

Es war eine Läutabfolge für Kirchenglocken.

Acht Reihen bedeuteten acht Glocken, und die roten und blauen Zickzacklinien kennzeichneten die jeweils aktiven Glocken. Seit sie zwölf war, läutete Faye jeden Freitag und Samstag in der Kirche St. Irene. Ihre Mutter war auch eine Glöcknerin gewesen.

Mum hatte ihre eigene Abfolge entwickelt.

Sie hatte sogar einen Namen. Am oberen Rand des Zettels hatte Fayes Mutter das Wort Kefapepo notiert. Es klang nicht nach einer Läutabfolge. Diese hatten zugegeben zwar seltsame Namen, doch normalerweise hießen sie Bob Doubles, Cambridge Surprise oder Oxford Treble Bob, aber nicht dieser Kefa-Unsinn. Die Anleitung war außerdem … eigenartig. Faye versuchte, sie im Kopf nachzuläuten, doch irgendetwas stimmte nicht.

Magie, Rituale und Glockenläuten.

Und Marmeladenrollen.

Fayes Mutter hatte etwas dazugeschrieben: Ich bezähme den Donner, ich peinige das Böse, ich vertreibe die Dunkelheit.

»Wie bitte?«, murmelte Faye leise. »Oh Mum, wovon redest du denn nur?«

Faye war vier gewesen, als ihre Mutter gestorben war. Alt genug, um noch Erinnerungen an sie zu haben, auch wenn sie verschwommen waren. Wenn sie überhaupt nicht damit rechnete, fiel ihr plötzlich etwas ein. Der Geruch nach Rosmarin versetzte sie in die Zeit zurück, als sie Mum als kleines Kind im Garten geholfen hatte. Die Decke auf ihrem Bett erinnerte sie an Gutenachtküsse. Ihre Mutter – das bedeutete Geborgenheit und Glück.

Und genau deshalb war Faye so wütend auf sie.

Sie wusste ja, dass das falsch war. Es war nicht die Schuld ihrer Mutter gewesen, dass sie so jung gestorben war – Diphtherie war nicht wählerisch. Doch bei jeder Erwähnung ihrer Mutter begann Fayes Blut zu kochen. All die Jahre, die sie ohne sie aufgewachsen war, die vielen Geburtstage und Weihnachten und Sommer und alles, was sie nie gemeinsam erleben würden.

Deshalb hatte Faye mit ihr abgeschlossen. Mum war etwas aus der Vergangenheit, eine Fremde, eine undeutliche Erinnerung. Faye ging es damit gut, und sie lebte ihr Leben weiter.

Doch wie sich jetzt herausstellte, hatte sie sich da etwas vorgemacht. Als ihr das Buch in die Hände gefallen war, hatte sie sich dummerweise einen leisen Funken Hoffnung erlaubt. Endlich hatte sie vielleicht einen Hinweis darauf, wer ihre Mutter wirklich gewesen war. Endlich würde diese große Lücke in ihrem Herzen gefüllt werden.

Wenn man nach dem Buch gehen konnte, war ihre Mutter entweder leider eine Hexe gewesen oder hatte nicht alle Tassen im Schrank gehabt.

Faye blätterte die Seiten von hinten nach vorne durch, dann von vorne nach hinten, fasziniert von den Wörtern und Bildern. Sie fragte sich, warum ihre Mutter das Buch wohl geschrieben und warum ihr Vater es nie erwähnt hatte. Nicht, dass er überhaupt viel von ihr sprach. Und wenn, dann wich er ihr aus oder wurde sentimental.

Regentropfen fielen auf das vergilbte Papier, und Faye sah nach oben. Der Himmel war dunkelblau. Es war Freitagabend. Sie war spät dran.

»Oh, verflixt!« Sie sprang auf, presste das Buch an die Brust und stürzte durch das Farndickicht zu ihrem Fahrrad zurück, einem Pashley Model A. Sie stopfte das Buch in ihre Tasche, warf diese in den Weidenkorb des Fahrrads, packte den Lenker und stieß sich ab. Das Pashley war ein Jungenrad – sie hatte es von Alfie Paine gebraucht gekauft, als er mit dem Zeitungsausliefern aufgehört hatte –, und sie musste ihr Bein über den Sattel schwingen, während sie schneller wurde.

Als sie über die alte römische Brücke raste, fuhr sie beinahe einen jungen Mann an, der ihr aus der anderen Richtung entgegenkam und einen Korb mit Holunderblüten in der Armbeuge trug. Faye wich ihm aus, während er mit einem überraschten Aufschrei zurücksprang. Schlitternd kam sie im Unterholz zum Stehen, wobei ihre Tasche aus dem Korb fiel. Das Buch rutschte heraus und landete auf dem Weg.

»Bertie Butterworth, Himmel noch mal, was machst du denn um diese Zeit hier im Wald?« Faye stieg vom Rad ab, raffte Buch und Tasche an sich und schob beides zurück in den Korb.

»Ich, äh, nun, also, ich, äh …«

Bertie war ein bisschen jünger als Faye und hatte in der Schule ein Auge auf sie geworfen gehabt. Jetzt schwärmte er allerdings für Milly Baxter, die er während des Gottesdienstes immer sehnsüchtig anstarrte, zumindest war sich Faye da ziemlich sicher. Er arbeitete auf der Farm seines Vaters, weshalb seine Wangen von Sommersprossen übersät waren und seine Haare so wild wucherten wie eine Hecke. »Ich mache Holunderblütensirup«, erklärte er, sobald er die Sprache wiedergefunden hatte, und hielt ihr den Korb voller Holunder hin. »Dein Dad wollte übrigens welchen für das Pub. Komisch, oder?«

»Dad?« Faye kniff ein Auge zusammen, während sie ihr Rad auf den Weg zurückschob. »Hat er dich losgeschickt? Spionierst du mir hinterher, Bertie Butterworth?«

»Äh, nein«, stotterte Bertie. »Also, ja, doch, er hat mich losgeschickt, wegen der Blüten, aber ich spioniere dir nicht hinterher. Ich meine, ich habe jemanden gesehen und mich gefragt, ob du ein … Äh, nein, das ist albern.«

»Doch, red weiter. Für wen hast du mich gehalten?«

Bertie beugte sich vor, sein Blick zuckte nach links und rechts, bevor er flüsterte: »Einen Nazispion, der mit dem Fallschirm abgesprungen ist, um das Dorf zu infiltrieren.«

Faye sah seinen offenen Mund und den ernsten Ausdruck in seinen Augen und konnte ein prustendes Lachen nicht unterdrücken. »Du Spinner. Was könnten die Nazis denn hier wollen?«

»Wir müssen wachsam sein«, sagte er, während sie nebeneinander hergingen. Bertie hinkte, weil er ein verkürztes Bein hatte. »Das haben sie letztens abends im Radio gesagt. Wenn die Nazis einfallen, dann genau hier.«

»Nun, hier sind aber keine Nazis. Nur ich und ein paar Eichhörnchen.«

»Und ein Buch.« Bertie neigte den Kopf, um einen besseren Blick auf den Inhalt des Fahrradkorbes zu erhaschen. »Was liest du da?«

»Nichts.« Faye schob das Buch hinter ihre Tasche. »Ein altes Rezeptebuch. Ich überlege, eine Marmeladenrolle zu machen, wenn du es unbedingt wissen willst.«

»Oh.« Bertie schien mit der Erklärung zufrieden zu sein, doch Faye sah, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten. Jeden Moment würde er fragen, warum sie extra in den Wald gefahren war, um ein Buch zu lesen. Sie musste das Thema wechseln.

»Läutest du heute Abend?«

»Ach verflixt«, sagte Bertie bestürzt. »Wie spät ist es?«

»Schon spät«, erwiderte sie. »Steig auf, ich nehme dich mit.«

Bertie kletterte hinter Faye auf den Sattel, den Korb mit den Holunderblüten immer noch im Arm, und sie beugte sich auf den Pedalen vor. Der Regen wurde immer stärker. Faye ärgerte sich, dass sie die Zeit aus den Augen verloren hatte, doch sie hatte ein Buch mit magischen Zaubersprüchen gefunden, das ihre eigene Mutter geschrieben hatte. Bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, musste Faye einen ausprobieren.

2

Engelsgleiche Klänge

Zum ersten Mal schriftlich erwähnt wurde das Dorf Woodville in den Chroniken von Wilfred von Cirencester, einem reisenden Schreiber, den Offa, der König von Mercien, entsandt hatte, um seine neuen Ländereien zu erfassen. Wilfred kam im Jahr 762 durch das Dorf und beschrieb es mit den Worten »hat seine beste Zeit hinter sich gelassen und müsste mal wieder ordentlich geputzt werden«, die Bewohner als »schwer von Begriff, fast schon unzivilisierte Wilde«. Das waren Wilfred von Cirencesters letzte Aufzeichnungen, die man zusammen mit einigen seiner blutbefleckten Habseligkeiten im Straßengraben fand, keine zwei Meilen von Woodville entfernt.

Um das Dorf herum finden Reisende dichte Waldgebiete vor, einige verstreute Farmen, ein paar Herrenhäuser, ein paar alte Festungen, einen Flughafen, sanft geschwungene Hügel, abbröckelnde Kalkklippen und Kiesstrände. Die Wode Road ist die einzige Straße, die ins Dorf und wieder hinaus führt, und nur wenige Menschen verirren sich zufällig hierher.

Faye trat auf der Wode Road kräftig in die Pedale, Bertie kauerte auf dem Sattel hinter ihr und hielt sich an ihr fest, während er seinen Korb mit Holunderblüten an sich drückte. Der Regen strömte herab, und Faye hoffte, es würde vor der Sperrstunde noch aufklaren. Sie hatte versprochen, Mr. Paine nach Schließung des Pubs auf seiner Patrouille zu begleiten, und sie wollte im Dunkeln nicht allzu sehr frieren und nass werden. Sie kamen am Lebensmittelladen vorbei, an dem Schlachter, dem Bäcker, dem Postamt, dem Süßwarenladen, an der Teestube, dem Gemischtwarenladen, an drei Pubs, einer Schule, einer Bücherei und zwei Kirchen.

St. Irene war mit Abstand das älteste der beiden Dorfgotteshäuser. Die Kirche zu Unserer Lieben Frau war dagegen relativ neu und erst 1889 errichtet worden. Das Kirchenschiff von St. Irene stammte aus dem sechsten Jahrhundert und war aus römischen Ziegeln und Schindeln erbaut worden, die man von der Kirche nahm, die zuvor an dem Platz gestanden hatte. Weitere Abschnitte waren im Lauf der Jahrhunderte dazugekommen, zuletzt der Glockenturm im Jahr 1310. Die Kirche war nach der Heiligen Irene von Thessaloniki benannt, die mit ihren Schwestern gefoltert worden war, weil sie unter anderem verbotene Bücher gelesen hatte. Irenes Schwestern wurden hingerichtet, sie jedoch in ein Bordell geschickt, um die Übergriffe der Freier zu erdulden. Doch niemand fasste sie an, und laut der Überlieferung bekehrte sie mit ihren leidenschaftlichen Lesungen aus den Evangelien viele Freier zum Christentum. Eine andere Überlieferung erzählte, dass sie die Freier damit lediglich in ein anderes Bordell ein paar Häuser weiter getrieben habe. Wie auch immer, die Starrköpfigkeit der Heiligen Irene wirkte bei den Dorfbewohnern bis zum heutigen Tag nach. Niemand erwähnte, dass sie bei lebendigem Leib verbrannt worden war, als Strafe für ihre Weigerung, Kompromisse einzugehen. Doch die Bewohner von Woodville ließen sich eine gute Geschichte nicht von einem düsteren Ende verderben.

»Runter mit dir«, sagte Faye zu Bertie und bremste.

»Geh schon mal vor«, erwiderte er und streckte seine unterschiedlich langen Beine. »Ich komme nach.«

Faye lehnte das Fahrrad gegen den Glockenturm von St. Irene, schlüpfte durch die Tür und eilte die unebenen Steintreppen der Wendeltreppe nach oben. Sie hörte die Stimme des Tower Captains, Mr. Hodgson, wie er die anderen Glöckner auf die letzte Runde einer Bob-Doubles-Abfolge vorbereitete. »Achtung!«, rief er. Faye spähte durch den schmalen Steinbogen in die Glockenstube, während Mr. Hodgson die Hände um den gepolsterten Griff seines Seils legte, der Sally genannt wurde. »Sopran geht …« Er zog an dem Seil und brachte seine Glocke zum oberen Totpunkt. Dann, als sie fast schon läutete, fügte er hinzu: »Und sie ist weg.« Die Sopranglocke läutete, die anderen taten es ihr in rascher Folge nach.

Es war fast neun, Faye und Bertie hatten die ganze Übungsstunde verpasst. Der Turm schwankte sanft hin und her, während die Glocken läuteten, und Faye folgte der Bewegung, überlegte, ob sie zurück ins Pub gehen und ihrem Dad helfen sollte, doch die Glöckner würden sowieso gleich aufbrechen, da konnte sie sich ebenso gut sehen lassen und für ihre Abwesenheit entschuldigen.

Sie schob sich durch den Bogen in die Glockenstube, hielt sich dicht an der Mauer und winkte Mr. Hodgson kleinlaut zu, während er die Runden ansagte. Bertie tauchte hinter ihr auf, immer noch mit dem Korb im Arm und leicht außer Atem.

Sogar nach den besonderen Maßstäben von Woodville waren die Glockenläuter ein seltsamer Haufen. Aus Faye wurde niemand schlau, am wenigsten sie selbst. Miss Burgess mochte die Hühner in ihrem Garten lieber als Menschen, und ihre Fingernägel waren immer schmutzig. Miss Gordon war die Freundlichkeit in Person und eine Meisterin im Bogenschießen. Mrs. Pritchett war im Alter geschrumpft und musste sich zum Läuten auf eine Kiste stellen, doch ihr Geist war so scharf wie eh und je. Vervollständigt wurde die Gruppe von den Roberts-Zwillingen, zwei ältlichen Herren, beleibt und von freundlichem Wesen, die mit knappem Nicken und Murmeln kommunizierten. In der Glöcknerwelt waren sie als die Bob Doubles bekannt, was ein Insiderwitz war, der bei der jährlichen Hauptversammlung der County Society Gelächter auslöste und sonst überall höfliche Verwirrung. Angeführt wurden sie vom Tower Captain Mr. Hodgson, dem Pfadfinderleiter, der bei jedem Wetter knielange Kakishorts trug. Man munkelte sogar, man könne das Wetter anhand der Farbe von Mr. Hodgsons Knien vorhersagen. An diesem Abend hatten sie die Farbe von Cox-Orange-Äpfeln. Über Nacht würde es regnen und am Morgen vielleicht noch nieseln.

Die Runden waren zu Ende, und die Glöckner begannen mit dem Abschwingen der Glocken. Diesen Teil der Übungsstunde mochte Faye am liebsten. Nach den Runden mussten die Glocken sicher mit der Öffnung nach unten platziert werden, und die Glöckner brachten sie sanft in die richtige Position. Die Glocken läuteten dichter nacheinander, was Fayes Dad »einen vermaledeiten Lärm« nannte, »der sonst nirgendwo erlaubt wäre, wenn es nicht um die verdammte Kirche ginge«. Doch dann geschah etwas Wunderbares: Aus dem Chaos entstand ein harmonisches Summen. Es floss um sie herum, wurde von den alten Mauern des Turms zurückgeworfen, vibrierte in den Holzdielen und ließ die Fenster erzittern. Fayes Mum hatte immer sagt, es klänge wie der Gesang der Engel, und wenn die Glöckner alles richtig machten, war dieser Klang einzigartig.

Die Männer und Frauen hielten die Sallys weiter sanft mit der rechten Hand und ließen sie los, während sie das Seilende mit der linken zusammenrafften. Faye schloss genießerisch die Augen und badete im Summen der Glocken.

Die Harmonie wurde von einem Ruf von Mr. Hodgson unterbrochen. »Auslassen und zupacken nach der Drei. Eins … zwei … drei. Auslassen und zupacken!« Nach einem letzten Läuten verstummten die Glocken.

Faye öffnete die Augen und sah, wie Mr. Hodgson sie finster musterte.

»Und warum taucht ihr beiden jetzt erst auf?«, schnaufte er an Faye und Bertie gewandt.

»Tut mir leid, Mr. H«, antwortete sie, »der Tag ist mir irgendwie entglitten.«

»Ach ja? Hast du auch nur einen Moment an uns gedacht, wie wir hier stehen und auf dich warten? Wie wir wertvolle Zeit mit Däumchendrehen vergeuden, während wir schon längst hätten üben können, hm?« Mr. Hodgson fand es immer unbegreiflich, dass sich nicht jedermanns Tage ausschließlich um die Übungsstunde drehten. Doch selbst für seine Verhältnisse war er an diesem Abend ungewöhnlich schnippisch.

»Tut mir leid, Mr. H, ich bin so schnell gefahren, wie ich …«

»Oh, ganz bestimmt. Wo bist du gewesen?«

»Ich war … Ich hatte was zu erledigen. Saucepans for Spitfires, ein paar Töpfe abliefern. Am Sonntag bin ich pünktlich, versprochen.«

Die anderen murmelten leise und warfen sich verstohlene Blicke zu.

»Am Sonntag werden wir nicht läuten«, antwortete Mr. Hodgson mit zitternder Oberlippe. Die anderen sahen genauso bedrückt aus und befestigten schmollend ihre Seile.

»Was … Was ist denn los?«, fragte Faye. »Wer ist gestorben?«

»Es kam im Radio«, erzählte Bertie. »Die Nazis haben Paris besetzt. Schreckliche Neuigkeiten.«

»Es ist noch viel schlimmer, Bertie«, jammerte Mr. Hodgson. »Es dürfen keine Glocken mehr geläutet werden. Bis Kriegsende ist es verboten!«

»Verboten?« Fayes Stimme wurde eine Oktave höher. »Wer hat es verboten? Das können sie doch nicht machen? Oder?«

»Die Anweisung kam von der Diözese und dem Kriegsministerium. Bis auf Weiteres müssen alle Kirchenglocken schweigen«, sagte Mr. Hodgson. Er verdrehte die Augen und fügte hinzu: »Außer bei Fliegerangriffen.«

»Aber was ist mit dem Quarter Peal am Sonntag? Für Mum?« Ein Quarter Peal war ein fast einstündiger Zyklus, für den erfahrene Glöckner notwendig waren und der zu besonderen Anlässen geläutet wurde. Faye hatte noch nie an einem teilgenommen, doch sie war bereit, und Mr. Hodgson hatte ein Quarter Peal zum Todestag ihrer Mutter vorgeschlagen. Faye war sich nicht sicher gewesen – es störte sie, wenn andere Leute sie an ihre Mutter erinnerten –, doch der Tower Captain hatte darauf bestanden, und schließlich hatte sie nachgegeben.

»Es tut mir leid, das ist abgesagt«, erwiderte er.

»Nein, nein, das kann nicht sein. Das ist doch mein erstes. Das ist nicht fair. Eine Ausnahme für ein kleines Quarter Peal muss doch möglich sein, Mr. Hodgson. Bitte.«

»Eine Ausnahme? Warum glaubt ihr Jungspunde immer, dass die Regeln für euch nicht gelten, hm?«

»Ich möchte doch gar nicht gegen Regeln verstoßen, Mr. H, aber hören Sie, ich …« Faye senkte die Stimme und sah sich um, während die anderen sich nacheinander an den gefährlichen Abstieg über die Wendeltreppe machten. »Ich habe eine neue Abfolge gefunden.«

Mr. Hodgsons Gesicht zuckte vor Neugier. Neue Abfolgen waren nicht ungewöhnlich – er hatte selbst ein paar konzipiert –, doch er freute sich immer, wenn er etwas Unbekanntes ausprobieren konnte. »Ach ja? Woher?«

Faye bemerkte, wie sich Bertie an der schmalen Tür zur Glockenstube herumdrückte. »Bertie, könntest du Dad sagen, dass ich gleich komme?«

»Äh, oh, klar, natürlich«, stotterte Bertie errötend und ging seitlich durch die enge Tür zur Wendeltreppe.

Faye schämte sich ein wenig, weil sie Bertie weggeschickt hatte, doch wenn er sah, was sie gleich herzeigen würde, würde er wissen, dass in Fayes Buch nicht nur ein Rezept für Marmeladenrolle stand. »Einen Moment, Mr. H«, sagte sie, löste die Schnallen an ihrer alten Schultasche, holte das Buch heraus und blätterte so lange, bis sie den Zettel fand. »Hier.« Sie gab ihm das Blatt Papier, und er verengte die Augen, während er die Abfolge im Kopf durchspielte.

»Die Kefo… Kefa…?«

»Kefapepo«, vervollständigte Faye. »Fragen Sie mich nicht, warum sie so heißt, denn das weiß ich nicht.«

»Sehr seltsam«, meinte Mr. Hodgson verwirrt und fasziniert. »In all den Jahren, in denen ich Glocken läute, ist mir so etwas tatsächlich noch nie untergekommen.«

»Nun, das war auch gar nicht möglich.«

»Wo hast du das her?«

»Die Abfolge ist von meiner Mutter.«

»Ah.« Mr. Hodgson bewegte die Lippen. »Das erklärt einiges.«

»Zum Beispiel?«

»Bitte verzeih, Faye, aber das hier ist einfach absurd. Die Glocken stoßen die ganze Zeit nur aneinander und verursachen leider nur Lärm. Wenn man jemanden hypnotisieren will, na gut, aber läuten kann man das eigentlich nicht. Und was steht da? Ich bezähme den Donner, ich peinige das Böse, ich vertreibe die Dunkelheit. Das ist wirklich äußerst merkwürdig. Wenn wir normal weitermachen könnten, hätte ich ein einfaches Quarter Peal mit zwölf-sechzig Plain Bob Triples vorgeschlagen, doch wie gesagt … Bis auf Weiteres ist es uns ja verboten. Vielleicht sollten wir am besten warten, bis dieser Kriegsunsinn vorbei ist, und uns dann an die Tradition halten, hm?«

»Aber, Mr. Hodgson …«

»Tut mir leid, Faye, wirklich.« Mitfühlend verzog Mr. Hodgson das Gesicht. »Deine Mutter war eine hervorragende Glöcknerin, aber leider müssen wir einen anderen Weg finden, um ihr Andenken zu ehren. Kein Glockenläuten, bis dieser vermaledeite Krieg vorbei ist.«

3

Das Green Man

Der Regen war stärker geworden und peitschte nun wild gegen die Mauern des Pubs, als Faye und die anderen Glöckner im Green Man eintrafen. Das Pub stammte aus dem Jahr 1360 und war seither durchgehend renovierungsbedürftig. Das Gebäude war fast so alt wie der Kirchturm, und das war kein Zufall. Glöckner waren der Kirche unterschiedlich stark zugeneigt – unter ihnen gab es eine überraschend hohe Anzahl von Agnostikern und Atheisten –, doch seit Jahrhunderten teilten sie eine echte Leidenschaft für Ale und Cider.

Das handgemalte Schild, das das von Blättern umgebene Gesicht des Grünen Mannes zeigte, schaukelte knarzend im Wind, als die Gruppe eilig durch die Tür und zur Bar drängte. Niemand hinderte sie daran. Zwei alte Männer spielten in einer Ecke Domino, und vor dem Kamin schlief ein Bluthund. Für Woodvilles Verhältnisse war es ein ruhiger Freitagabend, der prasselnde Regen und die Verdunkelung ließen die meisten Stammgäste zu Hause am Feuer und beim Radio bleiben.

Fayes Brille beschlug in der Wärme des Kaminfeuers, und sie war froh, dass die Tränen so nicht zu sehen waren, die sie auf dem Weg vom Kirchturm hierher vergossen hatte. Sie schniefte, blinzelte und spähte durch den Nebel zur Bar, hinter der ihr Vater Terrence Gläser spülte.

Das Leben als Gastwirt hatte seine Spuren hinterlassen, sein Gesicht war vom ständigen Tabakqualm im Pub ledrig und verwittert. Sein Haaransatz wich zurück, weiße Locken saßen auf seinem Kopf wie Wolken am Horizont, doch sein Geist war so scharf wie eh und je. Das hier war sein Pub, und er kannte jeden Dorfbewohner mit Vor- und Nachnamen. Sein Blick zuckte zu Faye, als sie hereinkam, und er spähte durch den Boden eines Pintglases zu ihr wie Nelson durch ein Teleskop.

»Ahoi! Da kommen die besten Kampanologen des Dorfes«, sagte er und bezeichnete die Gruppe vergnügt mit einem Begriff, den nur solche Menschen verwendeten, die das Wort in einem Wörterbuch gefunden hatten und damit ihren Glöcknerfreunden mitteilen wollten, dass sie es kannten.

»Und die durstigsten«, meinte Faye. Der Riemen ihrer Tasche, in der schwer das Buch lag, schnitt in ihre Schulter. »Einen Moment, ich helfe dir gleich«, sagte sie und eilte in den schmalen Flur hinter der Bar. Sie vergewisserte sich, dass ihr Dad ihr nicht zusah, als sie die Tasche in die kleine Nische bei dem Glas mit dem Trinkgeld schob, wo man sie nicht sehen würde. Doch sie musste erst noch einen letzten Blick auf das Wunder darin werfen. Faye nahm das Buch heraus und schlug es auf einer Seite voller Runen und magischer Symbole auf, auf die auch eine Hexe auf einem Besenstiel gezeichnet war.

»Was hast du denn da, Mädchen?«, fragte plötzlich eine Stimme. Faye klappte das Buch zu und sah, dass Archibald Craddock leise aus der Toilette gekommen war, ohne zu spülen oder sich die Hände zu waschen. Man sah seinem Körper den lebenslangen Genuss von Ale, Pie und Kartoffelbrei sowie die viele Zeit an der frischen Luft an. Auf seinem kahlen Kopf saß eine Kappe, und er trug einen langen Mantel, der knitterte, als er sich an ihr vorbeiquetschte. Aus seinem Grinsen sprachen drei Pints.

»Ein Buch«, antwortete sie und schob es hinter das Glas. »Es heißt Geht niemanden was an, Archibald Craddock, und es ist von mir selbst. Es wird sicher ein großer Erfolg werden.«

Einen Moment lang wirkte Craddock, als wollte er sie zur Seite schieben und nach dem Buch greifen, doch letztlich interessierten ihn kindische Sachen doch zu wenig, und Lesen erst recht nicht. Stattdessen hustete er eine Alkoholwolke aus, zerzauste Faye die Haare und kehrte zu seinem Stammplatz am Ende des Tresens zurück.

Faye atmete tief durch, säuberte die Brille an ihrer Bluse, zog die Haarspange zurecht, versteckte das Buch in der Tasche und nahm ihren Platz an den Zapfhähnen neben ihrem Vater ein.

»Terrence, haben Sie schon die schrecklichen Neuigkeiten gehört?«, fragte Mr. Hodgson und hob die Arme, als stünde er auf der Kanzel.

»Die Nazis haben Paris eingenommen, Mr. H«, antwortete Terrence. »Schlimme Geschichte.«

»Nein, nein, nein, darum geht es überhaupt nicht«, jammerte Mr. Hodgson und schlug mit der Faust auf den Tresen.

»Äh … Man überlegt, ob man das Pint einen Penny teurer machen will, um die Kriegsanstrengungen zu finanzieren?«

»Nein! Die Kirchenglocken dürfen bis auf Weiteres nicht geläutet werden, außer bei Fliegerangriffen. Es kam im Radio. Haben Sie das nicht gehört?«

»Oh.« Terrence arbeitete in dem Pub, seit er laufen konnte. Vor langer Zeit schon hatte er Faye beigebracht, dass es einfacher war, den Gästen ihre Tiraden zu lassen und ihnen dann ein oder zwei Pints zu verkaufen. Ihnen zu widersprechen oder sie darauf hinzuweisen, dass die Glocken ein öffentliches Ärgernis waren, wäre nur schlecht fürs Geschäft. »Oh, das ist … ja schrecklich. Nicht wahr, Faye?«

»Komm schon, Dad, tu nicht so, als wäre das nicht der glücklichste Tag deines Lebens.«

»Das stimmt nicht, Mädchen. Ich weiß doch, wie viel das ganze Gebimmel deiner Mutter bedeutet hat – und dir auch. Wolltest du nicht diesen Sonntag ein extralanges Gebimmel für sie läuten?«

»Ein Quarter Peal.« Fayes Stimme brach. »Das ist jetzt abgesagt.«

»Oh, das tut mir leid, Faye«, sagte Terrence und legte seiner Tochter die Hand auf die Schulter. »Nein, wirklich. Du hast dich doch darauf gefreut, nicht wahr?« Faye war von dem plötzlichen und ehrlichen Mitgefühl ihres Vaters überrumpelt und fürchtete, an Ort und Stelle in Tränen auszubrechen. Natürlich musste er den Moment aber auch gleich wieder kaputtmachen. »Heißt das, ich kann ausschlafen?«

»Dad«, wies sie ihn zurecht, während sie Mr. Hodgson ein Pint von seinem üblichen Getränk zapfte.

»Ich kann natürlich nicht behaupten, dass ich darüber glücklich bin«, sagte Mr. Hodgson. »Aber wir haben eine Verpflichtung und müssen uns daran halten.«

Die anderen Glöckner grummelten zustimmend. Bertie verkündete: »Wie Mr. Churchill gesagt hat, wir dürfen uns niemals ergeben.«

»So ein Schwachsinn«, ertönte Craddocks raue Stimme vom anderen Ende der Bar herüber, und alle drehten die Köpfe zu ihm.

Faye sah, wie Bertie kreidebleich wurde. Der Junge starrte in sein Pint und wartete, dass sich ein Loch in der Erde auftat und ihn verschlang. Mr. Hodgson dagegen erhob das Wort mit der Tapferkeit eines Mannes, der 1914 heldenhaft in der Schlacht von Mons gekämpft hatte.

»Wie bitte?«, fragte der Tower Captain.

»Ich habe gesagt, das ist Schwachsinn, Blödsinn, Unfug, Mist«, erwiderte Craddock und sah nicht auf. »Uns nie ergeben, so ein Quatsch. Bei Dünkirchen haben sie uns geschlagen, und die Franzmänner sind heute unterlegen. Die Polen, die Holländer, Belgien, die hat er schon einkassiert, und wir werden die Nächsten sein. Hitlers Blitzkrieg kann nicht aufgehalten werden, und Mussolini und die Italiener haben uns auch gerade den Krieg erklärt.« Craddock nahm einen langen Zug von seiner selbst gedrehten Zigarette. »Wir hätten uns nie einmischen sollen.«

»Das ist Hochverrat«, sagte Mr. Hodgson. »Ich sollte dich anzeigen.«

»Das ist gesunder Menschenverstand, du alter Trottel«, entgegnete Craddock hinter einer Rauchwolke. »Wir sollten jetzt aufhören und ein Abkommen eingehen, bevor sie noch mehr von unseren Jungs in den Tod schicken. Und wir sollen in der Zwischenzeit das Land mit Frauen, Krüppeln und Weichlingen bestellen.«

»Und wozu gehören Sie?«, fragte Faye und lächelte ihn an.

Bertie prustete und wurde rot, die anderen Glöckner sahen sie jedoch erschrocken an.

Der große Mann knurrte und stand auf, sein Barhocker scharrte mit einem Geräusch wie ein verwundetes Tier über den Boden. »Was hast du gesagt …?« Er ging auf Faye zu, die Dielen knarzten unter seinem Gewicht.

»Ganz ruhig, Archie«, sagte Terrence. »Sie hat es nicht so gemeint.«

»Oh doch.« Faye blieb standhaft, fragte sich allerdings, ob der Tresen zwischen ihr und Craddocks massiger Gestalt ausreichen würde.

»Faye, lass es gut sein.« Terrence kannte Craddocks Jähzorn und seine schnellen Fäuste schon sein ganzes Leben lang. Faye hatte die Geschichten natürlich alle gehört, jedoch noch nie miterlebt, wenn Craddock einen ausgewachsenen Wutanfall bekam und eine Bar in Stücke schlug. Dafür reichte manchmal schon ein verschüttetes Bier.

Faye verschränkte die Arme vor der Brust und sagte mit fester Stimme: »Ich meine ja nur, dass Sie vielleicht auch gegen die Nazis kämpfen sollten, wenn es Ihnen so nicht gefällt.«

»Er ist doch zu alt«, platzte Bertie heraus.

Terrence warf ihm einen aufgebrachten Blick zu. Und du hältst jetzt auch die Klappe!

Craddock drehte sich zu Bertie. »Ich bin beim letzten Mal in den Krieg gezogen«, antwortete er, und der Junge wurde immer kleinlauter. »Ich habe meinen Beitrag geleistet, und ich mache das nicht noch mal. Ich bleibe hier mit den Frauen, den Krüppeln, den Weichlingen … und den Hexen.«

Schuldgefühle durchzuckten Faye, und sie konnte sich gerade noch davon abhalten, einen Blick zu dem Buch hinter dem Glas zu werfen. Doch Craddock sah weder sie an noch das Buch. Er hatte sich zu der Frau gedreht, die neben den beiden alten Männern und ihrem Dominospiel saß. Faye sträubten sich die Haare. Sie hätte schwören können, dass die Frau einen Moment zuvor noch nicht da gewesen war, doch jetzt saß sie in dem Sessel unter einem alten Foto von Hopfenpflückern.

Charlotte Southills Haar war watteweiß, ihr Gesicht blass, die Lippen blutrot geschminkt. Sie rauchte eine Tonpfeife und las in einem schwarzen Buch ohne Titel. Das Kaminfeuer spiegelte sich in ihren großen Augen, als sie Craddocks wütendem Blick mit einem rätselhaften Lächeln begegnete.

Craddock versuchte, Charlotte niederzustarren. Sein Gesicht zitterte, Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Oberlippe. Die Frau klappte sanft ihr Buch zu, stand auf und glitt zur Bar, so schlank wie eine Rose in ihrem pelzgesäumten Mantel. Fayes Brille beschlug erneut.

Charlotte Southill legte mit Nachdruck ein paar Münzen auf den Tresen. Sie kam nicht oft in den Green Man, doch wenn sie einmal da war, trank sie immer ein Gläschen Gin. Faye nickte und schenkte ihr ein.

»Guten Abend, Miss Charlotte«, sagte Terrence fröhlich. »Habe Sie gar nicht gesehen.«

Charlotte schwieg und starrte weiter Craddock an.

Der Wilderer lehnte sich so dicht zu Charlotte, dass Faye sich schon fragte, ob er sie küssen wollte. »Ich habe keine Angst vor dir.« Abfällig verzog er die Lippen und fügte hinzu: »Hexe.«

Also kein Kuss. Faye stellte den Gin vor Charlotte ab.

Charlottes Hand wirkte verschwommen, als sie danach griff.

Craddock zuckte zusammen.

Nicht stark. Sein Auge zuckte, sein Arm ebenso, doch alle sahen es. Die Glöckner stießen einander an. Charlottes Lächeln wurde breiter, während sie den Gin in einem Zug austrank.

Craddock zog seinen Mantel enger, murmelte etwas Unverständliches und stapfte in den Regen hinaus, wobei er die Tür hinter sich zuschlug.

Einen Moment lang war nur das Knacken des Feuers zu hören, dann bestellte Miss Burgess ein halbes Pint Pale Ale, und wieder erfüllte ein freundliches Stimmengewirr den Raum.

Fayes Gedanken wirbelten durcheinander, während sie sich an jedes bisschen Klatsch über Charlotte Southill zu erinnern versuchte. Dass sie eine Hexe sein sollte, war ein bekanntes Gerücht. Andere behaupteten, sie stamme von rumänischen Zigeunern ab, und das lächerlichste Gerücht kam von Mr. Loaf, dem Bestatter, der vermutete, dass Charlotte über dreihundert Jahre alt war, eine direkte Nachfahrin der Wahrsagerin Mother Shipton, die die Pest überlebt hatte und einen Unsterblichkeitspakt mit dem Teufel eingegangen war. Mr. Loaf wäre allerdings wenig erfreut, wenn er wüsste, dass er näher an der Wahrheit dran war als die meisten anderen.

»Noch einen?«, fragte Faye.

Charlotte sah Faye nicht direkt an, eher die Luft um sie herum, bewegte den Kopf wie ein Hund, der eine Witterung aufgenommen hatte. Dann sah sie Faye in die Augen, und der Tabak in ihrer Pfeife glühte rot auf. Rauch drang aus Charlottes Mund und Nasenlöchern und trieb zu Faye hinüber. Bei normalem, beißendem Pfeifenrauch tränten Fayes Augen, doch dieser hier war wärmer, süßer, mit einem Hauch Honig. »Und was hast du heute so getrieben?«, fragte Charlotte mit rauer Stimme.

»Ach, Sie wissen schon, dies und das, Saucepans for Spitfires, habe meinen Beitrag geleistet.« Faye atmete etwas von dem Rauch ein und musste husten. Sie sah zu ihrem Dad. Er unterhielt sich mit den Glöcknern und servierte Pints. Er bemerkte nicht, dass Faye und Charlotte miteinander sprachen.

»Sonst noch etwas?«, fragte Charlotte.

Faye machte große Augen und war verwirrt, weil die alte Frau plötzlich solches Interesse an ihr zeigte. »Äh … nein«, antwortete sie und dachte panisch: Sie weiß es! Sie weiß von dem Buch. Aber woher?

»Irgendetwas Besonderes?« Charlotte zog wieder an ihrer Pfeife, stieß noch mehr von dem nach Honig riechenden Rauch aus. Sie hob eine Augenbraue, und Faye überkam das überwältigende Bedürfnis, ihr alles über das Buch zu erzählen – wie sie es gefunden hatte, was darin stand – und dazu noch alle widersprüchlichen Gedanken über ihre Mutter. Fayes Geist war vernebelt und weich wie ein Daunenkissen. Sie schüttelte den Kopf, doch ihre Lippen kribbelten, ihre Umgebung verschwamm, und sie konnte nur Charlottes Gesicht klar erkennen. Faye musste sich mit aller Kraft konzentrieren, damit sie nicht mehr antwortete als: »Ich bin spazieren gegangen.«

Charlotte verengte die Augen und lächelte wieder. »Wie reizend.« Enttäuscht fügte sie hinzu: »Du bist es nicht. Hab einen schönen Abend.«