Die Hexen von Woodville - Nachtzauber - Mark Stay - E-Book

Die Hexen von Woodville - Nachtzauber E-Book

Mark Stay

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Beschreibung

Nach dem das Rabenvolk aus Woodville vertrieben wurde, ist in dem beschaulichen kleinen Dorf in Kent wieder so etwas wie Ruhe eingekehrt. Doch dass diese trügerisch sein kann, weiß niemand besser, als die junge Hexe Faye Bright – vor allem, wenn Magie im Spiel ist. Und sie soll recht behalten: Eines Tages tauchen drei unbekannte Waisen in Woodville auf und suchen dort Unterschlupf. Als eine von ihnen auf höchst mysteriöse Weise ermordet wird, ist Faye klar, dass hier Schwarze Magie im Spiel ist ...

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Seitenzahl: 405

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DASBUCH

Nach dem das Rabenvolk aus Woodville vertrieben wurde, ist in dem beschaulichen kleinen Dorf in Kent wieder so etwas wie Ruhe eingekehrt. Doch dass diese trügerisch sein kann, weiß niemand besser, als die junge Hexe Faye Bright – vor allem, wenn Magie im Spiel ist. Und sie soll recht behalten: Eines Tages tauchen einige unbekannte Waisen auf, die aus Deutschland geflohen sind und nun in Woodville Unterschlupf suchen. Faye wird engagiert, den Neuankömmlingen beizustehen und zwischen ihr und Klaus, dem Ältesten der Flüchtlinge, entspinnt sich eine zarte Romanze. Zumindest einen Abend lang. Denn kurz darauf kommt es in Woodville zu einem mysteriösen Todesfall, und Faye hat alle Hände voll mit den Ermittlungen zu tun. Denn eines ist Faye und ihren beiden Hexe-Freundinnen Miss Charlotte und Mrs. Teach sofort klar: Hier ist ein Schwarzmagier am Werk …

DERAUTOR

Mark Stay ist gebürtiger Londoner und arbeitete viele Jahre lang im Verlagswesen. In seiner Freizeit schrieb er an seinen an seinen eigenen Texten, inzwischen ist er als freischaffender Autor und Podcaster tätig. Mark Stay lebt in Kent.

Mehr über Mark Stay und seine Romane erfahren Sie auf:

www.markstaywrites.com

Mark Stay

DIEHEXENVON

WOODVILLE

NACHTZAUBER

BAND 2

Roman

Aus dem Englischen übersetzt

von Sabine Thiele

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Titel der englischen Originalausgabe

BABESINTHEWOOD

(THEWITCHESOFWOODVILLEBOOK 2)

Deutsche Erstausgabe 07/2022

Copyright © 2021 by Unusually Tall Stories, Ltd

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München.

Covergestaltung: DASILLUSTRAT, München,

unter Verwendung eines Motivs

von Shutterstock.com/Pixejoo

Redaktion: Joern Rauser

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27552-5V002

www.heyne.de

Dieses Buch wurde während des Lockdowns geschrieben, und ich danke von Herzen allen Menschen, die sich dafür eingesetzt haben, anderen Menschen zu helfen. Meine Familie hat euch nicht nur einmal gebraucht und ihr habt uns nie im Stich gelassen.

Juli 1940

Die Luftschlacht um England hat begonnen.

Nach dem vernichtenden Rückzug aus Dünkirchen sammeln sich die verbliebenen alliierten Kräfte in Großbritannien und bereiten sich auf die Invasion vor. Die Luftwaffe fliegt von ihren Stützpunkten in Frankreich aus Angriffe auf die englische Küste und die Schiffskonvois im Ärmelkanal – mit dem Ziel, die britische Luftverteidigung und Versorgungsketten zu zerstören. Über einem kleinen Dorf in Kent kämpfen Spitfires und Hurricanes der Royal Air Force gegen Jagdflugzeuge und Bomber der Luftwaffe. Doch hier lauern noch ganz andere Dinge. Gefahren der magischen Art …

1

Die zahlreichen Verdienste des George Formby

Faye und Bertie saßen gerade im Bus auf der Rückfahrt aus Canterbury und unterhielten sich, als ein Flugzeug vom Himmel fiel.

In jedem anderen Jahr hätten die Glöckner von St. Irene bei ihrem Sommerausflug Glockentürme in ganz Kent besucht, dort die Glocken geläutet und neue Abfolgen ausprobiert. Vor allem aber hätten sie die Biere und Cider verkostet und hausgemachte Scones und Kuchen gefuttert. Doch im Juni hatte die Regierung das Läuten von Kirchenglocken verboten und damit ihre Pläne zunichtegemacht. Mr. Hodgson, der Tower Captain, hatte vorgeschlagen, die Glockentürme trotzdem zu besuchen und stattdessen Handglocken zu läuten – was allerdings auf wenig Gegenliebe stieß, besonders bei Faye.

»Das ist nicht dasselbe«, beschwerte sie sich, und der Rest der Gruppe stimmte ihr murmelnd zu. »Das ist ja, wie wenn man jemanden bittet, ein Konzert auf einem Flügel zu spielen, und dann gibt man ihm ein Akkordeon.«

Mr. Hodgson schlug daraufhin das Läuten von fixierten Glocken vor – der Schlegel ist dabei festgebunden, um kein Geräusch zu verursachen –, was sie in St. Irene ein paarmal versucht hatten. Doch an einem Seil zu ziehen und nicht einmal das befriedigende Läuten einer Glocke zu hören, hatten alle völlig sinnlos gefunden.

Als auch noch klar wurde, dass es bei den Glockentürmen auf der Route weder Bier noch Cider, Scones oder Kuchen geben würde, mussten sie den Ausflug neu überdenken.

Man sammelte Ideen, um darüber abzustimmen, ignorierte dann aber doch alles und diskutierte, bis man schließlich einen Kompromiss einging. Mr. Hodgson hatte so lange geschmollt, bis er seinen Willen bekam und Canterbury als Reiseziel beschlossen wurde. Er organisierte eine Besichtigung der Glocken der Kathedrale und versprach, dass es in den Pubs und Konditoreien der Stadt ausreichend Bier, Cider, Scones und Kuchen geben würde.

Der Tag wurde ein voller Erfolg, noch gekrönt durch den glamourösen Besuch des Friars-Kinos, in dem sich die Gruppe Let George Do It! ansah, den neuesten George-Formby-Film. Für Bertie – sicher der weltgrößte Fan des Banjolele spielenden Sängers mit dem enormen komödiantischen Talent – war das das Sahnehäubchen, und auf der Heimfahrt konnte er gar nicht aufhören, darüber zu sprechen.

»Ich glaube, am besten gefallen hat mir die Szene am Ende, als er aus dem Torpedorohr geflogen ist«, schwärmte Bertie und lachte prustend. Er und Faye saßen auf ihren Lieblingsplätzen in der oberen Etage des Busses, ganz vorn in der ersten Sitzreihe. Vor dem Krieg hatten sie von dort aus die Aussicht genossen, jetzt waren alle Fenster mit Schutznetzen überzogen, die bei einem Bombenangriff herumfliegende Glassplitter abhalten sollten. Manche Netze hatten aber zumindest einen kleinen rautenförmigen Ausschnitt in der Mitte, durch den Neugierige nach draußen spähen konnten.

Außer den Glöcknern saßen vereinzelt auch noch andere Fahrgäste im Bus, die Einkäufe erledigt hatten. Die Roberts-Zwillinge verputzten immer noch Biskuitkuchen, Mrs. Pritchett schnarchte wie ein verstopfter Abfluss und Miss Burgess und Miss Gordon strickten gemeinsam an einem Schal. Nur Faye hörte Berties aufgeregtem Plappern zu.

»Oder, nein, nein, die Stelle war am besten, als er ›Mr. Wu’s A Window Cleaner Now‹ gesungen hat. Oder, nein, als er diesen Traum hatte und Hitler eins auf die Nase gegeben hat. Das war richtig lustig.« Bertie seufzte selig. »Hast du schon mal einen Tag erlebt, von dem du dir wünschst, er möge ewig dauern?«

Das hatte Faye tatsächlich, doch sie behielt es für sich. Vor gar nicht langer Zeit hatte sie mithilfe von Magie mit ihrer toten Mutter gesprochen. Also, zumindest war sie sich ziemlich sicher, dass es ihre Mutter gewesen war. Nur ein einfaches Kerzenritual bei der hohlen Eiche im Wald. Die Vögel in den umliegenden Bäumen hatten Faye mit Zwitschern und Pfeifen geantwortet, das sie als Worte der Liebe und des Trostes verstanden hatte.

Es hatte allerdings nur dieses eine Mal funktioniert. An den nächsten beiden Tagen hatte sie es noch einmal versucht, doch da hatten die Vögel nicht reagiert. Im Juli waren die Vögel sowieso immer ruhiger, hatte sie sich gesagt. Viele waren in der Mauser, was das Fliegen erschwerte, und Zwitschern würde nur Sperber auf sie aufmerksam machen.

Außerdem durfte sie nicht unbeaufsichtigt Magie wirken. Mittlerweile waren Mrs. Teach und Miss Charlotte für ihre magische Ausbildung zuständig, und die Hexen nahmen ihre Aufgabe sehr ernst, weshalb Faye alle Pläne verwarf, es noch einmal zu versuchen. Sie sollte mit dem zufrieden sein, was sie hatte, sagte sie sich, und nicht gierig werden. Wenigstens hatte sie die Möglichkeit gehabt, sich von ihrer Mutter zu verabschieden und ihr zu sagen, dass sie sie liebte. Nicht vielen war das vergönnt, vor allem in der heutigen Zeit.

»Ich glaube, ich werde ihn mir noch einmal anschauen«, verkündete Bertie und rutschte aufgeregt auf seinem Sitz herum. »Ich habe noch nie einen Film zweimal gesehen, aber den könnte ich mir immer wieder anschauen. So viel habe ich noch nie in meinem Leben gelacht.«

Faye freute sich, dass Bertie so aufgekratzt war. Seit den Ereignissen im letzten Monat war er gedrückter Stimmung gewesen, als das Dorf vom Krähenvolk belagert gewesen war, von einer Gruppe lebender Vogelscheuchen. Dank Vera Fivetrees Obeah-Zauber wusste niemand mehr so richtig, was mit dem Anführer Kefapepo passiert war, dem Dämon in Gestalt einer Vogelscheuche und mit einem Kürbis als Kopf. Manche konnten sich allerdings an mehr erinnern. Faye glaubte, dass Bertie – der den Hexen maßgeblich geholfen hatte, Kefapepo zu besiegen – etwas mehr wusste als die anderen. Sie sah noch immer den zutiefst verstörten Ausdruck in seinen Augen vor sich, als alles vorbei gewesen war. Vielleicht wusste er nicht genau, an was er sich da erinnerte, doch die Dunkelheit verfolgte ihn wie ein schlechter Traum. George Formbys Albereien waren genau das, was er brauchte.

Faye hörte die Melodie von »Mr. Wu’s A Window Cleaner Now« im Kopf und klopfte mit den Händen den Rhythmus auf ihren Oberschenkeln.

Dann begann sie zu pfeifen.

Und dann zu singen.

Bertie stimmte lächelnd ein, ebenso wie die Roberts-Zwillinge, Miss Burgess und Miss Gordon. Kurz darauf sang der ganze Bus mit.

Fast der ganze. Mrs. Pritchett schlief immer noch, und Mr. Hodgson – der Formbys Gesang mit einem Zahnarztbesuch verglich – hatte sich hinter seiner Zeitung verbarrikadiert, die er fest umklammert hielt.

Die Sonne versank hinter den Dächern, als der Bus auf die Wode Road einbog. Bald würden sie zu Hause sein. Als der Doppeldeckerbus langsam um eine enge Kurve bog, entdeckte Faye durch die rautenförmige Öffnung im Schutznetz einen Anschlag am Brett mit den örtlichen Bekanntmachungen:

WOODVILLESOMMERFEST

Zugunsten unserer verwundeten Männer

Zahlreiche Attraktionen:

Kuchen des Jahres

Dosenwerfen

Sackhüpfen

Kasperletheater

Morris-Tänzer

Miss Woodville 1940

Gartenausstellung

Und vieles mehr!

Hayward Lodge, Samstag, 20. Juli von 12.00 Uhr bis Sonnenuntergang

»Das ist diesen Samstag.« Faye stupste Bertie an, der verstummte und einen Blick auf das Plakat erhaschte. »Gehst du hin?«

Bertie sah von der langsam außer Sichtweite verschwindenden Anschlagtafel zu Faye und wieder zurück. Er stammelte einige unvollständige Wörter, bis er schließlich nickte. »Bist du dort?«

»Dad organisiert das Bierzelt«, antwortete Faye. »Ich helfe ihm, aber wenn ich Pause habe, können wir zu den Buden gehen. Mr. Paine betreibt die Kokosnusswurfbude, und er wollte den Nüssen kleine Hitlerbärte ankleben. Gut für die Moral, hat er gemeint. Hättest du Lust?«

»Oh.« Bertie nickte errötend. »Ja, sehr sogar.«

Warum wurde er rot?

»Also«, fuhr Bertie fort. »Ich hatte gedacht, dass du und ich, du weißt schon, vielleicht … Wir könnten zusammen hingehen und …«

Er wurde noch röter, und Faye spürte ein Flattern im Magen, als ihr klar wurde, was sich schon länger vor ihrer Nase abspielte.

Bertie hatte ein Auge auf sie geworfen.

Aber sie waren Freunde. Für seine Freunde entwickelte man doch nicht plötzlich romantische Gefühle. Und Faye hatte noch nie … so an ihn gedacht. Allerdings dachte sie generell kaum an sowas wie Liebe und Turteleien. In Büchern überblätterte sie entsprechende Stellen und verzog das Gesicht, wenn in Filmen geküsst wurde, und sie hatte gesehen, wie sich alberne Mädchen wie Milly Baxter in Gegenwart von Jungen benahmen. Damit wollte sie nun wirklich nichts zu tun haben. Außerdem herrschte Krieg. Alle Männer waren an der Front.

Bis auf Bertie, der ein verkürztes Bein hatte. Er wollte kämpfen und hatte sich als Erster freiwillig gemeldet, nur hatte man ihn nicht genommen. Stattdessen hatte er sich den Local Defence Volunteers angeschlossen. Leistete mit den alten Haudegen seinen Beitrag zur Verteidigung des Landes.

»Und, was sagst du?«

Faye blinzelte und merkte, dass Bertie sie mit seinen großen Hündchenaugen ansah und auf eine Antwort auf eine Frage wartete, die ihr entgangen sein musste.

»Was ich sage?« Sie versuchte, Zeit zu schinden.

»Zu uns.« Bertie wurde unsicher. Er hatte all seinen Mut aufgebracht, um Faye zu fragen, ob sie mit ihm ausging, und sie glaubte nicht, dass er das noch einmal schaffen würde. »Dass wir gemeinsam zum Sommerfest gehen.«

Faye hatte keine Ahnung, was sie ihm antworten sollte. Wenn sie jetzt ablehnte, brach sie ihm das Herz und würde sich das nie verzeihen. Wenn sie aber zusagte … Sie wusste, wie schnell sich Klatsch und Tratsch im Dorf verbreiteten, und im Handumdrehen wäre sie verheiratet und schwanger, und das wollte sie auf gar keinen Fall. Sie brauchte etwas Zeit zum Überlegen.

»Also, äh, Bertie, es ist so …«

Ein Schatten verdunkelte die Sonne. Faye sah schwarzen Qualm, einen Blitz und rote Flammen, als ein brennender Haufen aus Motor, Propeller, Tragflächen und Heck auf Mr. Allens Autowerkstatt an der Ecke zur Unthank Road stürzte.

2

Eine lodernde Hurricane

Was in aller Welt ist das denn?«, brachte Faye noch heraus, bevor der Busfahrer auf die Bremse trat und alle Fahrgäste nach vorn geschleudert wurden. Faye und Bertie schlugen sich die Köpfe an der Frontscheibe an und wurden in ihre Sitze zurückgeworfen, was jeden Gedanken an Romantik zuverlässig zunichtemachte.

»Das sieht nach einer Hurricane Mark One mit einem zweiflügeligen Watts-Propeller und Browning-Maschinengewehren aus«, sagte Bertie und schüttelte benommen den Kopf.

Faye schob ihre Brille zurecht und blinzelte ihn an. »Woher weißt du sowas?«

»So eine Maschine klebt in meinem Album«, antwortete Bertie und deutete auf das lichterloh brennende Wrack, das aus dem Garagendach ragte. »Man erkennt es an der Form der Tragfläche und den Stoff-und-Holzflächen am Rumpf. Das Interessante an einer Hurricane ist …«

»Jetzt nicht, Bertie, ja?« Er hatte Faye bereits ausführlich von seinem Sammelalbum erzählt, da brauchte sie keine Auffrischung ihres Wissens. Sie tätschelte seine Schulter, stand auf und sah sich um. Das obere Deck des Busses war voller benommener Fahrgäste. Neben den anderen Glöcknern saßen einige Menschen in Uniform und Zivil, und ein paar Kinder weinten verängstigt. »Ist jemand verletzt?«, rief Faye.

Mr. Hodgson schüttelte den Kopf, wenn auch mit weit aufgerissenen Augen. Er war bleich wie ein Gespenst, und seine Zeitung war zu einer kleinen Kugel zusammengeknüllt. Die Roberts-Zwillinge klammerten sich aneinander fest, und Miss Burgess’ und Miss Gordons Wolle hatte sich über die beiden Frauen verteilt.

Mrs. Pritchett wachte von ihrem eigenen Schnarchen auf. »Sind wir schon da?« Ihre Augen wurden groß, als sie die Flammen und den schwarzen Rauch sah. »Habe ich was verpasst?«

»Ein Flugzeug ist in Mr. Allens Werkstatt gestürzt«, erklärte Faye. »Wir verlassen jetzt ganz ruhig den Bus und …«

Mr. Allens Garage explodierte.

Kein Wunder, wenn eine hochentzündliche Mischung aus Flugbenzin und brennenden Wrackteilen auf einer Tankstelle landete.

Der Doppeldeckerbus erbebte, alle Fenster zerbarsten. Die Schutznetze bewahrten Faye und die anderen Fahrgäste vor den großen Scherben, doch unzählige kleine Splitter wirbelten ins Innere, und Faye presste instinktiv die Augen zusammen.

Die Druckwelle brachte den Bus aus dem Gleichgewicht. Fayes Ohren klingelten, während alle Insassen verängstigt aufschrien und der Bus eine gefühlte Ewigkeit in einer bedrohlichen Schräglage verharrte. Gerade, als Faye davon überzeugt war, dass sie umkippen würden, fiel der Bus auf alle Räder zurück. Wieder wurden die Passagiere herumgeschleudert, Glassplitter rutschten über Boden und Sitze.

Schwarzer Rauch quoll durch die zerbrochenen Fenster, Hitze legte sich auf Fayes Haut. Sie tastete nach der Gasmaskenschachtel, die sie an einem Gurt über der Schulter trug, weil sie sie – wie alle anderen – jederzeit mit sich führen musste. Im Dorf verzichtete sie meistens darauf, doch bei einem Ausflug in die Stadt wollte man nicht ohne seine Maske erwischt werden, auch wenn sie bisher davon ausgegangen war, dass sie das verdammte Ding nie benutzen würde.

Mr. Hodgson brachte die anderen Fahrgäste bereits nach unten. Ein paar hatten wegen der Glassplitter Schnitte erlitten, und einem Roberts-Zwilling ragte eine große Glasscherbe aus dem Kopf wie eine Waffel auf einem Eisbecher, auch wenn er es gar nicht zu bemerken schien.

»Ich schaue mal nach, ob jemand verletzt ist«, sagte Bertie und zog sich seine Maske über. In seiner Erste-Hilfe-Ausbildung bei den Local Defence Volunteers hatte er nur an widerwilligen Kollegen mit vorgetäuschten Wunden geübt. Jetzt konnte er sein Wissen auf die Probe stellen.

Faye steuerte auf die Treppe nach unten zu.

»Wohin gehst du?«, fragte Bertie mit durch die Maske gedämpfter Stimme.

»Ich will das Feuer löschen.«

Erst im letzten Monat hatte Faye geholfen, eine brennende Scheune zu löschen, doch das war unter gänzlich anderen und äußerst merkwürdigen Umständen geschehen. Einen Moment wünschte sie sich beinahe etwas von der Magie, mit der der Dämon Pumpkinhead mit einem Händeklatschen Feuer hatte löschen können. Jede Magie wäre ihr recht, doch sie kannte nichts, was einem Flammeninferno wie diesem etwas entgegensetzen könnte. Sie sah sich nach Mrs. Teach oder Miss Charlotte um und hoffte, sie würden gerade durchs Dorf gehen. Doch keine Spur von ihnen. Also würde sie auf die herkömmliche Weise eingreifen müssen. Am Montag hatte sie mit Mr. Paine im Rahmen ihrer Arbeit für die Air Raid Precautions geübt. Captain Marshall von den LDV hatte ihnen gezeigt, wie man den Schlauch um die Ecke auf ein Feuer richtete, indem man ihn durch ein Holzstück fädelte, in das Löcher gebohrt waren. Faye hatte gefragt, was sie bei einem Feuer tun sollte, wenn sie gerade kein Holzstück mit Löchern zur Hand hatte. Oder keinen Schlauch. Man hatte ihr gesagt, sie solle nicht so unverschämt sein.

Fayes Brille und die Gasmaske beschlugen, als sie vom Bus aus über die Straße eilte. Die freiwillige Feuerwehr versammelte sich gerade, herbeigerufen von den Trillerpfeifen der Wachhabenden. Die Tankstelle hatte nur eine Zapfsäule, die bereits explodiert war, und den Werkstattraum, in dem Mr. Allen die meiste Arbeit erledigte. Die schwarzen Rauchwolken waren undurchdringlich, und Faye hoffte, dass der Besitzer in Sicherheit war. Dieses Inferno konnte niemand überlebt haben.

Ein untersetzter Mann mit Backenbart rannte aus der verqualmten Werkstatt. Doch es war nicht Mr. Allen, sondern Mr. Baxter, der gegenüber wohnte. Er trug ein kragenloses Hemd und rote Hosenträger.

»Mr. Baxter.« Sie eilte zu ihm und klopfte ihm auf den Rücken, als er sich vorbeugte und den Qualm aus der Lunge hustete. »Haben Sie ihn gesehen? Mr. Allen? Ist er da noch drin?«

»Man sieht überhaupt nichts«, keuchte Mr. Baxter. »Der arme Teufel ist sicher hopsgegangen.«

Faye wurde das Herz schwer. Der arme Mr. Allen. Ob er damit gerechnet hatte? Seit Mr. Churchill die Luftschlacht um England ausgerufen hatte, waren ständig Kampfflugzeuge am Himmel. Es war nur eine Frage der Zeit, bis eines davon auf irgendeine nichtsahnende, arme Seele stürzte. Mr. Allen war ein sonderbarer Kauz. Er sprach mit allen Autos, die in seiner Werkstatt landeten, als seien sie Menschen, und versicherte ihnen andauernd, alles werde gut. Wer würde den Autos der Dorfbewohner jetzt sagen, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchten, dachte Faye traurig.

»Bis du das, Faye Bright?« Mr. Baxter musterte sie. »Nimm die Maske ab, die nützt dir hier nichts. Geh zu Dotty und hilf ihr mit der Kübelspritze.«

Dotty war Mr. Baxters jüngste Tochter. Sie war etwas jünger als Faye und rannte gerade mit der tragbaren Pumpe und einem zusammengerollten Schlauch an ihr vorbei.

»Du pumpst, ich ziele«, sagte sie zu Faye und legte alles auf die Straße.

Faye nahm die Gasmaske ab, froh, nicht mehr den Gummigeruch einatmen zu müssen, verzog dann aber das Gesicht, als ihre Wangen und Nase in der Hitze kribbelten. Dotty schien es nichts auszumachen, sie lachte fröhlich über das ganze sommersprossige Gesicht, und ihre blonden Locken wippten.

»Aufregend, was?« Sie strahlte, während sie den Schlauch entrollten.

»Dotty, Wasser bräuchten wir auch noch«, bemerkte Faye.

»Kommt schon.« Dotty sah über die Schulter. Faye drehte den Kopf und entdeckte Dottys ältere Brüder Timothy und Simon, die unter der Eisenbahnbrücke hervor mit einer Zinnbadewanne auf sie zukamen. Dottys ältere Schwester Milly war nirgendwo zu sehen. Faye fiel ein, dass sie sich freiwillig für die Women’s Auxiliary Air Force gemeldet hatte, weil sie dort schneidige Piloten kennenlernen wollte. »Daddy besteht darauf, dass wir das Badewasser für genau solche Gelegenheiten jeden Abend aufheben. Insgeheim ist er ganz aufgeregt«, flüsterte Dotty, als ihre Brüder die Badewanne mit einem metallischen Scharren auf dem Boden absetzten. Sie war fast voll, und ein Spielzeug-U-Boot schaukelte im Wasser. »Beeilt euch, Jungs«, rief Dotty ihnen nach, als sie davonliefen, um noch mehr zu holen.

Faye stellte die Kübelspritze in die Wanne und betätigte den Pumpschwengel. Anfangs ging sie schwer, doch bald sprudelte Wasser aus dem Schlauch in Dottys Händen.

»Gut so, Mädchen!«, rief Mr. Baxter. »Haltet es in Schach, es darf sich nicht ausbreiten. Die Feuerwehr ist bald da.«

Fayes Arme schmerzten, doch sie biss die Zähne zusammen und pumpte weiter, während Dotty den Schlauch mit entschlossenem Grinsen auf das Büro der Werkstatt gerichtet hielt.

»Hilfe! Hilfe!«, ertönten plötzlich die Rufe eines Mädchens hinter den Flammen.

Faye sah auf. »Hast du das gehört? Da ist jemand drin.« Doch Dotty war zu sehr auf den Schlauch konzentriert und Mr. Baxter erteilte den anderen Freiwilligen gerade Befehle.

»Hilfe! Helft uns!«, rief die Stimme wieder. Der Rauch lichtete sich einen Moment, und Faye erhaschte einen Blick auf einen schwarzen Austin 10, der in der Werkstatt umgekippt war. Schon schoben sich wieder Rauchwolken davor, doch Faye war überzeugt, im Wageninneren Bewegungen gesehen zu haben.

»Ach, verflixt«, murmelte sie und sah sich nach Hilfe um. Bertie hinkte gerade um den Bus herum und begleitete eine ältere Dame zur anderen Straßenseite, wo sie sich ausruhen konnte. »Bertie!«, brüllte Faye, und er blickte auf. »Schnell, hilf mir mit der Pumpe.« Schon bereute sie das erste Wort, denn Bertie war nicht so schnell wie andere Menschen. Sie verfolgte, wie ihr tapferer Freund über die Straße zu ihr humpelte.

»Soll ich übernehmen?«, fragte er und streckte die Hand aus.

»Bitte.« Faye legte seine Hand auf die Pumpe. Einen Moment hoben und senkten sie den Schwengel gemeinsam im Rhythmus, dann ließ Faye los und setzte ihre Gasmaske wieder auf.

»Was machst du da?«, fragte Bertie stotternd, und sie sah ihm an, dass ihm die Antwort nicht gefallen würde.

»Hör nicht auf zu pumpen, verstanden?«, befahl Faye gedämpft unter der Maske.

»Faye, nein, tu das nicht.«

»Da drin ist jemand eingesperrt«, erwiderte sie und rannte in den schwarzen Rauch.

3

Ein Anfall in einem seltsamen Moment

Als sie blind durch die Rauchwand stolperte, beschlug Fayes Brille. Ihre Schuhe stießen gegen Werkzeuge, die auf dem Boden verstreut lagen, und sie prallte gegen einen der metallenen Stützpfeiler.

»Au, verdammt.« Unsicher wich sie zurück, orientierungslos in dem Qualm. Die Hitze brannte auf ihrer Haut. Alle Instinkte sagten ihr, sie solle zurückrennen und sich in Sicherheit bringen. Sie schob einen Finger unter die Gasmaske und wischte die Brille frei, wobei ihr auffiel, wie gefährlich nahe sie am Flugzeugwrack stand. Es war durch das Dach gestürzt, die Nase sah eingedrückt aus, die Propeller waren verbogen, die Tragflächen abgebrochen, und Flammen loderten aus dem Rumpf. Es kippte zur Seite, unzählige orangefarbene Funken stoben in die flirrende Luft auf, und Faye bedauerte alle Piloten, die so ein höllisches Schicksal ereilte.

Sie drehte sich um und entdeckte das auf der Seite liegende Auto. Sie spähte durch die zersplitterte Windschutzscheibe. Drei hektisch strampelnde Kinder lagen übereinander vor der Rückbank, der Fahrer war bewusstlos, und Blut rann aus einer Wunde an seinem Kopf.

»Hilfe!«, rief die Mädchenstimme wieder.

»Hilfe ist da!«, rief Faye zurück, während sie versuchte, auf die Motorhaube zu klettern. »Au, verflucht.« Die Motorhaube war zu heiß. Faye sah sich in der Werkstatt um und entdeckte ein paar ölverschmierte Lumpen auf einer Arbeitsfläche, die sie sich um die Hände wickelte. Sie kletterte zurück auf den Wagen und packte den Griff der hinteren Beifahrertür. Der Rahmen war verzogen und ließ sich nur einen Zentimeter bewegen. Sie zog und zerrte, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Durch das von Rissen durchzogene Fenster sah sie drei verängstigte Gesichter, die sie flehend anstarrten. Kleine Finger streckten sich ihr entgegen.

Der Türgriff brach ab.

»Oh, Sch… Scheibenkleister.« Sie bedachte das Metallstück mit einem bösen Blick, bevor sie es beiseitewarf. »Klettert nach vorn!«, rief sie und winkte die Kinder zum Vordersitz.

Das Flugzeugwrack bewegte sich stöhnend. Faye drehte den Kopf und sah, dass sich der Rumpf zu ihnen neigte. Jeden Moment würden die Flammen auf das Auto übergreifen.

»Schnell, schnell!«, schrie sie und erhaschte im Seitenspiegel einen Blick auf ihr Gesicht mit der Gasmaske. Vor wem die Kinder wohl mehr Angst hatten – vor ihr oder vor dem Feuer?

Sie packte den Griff der Beifahrertür und riss sie auf.

Dann bückte sie sich und nahm die Hand des ersten Kindes, das sich vom Lenkrad abstieß, aus dem Auto krabbelte und auf den Boden sprang.

»Da lang.« Faye deutete durch Rauch in Richtung Straße. »Hol tief Luft und renn los.«

Das Mädchen gehorchte und verschwand in der schwarzen Rauchwand. Als Nächstes zog Faye einen Jungen aus dem Wagen, der dem Mädchen rasch folgte. Das letzte Kind, ein kleiner blonder Junge, war wie ein Reh im Scheinwerferlicht erstarrt. Inmitten von Glassplittern saß er zusammengekauert da, mit den Armen um die Knie, und schüttelte den Kopf.

Hinter Faye stöhnte das Flugzeug im Todeskampf. Krachend stürzte ein Stück des Hecks auf den Boden und fachte die Flammen noch mehr an.

»Bitte.« Faye lehnte sich in den Wagen und wollte nach dem Jungen greifen, doch er drängte sich in die hinterste Ecke und schüttelte immer noch verängstigt den Kopf. »Wie heißt du, Kleiner?«

»Nein, ich habe Angst«, antwortete er.

»W-Was?«, stotterte Faye. War das Deutsch? Sie kannte nur ein paar Wörter aus Nachrichten und Filmen, doch dieser Junge kam nicht von hier, so viel stand fest.

»Mach, dass es aufhört«, jammerte der Junge, senkte den Kopf und trat mit den Füßen um sich.

Definitiv Deutsch, dachte Faye und bekam Panik. Sie konnte es ihm nachfühlen. Das Knacken des Feuers wurde lauter, das Asbestdach über ihnen bekam Risse. Jeden Moment würde alles einstürzen.

»Hey, Mister.« Sie schüttelte den bewusstlosen Fahrer. »Aufwachen! Hey, wachen Sie auf!« Er wiegte sich vor und zurück, seine Lider flatterten, doch er wurde nicht wach. Faye trat mit ihrem Absatz mehrmals auf die Hupe des Austin. Der Fahrer riss die Augen auf, schnappte nach Luft und drehte den Kopf, versuchte, sich in der Schräglage zu orientieren.

»Was ist passiert?«, fragte er auf Deutsch.

»Verflixt noch mal, ist das hier ein Reichsparteitag, oder was?«, murmelte Faye. »Es brennt, Mann. Feuer. Verstehen Sie mich?«

»Ja, ja«, antwortete er und drehte sich zu dem verängstigten Jungen. »Rudolf, komm her«, sagte er auf Deutsch.

Der Junge schüttelte den Kopf.

»Bitte, Rudolf.«

Der Junge warf den Kopf zurück und brüllte laut.

»Verdammt«, fluchte der Fahrer und griff stöhnend hinter seinen Sitz, packte den weinenden Jungen am Kragen und zog ihn nach vorn zu Faye, die seine Hand ergriff.

Alles verschwamm um sie herum.

Jemand liegt zwischen Bäumen. Die Sonne scheint durchs Blätterdach. Es hat geregnet, die Luft riecht frisch und süß.

Faye schüttelte den Kopf, um das Bild zu verscheuchen, doch da kippte die Werkstatt zur Seite.

Der kleine Junge steht über dem Mann auf dem Boden, schüttelt ihn, ruft immer wieder seinen Namen. »Klaus, Klaus!«

»Was ist los?«, drang die Stimme des Fahrers, der mit Akzent sprach, in Fayes Gedanken. Sie stand über der Fahrertür und hielt den kleinen Jungen, der sich in ihrem Griff wand.

»Tut mir leid.« Faye zerrte den weinenden Rudolf vom Auto weg und stellte ihn auf den Boden. Als er die Schreie der anderen Kinder hörte – »Rudolf, Rudolf!« –, rannte er ihnen wie ein Windhund hinterher.

Faye sprang von dem Austin. Der Fahrer kletterte heraus und hielt sich den blutenden Kopf. In diesem Augenblick stürzte das Flugzeugwrack krachend auf den Wagen.

»Mr. Allen! Mr. Allen!«, schrie Faye, während sie einen letzten Blick in die Werkstatt warf und hoffte, den Besitzer zusammengekauert in einer Ecke zu entdecken, doch um sie herum tobte ein höllisches Inferno.

»Hier entlang.« Faye winkte den Fahrer zur Straße, und beide stolperten keuchend in die Sonne. Faye riss sich die Gasmaske vom Kopf und saugte die frische Luft tief in die Lungen.

Sie säuberte ihre Brille an der Bluse und setzte sie wieder auf. Die drei Kinder drängten sich aneinander. Das Mädchen schien etwa elf Jahre alt zu sein und hatte das dunkle Haar ordentlich mit einer Spange zusammengebunden. Der mittlere Junge war etwa ein Jahr jünger, hatte ebenfalls dunkle Haare und trug eine Brille. Der kleine Junge hatte den verschmierten Mund und das zerzauste Haar aller Sechsjährigen auf der Welt. Sie stellten sich dicht neben den Fahrer, einen großen Mann, der zu Fayes Überraschung etwa in ihrem Alter war, das Gesicht noch voller Akne.

Hinter ihnen stand der Doppeldeckerbus mit den leeren Fensterrahmen und den unter Schock stehenden Fahrgästen, um die sich Bertie und die anderen Ersthelfer kümmerten. Ein glänzender Feuerwehrwagen war mittlerweile eingetroffen, und die Feuerwehrmänner richteten ihre Schläuche mit dem kräftigen Wasserstrahl auf die brennende Werkstatt und die Maschine der Royal Air Force.

Ein Schatten zuckte über die Straße, worauf alle luftschnappend nach oben sahen und halb damit rechneten, dass noch ein weiteres Flugzeug abstürzte. Ein Fallschirm schwebte in einem Bogen über die Dächer. Ein RAF-Pilot in einer Lederjacke mit Wollkragen hielt die Leinen seines Fallschirms umklammert, als dieser sich an der Eisenbahnbrücke verhakte. Wie ein Uhrenpendel hing er da und schwankte hin und her.

»Hallo«, sagte er und winkte. »Tut mir schrecklich leid. Wurde eng wegen der Deutschen, und ich musste da weg. Ging leider nicht anders.« Beim Anblick der brennenden Werkstatt verzog er das Gesicht. »Oh, verdammt. Ich hoffe, niemand ist verletzt worden.«

»Dougie.« Mr. Baxter eilte zu Faye, die gerade Rauch aus ihren Lungen hustete. »Hast du Dougie gesehen?«

Faye konnte nur husten und sah Mr. Baxter fragend an. Wer zum Teufel ist Dougie?

»Mr. Allen. Hast du ihn gesehen?«

Immer noch hustend sank Faye auf die Knie und schüttelte den Kopf. Sie konnte nur hoffen, dass er nicht hatte leiden müssen.

»Du meine Güte, was ist denn hier los?«, rief eine Stimme mit Glasgower Akzent.

Alle drehten sich um. Mr. Allen stand unter der Eisenbahnbrücke, in einer Hand eine halb gegessene Fleischpastete, die er bestimmt in Mrs. Yorkes Bäckerei auf der Wode Road gekauft hatte.

»Ich war doch nur fünf Minuten weg«, sagte er, und seine Verwirrung wuchs noch angesichts des erleichterten Jubels der versammelten Menge.

Faye sah, wie der kleine blonde Junge den Fahrer am Ärmel zupfte. Der Kleine schniefte, wischte eine Träne ab, deutete auf Mr. Allen und stellte laut eine Frage auf Deutsch.

Die Jubelrufe verstummten, und alle sahen den kleinen Jungen an. Der Fahrer legte ihm eine Hand auf die Schulter und versuchte, ihn sanft zum Schweigen zu bringen.

»Klaus?«, beharrte der Junge. »Klaus? Was ist los?«

Faye schauderte. Klaus. Der tote Mann aus ihrer Vision.

»Schau einer an«, sagte der Pilot aus luftiger Höhe. »Ist der Kleine da etwa ein Hunne?«

Eine Welle des Unmuts schwappte durch die Menge.

»Krauts!«, brüllte jemand, »Naaziis«, ein anderer.

Immer lauter äußerten die Leute ihre Abneigung. Ärmel wurden hochgekrempelt, man bereitete sich auf eine Schlägerei vor. Einige riefen: »Spione!« Und: »Verschwindet zurück nach Deutschland!«

Die Kinder klammerten sich verängstigt aneinander. Der junge Mann, Klaus, stellte sich schützend vor sie, schirmte sie vor der patriotischen Wut ab und sagte immer wieder auf Deutsch: »Kindertransport, Kindertransport. Juden, Juden.«

Bei Faye fiel der Groschen, als sie sich an eine Wochenschau erinnerte, die sie vor dem Krieg gesehen hatte. Sie schob sich zwischen die aufgebrachte Meute und die Deutschen, hob die Hände und bat um Ruhe, allerdings vergeblich.

»Das sind keine Nazis«, rief sie. »Das sind Juden.«

Die Menge wurde unruhig, wusste offensichtlich nicht, ob das etwas Gutes oder etwas Schlechtes war. Vorurteile halten sich lange.

»Sie sind auf unserer Seite. Sie werden von den Nazis verfolgt und sind hierher geflüchtet.«

Noch mehr Dorfbewohner kamen hinzu, die lediglich wussten, dass ein paar Neuankömmlinge aufgetaucht waren, die Deutsch sprachen, mitten in einem Krieg, der die patriotische Wut der Menge anfachte.

»Jetzt hört mir doch mal zu, ihr Trottel, nur weil sie Deutsch sprechen …«

Faye duckte sich, als eine leere Milchflasche geworfen wurde und vor ihren Füßen auf der Straße zersplitterte. Die zweite zerschellte an dem Mülltonnendeckel, den Bertie, der neben sie geeilt war, wie ein Ritter schwang.

»Danke, Bertie«, sagte Faye und warf ihm ein Lächeln zu. Sie bedeutete den Kindern, sich hinter ihm zu verstecken. Sie schrien auf und drängten sich noch dichter aneinander.

»Ich glaube, wir könnten es bis zum Pub schaffen«, sagte Faye zu Bertie. »Dad kann uns reinlassen und …«

»Aber, aber, was ist denn hier los?« Constable Muldoons dröhnende Stimme übertönte das Geschehen, doch auch das brachte die Meute nicht zur Ruhe. Zum Glück hatte der Constable eine Trillerpfeife. Wenn die Menschen in England etwas verstanden, dann, dass man dem schrillen Ruf einer Acme-Model-15-Metropolitan-Police-Pfeife Folge zu leisten hatte. Muldoon blies dreimal hinein, und sofort herrschte Stille.

»Schon besser.« Constable Muldoon zog die scheuerbürstenartigen Augenbrauen zusammen, während er mit der Trillerpfeife zielte wie ein Cowboy mit einem Revolver. »Wenn ich noch ein einziges Mal pfeifen muss, werde ich eure Namen in mein Notizbuch schreiben.«

Damit war alles klar. Niemand wollte den eigenen Namen in Constable Muldoons Notizbuch wissen. Das bedeutete lebenslänglich ohne die Chance auf Bewährung.

Der Constable wandte sich an Klaus und die Kinder. »Guten Morgen, Leute, dürfte ich mal einen Blick auf eure Papiere werfen?«

»Mein Herr«, sagte Klaus auf Deutsch und reichte dem Constable seine Ausweispapiere. »Ich bin Klaus Schneider.«

Der Wachtmeister las sich alles aufmerksam durch und bewegte mit bebendem Schnauzbart die Lippen dazu.

»Sehr gut«, sagte er und gab Klaus die Papiere zurück, dann wandte er sich der wartenden Menge zu. »Diese Kinder gehören zur Kindertransport-Organisation und sind Gäste in unserem Land. Dieser Mann hier ist ihr Vormund. Sie werden bei Lord und Lady Aston oben in Hayward Lodge wohnen. Wir werden sie mit äußerster Höflichkeit behandeln. Wenn ihr hier nichts zu schaffen habt, würde ich vorschlagen, dass ihr euch vom Acker macht, bevor mein Stiefel nachdrückliche Bekanntschaft mit euren Hinterteilen macht.«

Die Menge zerstreute sich unter Nicken und verständnisvollem Murmeln.

Verblüfft stand Faye da, die Hände in die Hüften gestemmt. »Genau das habe ich ihnen auch gesagt, aber sie haben mich ignoriert.«

Constable Muldoon zwinkerte ihr zu. »Hattest du denn eine Trillerpfeife?«

»Nein, aber ich muss mir wohl eine beschaffen.«

»Sich für einen Polizeibeamten auszugeben ist ein Verbrechen«, sagte Muldoon und tätschelte ihre Schulter. »Wie wäre es stattdessen mit einem Kazoo?« Er wandte sich an Klaus. »Also, junger Mann. Am besten kommt ihr alle mal mit zum Revier, und dort rufen wir dann Ihre Ladyschaft an.«

Klaus schüttelte dem Constable überschwänglich die Hand und bedankte sich ein ums andere Mal. Mit strahlenden blauen Augen packte er als Nächstes Fayes Hand und bedankte sich auch bei ihr.

Wieder verschwamm alles um Faye herum.

Bäume ragen in den blauen Himmel voller weißer Wolken und kippen zur Seite. Ein schlaffer Arm rutscht zu Boden. Der kleine blonde Junge kniet weinend daneben. »Klaus, Klaus!«

Faye riss ihre Hand zurück, die Vision verschwand. Klaus trat einen Schritt nach hinten und fragte sich bestimmt, was er falsch gemacht hatte.

»Tut mir leid«, sagte Faye. »Ich … Ich muss mich kurz hinsetzen.«

Und dann wurde alles schwarz.

4

Max

Max wollte nur Schach spielen. Es war schon dunkel, und sie saßen immer noch auf dem Polizeirevier und sprachen mit dem Wachtmeister mit dem großen Schnurrbart, der alles feinsäuberlich notierte. Eine Menge Telefonate wurden geführt, Dokumente überprüft. Ihr Cousin Klaus übernahm das Reden, er sprach als Einziger von ihnen ausreichend gut Englisch. Magda konnte zwar ein paar Brocken – wie man um Hilfe rief, zum Glück –, doch seit ihrer Rettung aus der brennenden Werkstatt hatte sie kein Wort mehr gesprochen. Rudolf brach immer wieder in Tränen aus und rief nach Mama.

Doch Max wollte nur Schach spielen.

Er liebte Schach. Sobald er eine Partie angefangen hatte, wollte er nie wieder aufhören. Einfach alles daran ergab Sinn. Es gab Regeln. Gute Regeln, die seit Tausenden von Jahren galten. Wenn man sie befolgte, wurde das Spiel noch spannender. Man musste mehr nachdenken. Man musste vorausdenken. Den Regeln wohnte eine Logik inne, die Max glücklich machte.

Jetzt gab es keine Regeln. Zumindest nicht im echten Leben.

Da betrogen alle und taten nur, was für sie selbst das Beste war. Niemand dachte voraus, keiner kümmerte sich um andere Menschen, alle taten nur, was am einfachsten war, und zum Teufel mit der Zukunft. Mit den Nazis hatte es angefangen. Sie betrogen. Sie logen. Max’ Cousin Klaus war alt genug, um sich an die Anfänge zu erinnern. Als die Nazis gesagt hatten, wir würden anderen die Arbeit wegnehmen und Geld scheffeln, wir seien gierig.

Max erinnerte sich an den Tag, an dem sich die anderen Kinder verändert hatten. Frühere Freunde erzählten jetzt Lügen. Max hatte immer Schach mit einem Jungen namens Walter gespielt. Er war ein bisschen älter als Max und ein guter Spieler, sie waren gleich gut. Eines Tages erzählte Walter den anderen in der Schule, Max sei ein dreckiger kleiner Jude, und alle Juden seien Teufel und faul, außerdem würden sie das Blut christlicher Kinder trinken. Die Klassenkameraden hatten nach Luft geschnappt und ihn beschimpft, und Max fragte sich, wie sie so dumm sein und solche Lügen glauben konnten. Er prügelte sich mit Walter. Sie waren nicht gleich gut. Max trug eine blutige Nase davon und wurde nach Hause geschickt, doch erst nachdem ihn der Lehrer, Herr Schmidt, vor der ganzen Klasse erniedrigt hatte. Herr Schmidt benutzte ein Wort, das Max nicht kannte. Untermensch. Max musste seine Eltern danach fragen und brachte Mama damit zum Weinen.

Kurz darauf kamen die Nazis zu ihnen nach Hause. Die SA trat die Tür ein und zerschlug die Fenster. Sie durften jeder einen Koffer mitnehmen. Mama sagte, sie würden eine Abenteuerreise unternehmen, zu Freunden nach München, wo sie in Sicherheit wären, doch sie müssten sofort aufbrechen. Für Max’ Schachspiel war kein Platz im Gepäck.

Seither waren sie ständig auf der Flucht, und an manchen Tagen erschien selbst ein Koffer zu viel.

Max hatte immer nur mit seinem Vater Schach spielen wollen. Er hatte ihn nie besiegen können. Ein paarmal hätte er es beinahe geschafft, doch selbst im Traum überlistete ihn Papa immer wieder. Bei jedem Sieg erklärte er Max, wie er es geschafft hatte. Bei jeder Niederlage lernte Max etwas Neues dazu. Noch ein Grund, weshalb er Schach so liebte. Jede Partie war anders, weil jeder Spieler anders war. Über die Spielweise erfuhr man über den jeweils anderen alles, was man wissen musste, und Max wusste, dass sein Vater freundlich und klug und geduldig war. Die Vorstellung, nie wieder mit seinem Vater Schach zu spielen, entfachte eine flammende Wut in Max, und er wusste, dass er sich vielleicht nie wieder würde beherrschen können, wenn er ihr einmal freien Lauf gelassen hatte. Deshalb schwieg er. Wenn er etwas sagen wollte, würde er es Magda ins Ohr flüstern, und sie würde es weitersagen.

Der Wachtmeister tippte etwas auf der Schreibmaschine, und das Klappern der Tasten schmerzte in Max’ Ohren. Rudolf begann zu weinen. Schon wieder. Klaus wiederholte ständig, dass sie in Sicherheit waren. Das sagte er seit Rotterdam andauernd. Er hatte es auch gesagt, kurz bevor sie in die Werkstatt gefahren waren und das Flugzeug in einem Feuerball vom Himmel gestürzt war.

Selbst jetzt sagte er es. Sie würden bei einer Freundin von Mama bleiben. Lady Aston. Klaus sagte, sie hätte ein großes Haus, wo sie wohnen würden, bis sie sicher nach Hause zurückkehren konnten. Doch Max wusste Bescheid. Sie würde wie die anderen sein. Monatelang waren sie von einem Freund zum anderen gezogen. Zuerst hatte man sie lächelnd und mit offenen Armen und in aller Freundschaft willkommen geheißen, doch wenn sie das Heulen der Stukas gehört hatten, das Rattern der Panzer, mussten ihre Gäste weiterziehen. Zu ihrer eigenen Sicherheit, hieß es immer. Bei Lady Aston würde es nicht anders sein. Der Krieg würde bald auch hier ankommen. Wie ein Wolf war er ihnen auf den Fersen. Und Rudolf, Magda, Klaus und Max würden wieder ihre Koffer packen müssen, dazu verdammt, ewig auf der Erde wandeln zu müssen, ohne ein Zuhause, so wie der Ewige Jude.

Max war das egal. Er wollte nur Schach spielen.

5

Löffel

Faye wachte in ihrem Zimmer auf. Sie trug immer noch ihre Latzhose, die sie während des Ausflugs nach Canterbury angehabt hatte, und lag auf dem Bett. Es war dunkel, bis auf das regelmäßige Ticken der Standuhr im Erdgeschoss herrschte Stille. Ihr Vater Terrence schlief in einem Sessel neben dem Bett, die Hände über dem Bauch verschränkt, der sich bei jedem Schnarchen sanft hob und senkte. Sein Gesicht, das in wachem Zustand voller lebhafter Runzeln war, erschien im Schlaf so faltig wie das einer Bulldogge.

Auf dem Nachtkästchen lag Fayes Brille neben einer Tasse Tee und einer brennenden Kerze. Fayes Mund war trocken, doch die Freude beim Anblick der Tasse verflog, als sie ihre Hände darumlegte. Der Tee war kalt.

»Verflixt.«

Faye setzte ihre Brille auf, die Uhr schlug zur Dreiviertelstunde. Zu welcher, wusste Faye nicht, doch da ihr Vater hier war, musste das Pub bereits geschlossen haben. Der Unterricht begann um Mitternacht, und es war sehr wahrscheinlich, dass sie zu spät dran war, und das würden weder Miss Charlotte noch Mrs. Teach gut aufnehmen. Faye stellte die Füße leise und vorsichtig auf den Dielenboden.

Faye und ihr Vater wohnten über dem Green Man, dem Pub, das es schon seit 1360 in diesem Dorf gab. Es war keine gerade Wand in dem Gebäude, und alle Türen, Scharniere, Klinken und Bodendielen knarzten wie eine Galeone in einem Sturm. Das Brett unter Fayes Füßen machte da keine Ausnahme.

»Ah, gut, du bist wach.« Blinzelnd öffnete Terrence die Augen und sah zu seiner Tochter. »Wie geht es dir, Mädchen?«

»Habe so gut geschlafen wie noch nie«, antwortete sie, und das war nicht gelogen. Sie fühlte sich wach und erfrischt. Sie stand auf und streckte sich, wobei ein quietschendes Geräusch aus ihrer Kehle drang, dann schlüpfte sie in ihre Stiefel, die am Fußende des Bettes standen.

»Du hast uns allen einen ganz schönen Schrecken eingejagt«, sagte Terrence.

Die Erinnerungen an den turbulenten Nachmittag kehrten zurück. Das Flugzeug, das Feuer, die Kinder, die beängstigenden Vorzeichen einer Katastrophe. »Tut mir leid, das war sicher der Rauch.« Die Vision hatte sie ausgeblasen wie eine Kerze, hatte sie völlig von den Füßen geholt. Es war nicht ihre erste gewesen, doch sie war stärker als alle bisherigen gewesen.

Faye war sich nicht sicher, wie viel ihr Vater von dem kleinen Aufruhr im letzten Monat noch wusste, weshalb sie diese verstörende Entwicklung für sich behielt. Auch wenn er sich der in der Familie vorkommenden Magie bewusst war und sich nicht so leicht etwas vormachen ließ, würde er sich nur noch mehr Sorgen machen, wenn sie ihm jetzt von ihren düsteren Todesvisionen erzählte.

»Der Pilot des abgestürzten Flugzeugs ist vorhin hier gewesen. Er und ein paar andere haben mir erzählt, dass du die Kinder gerettet hast.« Terrence lächelte. »Ich bin stolz auf dich, Faye, aber …«

»Ach, das war doch nichts. Ich war einfach am nächsten dran, das ist alles. Jeder hätte das getan …«

»Nein, lass mich ausreden.« Terrence hob einen Finger. »Ich bin stolz auf dich, aber mach ja nie wieder so etwas Dummes.«

»Was hätte ich denn tun sollen? Dumm danebenstehen, während sie verbrennen?«

»Die Feuerwehr war unterwegs.«

»Vielleicht, aber die Zeit hat gedrängt. Außerdem war es kein Aufwand, das habe ich dir doch schon gesagt. Rein und wieder raus.«

»Und dann bist du ohnmächtig geworden.«

»Und jetzt bin ich wieder wach, oder?« Faye schnürte die Stiefel. »Himmel, man könnte glauben, ich hätte mich selbst in Brand gesetzt oder so etwas.«

»Du klingst ganz wie deine Mutter«, sagte Terrence leise und schüttelte den Kopf.

»Das nehme ich als Kompliment.«

»Das war es auch.« Terrence hievte sich hoch und raufte sich die weißen Locken über der hohen Stirn. »Ich weiß, wir haben noch nicht richtig darüber gesprochen, was mit dir und diesem Ding da auf dem Friedhof passiert ist.«

»Da gibt es auch nicht viel zu sagen, hm?«, antwortete Faye mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. Wenigstens wusste sie jetzt, dass er sich an etwas erinnerte. Die Frage war nur, wie viel er noch von ihrem vereinten Kampf gegen Kefapepo wusste, den Dämon mit dem Kürbiskopf. Wenn sie daran dachte, wie dieses Wesen sie niedergedrückt hatte, schüttelte es sie noch heute. »Was geschehen ist, ist geschehen.«

Terrence nickte. »Stimmt. Aber ich weiß noch, dass deine Mutter in deinem Alter so seltsame Anfälle hatte. Manchmal hatte sie Visionen.«

Faye spannte sich an, schnürte aber weiter die Stiefel.

»Ich habe vermutet, dass sie die Zukunft sehen kann«, fuhr Terrence fort. »Auch wenn es nicht viel Sinn ergab. Sie hat immer gesagt, sie hätte nie verstanden, was sie gesehen hat, bis es passierte oder schon geschehen war. Sie fühlte sich schuldig, wenn sie nicht helfen konnte, und wenn sich eine Vision bewahrheitete und etwas Schlimmes geschah und sie es erst hinterher erfuhr … Das hat sie sehr belastet.«

Faye überlief es kalt, als die Erinnerung an die Vision zurückkehrte. Der kleine Junge, der über dem leblosen Klaus weinte.

»Es herrscht Krieg, Faye«, sagte Terrence. »Furchtbare Dinge geschehen jeden Tag, und du sollst nicht denken, dass du – mit all deinen Fähigkeiten – diejenige bist, die alle Probleme lösen muss. Da wirst du verrückt.«

Faye zog sich eine Strickjacke über und knöpfte sie zu. »Ich weiß, dass ich nicht alle Probleme dieser Welt lösen kann, Dad, aber ich werde tun, was ich kann. Wenn jemand direkt vor mir steht und Hilfe braucht, dann werde ich nicht wegschauen.«

»Ja«, meinte Terrence, »wie ich vermutet habe: ganz wie deine Mutter.«

»Ich gehe noch mal raus.«

»Wohin? Es ist fast Mitternacht!«

»Es ist Dienstag. Du weißt doch, wohin ich dienstags um Mitternacht gehe.«

»Oh«, sagte Terrence. Missbilligung und noch etwas anderes schwangen in seiner Stimme mit.

»Sei nicht so.«

»Wie läuft es denn? Bringen sie dir etwas Nützliches bei?«

Faye grinste und hob einen Finger. »Schau.« Sie ging zu ihrem Schrank und öffnete die Tür, auf deren Innenseite ein halbhoher Spiegel angebracht war. Sie holte die Kerze vom Nachttisch und ging durchs Zimmer, nahm ihre Brille ab und hielt sie ins Kerzenlicht, wobei sie sie wie ein Schminkspiegel vors Gesicht hielt.

»Was hast du …«

»Schau zum Spiegel«, sagte Faye.

»Verdammt.« Terrence trat einen Schritt zurück. »Wie hast du das gemacht?«

Fayes Gesicht erschien im Schrankspiegel. Eine schwebende Erscheinung im Glas, eingebettet in den Kerzenschein, grinste ihren Vater an.

»Kerzenmagie«, erklärte die Erscheinung.

»Hol’s der Teufel.«

»Erzähl es aber niemandem«, bat Faye leise. »Ich darf das eigentlich nicht ohne Aufsicht machen, und Mrs. Teach und Miss Charlotte bekämen einen Anfall, wenn sie es wüssten. Aber es ist toll, oder?«

»Wozu braucht man das?«, fragte er.

»Keine Ahnung.« Faye senkte die Brille und die Kerze. Ihr Gesicht im Spiegel verblasste. »Aber es ist immerhin etwas.«

»Ja, das stimmt«, knurrte Terrence. »Ich weiß, für dich mag es ein Spiel sein, aber du musst das nicht tun. Du könntest ein wunderbar ruhiges Leben führen, einen Beruf erlernen. Wenn ich den Löffel abgebe, könntest du das Pub übernehmen.«

»Ich möchte aber nicht, dass du den Löffel abgibst.«

»Das habe ich so schnell auch nicht vor, ich meine nur, wenn …«

»Sei nicht so morbide.« Faye gab ihrem Vater rasch einen Kuss auf die Wange. »Und hör auf, so einen Unsinn zu reden. Wir sehen uns morgen früh. Ruh dich aus und lass die Finger von den Löffeln.«

6

Magische Pubertät

Ich bin dann in meinem Zimmer aufgewacht. Dad hatte mir einen Tee gekocht, aber er war schon kalt«, beendete Faye ihren Bericht und schob Nesseln beiseite, während sie durch den Wald stapften.

»Und du würdest das als Vision beschreiben?« Mrs. Teach folgte Miss Charlotte, die vorausging. Das bernsteinfarbene Licht des zunehmenden Mondes schien durch das Blätterdach. »Was für eine Art Vision?«

»Das war nicht das erste Mal«, sagte Faye und versuchte, mit den beiden älteren Frauen auf dem steilen Pfad Schritt zu halten. Am Nachmittag hatte es geregnet, und die Feuchtigkeit hing zusammen mit einem Geißblattaroma in der Luft. Weiße Motten flatterten herum, und Moskitos machten summend Jagd auf Fayes Hände. Sie schlug die Plagegeister weg, doch sie hatten schon zugestochen. Faye kratzte sich die frischen Schwellungen an den Fingerknöcheln.

»Du hast sie nie erwähnt«, sagte Charlotte und drehte den Kopf. Ihr langes weißes Haar glänzte im Mondlicht.

»Es hat sich auch nie ergeben«, antwortete Faye. Die Farne wurden dichter und strichen über ihre Beine. »Außerdem hatte ich mir nichts dabei gedacht, nur ein paar komische Anfälle, mehr war es nicht.«

»Beschreib sie uns«, sagte Mrs. Teach keuchend. Sie war keine Frau für mitternächtliche Wanderungen. Auch wenn sich ihr birnenförmiger Körper geschmeidig und anmutig durch den Wald bewegte, hatte sie bereits einige Male betont, dass sie Ebenen und Slingback-Pumps rutschigen Hügeln und vernünftigem Schuhwerk vorzog. »Wann hattest du die erste Vision?«

»Letzten Monat, als …« Faye zögerte. Über die seltsamen Ereignisse im Juni hatten sie seither nicht mehr gesprochen, als eine Gruppe von Vogelscheuchen unter der Führung eines Dämons im Dorf eingefallen war. Sie hatten alle drei Fehler gemacht und wollten nicht darüber nachdenken, wie schrecklich schief beinahe alles gegangen wäre. »Ihr wisst doch noch, als Mr. Craddock verschwunden ist? Bertie und ich haben ihn gesucht. Ich habe Craddocks Stiefel gefunden, und als ich sie berührt habe, na ja, keine Ahnung, wie ich es beschreiben soll, aber die Welt ist zur Seite gekippt, und ich habe gesehen, was mit ihm passiert ist. In meinem Kopf. Wie eine Vision.«

»Und in der Werkstatt ist es wieder passiert?«, fragte Charlotte.