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Die Tochter der Highlands.
Island, 1289: Bei einem Schiffsunglück gerät Enja in die Fänge von Menschenhändlern. Sie wird in den Orient entführt und dort zur Assassinin ausgebildet. Als junge Frau sucht sie ihre Wurzeln und macht sich auf den langen Weg nach Schottland, wo in den Highlands ein erbitterter Krieg zwischen den Clans und den Engländern tobt. Als Enja bei einem Angriff schwer verletzt wird, rettet sie ausgerechnet der Clanführer James Douglas. Auf seiner Burg kommt sie wieder zu Kräften. Sie ist fasziniert von James, und als er in englische Gefangenschaft gerät, unternimmt Enja alles, um ihn zu retten – obwohl sie sich damit einen sehr mächtigen Feind macht: den englischen König ...
Die hochspannende Geschichte einer furchtlosen Heldin vor der Kulisse der Schottischen Unabhängigkeitskriege.
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Seitenzahl: 608
Nachdem Enjas Mutter bei einem Schiffsunglück stirbt, gerät das Mädchen in die Hände von Menschenhändlern. Fasziniert von ihrem blonden Haar und der hellen Haut, entführen die Männer sie in den Orient. Dort wird sie unter einem mächtigen Herrscher zur Assassinin ausgebildet. Doch Enja ist auf der Suche nach ihren Wurzeln. Mit einer Karawane gelangt sie nach einer anstrengenden Reise in die schottischen Highlands. Dort kämpfen die Clans gegen den englischen König um ihre Freiheit. Enja lernt den mächtigen Clanführer James Douglas kennen und verliebt sich in ihn. Als er in englische Gefangenschaft gerät, schmiedet Enja einen gefährlichen Plan, um ihn zu befreien – denn sie hat sich entschieden: Sie wird auf der Seite der Schotten kämpfen.
Eva Fellner, mit vollem Namen Eva Fellner von Feldegg, wurde 1968 im oberbayerischen Murnau geboren und arbeitete zunächst als Chefredakteurin einer Fachhandelszeitschrift. Sie gründete eine Agentur für digitales Marketing und unternahm zahlreiche Reisen. China und Südafrika wurden ihr dabei zu einer zweiten Heimat. Neben asiatischer Kampfkunst interessiert sie sich schon immer für Geschichte, für starke Frauen und die Welt des Mittelalters. Sie ist davon überzeugt, dass die schönsten Geschichten das Leben selbst erzählt.
Im Aufbau Taschenbuch liegen ebenfalls ihre Romane »Der Weg der Highlanderin« und »Der Clan der Highlanderin« vor.
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Eva Fellner
Die Highlanderin
Historischer Roman
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Widmung
Kapitel 1 — Schottland im Mai 1307
Kapitel 2 — Island 1289
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5 — Muza im Jahre 1293
Kapitel 6
Kapitel 7 — Schottland im Jahre 1304
Kapitel 8 — Schottland im Jahre 1304
Kapitel 9 — Bagdad im Jahre 1295
Kapitel 10
Kapitel 11 — Schottland im Sommer 1305
Kapitel 12 — Alamut im Jahre 1297
Kapitel 13 — London im September 1305
Kapitel 14 — Alamut im Jahre 1299
Kapitel 15 — Leicester Castle im Jahre 1305
Kapitel 16 — Alamut im Jahre 1299
Kapitel 17 — Dumfries im Herbst 1306
Kapitel 18 — Alamut im Jahre 1299
Kapitel 19 — Caerlaverock im Herbst 1306
Kapitel 20 — Caerlaverock im Herbst 1306
Nachwort
Impressum
Wer von diesem historischen Roman begeistert ist, liest auch ...
Für meine Jungs. Ich bin stolz auf euch!
Schottland im Mai 1307
Welcher Teufel hat mich nur geritten! Das ging mir zum wiederholten Mal an diesem Tag durch den Kopf. Das schwere Kleid klebte schweißnass an meinem Körper. Brust und Taille waren fest geschnürt und ließen nur eine flache Atmung zu. Der Schneider hatte gute Arbeit geleistet. Der enge Kragen drückte mir fast die Kehle zu, und das Brokatmieder rieb unangenehm über meine Rippen. Selbst schuld, dachte ich, du wolltest wohl allen wieder beweisen, was du draufhast, Enja.
Über meine eigene Torheit verzog ich das Gesicht unter dem Schleier, der es schützend verdeckte. Auf den weißen Seidenstoff hatten die Kranzjungfern den Brautkranz gesteckt als Zeichen meiner Reinheit. Ich überflog mit den Augen die Reihen der Umstehenden, während ich langsam weiterschritt. Keiner vermutete unter dem Schleier etwas anderes als das Gesicht einer schottischen Braut. Genauer gesagt das Gesicht von Elisabeth Armstrong, der schönen Tochter des mächtigen Clan Lairds Alexander Malcolm Armstrong. In Figur und Haarfarbe unterschied ich mich kaum von ihr, aber sonst waren wir wohl so unterschiedlich wie Tag und Nacht.
Die Kathedrale von Durham war überfüllt. Die Engländer betrachteten mich mit einer Mischung aus Langeweile und Abscheu. Wenn sie nur wüssten. Quälend langsamen Schrittes bewegte ich mich am Arm des alten Lairds zum Altar. Langsam, hatte mir die alte Zofe der schottischen Prinzessin eingebläut, langsam. So setzte ich in meinen Stiefeln einen Fuß vor den nächsten. Immer darauf bedacht, nicht über den Saum des viel zu langen Kleides zu stolpern, in das sie mich gezwängt hatten. Ich fühlte mich lächerlich in dieser Aufmachung und befürchtete, dass kein Mensch mir diese Täuschung abnehmen würde. Die Zofe hatte mir jedoch versichert, dass ich in diesem Kleid sogar den alten Laird selbst täuschen könnte. Entschlossen hatte mir Laird Armstrong persönlich das Plaid mit den Farben der Armstrongs umgelegt und es mit der Silberbrosche seiner Frau festgesteckt. Kein Mensch in der Kirche hatte seine Tochter vorher je gesehen, und alle Armstrongs waren eingeweiht.
Der Schneider hatte darauf geachtet, dass meine Arme, Hände und der Hals bis zum Kinn sorgfältig mit Stoff bedeckt waren, wie es sich für eine junge Braut gehörte. Damit versteckte er auch geschickt meine helle Haut und die kräftigen Muskeln. Darunter trug ich eine schwarze Hose, um mich zur Not des Brautkleides entledigen zu können. Die Enge und die Hitze darin waren bestialisch.
Der Laird neben mir hielt meine Hand und nickte mir nun mit ernstem Gesicht zu. Es war seine Idee gewesen, mich anstelle seiner Tochter zum Altar zu führen, um sie nicht mit dem englischen Baron Henry de Keighley vermählen zu müssen. Doch damit riskierte er die Feindschaft des englischen Königs – und sein Leben. Ich brachte die besten Voraussetzungen für solch ein gewagtes Täuschungsmanöver mit. Denn auch für mich ging es hier um etwas: Dieser Plan war Teil meines persönlichen Rachefeldzugs gegen König Edward und ein Zeichen des Widerstands. Und im Kampf gegen die verhassten Engländer war mir jedes Mittel recht. Der Plan, den Baron bei seiner eigenen Hochzeit zu ermorden, war verwegen, das wusste ich, aber es konnte gelingen.
In diesen Tagen vermählte der durch Krankheit geschwächte Edward I., König von England, die Frauen des schottischen Adels mit den englischen Baronen und Lords, um sich die Blutsverwandtschaft der schwer zu kontrollierenden Clans zu sichern. Umgekehrt mussten schottische Adelige englische Ladys heiraten. Weigerten sich die Adelsfamilien, drohte der Tod wegen Hochverrats.
Einige der alten schottischen Clansitze wurden von der Heiratspolitik des englischen Königs böse überrascht. So traf es auch eines Tages den schottischen Clan der Armstrongs, geführt vom stolzen Oberhaupt Alexander Armstrong, dessen Sitz zwischen Cumberland und der schottischen Grenze lag. Mit Entsetzen reagierte der kampferprobte Clan auf diese Neuigkeiten. Chief Alexander sollte seine einzige Tochter dem Baron Henry de Keighley aus Lancastershire zur Ehefrau geben, um damit Edwards Friedenspläne zu unterstützen. Seine Proteste verhallten wirkungslos.
Alexanders schöne Tochter Elisabeth sollte nur ein Pfand sein in dem grausamen Spiel, das sich Edward mit seinen Lehensherren lieferte. Der durch seinen Misserfolg in Flandern und den schottischen Krieg zutiefst verschuldete englische König versuchte, Schottland, dessen Aufsässigkeit er als Revolution im eigenen Land betrachtete, brutal zu befrieden. Grausame Hinrichtungen von Hochverrätern sollten abschrecken und den Widerstand im Keim ersticken. Aber sie entfachten den Zorn der schottischen Adelshäuser nur weiter.
Selbstbewusst drückte ich die schwielige Hand des alten Ritters neben mir. Auch er musste nervös sein, deutlich hörte ich seinen stoßweisen Atem. Wir hatten auf dem steinernen Boden in der Kathedrale von Durham den Gang zum Altar hinter uns gebracht. Henry de Keighley stand schon dort und blickte uns erwartungsvoll entgegen. Eigentlich ein gut aussehender Mann, ging es mir durch den Kopf, aber leider war er Engländer.
Politik erforderte Opfer, das war schon das Motto meines Großmeisters, des Assassinenführers Hassan I‑Shabbah, gewesen. Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Mit meiner freien Hand tastete ich unauffällig nach dem Dolch, der sorgfältig verdeckt in einer Falte des Kleides verborgen war. Wie gut es sich anfühlte, den kalten Stahl der Waffe unter meinen Fingern zu spüren. Sofort schlug mein Herz nicht mehr ganz so schnell, und mein Atem beruhigte sich ein wenig. Was für ein Hohn des Schicksals, dass niemand eine Braut nach Waffen untersuchte. Sämtliche Männer hatten vor der heiligen Kirche die Waffen ablegen müssen. Es würde ein leichtes Spiel für mich werden. Der Bräutigam hatte keine Ahnung. Bevor er mich überhaupt erkannt haben würde, wäre er tot.
Eine seltsame Vorahnung überkam mich. Wie immer, wenn sich meine Sinne ganz auf ein bevorstehendes Attentat konzentrierten.
Der junge Baron de Keighley war etwas größer als ich, schlank und athletisch. Ganz nach höfischer Manier neigte er den Kopf, als ich auf ihn zutrat. Er nahm meine Hand vom Arm des Lairds und küsste sie. Vorsichtig half er mir, mein Kleid zu richten, um mich auf die vorbereitete Bank zu knien. Das hatte ich in den letzten Tagen hundertfach geübt, um es möglichst grazil aussehen zu lassen. Wie mir schien, gelang es mir.
Ich bekam nichts von der eigentlichen Zeremonie mit. Immer wieder glitten meine Blicke zu dem hölzernen Chorgestühl. Dann zum Altar mit den Steinsäulen an jeder Seite. Die eintönigen Phrasen des Bischofs Antony Brek interessierten mich genauso wenig wie die nachgesprochenen Sätze meines Bräutigams. Dessen Stimme passte nicht zu seiner Erscheinung, sie klang viel zu hell. Ohne wirklich darüber nachzudenken, wiederholte ich die vorgesprochenen Sätze. Die Sekunden zogen vorbei. Ungeduldig wartete ich auf den Moment, in dem Henry den Schleier heben sollte, um mich zu küssen.
Denn das wäre der Augenblick, in dem er abgelenkt und angreifbar war. Dann würde ich zustoßen. Ich holte tief Luft. Wieder erklang die Stimme des Bischofs. Dann die Stimmen der vielen Menschen hinter mir, die sein Gebet beantworteten. Es war so weit.
»Sie dürfen die Braut jetzt küssen.« Die Worte des Bischofs waren das Zeichen. Ich wandte mich dem Mann an meiner Seite zu. Er hob beide Hände, um den Schleier zu lüften. Vorsichtig hob er ihn über mein Gesicht.
Verblüffung. Das war das Erste, was ich in seinen Augen erkennen konnte. Sein Blick wanderte von meinem Mund zu meiner Stirn. Zu dem kleinen tätowierten Kreuz darauf. Überraschung lag in seiner Miene. Erst als sich sein Gesicht zu einer Grimasse verzog, wusste ich, dass mein Dolch sein Ziel nicht verfehlt hatte. Es war die hässliche Fratze des Todes, die sich nun auf sein Angesicht legte. Ich hatte ihm den Dolch oberhalb des fünften Rippenbogens neben dem Brustbein ins Herz gestoßen. Er war sofort tot.
In der Kathedrale von Durham war plötzlich der Teufel los.
Der selbstgekrönte schottische König Robert de Bruce wirkte in diesen Tagen so schwach wie nie. Monatelang hatte er sich in den Hebriden im äußersten Norden Schottlands versteckt, um den englischen Truppen zu entgehen. Edward I. versammelte seine Truppen ein weiteres Mal, um den schottischen Widerstand, der an einzelnen Stellen immer wieder wie ein entzündlicher Herd in dem umkämpften Land aufflammte, mit einem finalen Schlag auszulöschen.
Die Menschen im Grenzland zwischen den beiden rivalisierenden Königreichen fanden kaum Ruhe und waren Ziel sowohl schottischer als auch englischer Raubritter, die sich in dem ungesicherten Niemandsland bedienten wie Wölfe an einer Herde Schafe. Man schätzte hier die schottischen Clans, weil sich die Familien untereinander verbündeten, um sich gegen die Willkür beider Völker zur Wehr zu setzen. Allerdings standen die dort ansässigen Adelsfamilien dem Einfluss und der Autorität eines ruchlosen Edward machtlos gegenüber und litten unter den Zwangsverheiratungen.
In einem verzweifelten Versuch, seine Tochter vor einer solchen Ehe zu retten, hatte Clanchef Alexander Malcolm Armstrong sich an Enja gewendet. Die Assassinin aus dem Orient, die heftigen Widerstand gegen alle englischen Angriffe leistete, sollte den Bräutigam ermorden. Mit ihrer Verwegenheit und der ungewöhnlichen Kampftechnik war sie fast schon zu einer lebenden Legende der schottischen Highlands geworden. Die Barden des Landes erwähnten sie in einem Atemzug mit den Heldentaten eines William Wallace oder James Douglas.
Doch Lady Enja von Caerleverock hatte selbst nicht geahnt, wie jene tödliche Vermählung in der Kathedrale von Durham den Lauf ihrer Geschichte verändern würde. An diesem denkwürdigen Tag, dem siebten Mai 1307, bereicherte sie die Geschichten der schottischen Barden um ein weiteres Kapitel ihrer Abenteuer.
Berwick, ein paar Tage später
Das Gasthaus in der beschaulichen Stadt Berwick war an diesem Abend gut besucht. Als eines der wenigen Häuser mit Gästezimmern war es ein beliebter Treffpunkt für Durchfahrende und Händler. Auch an diesem Abend befanden sich Gäste aus allen Gegenden des Königreichs im Schankraum. Berwick on de Thyne wurde aufgrund seiner Lage im Grenzland immer wieder zum Schauplatz von erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Schotten und Engländern. Zuletzt hatte der Statthalter der schottischen Kleinstadt im August 1305 den abgetrennten Arm des viergeteilten William Wallace auf seinem Stadtmarkt ausstellen müssen, was zu einigem Unmut in der Bevölkerung geführt hatte. In ihrer politischen Haltung schwankte die Stadt mal auf die Seite der Engländer, mal auf die Seite der Schotten, wie Algen im Wasser.
Der in den Highlands berühmte schottische Barde Alistair MacMhuirich saß gemütlich in einer Ecke des geräumigen Gastraumes. Unter lautstarkem Schmatzen hatte er einen Eintopf mit Gemüse, Gerstenschrot und Wildschweinspeck verspeist. Genüsslich strich er sich nun die Essensreste aus dem graumelierten Bart und entließ mit einem Rülpser die überschüssige Luft. Wohlgewärmt hatte er seine Filzkappe mit dem Plaid abgenommen und neben sich auf die blanke Holzbank gelegt, während er bei der Magd nun den zweiten Kelch Uisge beatha, den schottischen Whisky, bestellte. Die beleibte Frau bewegte sich entgegen ihrer Körperfülle flink zum Schanktisch, um den Krug zu holen.
Der Barde hatte es geschafft, mit der Ankündigung von unerhörten Nachrichten aus dem benachbarten Durham die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich zu ziehen. In Windeseile hatte der Wirt den Geschichtenerzähler auf einen Teller Eintopf und den schottischen Hochprozentigen eingeladen, um sich und seine Gäste mit den aktuellen Neuigkeiten zu versorgen. Die Kälte der Nacht schaffte es kaum, der Hitze, die von den versammelten Menschen ausging, und dem hoch aufschießenden Feuer im Kamin etwas entgegenzusetzen. Selbst die streitenden Hunde hielten endlich ihr Maul, als wollten auch sie den Worten des Barden lauschen.
Alistair betrachtete die Händler und Reisenden, die nun an seinen Lippen hingen. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Aber erst ein weiterer Schluck des hochprozentigen Gebräus lockerte endlich die Zunge des Barden.
»Werte Damen und hochgeschätzte Herren«, begann er das Ritual, das sich seit Jahrhunderten in den Highlands als übliche Abendunterhaltung etabliert hatte. Selbst die großen Anführer aller Clans hörten diesem Mann zu, wenn er etwas zu erzählen hatte.
Ein Raunen und Zischen ging durch die Menge, und spätestens jetzt verstummten auch die letzten Gäste in dem Raum. Sie wandten sich neugierig der Person an dem einzelnen Tisch zu, die von Engländern wie Schotten, Mägden und Köchen belagert wurde.
»Vor einigen Tagen, es war der sechste Sonntag nach Ostern, ergab es sich, dass die junge Lady Elisabeth Armstrong, die einzige Tochter des Alexander und der Katharina Armstrong, den Baron Henry de Keighley, Ritter von Shire in Lancastershire, ehelichen sollte.«
Diese Nachricht war bereits vor einigen Wochen proklamiert worden, daher wiederholte Alistair nur, was schon viele wussten. Mit rauer Stimme räusperte er sich und ließ seine Worte wirken. »Ich war als Barde für die Familie Armstrong bei der Feier geladen und sollte von der Hochzeit berichten.«
»War die Braut denn so hübsch, wie man es ihr nachsagt?«, unterbrach ihn eine junge Magd scheu und wurde sofort von einem unwirschen Grunzen des beleibten Kochs zurechtgewiesen. Einen Barden unterbrach man nicht.
Doch der weltgewandte Mann mit dem silbergrauen Bart, der seine vierzig Sommer schon überschritten hatte, lächelte nachsichtig und sagte: »Sie ist so strahlend schön wie das Licht der Sonne, wenn es sich am Abend im Meer spiegelt.«
Ein tiefer Seufzer entfuhr dem Damenvolk, das sich zahlreich um ihn geschart hatte.
»Sie ist nur leider nicht erschienen«, fuhr Alistair trocken fort und ergötzte sich an den überraschten Gesichtern der Zuhörer. Aus seinem Mund schälte sich ein Lachen, das an einen Ziegenbock erinnerte. Sein Bart zitterte dabei im Takt, und die Schultern schüttelten sich. Wieder genehmigte er sich einen Zug aus dem Krug und schürte die erwartungsvolle Spannung.
»Es ergab sich«, verkündete er endlich, »dass die echte Lady Elisabeth durch eine andere Person ersetzt worden war, die an ihrer Stelle durch die Kirche zu ihrem Bräutigam schritt, um ihn vor Gott und der Kirche zu ehelichen.«
»An ihrer Stelle?«, kamen entsetzte Rufe. »Dann war es gar nicht Lady Elisabeth, die den Baron erstochen hat?«
Selbst der Koch schien diesmal nichts gegen den Zwischenruf der Magd zu haben, die erschrocken die Hand auf den Mund legte. Die Nachricht vom Tod des Bräutigams war dem Barden längst vorausgeeilt und entsetzte die Menschen in der Stadt immer noch. Und jetzt hatten sie einen Zeugen vor sich, der ihnen diese unglaubliche Geschichte erzählen konnte.
»Aber nein!«, bestätigte der Barde. »Auf dem Weg zur Hochzeit war die Kutsche angehalten worden, und die Rebellin Enja von Caerleverock gab sich als Braut aus, während diese unversehrt zurückgebracht wurde. Lady Enja, die schon in vielen Gefechten die Engländer das Fürchten gelehrt hatte, wollte anstelle von Elisabeth den Gang zum Altar antreten. Um den Bräutigam an Ort und Stelle niederzustechen und den König zu brüskieren.«
Dies entfachte nun eine Diskussion in den hinteren Reihen, und in dem Lärm erkannte der Barde auch einige englische Stimmen. Alistair sprach in der schottischen Sprache Gailige, die aber alle Bewohner des Grenzlandes zumindest verstehen konnten.
»Woher wollt ihr denn so sicher wissen, dass es Lady Enja war?«, warf eine englische Stimme provokant ein.
»Wie konnte sich diese Frau so nahe an den Bräutigam heranwagen? Er muss doch erkannt haben, dass es nicht seine Braut war«, fragte eine andere mit schwerem walisischem Akzent.
Alistair hob den Krug mit der braunen Flüssigkeit an seine Lippen und nahm genüsslich einen Zug. Beim Absenken rülpste er laut vernehmlich und gab so seine Wertschätzung gegenüber dem Wirt kund. Rasch brachte ihm eine Magd auf den Wink des Gastwirts ein kleines Holzbrett mit Stücken von Käse, den dieser selbst aus der Milch seiner Ziegen herstellte. Dankbar nahm sich Alistair mit spitzen Fingern ein Stück.
»Nun«, fuhr der Barde mit vollem Mund fort, »es heißt, nicht einmal der Vater der Braut habe gewusst, dass es nicht seine Tochter war, die sich unter dem Brautschleier befand. Wie sollte es denn dann der Bräutigam wissen, der sie noch nie zuvor gesehen hatte?« Nicht ein Muskel zuckte in seinem Gesicht, als er diese Lüge in die abgestandene Luft des Schankraums stellte. »Wie es in den Adelshäusern so üblich ist«, erzählte er lapidar weiter, »bestimmt der König die Vermählungen auf dem Papier. Die Ehewilligen sehen einander erst am Tage der Hochzeit. Tatsächlich trug die Braut einen Schleier, der ihr Antlitz verbarg. Sonst wäre das schwarze Kreuz in der Mitte ihrer Stirn, das Lady Enja seit ihrer Kindheit trägt, aufgefallen.«
»Ein Kreuz? In der Mitte ihrer Stirn? Wie grausam entstellt muss diese Frau sein!«, kam es mitfühlend von einer der Damen.
»Ich kann euch versichern, liebe Leute, diese wunderschöne Frau trägt das Zeichen mit einem Stolz, der diese Unterstellung schlichtweg verbietet … Jedenfalls hatte der Bräutigam keine Chance, denn in dem Moment, in dem er vor dem Altar den Schleier hob, um sie zu küssen, traf ihn ihr Dolch mitten ins Herz.«
»Oohh!«, entfuhr es den Frauen im Raum. »Das ist ja unerhört!«, ließ die eine oder die andere vernehmen oder: »Keine Lady ist so durchtrieben!«
Der Barde ließ mit erzählerischem Kalkül den Ausbruch der weiblichen Entrüstung kommentarlos wirken. In aller Ruhe genehmigte er sich in der Zwischenzeit noch einen weiteren Schluck des vom Wirt selbstgebrannten Uisge beatha.
»Sah er denn gut aus, dieser Ritter Henry?«, krähte nun wieder die junge Magd und erntete dafür vom Koch einen Rüffel mit dem Ellbogen.
Auf die Frage hin hob der Barde eine Augenbraue und nickte sachte. Er blickte nachdenklich hoch zur Decke und sagte mit einem verschmitzten Lächeln unter seinem Vollbart: »Baron de Keighley war groß und von schlanker Statur. Sein fein geschnittenes Gesicht zierte ein schwarzer Bart. Er wäre sicher kein schlechter Ehemann gewesen für Elisabeth Armstrong«, sinnierte er, »wäre er eben nicht Engländer gewesen.«
Dies provozierte nun doch das Gelächter der Zuhörer, das die Engländer unter ihnen nur mit abfälligen Sprüchen quittierten. Die Stimmung im Gastraum war angespannt, wie es an Orten, an denen sich Männer unterschiedlichster Herkunft trafen, üblich war.
»Sie haben die Mörderin hoffentlich an Ort und Stelle erschlagen!«, rief jemand auf Englisch und wurde von den Schotten mit wilden Flüchen belegt.
Alistair verstand es geschickt, die Zuhörer weiter in seinen Bann zu ziehen, indem er die Hände beschwichtigend hob und um Ruhe bat. Hastig legte ein junger Knecht ein wenig Holz in den großen Kamin. Auch er wollte nichts von der Geschichte verpassen. Er setzte sich gerade wieder rechtzeitig, um den nächsten Worten des Barden zu lauschen.
»Die mutige Kriegerin, die sich unter dem Brautkleid mit den Farben der Armstrongs verborgen hatte, war nach ihrem Attentat schutzlos den englischen Wachen ausgesetzt. Wie ihr euch vorstellen könnt, war die Kathedrale von Durham überfüllt. Die schottische Familie der Braut und deren Clan hatten sich in den hinteren Bereich der Kirche begeben müssen, während der englische Adel vorn in den ersten Reihen stand. Frauen, Kinder, Ritter und Edelleute mussten hilflos mit ansehen, wie vor ihren Augen der junge Henry de Keighley von einer Mörderin erstochen wurde.«
Eigentlich wiederholte Alistair die schockierende Szene nur, aber erneut hatte er damit Entsetzen unter den Zuschauern ausgelöst. Er beugte sich vor und hieb seine Faust mit Wucht auf den Tisch, was sämtliche Zuhörer erschrocken die Luft anhalten ließ. »Aber außer der Mörderin hatte nicht ein einziger Mensch in der Kirche eine Waffe bei sich«, zischte er bedrohlich. Mit großen Augen und offenem Mund starrten die Zuhörer ihn an. »Nicht ein Einziger …«, schob er nach. Theatralisch hob er die rechte Hand und ballte sie zur Faust. »Lady Enja war die Einzige mit einem Dolch in der Hand und hielt damit den Bischof Anthony Brek in Schach, der vor Angst fast in seinen Ornat nässte!«
Diesmal kamen die Lacher von allen Seiten, schließlich geschah es nicht alle Tage, dass ein Bischof so schamlos Opfer von Spott wurde.
Alistair MacMhuirich lehnte sich wirkungsvoll zurück und musterte seine Zuhörer. Neben den Knechten und Mägden waren auch einige Kaufleute und schottische Ritter darunter. Sicherlich würden sie ihm später am Abend noch ein wenig Silber in seine Kappe geben. Geduldig ließ er das Gelächter verebben, bevor er weitererzählte.
»Ich selbst stand mit der schottischen Brautfamilie hinten in der Kirche. Plötzlich fiel ein brennender Heuballen durch das geöffnete Seitenfenster – und dann noch einer. Aber die Ballen waren feucht und schwelten mehr, als sie brannten. Sie hüllten die Kirche in dicken Rauch. Ihr könnt euch vorstellen, welche Panik dies erzeugte unter all den Frauen und Kindern.«
Ein Blick in die Gesichter seiner Zuhörer zeigte ihm, dass sie von der Gefährlichkeit solcher Feuer wussten. Schon oft hatte sich ungenügend getrocknetes Heu in den Schobern entzündet und das Feuer die Menschen im Schlaf überrascht. In diesem Moment knisterte das Holz im Kamin, und ein paar glühende Scheite rutschten geräuschvoll nach. Ehrfurchtsvoll blickten die Menschen in das Gesicht des Barden, der sich nun verschwörerisch nach vorn beugte und die Stimme senkte.
»Die Schreie der Menschen alarmierten die Wachen, und sie drangen in die Kathedrale ein, entgegen dem Strom derer, die von dort entkommen wollten. Mitten in diesem Durcheinander gelang es der Mörderin, den Bischof mit sich zu zerren. Trotz dichter Rauchschwaden sah ich deutlich, wie sich die Frau vor dem Hochaltar respektvoll mit einer angedeuteten Verbeugung von dem Priester verabschiedete. Jetzt wusste ich – das war sie. Enja von Caerlaverock!« Herausfordernd blickte er sich um. »Ich konnte ihr direkt in das schöne Antlitz blicken mit dem aufgemalten Kreuz zwischen den Augen. Stolz blickte sie in meine Richtung und hob die Hand. Vielleicht, um die Familie Armstrong um Vergebung zu bitten? Ich war wie erstarrt von dieser Geste. Wie anmutig sie dort stand …« Sein Blick ging in die Ferne, als sähe er sie wieder vor sich. »Ohne Hast schlüpfte sie aus dem Kleid, unter dem sie Männerkleidung trug, und legte es sorgfältig auf den Altar. Dann steckte sie sich den Dolch in ihren Stiefel und hangelte sich flink an dem reich verzierten Hochaltar empor.« Er zeigte mit der Hand gegen die Decke, die in dem Wirtshaus kaum zwei Yards an Höhe hatte. Alle Augen folgten seiner Handbewegung nach oben.
Die bedeutungsvolle Pause überbrückte der Barde mit einem kräftigen Schluck aus seinem Kelch, den die Magd sofort wieder befüllte. Die zahllosen gebannten Augenpaare hefteten sich nun wieder auf das Gesicht des Mannes, der Augenzeuge dieser unerhörten Vorgänge geworden war.
»Ich habe noch nie gesehen, wie ein Mensch, geschweige denn eine Frau, so schnell eine Höhe von fast neun Yards erreichte. Es war, als hätte sie Flügel, die sie emporhoben und für immer unseren Blicken entschwinden ließen …« Jetzt wurden einige Menschen blass. Eine geflügelte Mörderin? Aber der Barde beeilte sich, dieses Bild wieder aus der Phantasie seiner Zuhörer zu löschen, indem er die Erklärung geschwind folgen ließ. »Sie kletterte an den verzierten Steinsäulen links und rechts des Altars bis zum Fenster hoch, öffnete es und schwang sich unter dem wütenden Gebrüll der englischen Anwesenden katzengleich hindurch. Die Menschen liefen panisch in alle Richtungen auseinander.«
Damit breitete er seine beiden Arme aus zu einem fulminanten Schlusspunkt.
»Sie ist entkommen?«, quietschte eine entsetzte Stimme, die tatsächlich dem dicken Koch gehörte. Auf seine Halbglatze hatte sich ein Schweißfilm gelegt. »Warum konnte sie denn entfliehen?«
Andere nickten zustimmend. Jeder stellte sich vor, wie die Kirche umringt gewesen sein musste von Engländern, Schotten und einer großen Menge an Schaulustigen. Ein solch wichtiges Ereignis lockte Menschen von überall her an, nicht zuletzt Marketender, die ihre Waren feilboten.
»Nun«, der Barde verschränkte die Arme vor der Brust und hob seine dichten Augenbrauen, »anscheinend hatte sie Komplizen außerhalb der Kirche, die sich mit einem Heuwagen vor dem Altarfenster positioniert hatten. Sie sprang auf den Heuwagen und versteckte sich darin. Dieser entfernte sich dann unauffällig von der Kirche und ließ die verdutzten Gäste ratlos zurück. Weder die Schotten noch die Engländer fanden ihre Spuren, sie schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Und mit ihr der Heuwagen, der von einem schwarzen Hengst gezogen wurde. Ein Pferd, so schwarz wie die Nacht. Mit Augen, die in die Seelen jedes Sünders blicken konnten.«
Beim letzten Satz vertiefte sich seine Stimme, und ein Schauer ergriff die Zuhörer im Raum. Nur noch das Knistern der Scheite und das Seufzen der Frauen waren zu hören, als sich Alistair MacMhuirich zufrieden zurücklehnte und seine Kappe für das Münzgeld umgedreht auf den Tisch legte.
Dies war seine Geschichte. Zumindest war es das, was dem englischen König zu Ohren kommen sollte. Dafür hatte ihn der alte Laird ordentlich bezahlt. Alistair MacMhuirich war Teil des verwegenen Plans der jungen Frau gewesen. »Edward wird Euch als Hochverräterin vierteilen lassen!«, hatte er dieses verrückte Weib aus Caerlaverock damals im Hermitage Castle in Cumberland, dem Sitz des Armstrong-Clans, gewarnt.
»Das hat er bereits versucht, Alistair«, hatte sie lachend erwidert, »er wird es auch diesmal nicht schaffen. Wer den Teufel herausfordert, wird den Tod ernten.« Dabei hatten ihre Augen wie Eiskristalle gefunkelt.
Wie sollte er sie jemals vergessen können …
Island 1289
Tamtam taratam hallte es von den Bergen wider, in deren Tälern die kleinen Hütten der Bewohner unauffällig wie Pilze im Wald mit dem Hintergrund verschmolzen. Tamtam taratam vibrierten die Klänge der Trommeln in meinen Ohren. Klänge, die ein Ritual ankündigten: die Übergabe eines Mädchens. Je näher wir der Stelle kamen, wo das Schiff wartete, desto lauter wurden das Trommeln und der Gesang der Menschen, die sich auf das wichtigste Ereignis ihrer Gemeinschaft freuten. Tamtam taratam …
Es war früh am Morgen, der Mond hatte sich noch nicht ganz vom Nachthimmel zurückgezogen und rang mit der Sonne um den Übergang vom Dunkel zum Tag. Schattierungen von Grau bestimmten die Silhouetten von Menschen und Landschaft.
Das gesamte Dorf war mit mir und meiner Mutter aufgebrochen und zog nun in einem Pulk singend und tanzend Richtung Meer. Dort, wo Fackeln das Grau der schwindenden Nacht erhellten, erleuchteten sie vereinzelt aufgeregte Gesichter. Die Erregung schien jeden erfasst zu haben, der nun mit uns den steilen Weg vom Dorf bis zum Schiffssteg hinunterlief. Wahrscheinlich hätte auch mich die Erhabenheit dieses Augenblicks in ihren Bann gezogen, wenn ich nicht gewusst hätte, was mich dort unten am Meer erwarten würde. Ein Wendepunkt in meinem Leben stand mir bevor. Und eine qualvolle Trennung. Das war meine Bestimmung.
Als würde ihn die Aufregung um ihn herum völlig kaltlassen, japste mein Wolfshund Rocca fröhlich neben mir, die Zunge hing ihm wie ein nasser Lappen aus dem Maul. Seine klugen Augen streiften mich von Zeit zu Zeit neugierig, für ihn war es nur ein weiterer gemeinsamer Ausflug.
Mit gemischten Gefühlen winkte ich den Menschen zu, die alle gekommen waren, um meiner Mutter und mir Lebewohl zu sagen. Ich sollte stolz sein, so wie sie und meine Familie. Aber immer quälte mich der Gedanke, mich von geliebten Menschen verabschieden zu müssen. Mein Herz war schwer, als ich zum letzten Mal den Weg vom Dorf hinunter zum Bootssteg lief, wo das Schiff auf uns wartete. Jeder einzelne Stein und jeder Halm dieses Weges waren mir so vertraut, und an der Hand meiner Mutter sog ich jedes noch so kleine Detail wie ein Schwamm in mich auf, um es für immer in meiner Erinnerung zu behalten. Ich konnte kaum mithalten mit ihren entschlossenen Schritten.
Die Kälte war spürbar an diesem Frühlingsmorgen; obwohl die Tage schon wärmer wurden, war die Nacht noch bitterkalt. Der Nordwind wehte mir hart ins Gesicht und trieb mir die Tränen in die Augen. Oder war es doch der Abschiedsschmerz?
Meine Mutter drückte meine Hand. Sie schien zu spüren, dass ich Angst hatte, und lächelte mir aufmunternd zu, während wir zusammen die letzten Meter auf dem vom Wetter gegerbten Holz bis zum Schiffssteg liefen. Meine Beine waren müde von dem langen Weg, daher wurde Mutter ein wenig langsamer. Oder war es doch nur, damit sie noch einmal die Gesichter derer sehen konnte, die ihr lieb geworden waren?
Der Blick zurück war imposant: Eine dichte Traube an Menschen stand gegen die eisigen Winde in dicke Felle gehüllt am Saum des Meeres. Sie schrien und jauchzten, und viele besangen auch die Götter, die meine Mutter und mich auf unserer Reise beschützen sollten. Das tanzende Feuer zahlreicher Fackeln verwandelte die Szenerie in ein wildes und beeindruckendes Spektakel. Selbst der Nebel, der majestätisch über dem Wasser hing und sich mit dem Rauch mischte, schien unserer Reise zu huldigen.
Mein Vater, der bisher stumm hinter uns gegangen war, kam nun auf mich zu, nahm mich in die Arme und drückte mich fest an seine Brust. Das dicke Fell, das er wie eine Decke um seine Schultern geworfen hatte, kitzelte mich an der Nase. Nie werde ich seinen vertrauten Geruch nach Leder, Rauch und Fischtran vergessen, während ich seine Liebkosung mit einer Intensität genoss, die aus der Gewissheit entstand, dass es das letzte Mal sein würde. Das letzte Mal, bevor ich erwachsen sein würde.
Er hielt mich nun etwas von sich und sah mir ernst ins Gesicht. Seine hellen blauen Augen unter den scharf gezogenen schwarzen Brauen musterten mich liebevoll. Lange blonde Haare umspielten sein von der eisigen Luft gerötetes Gesicht. Helle Bartstoppeln glitzerten auf seinen Wangen und umrahmten sein Lächeln wie die Sterne den Mond.
»Ich bin sehr stolz auf dich, Enja. Das ganze Dorf ist stolz auf dich, und wir sind sicher, dass du uns keine Schande machen wirst. Egal, was passiert, die Götter, deine Familie und unser ganzes Volk stehen dir bei, vergiss das nicht!«
Mein Herz machte einen Satz, und ich musste schlucken, bevor ich antworten konnte. »Ich werde dich stolz machen, Papa«, presste ich dann hervor, »so wie alle anderen Mädchen ihre Väter vor mir.«
Er küsste mich noch einmal auf die Stirn, bevor er mich abrupt losließ. Vielleicht wollte er nicht, dass ich seine Tränen sah, aber ich bemerkte sie dennoch. Ich hätte niemals ein Wort darüber verloren.
Meine Schwester Jalla drückte sich in ihrem Lederkleid mit dem bestickten Fellkragen, das dem meinen ganz ähnlich war, an mich. Sie war den ganzen Weg stumm geblieben. Unter Tränen reichte sie mir nun einen Strauß Blumen, schniefte und hickste, drehte sich um und verschwand hinter den unzähligen Beinen der umstehenden Leute, deren Füße in Schaffellen steckten, die von Lederschnüren zusammengehalten wurden. Jalla war die Einzige, die nicht verstand, was hier geschah, und die deshalb auch nicht auf mich stolz sein konnte. Sie war nur unendlich traurig, konnte es in ihrer stillen Art aber nicht ausdrücken. Es versetzte mir einen Stich ins Herz, und ich wollte ihr gerade hinterherlaufen, als mein Vater mich entschlossen wieder Richtung Schiffssteg schob. Es war so weit.
Majestätisch lag unser Schiff im Wasser. Am Bug fletschte ein mächtiger Drachen aus geschnitztem Holz die Zähne und drohte jedem, der es wagte, sich zu nähern. Ich hatte immer Angst vor diesem Dämon gehabt, der mich an ein versteinertes Untier erinnerte, das auf dem Wasser ritt und jeden Moment lebendig werden konnte. Ängstlich schielte ich zu dem Holzkopf, als wir den Bug passierten, und folgte meiner Mutter in ihrem langen, im Wind flatternden Fellmantel den schmalen Weg über den Steg.
Mama hob mich ohne Anstrengung über die Reling des Schiffs auf die rauen Holzplanken und folgte mir mit einem großen Schritt. Dann drehte sie mich von sich weg, damit ich zurück zum Ufer blicken konnte, ihre Hände ruhten auf meinen Schultern.
»Schau nur, wie sie sich freuen! Eine Auserwählte aus unserem Dorf. Das bist du, meine Tochter«, sagte sie stolz zu mir.
Ein Schauer ging durch mich hindurch. In der Tat, ich war die Auserwählte. Eine wilde Entschlossenheit verdrängte für einen Moment meine traurigen Gedanken wie ein kalter Schauer, der mir fast die Luft nahm. Dieser Stolz und die festen Hände meiner Mutter hielten mich davon ab, wieder zurück über die Reling des Schiffes zu springen, das sich nun unter dem Gebrüll der Menschen vom Ufer wegbewegte. Der Drachenkopf schien sich wie von Geisterhand in Richtung offenes Meer zu bewegen.
Mein Blick streifte zum letzten Mal die vom frühen Morgenlicht erhellten Gesichter der Menschen aus der vordersten Reihe. Verzweifelt versuchte ich, das Bild meines Vaters, wie er ganz vorn stand, für immer in mich aufzunehmen. Sein Haar tanzte im Wind, sein Gesicht glänzte von all den vergossenen Tränen.
»Nie werde ich dich vergessen, Papa.«
Erst als die schwarze Masse der Insel die Silhouetten der Menschen verschlungen hatte und nur noch als schwacher Umriss aus dem Meer ragte, merkte ich, dass auch mir Tränen über das Gesicht liefen. Zärtlich wischte Mama sie mit ihrem Ärmel von meinen Wangen und nahm mich in die Arme.
»Es wird alles gut«, murmelte sie, »wenn du uns eines Tages im Jenseits wiedersiehst, wirst du den Göttern gleich sein. Du allein hast mit deiner Bestimmung die Macht dazu.«
Ich drückte mich schluchzend in den Schoß meiner Mutter, die mich sanft wiegte und über mein Haar streichelte.
»Enja!« Ein Ellbogen rammte sich schmerzhaft in meine Rippe. »Wach auf, du dämliches Mädchen, du träumst ja mit offenen Augen!«
Ich blinzelte, drehte meinen Kopf zu der zischenden Stimme und sah in große dunkle Augen in einem sommersprossigen Gesicht, das von braunen Locken umrahmt wurde. Ein besorgter Blick musterte mich.
»Alles in Ordnung?«, flüsterte die Stimme noch einmal.
»Ja, natürlich«, stammelte ich noch etwas benommen. »Ich war gerade mit meinen Gedanken woanders.«
»Das habe ich bemerkt«, sagte Jasemin spöttisch. »Du hattest einen ganz glasigen Blick. Psst, Meister Abdallah hat dich auch schon gesehen, er wird dich sicher …«
Jasemin hielt mitten im Satz inne. Besagter Meister hatte seinen falkenartigen Blick gerade zu mir geworfen, als sie sich herüberneigte. Meister Abdallah war ein hagerer Mann; sein grob gestreifter Kaftan hing an ihm wie ein Betttuch an der Leine, und seine Nase glich einem Schnabel, scharfkantig wie der eines Falken. Die Augen passten dazu. Sie lagen tief in den Augenhöhlen und funkelten mich gerade wütend an. Seinen Kopf bedeckte ein gewickelter blauer Turban, dessen Ende er lose über die Schulter gelegt hatte. Er verschränkte die Arme, sah mich streng an und neigte ehrwürdig seinen Kopf.
»Störst du mit deinem Geplapper schon wieder meinen Unterricht, Enja? Woher nimmst du nur dieses Selbstbewusstsein? Als ob deine Worte wichtiger wären als meine! Komm her zu mir, sofort!«
Seine Worte klangen wie eine Drohung, gefährlich leise. Wie ich es hasste, von ihm gemaßregelt zu werden! Aber was blieb mir anderes übrig, ich wollte nicht auch noch wegen Verweigerung bestraft werden. So löste ich mich aus meinem Schneidersitz und trat vor ihn. Ich reichte ihm gerade mal bis zur Brust, aber ich erwiderte trotzig seinen lauernden Blick.
Er genoss es sichtlich, seine Macht vor den anderen Kindern zu zeigen. Als strenger Lehrer war er Widerspruch nicht gewohnt, und jetzt ließ er mich dafür schmoren.
Langsam blickte er von den am Boden hockenden Kindern zurück zu mir und ließ mich meine Unwürdigkeit spüren. Der kleine Raum war angenehm kühl, er lag im Schatten einer großen Palme, und die offenen Schlitze im Gemäuer ließen einen Luftzug herein.
Trotzdem stand mir der Schweiß auf der Stirn. Mir war klar, was jetzt kommen würde, und ich bereitete mich innerlich auf seinen Angriff vor. Ich war seinem Unterricht nicht gefolgt, und er hatte es bemerkt. Was würde er sich einfallen lassen, um mich zu bestrafen? Seine Hand legte sich schwer auf meine rechte Schulter und drückte sie fest nach unten; er wollte mich bewusst klein machen.
»Sag mir, Enja«, in seiner leisen Stimme erkannte ich seinen Ärger, »wie übersetzt du ›nicht reden, wenn der Lehrer spricht‹ in Farsi?«
Ich dachte kurz nach und sprach die persischen Worte dann selbstsicher aus. Sein Gesicht ließ nicht erkennen, was er dachte und ob ich einen Fehler gemacht hatte, er musterte mich nur mit seinen dunklen Augen, seufzte und setzte dann noch einmal an.
»Du passt nicht auf, aber du verstehst mich trotzdem.« Das war keine Frage, es war eine Feststellung.
»Wie meinen Sie das?«
»Übersetze!«, zischte er ungeduldig.
Ich schluckte ungläubig, folgte aber seinem Befehl. Sein Gesicht zuckte. Verkniff er sich etwa ein Grinsen? Auf Persisch fragte er mich, wieso ich scheinbar mühelos die fremde Sprache spreche.
»Ich weiß es nicht, Meister. Es … es ist einfach da drin«, sagte ich zögernd und zeigte plötzlich doch verlegen mit einem Finger auf meine Stirn. »Und es ist plötzlich da.«
Selbst ich erkannte, wie dumm das klingen musste, und schaute verschämt auf den Boden. Meine nackten Zehen gruben sich in den festgetretenen Boden. Die anderen Kinder fingen an zu kichern, und auch Jasemin gehörte zu diesen Verrätern.
»Komm heute nach dem Abendmahl in meinen Studierraum. Ich muss mit dir sprechen.«
Sein ausgestreckter Arm verwies mich auf meinen Platz. Nur zu gerne ließ ich mich wieder neben Jasemin nieder, die sich die Hand vor den Mund hielt, um keine Geräusche von sich zu geben. Ihre Wangen waren gerötet, aber ihr Blick war stur nach unten gerichtet.
Meister Abdallah blickte mich nachdenklich an und schnippte mit den Fingern. »Ruhe!«
Keine Minute später referierte er über das Persische, wohl inspiriert von unserem kleinen Wortgefecht, seine Schülerinnen folgten ihm nun aufmerksam. Meister Abdallah war in der Tat ein strenger Lehrer. War er schlecht gelaunt, gab es auch schon mal einen Hieb mit dem Stock. Aber war er gut gelaunt, machte sein Unterricht sogar Spaß; und gute Laune hatte er, wenn seine Schülerinnen keine Fehler machten. So erhielt ich diesmal keine Strafe, denn ich hatte alles richtig gemacht. Seltsam nur, dass er mich später allein sprechen wollte.
Während also sechzehn Mädchen aufmerksam seinem Unterricht folgten und fleißig arabische Zahlen in Farsi übten, drifteten meine Gedanken zum wiederholten Male zurück zu dem Schiff auf offener See. Und zu meiner Mutter.
Wir befanden uns nun schon seit Stunden auf dem Wasser, das kein Ende zu haben schien. Weit und breit war kein Festland zu sehen, nur das endlose Meer mit seiner unfassbaren Tiefe. Ich erinnere mich noch genau an meine Mutter, wie sie stolz am Schiffsbug stand, direkt neben dem Drachenkopf. Ihre Haare waren zu einem Zopf geflochten, wie glatte weiße Seidenfäden, die zu einem Kunstwerk verschlungen waren. Ein paar Strähnen hatte der Wind herausgezupft und zerrte an ihnen. Die Frühlingssonne wärmte unsere Gesichter ein wenig, aber der Wind frischte noch mehr auf. Das Gesicht meiner Mutter war der Sonne zugewandt. Ich musterte ihre hohen Wangenknochen, ihr ebenmäßiges Gesicht mit der langen, geraden Nase. Hinter den geschlossenen Lidern verbargen sich tiefblaue Augen, die den meinen so ähnlich waren. Sie war eine Schönheit, eine Göttin. Jedenfalls nannte mein Vater sie so, und er musste wissen, wie eine Göttin aussah.
Sie wandte ihr Gesicht zu mir herum, und die Lippen verzogen sich zu einem unsicheren Lächeln, das ihr eigenes Unwohlsein kaum überspielte. »Scheint, als würden wir eine raue Nacht erleben, das Wetter schlägt in ein paar Stunden um. Versuche am besten, dich gleich hinzulegen. Wer weiß, ob wir heute Nacht viel Schlaf bekommen werden.«
Sie streckte die Arme aus, und ich drängte mich an sie. Lächelnd zog sie mich unter ihren Fellmantel aus dem warmen Pelz eines Eisbären, den mein Vater eigenhändig erlegt hatte. Ich kuschelte mich an sie. Ihre Nähe und Wärme gaben mir ein wohliges Gefühl. »Darf ich bei dir schlafen?«
»Natürlich, mein Liebes. Komm, wir legen uns hier neben die Kiste, da sind wir vor dem Wind geschützt.«
Die große Holzkiste auf dem Deck enthielt wohl Seile und Ruder. Sie schützte uns vor dem Wind, aber trotzdem konnten wir hier die Wärme der Sonnenstrahlen genießen. Ich schmiegte mich unter dem Mantel an Mama und beobachtete unter dem Saum heraus die Männer auf dem Schiff, die ihrer Arbeit nachgingen. Leise und ohne laute Worte verrichteten sie ihre Aufgaben, knüpften Taue, Netze und Ketten, banden lose Kisten und Fässer fest, als würden sie sich für einen starken Sturm vorbereiten.
Ich ließ meinen Blick schweifen bis hinaus auf den Horizont, rings um uns herum wippten Schaumkronen im endlosen Wasser. Papa hatte gesagt, wir würden einige Tage lang unterwegs sein. Bis ich mein endgültiges Ziel erreicht hätte, würden Wochen vergehen. Was wohl aus meiner Schwester Jalla werden sollte, wenn ich nicht mehr da war? Würde sie mich vermissen oder schon bald vergessen haben? Papa hatte mir von den anderen Mädchen erzählt, die in den Jahren zuvor den gleichen Weg angetreten hatten wie ich jetzt. Sie würden den Göttern nun beistehen im Kampf um den Vulkan Hekla, der von Zeit zu Zeit sein großes Maul öffnete, um alles zu verschlingen, was sich ihm in den Weg stellte. Menschen, Tiere, Häuser und sogar ganze Dörfer. Niemand hatte mir erklärt, was ich auf dem Weg zu den Göttern tun musste, aber mein Vater hatte mich stolz angesehen und mir versichert, dass ich als Auserwählte ohne Schmerzen in den Olymp der Götter aufgenommen würde. Eine große Ehre, die nur wenigen Mädchen in unserem Stamm zuteilwurde.
Meine Hand krallte sich in die Wollweste meiner Mutter, mein Kopf lag seitlich auf ihrer Brust, und die Welt um mich herum wurde unwichtig. Ihren warmen Fellmantel hatte sie schützend um mich gelegt, um, so gut es ging, die kalten Winde von mir fernzuhalten.
Mit dem gleichmäßigen Schaukeln der Wellen und begleitet von dem knarzigen Schlaflied der Schiffsbohlen glitt ich in einen tiefen Schlaf.
Meine Mutter zuckte zusammen, und ein Schrei entfuhr ihr. Sofort war ich hellwach. Ein Blitz war in einen der Masten eingeschlagen. Das Krachen dröhnte laut in meinen Ohren. Der Mast splitterte und schlug mit gewaltigem Lärm auf die Schiffsbohlen. Seile, Segel und Holzteile flogen durch die Luft. Die Männer konnten sich durch einen Sprung auf die Seite retten, doch alles geschah rasend schnell.
Geistesgegenwärtig riss mich meine Mutter mit sich, bevor auch unser Schlafplatz von den herabstürzenden Holzteilen getroffen wurde. Um uns herum herrschte Chaos. Immer wieder blitzte es grell über uns. Erschrocken krallte ich mich in das Bein meiner Mutter, das in ein weiches Leder gewickelt war. Ungläubig starrte ich auf die gespenstische Szenerie: Gleißendes Licht erhellte die Oberfläche des Decks und ließ die Verwüstung erahnen. Wie Knochen ragten die verkohlten Splitter des Hauptmastes aus dem Schiffsboden. Um uns herum schäumte und zischte das Meer, der Wind peitschte den Regen fast waagerecht über das Deck.
Das Schiff bekam in diesem Moment eine schwere Schlagseite und ließ uns beide taumelnd an der Reling Halt suchen. Strömender Regen peitschte den Seeleuten das Haar wie nasse Algen ins Gesicht, als sie unter großer Kraftanstrengung versuchten, den Mast ins Wasser zu zerren. Hastig zertrennten sie die Takelage, die ihn und die Segel immer noch mit dem Schiff verband. Doch der größere Teil hing noch auf Deck, und der Mast bewegte sich kaum von der Stelle. Erstmals spürte ich so etwas wie Angst unter den erfahrenen Männern, die Lässigkeit und Ruhe war einer verzweifelten Hektik gewichen.
Meine Mutter hielt mich vor sich fest. Wir waren an der Reling entlang immer weiter Richtung Heck zurückgewichen und spürten das Schiff unter uns schlingern und röhren. Verzweifelt klammerten wir uns an allem fest, was nicht davongespült werden konnte. Der umgeknickte Mast brachte den Rumpf in eine gefährliche Schieflage, und wir hielten uns am hinteren Ende des Schiffsrands fest, um nicht über die Reling zu fallen. Wasser schwappte schwer über den Bug des Schiffes hinweg, jedes Mal, wenn es in ein Wellental hineintauchte. Der Zähne fletschende Dämonenkopf kämpfte gegen eine Wasserwand, die uns in unserer Hilflosigkeit zischend und gurgelnd zu verhöhnen und nach Opfern zu verlangen schien. Würden wir die nächsten sein?
Schließlich spürte ich, wie Mamas Schal sich um meine Brust wickelte; geschickt band sie mich damit an ihren eigenen Körper, um sicherzugehen, dass ich nicht über Bord geschwemmt wurde.
»Ich lasse dich nicht allein, mein Kleines«, flüsterte sie mit fester Stimme in mein Ohr, als hätte sie meine Gedanken erraten. Aber ich sah, dass ihre Finger zitterten. »Die Götter werden dich beschützen, du bist …«
Ein lautes Krachen übertönte ihre Stimme, und ein gewaltiges Blitzarsenal erleuchtete den Horizont. Hinter mir spürte ich den Körper meiner Mutter zusammenfahren. Sie hatte es also auch gesehen … Das, was ich im Aufzucken des weißen Lichtes bemerkt hatte, erschien mir riesiger als alles, was ich je zuvor gesehen hatte. Direkt vor uns ragte eine schwarze Wand auf, mehrere Schiffe hoch, und kam drohend auf uns zu. Wie ein Berg, der sich in Bewegung gesetzt hatte, um uns zu zermalmen.
Hinter mir entfuhr Mutter ein erschrockenes: »Bei allen Göttern, was ist das!«
Und auf einmal stand die Zeit still.
Wir starrten die schwarze Riesenwelle an, ohne zu begreifen, was passieren würde. Selbst die Seeleute hielten in ihren Bemühungen inne, das Schiff wieder klarzumachen. Sie fixierten einfach nur bewegungslos diese wogende Wand, die sich vor unserem Bug auftürmte, denn sie wussten, es gab keine Chance, dem zu entrinnen.
Wie in Zeitlupe sah ich jenes Wasserungetüm unser Schiff von vorn hochdrücken und an der Wellenwand entlang in die Senkrechte heben. Der Holzrumpf ratterte und ächzte unter dieser Belastung. Der zerstörte Mast polterte rumpelnd an uns vorbei in die Tiefe und mit ihm ein paar verlorene Seeleute. Das Brüllen der Männer verlor sich im Lärm, das Schreien meiner Mutter konnte ich nur hören, weil sie mich so fest an sich drückte. Ich sah noch den Drachenkopf standhaft den Wellenkamm brechen, dann drehte sich das Schiff gurgelnd auf den Rücken, und das schwarze Wasser umfing mich und alle, die mein Schicksal teilten, mit seinen eisigen Armen.
Es war auf einmal still. Sehr still. Das Donnern, Bersten und Krachen von Metall und Holz wurde erstickt von den Lauten unter Wasser. Ich konnte ein dumpfes Brodeln hören und spürte, wie meine Mutter kräftig um sich schlug und ruderte. Ich glaubte, die Schreie der Seeleute zu hören. Aber war das möglich?
Ich blieb überraschend ruhig. Die Panik von vorhin wich einem Gefühl von Gewissheit. Ich akzeptierte mein Schicksal, ließ mich schweben. Und in der Schwärze der Tiefe fühlte ich mich seltsam geborgen. Irgendwo zwischen Himmel und Erde, als hätte mich das Meer wie einen Gast freundlich empfangen. Die Kälte spürte ich kaum, ich hatte mich schon immer wohl gefühlt, wenn andere bitterlich froren. Wäre da nicht die Atemnot gewesen, das Brennen in den Lungen. Wir durchstießen die Wasseroberfläche, wild rudernd, keuchend und japsend hatte meine Mutter es geschafft, uns beide an die Oberfläche zurückzubringen. Dafür hatte sie ihr Eisbärenfell abgestreift, das jetzt in die Tiefen des Meeres sank. Dankbar sog ich die kostbare Luft ein.
»Bist du verletzt, Enja?«, japste Mama, während sie hektisch an der Wasseroberfläche ruderte.
»Nein … bitte lass mich selbst schwimmen!«
Ich war noch immer an ihr festgebunden, jetzt löste sie den Schal mit zitternden Händen und hielt mich an den Händen fest. Sie wusste, dass ich gut schwimmen konnte. Wahrscheinlich hatte sie nur Angst, dass das tobende Wasser mich ihr entreißen könnte.
Die See um uns herum wogte noch immer, wenngleich die Wellen etwas sanfter wurden. Im Licht der Blitze versuchten wir, etwas vom Schiff zu erkennen, aber nur einzelne herumtreibende Bruchstücke waren auszumachen. Die Riesenwelle musste das Schiff zerdrückt und die Männer unter sich begraben haben. Wie und warum wir überleben konnten, war mir ein Rätsel. Inzwischen spürte ich, wie die Kälte des Wassers langsam in meine Knochen zog. Sie würde uns in kürzester Zeit töten.
»Wir werden im Wasser nicht lange überleben. Halte Ausschau nach etwas Schwimmendem, vielleicht ein Stück Holz vom Schiff …« Die Stimme meiner Mutter klang mühsam, sie vibrierte vor Kälte, und vor ihrem Mund entstanden kleine Dampfwölkchen. Die Blitze waren weiter hinter den Horizont gewandert, das Donnergrollen folgte mit größerem Abstand. Die dunklen Wolken verzogen sich grummelnd mit dem Gewitter, auch die Wellen hatten sich ausgetobt und schaukelten uns nicht mehr ganz so zornig auf der aufgewühlten Oberfläche hin und her. Dafür kam hinter den Wolken der Mond hervor und wirkte über unser Schicksal erhaben. In seinem Lichtschein sahen wir weit und breit keine Menschenseele, kein Land und kein Schiff waren in Sicht.
»Werden wir sterben?« Meine Stimme war nur ein Flüstern, aber über das Klappern der Zähne hinweg konnte sie es trotzdem hören.
Sie keuchte auf, als hätte die Kälte ihr die Lungen zugefroren. »Nein, es darf nicht sein, es darf einfach nicht sein …«, kam es über ihre zitternden Lippen. Ihre wachsende Verzweiflung war in jeder Faser spürbar und brachte mich zum Weinen. Meine stolze, selbstbewusste Mutter wusste nicht mehr weiter. Ihre Hilflosigkeit wurde ein Spiegel meiner schwindenden Hoffnung. War dies das Ende? Konnte es sein, dass die Götter uns auf diese Reise geschickt hatten, um uns zu töten? War ich doch nicht die Auserwählte, oder waren sie über etwas erzürnt? Ich sah im vom Mondlicht erhellten Gesicht meiner Mutter, dass sie ähnliche Gedanken hatte, auch wenn sie versuchte, ihre Angst nicht zu zeigen. Ihre Lippen bebten. Vielleicht betete sie um ein kleines Wunder. Wie klein doch der Mensch war, wenn die Götter ihre Fäuste schwangen.
Wild ruderte ich mit meinen Armen, um mich über Wasser zu halten. Immer wieder spritzte Wasser in mein Gesicht und meine Augen, die vom Salz bereits unangenehm brannten. Durch die Anstrengung blieb aber wenigstens ein wenig Wärme in meinem Körper. Plötzlich sah ich etwas, das meine Aufmerksamkeit erregte.
»Mama, sieh doch, dort!« Ich zeigte auf eine schemenhafte Form unweit vor uns, etwas, das im Wasser trieb. »Es schwimmt, vielleicht kann es uns tragen!«
Mit einem letzten Aufbegehren der schwindenden Kräfte gelang es uns, zu dem Gegenstand zu schwimmen, der recht stabil im Wasser lag. Es war die Holzkiste, neben der wir geschlafen hatten. Sie musste sich vom Schiff losgerissen haben, und jetzt trieb sie mit dem Boden nach oben im Meer. Meine Mutter half mir, mich auf die Holzfläche zu ziehen, und ich lag dort ausgestreckt wie ein toter Fisch, nach Gleichgewicht ringend. »Es … es ist Pl… Platz für zwei!«, rief ich zitternd und klammerte mich an dem Holzgriff der Kiste fest. Mama versuchte, sich hochzuziehen, und das Holz neigte sich gefährlich unter die Wasseroberfläche. Sie hielt sofort inne und ließ sich wieder ins Wasser gleiten. Der Untersatz wankte bedrohlich von links nach rechts. Ihre nassen Haare schimmerten silbern. Sie atmete jetzt ruhig und flach, als würde sie Kraft holen für einen neuen Versuch. Aber sie bewegte sich nicht, hielt sich nur am Rand der Kiste fest.
»Mama, du musst aus dem Wasser, je… jetzt!« Meine Stimme war dünn, zerbrechlich. Ich ahnte, was kommen würde, und kämpfte mit aller Macht gegen das Schicksal an. Grimmig schloss ich die Augen und biss die Zähne aufeinander, bis sie knirschten.
»Du kannst es schaffen, ich halte dich fest …«, presste ich heraus.
Das Wasser gluckste. Als meine Mutter sprach, war ihre Stimme leise und klang unendlich müde. Sie hatte aufgehört zu zittern. »Das Holz trägt uns nicht beide. Es wird dich retten, du wirst leben, Enja. Du bist die Auserwählte, und die Götter werden dir helfen.« Ich merkte durch meine geschwächten Sinne, wie die Kraft sie verließ. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Ich liebe dich, Kleines, ich werde immer bei dir sein. Hier, nimm das und trage es. Es wird dich beschützen. Es ist das Band, das uns verbindet.«
Damit zog sie sich mit einer mühevollen Bewegung die Kette mit dem Amulett vom Hals und streckte ihre Hand zitternd aus. Ich ergriff sie gerade noch, bevor sie ins Wasser fallen konnte. Es war der ovale Stein, mit dem ich immer gespielt hatte, wenn ich auf ihrem Schoß saß, ein schlichter schwarzer Stein mit einer silbernen Fassung an einem Lederband. Entschlossen legte ich ihn mir um meinen Hals, und es schien mir, als würde etwas von meiner Mutter gerade auf mich übergehen. Wärme oder Kraft? Ich konnte es nicht sagen, der Stein erschien mir wärmer als mein eigener Körper.
»Mama, bleib bei mir!« Ich bekam den Satz kaum über die Lippen, eine Welle des Entsetzens überrollte mich, raubte mir die Stimme. Im nächsten Moment ließ sie auch schon die Kiste los, trieb langsam von mir weg. Ihre letzten Worte erreichten mich nur noch als Flüstern über dem Wasser, als wäre sie bereits eins geworden mit ihrem nassen Grab: »Gib nicht auf, Enja, du trägst jetzt auch meine Kraft in dir.« Ihr Kopf war nur noch ein dunkler und immer kleiner werdender Umriss in der unendlichen Weite des Meeres.
Meine Sicht war auf einmal verschwommen von meinen Tränen, alles schien zu zerfließen. Es wurde still um mich herum, das Meer schien mich in den Schlaf wiegen zu wollen und hörte auf, an meiner Holzkiste zu zerren. Dankbar ergab ich mich einer bleiernen Müdigkeit, die mir fürs Erste meinen Schmerz nahm und mich in einen erschöpften Schlaf fallen ließ …
Ich wusste nicht, wovon ich aufwachte, ob von dem Licht der ersten Sonnenstrahlen oder dem Schaukeln der Wellen. Meine Hände und Füße waren taub vor Kälte, mein Kopf brummte. Die Zunge war angeschwollen, die Lippen fühlten sich rissig an. Ich war schon die zweite Nacht hilflos auf der Wasseroberfläche getrieben, ohne Trinkwasser und ohne Nahrung. Vielleicht wäre es besser gewesen, mit meiner Mutter den Tod im Schlund des Meeres zu finden, als qualvoll auf einer Holzkiste treibend zu sterben. Aber ich hatte Angst vor dem Tod und noch mehr davor, das meiner Mutter gegebene Versprechen zu brechen.
»Nein«, krächzte ich mühsam, »nein, ich werde nicht sterben, ich werde leben …«
Meine Augen hatten keine Tränen mehr, sie waren trocken und verschwollen. Mühsam blinzelte ich. Als ich meine Lippen vorsichtig ableckte, schmeckte ich den salzigen Geschmack der See, der sofort den grausamen Durst verstärkte.
Tag und Nacht schienen eins geworden zu sein, das Zeitgefühl war mir verlorengegangen. Um mich herum sah ich nur Wasser, endloses tiefschwarzes Wasser, als wäre die restliche Erde geradezu verschluckt worden von dieser nicht enden wollenden Masse. Dazu schnürten mir die Gedanken an den Tod meiner Mutter die Kehle zu. Ich sah ständig ihr Gesicht mit den traurigen Augen vor mir, eingebrannt in mein Gedächtnis. Das letzte Bild von ihr, einsam in den Wellen treibend, blieb, selbst wenn ich meine Augen schloss. Sie hatte tapfer um mich gekämpft, mich gerettet, aber ihr Leben dafür gegeben. Wo sie jetzt wohl war?
Nach dem Glauben unserer Väter würde sie nach dem Tod eine neue Welt betreten und dort ihren Rang einnehmen, den sie sich während ihres Lebens verdient hatte. Ich hoffte, dass sie dort, wo sie sich jetzt befand, glücklich war. Vielleicht schaute sie ja gerade auf mich herunter? Die Vorstellung gab mir neue Kraft. Sie durfte mich so nicht sehen, wie ich mit meinem Schicksal haderte, womöglich noch den Kampf verlor. Wenn sie mich sehen konnte, konnte sie mich denn dann auch hören?
»Ich vermisse dich!« Verzweifelt suchte ich nach einem Lebenszeichen, nach ihrem Gesicht, dem Gesicht einer Göttin. Aber ich erkannte kaum noch etwas in meiner Nähe, meine Sicht war verschwommen, die Augen brannten inzwischen wie Feuer, und ich presste sie gegen den Schmerz fest zusammen. »Mama …«, schluchzte ich immer wieder, und meine Stimme erstarb in einem trockenen Krächzen. Ich legte kraftlos den Kopf auf das Holz und dämmerte ein.
»Hohoo«, drang es an meine Ohren, »hooohooo!« Orientierungslos hob ich den Kopf und öffnete mühsam die Augen. Ein Schatten fiel auf mich. Ein großer Schatten. Es war ein Schiff, ich hörte das Knarzen des Holzes und das Schlagen der Wellen gegen den Rumpf. Jetzt waren auch mehrere Stimmen auszumachen, die mir aufgeregt etwas zuriefen. Ich konnte sie nicht verstehen, es war eine andere Sprache oder ein Dialekt. Unser Volk hatte nicht viel Kontakt zu anderen Stämmen, aber manchmal kamen Reisende durch unser Dorf und verkauften allerlei. Wir Kinder begegneten ihnen aufgeregt und neugierig, daher kannte ich den einen oder anderen Zungenschlag.
Aber die Sprache, die jetzt an mein Ohr drang, klang seltsam melodisch, kehlig mit hohen und tieferen Tönen, und ich hatte sie noch nie gehört. Die Fremden zogen meine Holzkiste mit einem Enterhaken näher. Einer der Männer war über Bord geklettert, packte mich geschickt um die Taille und ließ sich von den anderen nach oben ziehen. Er legte mich wie einen nassen Sack mit dem Gesicht nach unten auf ein Fass, das ranzig roch. Meine Arme und Beine hingen taub herunter. Durst!, wollte ich schreien, ich brauche etwas zu trinken! Aber ich bekam keinen Laut heraus.
Mein Retter lächelte und sprach ein paar Worte dieser kehligen, melodischen Sprache. Ich schüttelte schwach den Kopf, ich verstand ihn nicht. Er setzte mich auf wie eine Puppe und fing an, Hände und Füße zu massieren. Dabei unterhielt er sich mit den anderen Seeleuten, die allesamt auffallend dunkle Haut und dunkle Haare hatten. Die Augen waren ebenfalls dunkel, fast schwarz. Aber dann waren die einzelnen Gesichter wieder so unterschiedlich, als hätte sich jemand bemüht, möglichst viele unterschiedliche Typen an diesem kleinen Ort zusammenzubringen. Mein Lebensretter war groß und schlank, er hatte ein jugendliches, freundliches Gesicht, wäre da die Narbe nicht gewesen, die von seiner Schläfe bis zum Ohransatz eine hässliche Geschwulst hinterließ und in einem gestutzten Ohr endete. Diese Wunde war sicher einmal sehr schmerzhaft gewesen.
Er spürte wohl, wie ich ihn musterte, denn er lächelte etwas schief. Langsam kehrte wieder Leben in meine Gliedmaßen zurück, die Schmerzen zeigten mir, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Die Tränen schossen in meine Augen, und ich hielt verkrampft die Luft an. Nein, ich würde nicht schreien!
Neben ihm stand ein kleiner, dicker Mann mit lichtem Haarkranz auf und rannte los, um eine Decke zu holen. Sie stank nach Urin und war zerrissen, aber ich nahm sie dankbar an. Der Dicke grinste jetzt schmierig und zeigte ein Gebiss, das nur noch aus ein paar schwarzen Zähnen bestand. Er sprach mit meinem Retter, und der Mimik nach berieten sie wohl, was sie mit mir anstellen sollten, denn immer wieder fiel sein dunkler Blick abschätzend auf mich.
Der Jüngere stutzte einen Moment und fixierte meine Kette. Er nahm den am Lederband hängenden Stein in seine Hand und drehte ihn vorsichtig. So etwas wie Enttäuschung war in seinem Blick zu lesen, und er ließ das Amulett kopfschüttelnd wieder fallen. Der kleine Dicke bellte etwas, das für mich aggressiv klang, und verzog verächtlich das aufgedunsene Gesicht. Seine Augen lagen in den tiefen Schatten seiner Augenhöhlen und funkelten gefährlich. Gleich darauf verfinsterte sich das Gesicht des Jüngeren, er entgegnete etwas, und ich zog instinktiv meine Beine an.
»Ich habe Durst.«
Es war ein verzweifelter Versuch, die Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken, denn meine Kehle tat so weh. Sie verstummten gleichzeitig und blickten mich beide an, als hätten sie vergessen, dass ich noch da war, aber sie verstanden mich nicht.
»Trinken«, wiederholte ich und unterstrich meine Worte mit einer eindeutigen Geste.