Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Ermittlungsbehörden haben ihre Arbeit getan, aus Beschuldigten sind Angeklagte geworden: In den zehn Fällen dieses Buches sind sie des Mordes oder des versuchten Mordes angeklagt, des Totschlags, der Brandstiftung, des Menschenhandels, des Betruges, der Cyberkriminalität … Sie haben das Recht auf ein faires Verfahren und einen Strafverteidiger an der Seite. Bernd Hesse, als Strafverteidiger tätig, erzählt über "Fälle vor Gericht", authentische Fälle aus seiner Berufspraxis. Er erzählt sie als spannende und komplexe Geschichten, indem er die jeweiligen Straftaten nicht nur in ihren juristischen Aspekten beleuchtet, sondern biografische und soziale Hintergründe der Protagonisten darlegt und Täterpsychogramme zeichnet. Und er lässt den Leser daran teilhaben, wie sich die Fragen von Schuld und Schuldeingeständnis sowie Verteidigungsstrategien im Umgang von Verteidiger und Mandant gestalten.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 277
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet, dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen oder in Datenbanken aufzunehmen.
ISBN E-Book 978-3-360-50151-6
ISBN Print 978-3-360-01334-7
© 2018 Verlag Das Neue Berlin, Berlin
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlinunter Verwendung eines Fotos von Fotolia/vchalup
Die Bücher des Verlags Das Neue Berlinerscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.
www.eulenspiegel.com
Über das Buch
Rechtsanwalt Bernd Hesse schildert Fälle aus seiner Berufspraxis. Er erzählt sie als spannende und komplexe Geschichten, indem er die jeweiligen Straftaten nicht nur in ihren juristischen Aspekten beleuchtet, sondern biografische und soziale Hintergründe darlegt und Täterpsychogramme zeichnet. Und er lässt den Leser daran teilhaben, wie sich die Fragen von Schuld und Schuldeingeständnis sowie Verteidigungsstrategien im Umgang von Mandant und Verteidiger gestalten. »Wenn wir nur die Unschuldigen vertreten würden, hätten wir wenig Arbeit. Aber erstens gilt die Unschuldsvermutung und zweitens haben auch zu Recht angeklagte Täter einen Anspruch auf ein faires Verfahren.«
Über den Autor
Bernd Hesse, 1962 in Bad Saarow geboren, ist Rechtsanwalt mit einer Kanzlei in Frankfurt (Oder) und einer Zweigstelle in Berlin, die er zusammen mit einem Sozius betreibt. Nach seinem Studium der Rechtswissenschaft promovierte er zum Dr. iur., studierte danach Kulturwissenschaft mit den Schwerpunkten Literaturwissenschaft/Linguistik und promovierte zum Dr. phil. Bei seiner anwaltlichen Tätigkeit ist er auf Wirtschaftsrecht, Arbeitsrecht und Strafrecht spezialisiert und als Strafverteidiger tätig. Für das Brandenburgische Oberlandesgericht und den Frankfurter Anwaltverein war und ist er in der Aus- und Weiterbildung tätig. Neben einer Vielzahl juristischer Publikationen veröffentlichte er die Kriminalromane »Rubel, Rotlicht und Raketenwerfer« und »Blutende Oder«.
Inhalt
Vorbemerkung
Die Hinrichtung
Schwarzes Gold
Jeder sollte das machen, was er am besten kann
Mit Blumen in den Tod
Feuerteufel
Gewaltfantasien
Cyberattacke gegen die Telekom
Das perfekte Verbrechen?
Die geschilderten Vorgänge basieren auf realen Fällen. Die Namen von Tätern und Opfern sowie die Tat- und Verhandlungsorte und -zeiten sind so weit verändert, wie es aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes und der anwaltlichen Schweigepflicht erforderlich war.
Vorbemerkung
Dieses ist eine Sammlung echter Kriminalfälle, vorwiegend aus der Praxis des Autors. Da ich als Anwalt nicht nur als Verteidiger, sondern auch als Nebenklägervertreter, Zeugenbeistand, durch unterstützende Tätigkeiten für Kollegen und in anderer Weise in die Verfahren involviert war und weiter dazu recherchierte, bot es sich an, aus verschiedener Sicht und mit unterschiedlicher Distanz zu erzählen. Je näher ich am Fall dran war, desto eher kommt der Ich-Erzähler zu Worte.
An dieser Stelle gebührt Dank meinem Sozius Stephan Hoff, mit dem ich in einigen der beschriebenen Fälle zusammen verteidigte, und unserer Rechtsanwaltsfachangestellten Doreen Rückmann, die in den durch die Kanzlei bearbeiteten Fällen Abertausende Seiten scannte und kopierte und Hunderte Strafakten im Kopf trägt: ein schier unerschöpflicher Fundus für das vorliegende Buch.
Bernd Hesse
Die Hinrichtung
»Wenn Sie mich einlochen, bin ich tot!«
Schon seit einer Minute starrte ich auf den Aktenstapel, der sich auf meinem Schreibtisch türmte. Heute mal ein reiner Kanzleitag mit wenigen Mandanten und Zeit zur Bearbeitung längst überfälliger Akten. Mein Blick wanderte fort von den Papierstapeln, hinüber zur Wand. Ich spürte, wie ich wieder ein wenig entspannter atmete, und ließ meinen Blick für Momente auf dem Landschaftsbild von Wilhelm von Kleist, einem Ahnen des Dichters, verweilen. Das Bild, eine winterliche Landschaft am Niederrhein, in das Leuchten einer bernsteinfarbenen Wintersonne getaucht, hat eine beruhigende Ausstrahlung auf mich. Doch schon wieder fiel mein Blick auf die Akten und blieb wie hypnotisiert kleben. Digitale Aktenführung hin oder her, diese Papiermonster haben die Lebenskraft der Hydra, auch die Fähigkeit zur Vervielfältigung ihrer abgeschlagenen Köpfe ist ihnen durchaus eigen.
Das Klingeln des Telefons riss mich aus meinem morgendlichen Tagtraum.
Doreen, meine taffe Rechtsanwaltsfachangestellte, murrte: »Da ist so ein seltsamer Richter vom Amtsgericht aus Ansbach.«
»Weshalb seltsam, und was will er?«
»Er rückt nicht raus damit, deshalb ist er ja so seltsam.«
Das musste ein harter Hund sein! An meinem Zerberus Doreen auch nur telefonisch vorbeizuschleichen, ohne sein eigentliches Anliegen preiszugeben, das war schon eine Leistung.
»Kann Stephan das nicht übernehmen?«, versuchte ich, die Sache meinem Sozius überzuhelfen.
»Nein! Er möchte ausdrücklich dich, und die Angelegenheit ist geheim. Außerdem sollst du nicht immer alles auf Stephan abwälzen.« Doreen ist zwar äußerst loyal, hat aber auch einen unbestechlichen Gerechtigkeitssinn. Wir hatten es nach fünfzehn Jahren endlich geschafft, uns zu duzen. Vor Mandanten nannte sie mich aber meist Doc, was auch nicht besonders respektvoll klang, sondern so, als ob sie Kassenpatienten einen Arzt anempfehlen würde, der sich hier noch einen Euro dazuverdiente.
»Dann stell mal durch!«
»Hallo?«, hallte es. »Grüß Gott, äh … Preisner hier … äh … Richter. Ich hab hier den Eildienst. Äh … Amtsgericht Ansbach.«
In Ordnung, dachte ich bei mir, Doreen hatte wieder einmal die richtige Nase bewiesen, der Richter war seltsam und offenbar in einer Situation, die ihn leicht überforderte. Da hatten sie einem armen Proberichter einen Eildienst aufgedrückt, in dem etwas passiert war, mit dem er nicht gerechnet hatte. Alte Hasen lassen sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen und treten anders auf. Der Anrufer tat mir leid. Er musste in einen fürchterlichen Schlamassel geraten sein.
»Freut mich! Um was handelt es sich?«, erkundigte ich mich in einem aufmunternden Ton und fügte hinzu: »Das hört sich an, als ob Sie sich den ganzen Abend um die Ohren geschlagen hätten.«
»Genau so ist es«, bestätigte er. »Hier ist etwas völlig Merkwürdiges passiert.«
»Merkwürdiges?«, wiederholte ich fragend.
»Und ob! Im Haftraum sitzt hier ein Herr, der meint, Sie kennen ihn unter seinem früheren Namen Eric Bendisch.«
Ich war wie vom Blitz getroffen. Alle möglichen Gedanken schossen mir durch den Kopf. Bendisch, wenn es denn Bendisch war, um den es hier ging, konnte einem wirklich den letzten Nerv rauben. Aber was jetzt geschah, das konnte und durfte nicht wahr sein. Als gestandener Strafverteidiger ist man von allen Hunden gehetzt und mit allen Wassern gewaschen, aber das hier, das ging gar nicht.
»Wer?«, erkundigte ich mich in ungläubigem Tonfall, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Ich musste blitzschnell meine Gedanken ordnen. Wann hatte ich Bendisch zum letzten Mal gesehen? Es war klar, dass er ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen worden war. Für ihn war es wegen der Gefährdung erforderlich gewesen, eine völlig neue Identität zu erhalten und sein altes Leben hinter sich zu lassen. Das ist ein einschneidender Schritt, den man sich wohl überlegen sollte. Es ist alles andere als abenteuerlich und interessant. Man opfert seine Vergangenheit, Freunde, Familie für etwas, das man zum Zeitpunkt der Entscheidung überhaupt noch nicht überschauen kann.
Bei unserer letzten Zusammenkunft waren an meinem ehemaligen Kanzleisitz wie in einem amerikanischen Thriller mehrere baugleiche Fahrzeuge vorgefahren, und Beamte des SEK hatten das Haus und die Kanzleiräume gesichert. Vom Fenster aus hatte ich beobachten können, wie sich auf den gegenüberliegenden Dächern Scharfschützen postierten. Nach diesem Tag hatte ich Bendisch nicht wiedergesehen.
Menschen wie Bendisch haben so ihre Eigenheiten; sie verändern sich nicht dadurch, dass sie einen neuen Namen tragen: Es bleibt die geringere Hemmschwelle bei der Anwendung von Gewalt, der Hang, Regeln nur für andere gelten zu lassen, und ein Verlangen nach Selbstbestätigung durch Taten, die, wie Juristen gerne sagen, die kriminelle Energie des Täters offenbaren.
»Eric Bendisch«, wiederholte der Jungrichter aus Ansbach. »Jetzt heißt er Danny Mehmer. Er meint, er ist im Zeugenschutzprogramm und Sie sind sein Anwalt. Oder waren es im letzten Strafverfahren.«
Oh Mann, warum lehrte man die Referendare nichts über Zeugenschutz? Und selbst wenn nicht, dann wird der Richter doch wenigstens ein paar Filme gesehen haben. Bei einer Identitätsänderung kennt doch nur eine Handvoll Menschen den realen und den angenommenen Namen. War Bendisch jetzt völlig durchgedreht, beide Namen preiszugeben? Selbst mir als seinem früheren Verteidiger war seine neue Identität nicht bekannt – beziehungsweise bis eben nicht bekannt gewesen. Der Richter hätte auch nie beide Namen nennen dürfen. Und dann am Telefon. Der Richter schien mit der Situation tatsächlich überfordert.
»Da möchte ich jetzt mal nichts bestätigen oder leugnen. Was hat er denn angestellt?«
»Das ist es ja«, erklang die aufgebrachte Stimme aus dem Hörer. »Der wurde hier eingeliefert, volltrunken, hat einen Truck gestohlen, sich mit der Polizei eine wilde Verfolgungsjagd geliefert, sich den Polizisten gegenüber mit einem Dienstausweis eines Berliner Staatsanwalts namens Ralf Viehweg ausgewiesen und behauptet, er sei im Dienst und müsse sofort weiter. Jetzt sagt er, dass er im Zeugenschutzprogramm des Landes Berlin sei und dass er getötet werde, wenn ich den Haftbefehl verkünde und ihn in Untersuchungshaft stecke.«
Das könnte tatsächlich passieren, dachte ich bei mir. Okay, das war eindeutig Bendisch, daran bestand kein Zweifel. Das durfte ich so aber nicht bestätigen. Und woher sollte ich denn wissen, mit wem ich da wirklich telefonierte?
Eric Bendisch war bestimmt ein Weg aufgezeigt worden, über den er sich sicher an das LKA wenden konnte. Den konnte oder wollte er aber nicht nutzen. Vielleicht hatte er schon mehrfach Mist gebaut und wusste, dass der Rausschmiss aus dem Programm drohte. Aber dass das mit dem gestohlenen Truck und dem Dienstausweis rauskäme, so viel musste ihm doch klar sein. Auch musste ich bei der Vorstellung grinsen, wie StA Viehweg vom seltsamen Auftauchen seines Dienstausweises erfahren würde. Er würde dessen Verschwinden sicher dienstbeflissen gemeldet haben. Vielleicht hatte er schon seine Frau beschuldigt, immer alles aufzuräumen und den Ausweis verlegt zu haben, nun hätte er den Ärger. Meine Fantasie ging mit mir durch. Ich musste dem Richter helfen und rief mich zur Ordnung. »Wissen Sie, wenn das stimmt, was er sagt, dann dürfte ich es doch nicht sagen.«
»Hm«, kam es unsicher vom anderen Ende her.
»Da könnte doch jetzt jeder anrufen und mir eine Geschichte auftischen.«
»Na, na«, erhob er seine Stimme und fühlte sich in seiner Ehre gekränkt.
»Wissen Sie, am besten scheint mir, Sie wenden sich an das LKA Berlin. Da werden die Ihnen sicher weiterhelfen.«
»Jau!«, erscholl es zufrieden. »So machen wir das.«
Weshalb fiel mir jetzt Bob der Baumeister ein?
Bob fuhr fort: »Hätten Sie da vielleicht eine Nummer?«
»Ich würde da auch nur googeln.«
»Ist gut. Vergelt’s Gott!«
Besuch in Moabit
Eric Bendisch hatte ich, wie so viele meiner Mandanten, im Moabiter Gefängnis in eher bedrückender Atmosphäre kennengelernt. Für einen Knacki, wie sich die Insassen der Justizvollzugsanstalt nennen, sind die ersten Tage besonders hart. Auch wenn Bendisch schon Knasterfahrung hatte, musste er sich hier erst einmal neu orientieren. Unter den verschärften Bedingungen der U-Haft war es ohnehin nur erschwert möglich, Leute kennenzulernen, und selbst wenn man jemanden kennenlernte, wusste man nicht, wem man trauen konnte. So ging es Bendisch auch mit mir.
Wer glaubt, dass man als Strafverteidiger seinen Mandanten aufsucht, dieser unumwunden mitteilt, was aus seiner Sicht geschehen ist, und man nun beraten kann, wie man mit dieser Situation umgeht, der irrt gewaltig.
Es gibt eine Tätergruppe, die leugnet fast immer die Tat: Das sind die Sexualstraftäter. Dann gibt es die Hauptgruppe der Täter, denen es sehr schwerfällt einzuräumen, dass sie eine Straftat begangen und Schuld auf sich geladen haben. Wie bei den meisten Menschen funktionieren auch bei den Straftätern die Verdrängungsmechanismen hervorragend. Wenn es keine Ausrede mehr gibt und eine Schuld augenscheinlich wird, dann wird sie zumindest zu einer Mitschuld kleingeredet und besser noch anderen Menschen in der Umgebung zugewiesen. Selbst hat man alles auf die Reihe bekommen, und die anderen sind die Versager. Im Knast, und so war es auch bei Bendisch, schauen die Neuankömmlinge schnell auf die anderen Insassen hinunter: Selbst ist man nur aufgrund widriger Umstände, aber die anderen sind zu Recht hier.
Das völlige Ablehnen von Schuld kam mir insbesondere in zwei Fällen paradox vor, ohne dass es die Täter so erkannten: Einer war wegen Totschlags angeklagt, weil er einen kleinen Jungen überfahren hatte, der den Fußgängerweg überquerte. Schuld an dem Tod des Jungen, so der Täter, war ein Busfahrer der BVG, weil dieser seiner Tochter den Zutritt zum Bus verweigert hatte. Das Mädchen wollte mit einem Eis in der Hand in den Bus steigen, was ihr der Fahrer verweigerte – sie könne das Eis wegschmeißen und einsteigen oder es bleiben lassen, hatte er erklärt. Die Tochter verzichtete nicht auf ihr Eis, stieg nicht in den Bus ein und rief stattdessen weinend den Vater an, um ihm mitzuteilen, dass der Busfahrer sie nicht mitgenommen habe. Nun stehe sie allein an der Bushaltestelle und komme nicht weiter. Der Vater setzte sich ins Auto, raste durch die Stadt und fuhr den Jungen tot.
Zum anderen lernte ich vor drei Jahren einen Wirtschaftskriminellen kennen, der mehrere Millionen Euro unterschlagen und mit einer Insolvenz dafür gesorgt hatte, dass Hunderte Menschen ihre Arbeitsplätze verloren. Mir gegenüber hatte er allen Ernstes behauptet, dass daran seine Eltern schuld seien: Sie hätten ihn von klein auf mit dem Geld so kurz gehalten, dass sich zwangsläufig die Gier nach dem Geld entwickelte.
Nur eine verschwindende Minderheit räumt gleich zu Beginn die Tat ein und bereut die Begehung derselben auch alsbald. Es gibt aber auch Täter, die zu der Tat stehen, diese aber nicht bereuen und kurze Zeit später wieder wegen eines ähnlichen Delikts angeklagt werden. Darunter sind auch Menschen, die schwerste Verbrechen begangen haben und mit der gleichen Kaltschnäuzigkeit nach ihrer Haftentlassung an die Planung eines ähnlichen Deliktes gehen. Die Haft und die Erfahrungen, die sie dabei machen, haben noch keinen Täter geläutert, den ich kenne. Entweder haben sie schon zuvor eine Art Einsichtsfähigkeit in das Unrecht gezeigt, wie die Juristen es nennen, oder sie bleiben davon unbeeindruckt.
Es gibt aber auch Fälle, wie den von Bendisch, da deutet vieles darauf hin, dass die Tat so wie angeklagt begangen worden ist, und dann stellt sich heraus, dass der Geschehensablauf doch ein anderer war. Für Ermittler und Staatsanwälte, die bis zur Verkündung eines Untersuchungshaftbefehls oder Erhebung der Anklage mit einem Fall zu tun haben, ist der wahrscheinlichste Tatablauf auch der, wie er von den Ermittlern rekonstruiert wurde. Meist trifft dies auch zu. Aber gerade der Fall Bendisch zeigt, dass dies nicht immer so ist.
Gegen meinen Mandanten war ein Haftbefehl verkündet worden, und er war auch, da er kein Geld für einen Wahlverteidiger hatte, darüber belehrt worden, dass es sich in seinem Fall wegen der Schwere der Vorwürfe um eine sogenannte notwendige Verteidigung handele, er also einen Anspruch auf einen Pflichtverteidiger habe. Er zuckte vermutlich mit den Schultern, dann konnte er auf einer langen Liste, die der Berliner Anwaltsverein vor Jahren im Gefängnis hinterlegt hatte, auf einen Namen tippen. Das ist etwa so wie in Kinderzeiten beim Topfschlagen mit verbundenen Augen.
Doreen hatte mein Kommen mit dem Besucherdienst der Justizvollzugsanstalt Moabit abgestimmt. Man möchte als Anwalt nicht unnötig warten, und der Mandant möchte seine Stunde Freigang nicht missen.
Nach der Erledigung der Formalien an der Anmeldung wurde ich in den Wartebereich durchgeschleust. Um diese Zeit war es dort fast leer. Nur eine Frau saß dort. Kaugummikauend blickte sie mit ihren üppig dunkel umrandeten Augen kurz zu mir hoch, ein Blick voller Aggressivität traf mich. Klar, dass ihr vieles gegen den Strich ging, wenn sie ihren Freund hier besuchen musste.
Auf dem Weg in die Besucherzelle geht man in Moabit als Anwalt einige Flure entlang, an denen die Zellen mit den Insassen gelegen sind. Die meisten Justizvollzugsanstalten sind heute schon anders organisiert; der Besuchertrakt, auch die Zimmer für die Anwälte, liegen außerhalb der eigentlichen Unterkünfte der Inhaftierten. Ein kräftiger Kerl mit langen, lockigen schwarzen Haaren, in Boxershirt und dunklen Jogginghosen, mit fast vollständig tätowiertem Oberkörper, der sich bis dahin ans Geländer gelehnt hatte, drehte sich langsam zu mir. Wer denkt, dass die Gefangenen in blau-weiß gestreifter Kleidung stecken, der irrt. So läuft man allenfalls noch zur Faschingszeit im Rheinland herum. Nur wer Arbeit bekommt, muss bei deren Verrichtung Arbeitskleidung tragen. Der Typ musste mich schon aus der unteren Etage kommend beobachtet haben.
»Ach, das ist doch Tommy«, meinte ich, als ich meinen ehemaligen Mandanten erkannte.
»Hallo, Anwalt«, begrüßte er mich mit tiefer Stimme und hielt mir die ausgestreckte Faust zur Begrüßung nach vorne hin.
Ich schlug mit meiner Faust dagegen. »Muss weiter! Alles klar?«
»Na aber, nur noch drei Monate«, erklärte er und versuchte zu lächeln. »Da hätten Sie doch zum Wiedersehen ein Tütchen mitbringen können.«
Die Besucherzimmer in Moabit sind alte Zellen, mit hässlicher gelber Farbe getüncht. Da musste jemand der frischen, hellen Farbe eine Tönung der Marke depressiv beigefügt und damit das Ganze noch etwas in Richtung schmuddelig braungrau verändert haben. Man erwartet im Knast ja keine Blümchentapete. Aber es gab doch keine Veranlassung, es extra hässlich zu gestalten.
Eric Bendisch beteuerte gleich anfangs, völlig unschuldig hier drin zu sitzen. Weder mit den Waffen noch mit den Mädchen und schon gar nicht mit dem Toten hätte er etwas zu tun.
»Das liest sich im Haftbefehl aber anders«, hielt ich dagegen. Er blickte zweifelnd. »Das rote Zettelchen«, fuhr ich fort, »von dem Sie eine Abschrift bekommen haben. Sie sind dringend verdächtig, Harald Ascher ermordet zu haben.«
»Dit war ick aber nich!«, fiel er mir ins Wort.
Völlig unbeeindruckt fuhr ich fort: »Die Tatwaffe wurde anlässlich Ihrer Festnahme bei Ihnen gefunden.«
»Ja, ja, meene Festnahme, dit is auch so ein Ding von Willkür. Die haben mich niederjeschlagen, und mein Hund hat sich erschreckt, als die meine Wohnung stürmten. Dafür will ich Schadensersatz, das sag ich Ihnen! Und die Pistole, die war nich meene.«
»Das können Sie mir hier erzählen, aber das Schwurgericht wird es Ihnen nicht abnehmen. Ich kann versehentlich mal den falschen Regenschirm mitnehmen, wenn ich im Herbst in einem Café bin und beim Hinausgehen feststelle, dass ein Dutzend Besucher ein ähnliches Modell hat. Aber eine Pistole? Was wollen Sie dem Gericht auftischen?«
»Dit ist doch allet janz anders.«
»Das höre ich oft. Das ist nicht selten so. Dann schießen Sie mal los.« Erst nachdem ich das gesagt hatte, wurde mir klar, wie seltsam das in diesem Kontext geklungen haben musste.
»Ick werde gar nischt sagen, sage ich Ihnen.«
»Das ist Ihr gutes Recht. Als Angeklagter steht es Ihnen frei, sich zur Sache einzulassen oder nicht. Wenn Sie sich der Sache nicht gewachsen fühlen, können Sie Erklärungen auch über mich abgeben.«
»Dann sage ick nischt und basta.«
»Wie gesagt, das ist Ihr gutes Recht. Bloß ob das auch das Verhalten ist, mit dem Sie im Prozess das erreichen können, was Sie wollen, darüber müssen wir uns doch erst unterhalten.«
»Wat will ick denn in Ihrem Prozess erreichen, hä?« Er blickte mich herausfordernd an.
»Das ist Ihr Prozess, Herr Bendisch. Was Sie erreichen wollen und können, das möchte ich mit Ihnen beraten.«
»Na, raus aus’m Knast! Bloß raus hier!«
Ich lehnte mich nach hinten in den harten Holzstuhl und betrachtete meinen Mandanten. Unser Bekanntmachen hatte schon mal geklappt; mehr aber auch nicht. Wir mochten uns beide nicht, mussten aber versuchen, eine gemeinsame Basis für die Arbeit zu finden. Das konnte noch ein hartes Stück Arbeit werden.
»Eine umfassende Akteneinsicht hatte ich noch nicht. Da werden einschließlich der Ü-Akten mehrere Umzugskartons in meinem Büro gestapelt werden. Wir werden uns dann noch Punkt für Punkt mit allen belastenden Details beschäftigen. Aber nach dem, was mir bis jetzt bekannt ist, werden wir mit Behauptungen, dass die Tatwaffe, die bei Ihnen gefunden worden ist, nicht die Ihre und sowieso alles ganz anders gewesen sei, nicht weit kommen … Dann werden Sie hier noch sehr, sehr lange sitzen bleiben.«
»Wie lange denn?«
»Sie werden wegen der heimtückischen Begehungsweise sicher wegen Mordes angeklagt werden. Das Opfer wurde hinterrücks in den Kopf geschossen. Das sieht aus wie bei einer Hinrichtung.«
»Lebenslänglich?«
»Lebenslang«, korrigierte ich, ohne dass mein Mandant mitbekam, was ich überhaupt meinte. Ich jedoch sah den kopfschüttelnden Repetitor von Alpmann & Schmidt, wie er im Unterricht im Gemeindehaus der evangelischen Kirche in Berlin-Dahlem völlig verständnislos tat und uns belehrte: »Meine Damen und Herren, der Wurm ist länglich, die Freiheitsstrafe ist lebenslang.« Im Falle von Herrn Bendisch würde der Wurm ziemlich länglich werden.
»Na ja, maximal fünfundzwanzig Jahre also?«, wollte er wissen.
»Ich weiß nicht, was die Leute immer mit fünfundzwanzig Jahren haben. Quatsch! Es ist die längste zeitige Freiheitsstrafe. Dennoch gebieten die Grundrechte, dass das nicht bis zum Tode andauert. Wenn, was in Ihrem Falle durchaus sein kann, von einer besonderen Schwere der Schuld auszugehen ist, dann kommen Sie vor Ablauf von fünfzehn Jahren keinesfalls raus.« Das ist immer die Stelle, an der Mörder ihr Lebensalter mit fünfzehn addieren und dann nicht mehr ganz so kaltschnäuzig wirken.
»Aber die anderen werden doch ooch anjeklagt?«
»Und dann, meinen Sie, wird die Haftzeit geteilt?« Ich zog die Augenbrauen hoch.
»Nee, nee. Nur so.« Bendisch wurde merklich nachdenklicher. »Und die machen Ernst?«
»Das hier ist kein Spaß. Die machen bei Ihnen genauso Ernst wie bei den anderen über zweitausend, die derzeit in Deutschland lebenslang sitzen.«
»Puh … Und wat kann man da machen?«
»Mir sagen, was wir zu Ihrer Entlastung vortragen und gegebenenfalls unter Beweis stellen können. Noch ist keine Anklage erhoben, noch können wir aktiv auf die Ermittlungen Einfluss nehmen.«
Bendisch grübelte.
»Am Tatort, besser am Fundort der Leiche des Harald Ascher waren Sie. Das hat Ihre DNA an der Bekleidung des Opfers ergeben.«
»Ja, aber nich alleene!«
»Klar«, stimmte ich zu. »Die DNA auch der anderen Beschuldigten wurde sichergestellt. Da Sie alle keine unbeschriebenen Blätter sind und Ihre DNA gespeichert ist, konnten gleich drei Personen identifiziert werden.«
»Hm, zu dritt.«
»Die DNA-Proben stammen zumeist aus den Bekleidungsbereichen an den Schultern und Achseln des Toten sowie an den Unterschenkeln und Füßen. Ich nehme an, Sie haben den Toten noch ein Stück in den Wald geschleppt?«
»Hm«, blieb Bendisch einsilbig. Aber er hatte mir gegenüber damit eingeräumt, dass er mit dem Verbringen des Toten in den Wald etwas zu tun hatte.
Nun wurde ich ein wenig lauter. »Hören Sie zu! Ich bin hier nicht der Ermittler, sondern Ihr Verteidiger. Ich verspüre keine Lust, Ihnen jedes Wort aus der Nase zu ziehen.«
»Wat soll ick denn sagen?«
»Alles! Ich habe Zeit.« Ich lehnte mich wieder nach hinten und verschränkte die Arme.
Bendisch schwieg und wiegte seinen Kopf leicht hin und her. Er kämpfte offensichtlich mit der Entscheidung, mir etwas zu sagen, befürchtete aber, dann nicht mehr zurückzukönnen, also wäre es doch besser, beim Schweigen zu bleiben.
»Dass ich Zeit habe, bedeutet nicht, dass ich nichts zu tun habe. Ich nehme mir gerne die Zeit und bespreche mit Ihnen alles Nötige. Aber einfach hier herumzusitzen und Sie davon zu überzeugen, dass es besser ist, mit mir zu reden, das ist nicht meine Aufgabe.«
»Ick weeß nich, was ick machen soll.«
»Und genau bei dieser Entscheidung werde ich Sie unterstützen. Aber dazu benötige ich Informationen.«
Wieder ging sein Kopf leicht hin und her.
»Wissen Sie was? Wir machen hier erst mal eine Pause«, schlug ich vor. »Ich gehe und hole uns einen Kaffee. Und Sie überlegen in Ruhe, ob Sie mir nicht doch erzählen, was Sie wissen, und wir überlegen darauf basierend, wie wir in Ihrer Sache vorgehen können.«
Ich stand auf, erkundigte mich, wie er den Kaffee trinken wolle, und ging auf den Flur. Auch das war eine Besonderheit in Moabit. In anderen Justizvollzugsanstalten wurde man während des Gespräches mit seinen Mandanten gut weggeschlossen. Da gab’s dann auch keinen Kaffee zwischendurch, allein schon deshalb, weil nicht genug Personal da war, um Anwälte und Besucher zwischen Besucherzelle und Kaffeeautomat hin und her zu begleiten. Aus Sicherheitsgründen war es eigentlich egal, ob die Besucherzelle verschlossen war oder nicht; allzu weit kommt man in so einem Gefängnis ohnehin nicht.
Ich ließ Bendisch in der Zelle allein und ging zum Kaffeeautomaten, der ausschließlich für die Besucher gedacht war. Ein Gefangener konnte damit nicht viel anfangen, da man Bargeld in den Automaten stecken musste und die Gefangenen ihr gesamtes Bargeld, über das sie im Knast verfügen wollten, auf einem Gefangenenkonto zu verwahren hatten.
Da ich nicht wusste, wer hier wann den letzten Becher Kaffee aus dem Automaten gezogen hatte, goss ich den ersten Becher durch das Sieb nach unten. Kurze Zeit später saß ich mit Bendisch wieder in der Besucherzelle, jeder einen Plastikbecher Kaffee vor sich, und nahm einen Schluck des scheußlich schmeckenden Gebräus.
»Haben Se sich mal hier umjesehn?«, begann Bendisch diesmal das Gespräch. Vielleicht ein Zeichen einer vorsichtigen Annäherung.
Ich ließ meinen Kopf kreisen. »Schön ist was anderes.«
»Nee, dit meine ick nich. Das janze Kroppzeug hier. Schauen Sie sich doch um! Das ist hier die Sammlung der Loser der Nation.«
»Mit dieser Haltung werden Sie hier aber nicht weit kommen«, sagte ich ihm voraus. »Wenn Sie die Leute besser kennenlernen, werden Sie sie auch verstehen.«
»Dit sagen Sie so einfach. Sie sind ja draußen.«
»Dann sollten wir an Strategien arbeiten, um Ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, nicht zu lange zu sitzen. Dafür bin ich aber auf Ihre Mitarbeit angewiesen.« Er ließ sich keine Reaktion anmerken, ich fuhr fort: »Wer hatte denn die Waffe, die bei der Festnahme bei Ihnen festgestellt worden ist, zum Zeitpunkt der Ermordung Ihres Mittäters?«
»Dit weeß ick doch nich. Mann, lassen Se mich in Ruhe.«
Er hatte die Pause offensichtlich anders genutzt, als ich es mir vorgestellt hatte.
»Es besteht natürlich auch die Möglichkeit, dass ich Sie einfach nach Aktenlage verteidige. Aber Sie können sicher sein, dass man auf diese Weise nicht das für Sie herausholen kann, was möglich wäre, wenn wir beide zusammenarbeiten.«
»Dit is dann auch ejal.«
Mir wurde klar, dass ich bei dem Mandanten an diesem Tag nicht mehr viel erreichen würde. Er vertraute mir nicht und focht seine inneren Kämpfe aus. Die Situation im Knast war für ihn nicht neu, aber man muss sich erst einmal orientieren, wenn man hier frisch einfährt, das wird mir bei ersten Gesprächen im Gefängnis immer schnell deutlich. Als Untersuchungsgefangener hat man verschärfte Haftbedingungen. Man ist meist allein in der Zelle, die Isolation macht einem zu schaffen, und man weiß nicht so recht, wem man trauen kann und um wen man besser einen Bogen macht. Sicher war auch die Trennung von den Mittätern angeordnet worden, und wenn es die Kapazität der JVA zuließ, waren auch die Nachbarzellen nicht besetzt.
Ich trank nach weiterhin ergebnislosem Verlauf des Gesprächs den Kaffee aus, verabschiedete mich und ging.
Klub Matrjoschka
Die Anklageschrift wurde durch die Staatsanwaltschaft Berlin wenige Wochen später verfasst, die Akten wurden an das Gericht gesandt. Ich schleppte ein paar Tage danach zusammen mit meinem Sozius und dem Referendar unserer Kanzlei die Aktenkartons in unsere Autos – zwölf Umzugskisten mit je durchschnittlich zehn Ordnern. Die Masse der Akten bestand aus Protokollen der technischen Überwachungsmaßnahmen; die Handys der Bandenmitglieder und deren wichtigste Kontaktpersonen waren über Monate abgehört worden. Damals wurde gegen sie wegen verschiedener schwerer Delikte ermittelt, die alle im Dunstkreis von Waffen- und Mädchenhandel begangen worden waren. Als dann der Mord ans Licht kam, wurden alle bis dahin bekannten Bandenmitglieder sofort festgenommen. Wegen der Mordwaffe, die bei der Festnahme bei meinem Mandanten beschlagnahmt und später eingezogen worden war, konzentrierte sich die Ermittlung hinsichtlich des Mordes schnell auf Bendisch.
Doreen schimpfte in der Kanzlei vor sich hin, als sie über zwanzigtausend Blatt Papier einscannen musste. Ich fluchte bei der Lektüre des Ganzen. Als Erstes nahm ich mir noch einmal die Anklageschrift vor. Dann sichtete ich wie meist die Beschuldigtenvernehmungen. Bis auf ein Bandenmitglied hatte keiner etwas gesagt.
Nur ein Bandenmitglied hatte mit den vernehmenden Beamten gesprochen, die dafür quer durch die Republik fahren mussten. Toralf Schrader saß in Untersuchungshaft. Er hatte sich erst mit einigen anderen Tätern eine Verfolgungsjagd durch München geliefert, bei der wechselseitig Schüsse abgegeben wurden. Es handelte sich um Auseinandersetzungen rivalisierender Banden. Schrader hatte dabei einen Unfall verursacht und einen Fußgänger tödlich verletzt. Er gab auf dem Vordruck zur Beschuldigtenvernehmung im Feld »Vorstrafen, Maßregeln zur Besserung und Sicherung und strafrechtliche Ermittlungsverfahren« an: »Bewährungsstrafen wegen Steuerhinterziehung und Menschenhandel, Ermittlungsverfahren wegen Totschlags.« Er wurde darüber belehrt, dass er als Beschuldigter in der Sache vernommen werde und es ihm freistehe, etwas zu den Vorwürfen zu sagen. Auf die Frage, ob er die Belehrung verstanden habe und sich in der Sache einlassen möchte, kreuzte er das Feld »Ich möchte mich zur Sache äußern« an und unterzeichnete den Vordruck.
Ich öffnete den Ordner mit den Dokumenten und las den Kollegen Folgendes vor:
»Zur Person: Gegen mich wird in einer anderen Sache beim Bayerischen LKA ebenfalls ermittelt. Auch zu jener Sache liegt ein Haftbefehl gegen mich vor, weshalb ich in der JVA Stadelheim in Untersuchungshaft bin. Aus diesen Gründen erfolgt meine Vernehmung in München. Bei den Angaben zu meiner Person verweise ich auf meine Aussagen beim BLKA vom 29. 11. 2010. Mir wurde mitgeteilt, dass die beim BLKA gefertigten Vernehmungsprotokolle auch hier vorliegen. Meine am 29. 11. 2010 gemachten Angaben zu meiner Person sind inhaltlich richtig, ich mache diese zum Gegenstand meiner heutigen Vernehmung.
Zur Sache: Am 22. 09. 2010 wurde Ihnen der Haftbefehl des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten vom 18. 09. 2010, verkündet und eine Abschrift ausgehändigt. Damit sind Ihnen die Vorwürfe gegen Sie bekannt. Seit dieser Verkündung ergaben weitere Ermittlungen, dass die Tatvorwürfe gegen Sie – unter Beibehaltung des grundsätzlichen Tenors – erweitert werden müssen.
Vorhalt: Sie sind im Sinne des Tatvorwurfs aus dem Haftbefehl dringend tatverdächtig, im Monat Juli 2010 Beihilfe zum Mord an Harald Ascher geleistet sowie als Mitglied einer kriminellen Vereinigung, die sich im Zeitraum vom November 2007 bis 12. 07. 2010 zusammengefunden hat, in mindestens 40 Einzelhandlungen als Auftraggeber in engem Zusammenwirken mit dem Mitbeschuldigten Alexander Schiemenz und Eric Bendisch und teilweise selbst als Fahrer Menschenhandel, Förderung der Prostitution und in mindestens 20 Fällen Verstöße gegen das Waffengesetz begangen zu haben.
Antwort: So im Jahr 2004 lernte ich den Kaufmann Ludwig Greiner hier in München kennen. Der hatte mehrere Firmen, ein Haus in Altbogenhausen, fuhr einen Aston Martin V12 mit fast 500 PS und hatte sogar ein Flugzeug. Ich hatte eine kleine Baufirma. Oder besser gesagt, meine Frau hatte die. Mit meiner vorherigen Firma musste ich Insolvenz anmelden. Dann hat meine Frau das Gewerbe für die neue Firma angemeldet. Aber ich hatte das Sagen. Wir arbeiteten gerade an der neuen Garage für Greiner, als meine Frau jemand anderen kennenlernte, der angeblich Ordnung in ihr Leben bringen wollte.
Damit fing alles an. Meine Frau reichte die Scheidung ein, meldete einfach das Gewerbe ab, verkaufte die Firmenfahrzeuge, um den Lohn, die Steuern, Krankenversicherung und das alles zu bezahlen. Dann kündigte sie auch noch meinen Leuten. Die Garage konnte ich nicht fertigstellen. Greiner beauftragte einen anderen Bauunternehmer, der viel zu teuer baute, und nun hatte ich bei Greiner Schulden. Der ließ sich nicht mit dem Hinweis auf die Insolvenz abspeisen. Alexander Schiemenz stand eines Abends mit einem anderen Russen, Feodor, Fjodor oder so ähnlich, bei mir vor der Wohnung. Sie stießen mich in den Flur und verprügelten mich. Alexander steckte mir seine Pistole in den Mund und gab mir eine Woche, um die Schulden zu begleichen.
Ich hatte Angst und versuchte, schnell an Geld zu kommen. Ich verkaufte noch ein paar Maschinen, nur so ein Kleinkram, und besorgte mir ein paar Tütchen Marihuana, das ich gewinnbringend weiterverkaufen konnte. Das alles würde aber nicht reichen, und so suchte ich Greiner auf, der mich aber abblitzen ließ. Der tat erst so, als ob er mich nicht kenne, und meinte dann, dass ich von ihm hören würde oder so. Da kamen dann wieder die beiden Russen. Die knöpften mir mein Geld ab und sagten, dass ich den Rest mit Zinsen und das Geld für ihre Arbeit, die sie mit mir hatten, in Berlin abarbeiten könnte.«
Im Verlaufe der zweitägigen Vernehmung berichtete Toralf Schrader, wie er in Berlin zusammen mit Alexander Schiemenz, Harald Ascher und Eric Bendisch das Geschäft aufbaute, die Tabledance-Bar Matrjoschka in Berlin einrichtete und über Alexanders Kontakte Mädchen beschaffte und diese teils selber über die Grenze nach Deutschland verbrachte.
Zum Tod von Harald Ascher befragt, räumte er ein, mit dabei gewesen zu sein, als die anderen drei Täter und er ihn in den Grunewald schleppten. Da sei er aber schon tot gewesen. Alexander hatte nur gesagt, dass es ein Unfall gewesen sei. Mehr fragte man Alexander auch nicht, wenn man nicht Gefahr laufen wollte, selbst einen Unfall zu erleiden. Trotz aller Bemühungen der vernehmenden Beamten und des Hinweises auf die für einen Unfall ungewöhnliche Verletzung blieb Schrader bei seiner Schilderung.
In einer gesonderten Aktennotiz vermerkten die vernehmenden Beamten, dass Toralf Schrader unter dem Eindruck der Tötung eines unbeteiligten Verkehrsteilnehmers stand und »reinen Tisch« machen wollte. Sobald jedoch das Gespräch auf Alexander Schiemenz und den Tod von Harald Ascher kam, sei der Beschuldigte einsilbig geworden, habe sich schnell in Widersprüche verstrickt und hätte dann nichts mehr gesagt. Es drängte sich die Vermutung auf, dass dieses Aussageverhalten auf der Angst vor Alexander Schiemenz beruhte.
Die mich bewegenden Fragen zum Mordvorwurf gegen meinen Mandanten fand ich in den seitenlangen Vernehmungsprotokollen nicht beantwortet. Ein rechtes Motiv, Harald Ascher zu töten, hatte eigentlich keines der Bandenmitglieder.
Der kriminaltechnische Untersuchungsbericht zur Waffe klassifizierte diese als eine kroatische Pistole HS 2000, die von der kroatischen Polizei und Armee seit 1999 genutzt wird. In den USA wird sie als Springfield XD verkauft. Das Magazin war mit »9 x 19 mm Parabellum«-Munition geladen – aber nicht voll, vier Patronen fehlten. Die ballistische Identifizierung ergab, dass es sich bei der bei Bendisch aufgefundenen Pistole mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um die Waffe handelte, mit der Harald Ascher erschossen worden war. Der Lauf der Waffe hatte sowohl dem im Schädel der untersuchten Leiche gefundenen Projektil wie auch den Vergleichsprojektilen seinen eigenen Stempel aufgedrückt. Die 9-mm-Para hat nicht die höchste Durchschlagskraft, weshalb bei der Schädelverletzung des Opfers und der fehlenden Austrittswunde von einer Entfernung zwischen Schütze und Opfer von ungefähr 10 bis 15 Metern ausgegangen werden konnte.