Die Hüter des Grals - Tom Harper - E-Book

Die Hüter des Grals E-Book

Tom Harper

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Beschreibung

Seit Hunderten von Jahren kennen sie das Geheimnis der Macht. Ellie Stanton, Historikerin und mittellose Oxford-Doktorandin, erhält von einer kleinen Londoner Privatbank ein unwiderstehliches Jobangebot. Dabei versteht sie gar nichts von Investment. Schnell zeigt sich, dass die Arbeit das geringste Problem ist: Ihr gesamtes Leben scheint nun dem Bankier Blanchard zu gehören. Dann macht Ellie eine Entdeckung: Die Bank wurde auf den Grundfesten einer uralten Kirche errichtet. In ihren Gewölben soll Blanchard ein Geheimnis hüten. Ein Geheimnis, das unermessliche Macht verspricht und das unauflösbar mit Ellies Familiengeschichte verbunden ist.

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Tom Harper

Die Hüter des Grals

Thriller

Aus dem Englischen von Michael Windgassen

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

WidmungMottoIIIIIIIVVVIVIIVIIIIXXXIXIIXIIIXIVXVXVIXVIIXVIIIXIXXXXXIXXIIXXIIIXXIVXXVXXVIXXVIIXXVIIIXXIXXXXXXXIXXXIIXXXIIIXXXIVXXXVXXXVIXXXVIIXXXVIIIXXXIXXLXLIXLIIXLIIIXLIVXLVXLVIXLVIIXLVIIIXLIXLLILIILIIIAnmerkungen und Danksagungen
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Für Jane Conway-Gordon

– besser als in den Kamin geschrieben –

[zur Inhaltsübersicht]

«Bei meiner Ehr’», sagte Sir Guiromelant. «Eure Geschichten versetzen mich in Erstaunen. Es ist ein Vergnügen, sie zu hören, denn Ihr erzählt sie so gut wie jeder Minnesänger oder Troubadour – Ihr seid der geborene Geschichtenerzähler. Dabei hielt ich Euch auf den ersten Blick für einen Ritter und dachte, Ihr hättet tapfere Heldentaten vollbracht.»

Chrétien de Troyes, Perceval

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I

London

Ellie redete sich ein, den Job eigentlich nicht zu wollen. Sie brauchte ihn nicht. Sie hatte gerade ein Promotionsstudium begonnen, und zwar in einem Fach, das sie liebte. Das war mehr, als sie sich erträumt hatte. Bislang war ihr Leben eher trist verlaufen, jetzt hatte sie die Tür in eine Märchenwelt aufgestoßen. Nach neun Monaten in Oxford musste sie sich immer noch kneifen angesichts der Schönheit, die sie umgab, der Wasserspeier und Mauerzinnen, der holzgetäfelten Säle und makellosen Rasenflächen. Sie hatte einen Doktorvater, der viel von ihr hielt, einen Freund, der sie anhimmelte, und eine Mutter, die vor Stolz fast platzte, wenn sie den Nachbarn davon erzählte, wie weit es ihre Tochter gebracht hatte.

Dennoch war sie um sechs in der Früh an diesem trüben Morgen aufgestanden, hatte sich eine Strumpfhose angezogen, die für das milde Maiwetter viel zu dick war, sowie den Tweedrock, den sie für das Doktorandenkolloquium gekauft hatte, und war mit dem Bus über die M40 nach London gefahren. Am Marble Arch war sie in die U-Bahn umgestiegen, wo sie sich im Gedränge der Fahrgäste wie eine Sardine in der Dose vorkam und sich fragte, wie man so etwas Tag für Tag aushalten konnte. In ihrer Handtasche, die sie fest an den Bauch gedrückt hielt, steckten eine Flasche Wasser, ein Sandwich für den Rückweg und ein Brief, geschrieben auf dickem, cremefarbenem Papier mit Wappensiegel. Er war der Grund ihrer Reise.

Direktor Mr. Vivian Blanchard freut sich über Ihren Besuch und die Gelegenheit, sich mit Ihnen über Aufstiegsmöglichkeiten in der Monsalvat Bank zu unterhalten …

Schweiß prickelte ihr im Nacken, als die U-Bahn in den Tunnel eintauchte. Die Luft im Wagen war zum Schneiden, gesättigt von Körperausdünstungen und dem größten gemeinsamen Teiler zahlloser Parfüms. Ihr war übel. Sie wollte diesen Job gar nicht.

Als sie in der Station Bank ausstieg, schwante ihr Schlimmes. Demonstranten hatten sich vor der Bank of England versammelt, skandierten Parolen, klatschten in die Hände und winkten mit ramponierten Transparenten. Weiterer Zulauf wurde erwartet. Polizeipferde stampften mit schweren Hufen aufs Pflaster und zeigten ihre Zähne. Auf den Pferden thronten mit stocksteifem Rücken behelmte Reiter, die durch dunkle Visiere und über den Rand ihrer Schutzschilde auf die Menge herabblickten, Rittern gleich, mit Schlagstöcken bewaffnet und kampfbereit. Von hoch oben in ihren Glastürmen beobachteten die Barone des Kapitalismus das Geschehen in der Tiefe und nickten wohlwollend angesichts dessen, wie ihre Steuergelder eingesetzt wurden.

Ellie versuchte, die Menge zu umgehen. Sie wurde angerempelt und verlor fast ihre Tasche. Ein Polizist musterte sie von oben bis unten, schätzte sie aber wohl als harmlos ein. In ihrem Tweedrock und der Wolljacke sah sie den Demonstranten ganz und gar nicht ähnlich. Überhaupt niemandem in der City. Teuer gekleidete Modepuppen in den Schaufenstern verbarrikadierter Boutiquen taxierten sie mit verächtlichen Blicken. Ellie bereute es, hierhergekommen zu sein.

«Pass gefälligst auf!», herrschte jemand sie an.

Sie war mit einem Protestler zusammengeprallt, einem Kerl mit schiefen Zähnen und langen, strähnigen Haaren, die ihm ins knochige Gesicht fielen. Sein T-Shirt sah aus, als hätte er es seit Wochen an. Auf seinem Transparent, das er auf der Schulter trug, stand: KAPITALISMUS BRINGT UNS UM.

«Entschuldigung.» Sie wollte an ihm vorbei, doch er stellte sich ihr in den Weg.

«Gefährliche Zeiten, Herzchen.» Er trat noch näher. «Immer schön aufpassen, verstehst du? Man muss das tote Holz wegschneiden, ehe die Fäulnis weiter um sich greift.»

Der Kerl stank nach Abfall. Ellie versuchte zurückzuweichen, wurde aber von der Menge auf ihn zugedrängt.

«Die Gesellschaft ist marode.» Speichel lief ihm aus den Mundwinkeln. «Eine Seuche grassiert in der Welt, die uns alle umbringt. Sieh dich um. Die Bienen gehen drauf und auch die Bäume. Die Pegel der Meere steigen, aber es sind keine Fische mehr drin. Alles krank und kaputt.»

Ellie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie hatte keine Zeit. «Entschuldigung, aber –»

«Nein, du hörst mir jetzt zu.»

Klauengleich streckte sich ihr eine Hand mit langen, dreckigen Fingernägeln entgegen. Er wollte sie offenbar am Arm festhalten. Ellie aber wandte sich von ihm ab. Er bekam nur den Gurt ihrer Tasche zu fassen und zerrte sie ihr von der Schulter. Sie schrie.

Plötzlich schwirrte ein dunkler Gegenstand durch die Luft, worauf der Demonstrant schreiend in die Knie ging. Ein Polizist mit gelb fluoreszierender Weste und einem Schlagstock in der Hand stand hinter ihm. Er hatte ihn anscheinend beobachtet und nur auf eine Gelegenheit gewartet, ihn niederknüppeln zu können. Schon waren zwei andere Polizisten zur Stelle, die dem jungen Mann Handschellen anlegten und ihn abführten.

Ellie wollte sich bedanken, doch der Polizist fiel ihr ins Wort.

«Verschwinden Sie!», rief er. «Hier sind Sie nicht sicher.»

Seine Grimasse, halb verdeckt vom Visier seines Helms, war fast noch beängstigender als der eifernde Demonstrant. Ellie presste ihre Tasche an sich und hastete weiter.

Wenig später empfand sie Gewissensbisse. Der Langhaarige hatte ihr nichts getan. Es wäre vielleicht besser gewesen, sie hätte sich die Nummer auf der Dienstplakette des Polizisten gemerkt für den Fall, dass der junge Mann Beschwerde einlegte. Sie warf einen Blick zurück, doch der Polizist war schon hinter der Schlachtreihe der Gelbwesten verschwunden.

 

Ellie kam zehn Minuten zu spät. Der Zusammenstoß mit dem Demonstranten hatte sie verstört und aufgebracht, war aber nicht der Grund für ihre Verspätung. Sie hatte sich verlaufen. Auf der Karte, die sie sich vorher angeschaut hatte, war die Bank nur als graues Viereck eingetragen. Vor Ort fand sie sich jedoch in einem Labyrinth aus engen Passagen und Sackgassen zwischen dunklen Gemäuern wieder. Sie wollte schon aufgeben, als ihr schließlich doch das Bankhaus ins Auge sprang: ein alter Steinkasten mit schmalen Fenstern und kleinen Ecktürmen, die über einer gepflasterten Durchfahrt aufragten.

Davor parkte ein blankpolierter Jaguar. Wie ist der dort hingekommen? Als sie darauf zusteuerte, sprang ein Chauffeur mit Schirmmütze aus dem Auto und öffnete die Tür zum Fond, fast so, als hätte er nur auf sie gewartet. In diesem Moment aber trat ein Mann in Nadelstreifenanzug und blauer Krawatte auf den Wagen zu und stieg ein. Der Chauffeur schlug die Tür zu, setzte sich auf den Fahrersitz und fuhr los. Ellie musste sich flach an die Mauer drücken, um nicht überrollt zu werden. Der Mann im Fond, der sich über einen geöffneten roten Aktenkoffer beugte, kam ihr irgendwie bekannt vor. Sie sah ihn nur für ein, zwei Sekunden, dann war der Jaguar hinter der nächsten Ecke verschwunden.

Ellie richtete ihren Blick wieder auf die Bank. Über der Tür hing ein schmiedeeisernes Wappen: ein heraldischer Adler, der in seinen Krallen etwas hielt, das wie ein Speer aussah. Dasselbe Wappen zeigte sich in der mattierten Glasscheibe der Tür und noch einmal, in Messing, an der Wand hinter dem Empfangsschalter.

Eine missmutig dreinblickende Empfangsdame, die dem Wappenadler verblüffend ähnlich sah, bedachte Ellie mit abschätzigen Blicken, als sie auf den Schalter zuging. Sie kramte den Brief aus ihrer Tasche.

«Ellie Stanton. Ich bin mit, ehm, Vivian Blanchard verabredet.»

Die Frau griff zum Telefonhörer und meldete sie mit unangenehm schneidender Stimme an.

«Gedulden Sie sich bitte einen Augenblick.»

Es gab keinen Stuhl, auf dem Ellie hätte Platz nehmen können. Also blieb sie vor dem Schalter stehen und schaute sich neugierig um.

«Der Herr, der soeben gegangen ist. War das –?»

Die Frau schürzte die Lippen. «Ich bin nicht befugt, Auskunft zu geben.»

Ellie errötete. Hatte sie schon jetzt verspielt? Reiß dich zusammen, sagte sie sich. Du kommst nicht als Bittstellerin. Man hat dich eingeladen.

Das Telefon klingelte. Die Frau hob ab, ohne Ellie aus den Augen zu lassen.

«Sie werden erwartet.»

 

Vivian Blanchards Büro befand sich in der fünften Etage, gerade hoch genug, dass man vom Fenster aus die Wahrzeichen der Skyline sehen konnte. Doch darauf achtete Ellie nicht. Blanchard nahm all ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Er hieß sie willkommen, entschuldigte sich dafür, dass sie hatte warten müssen, bot ihr Kaffee an und überwältigte sie mit seiner wuchtigen Präsenz. Als er ihr die Hand schüttelte, beugte er sich zu einem angedeuteten Handkuss darüber.

«Ich bin entzückt.»

Er ließ Ellie auf einem tiefen Ledersofa Platz nehmen und öffnete ein auf dem Schreibtisch stehendes Kästchen, dem er eine dicke Zigarre und ein silbernes Messer entnahm. Geschickt und energisch kerbte er das Mundstück ein und holte ein goldenes Feuerzeug aus der Tasche.

«Sie gestatten?»

Ellie nickte eingeschüchtert. Ein Mann wie Blanchard war ihr noch nie begegnet. Alles an ihm schien überdimensioniert, überlebensgroß – seine Statur, die bulligen Schultern und der graue Anzug, den er wie eine Rüstung trug. Die dichte, zurückgekämmte silbergraue Mähne. Das kantige Gesicht mit der Adlernase und den stechenden Augen. Seine Manschettenknöpfe waren von Cartier, die Krawatte von Hermés und die Schuhe aus einer Pariser Werkstatt, die nur hundert Paare im Jahr herstellte (was Ellie natürlich nicht wissen konnte). Seiner Aussprache war ein leicht fremdländischer Akzent anzuhören.

«Danke, dass Sie gekommen sind, Ellie. Ich darf doch Ellie sagen?», fragte er und ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen. «Sie verzeihen bitte die für Sie vielleicht etwas … mysteriöse Art unserer Kontaktaufnahme.»

«Ich bekomme tatsächlich nicht jeden Tag ein Jobangebot, um das ich mich nicht selbst bemüht habe.»

«Zumal von einem Unternehmen, von dem Sie noch nie etwas gehört haben, stimmt’s?» Blanchard stieß eine Rauchwolke aus in Richtung eines Ölgemäldes, das über dem Kamin hing und in präraffaelitischer Manier eine Ritterfigur darstellte.

Ihm zu widersprechen wäre töricht gewesen. Keinem ihrer Bekannten, denen sie von ihrem Einladungsschreiben erzählt hatte, war die Monsalvat Bank ein Begriff. Sie hatte zwar eine Website, doch die bestand nur aus dem Wappen und einer Telefonnummer. Auch die Jobberatung der Universität wusste nichts von dieser Bank, und eine Recherche im World Wide Web hatte nur ein paar nebensächliche Hinweise in der Financial Times beziehungsweise in The Economist zutage gebracht. Es schien fast, als gäbe es diese Bank überhaupt nicht.

«Nicht viel», gab Ellie zu.

«Verständlicherweise.» Blanchard zeigte ihr lächelnd seine Zähne. «Wir legen großen Wert auf Diskretion, ich möchte sagen, Diskretion ist eine unserer Kardinaltugenden.»

«Ich weiß, dass Ihre Bank im 16. Jahrhundert von einem Händler gegründet wurde, der aus Frankreich kam», fügte Ellie hinzu. «Saint-Lazare de Morgon. Damit dürfte sie die älteste Bank in England und eine der zwei oder drei ältesten in Europa sein. Während der Reformation regulierte sie die Auflösung der Klöster und wurde reich. Im 18. Jahrhundert war sie der wichtigste Finanzier all jener europäischen Länder, die Krieg führen wollten.»

Blanchard senkte den Kopf und zeigte sich betroffen.

«Die Weltkriege und Wirtschaftskrisen des 20. Jahrhunderts überlebte sie als kleine, aber einflussreiche Handelsbank für vermögende Privatkunden und deren Unternehmen. Heute ist sie eine der letzten alten Firmen, die noch nicht von einem der großen internationalen Konglomerate übernommen wurden. Noch nicht.»

An Blanchards Zigarre hatte sich ein Aschefinger gebildet. Er streifte ihn über einem kristallenen Aschenbecher ab, paffte weiter und schien von ihren Ausführungen angenehm überrascht zu sein.

«Soweit ich weiß, ist ein Großteil der Informationen, die Sie hier referieren, nie veröffentlicht worden.»

Ellie spürte, wie sie unter seinem Blick errötete. «Als ich Ihren Brief erhielt, bin ich neugierig geworden.»

Neugierig zu erfahren, warum sich eine Bank, die keiner kennt, für eine junge Frau interessiert, die keiner kennt, die keine Erfahrung und auch kein Interesse daran hat, in der City zu arbeiten. Sie hatte zwei Tage damit verbracht, in alten Archiven zu stöbern und vergilbte Akten zu wälzen, um herauszufinden, ob die Monsalvat Bank überhaupt existierte.

«Wie wir auf Sie gestoßen sind, ist kein Geheimnis. Sie erinnern sich an Ihre Examensarbeit? Für die Sie mit einer Auszeichnung gewürdigt wurden?»

Dem «Spenser-Preis». Auch davon hatte sie nie zuvor gehört – bis zu dem Tag, an dem ihr von ihrem Mentor an der Uni, der sonst nie Interesse an ihr gezeigt hatte, ein Bewerbungsformular ins Fach gesteckt worden war. Sie hatte ihre Arbeit eingeschickt und die ganze Sache vergessen. Drei Monate später war ihr ein Glückwunschschreiben sowie ein Scheck über fünfhundert Pfund zugestellt worden.

«Wir verwalten diesen Spenser-Fond treuhänderisch für einen unserer Kunden. Mit dessen Erlaubnis nehmen wir auch gelegentlich als Juroren an der Auswahl des Preisträgers teil, dann nämlich, wenn er oder sie für uns von Interesse sein könnte.»

Sein Blick traf sie wie ein Schlag. Ellie zuckte innerlich zusammen und schaute auf das Gemälde über dem Kaminsims. Eine Frau in einem fast durchsichtigen Gewand war im Hintergrund an einen Baum gefesselt. Der Ritter hatte sein Schwert halb aus der Scheide gezogen. Ob er die Holde zu befreien oder einen unsichtbaren Gegner jenseits des Bildes abzuwehren versuchte, war nicht zu erkennen. Ellie fragte sich, ob das Gemälde womöglich doch ein Original war.

Blanchard lehnte sich in seinem Sessel zurück. «Ich will Ihnen erklären, wo wir heute stehen. Wir sind eine ungewöhnliche Firma. Exzeptionell, würde ich sagen. Manche halten uns für altmodisch, und das sind wir in gewisser Weise auch. Wenn wir aber unsere Unabhängigkeit bewahren wollen, müssen wir der Konkurrenz voraus sein. Mit modernsten Methoden und konzeptionell auf dem neuesten Stand der Dinge. Ein altes Gebäude, neu möbliert.»

Der letzte Satz war offenbar metaphorisch gemeint, denn der schwere, dunkle Schreibtisch, der auf geschnitzten Löwentatzen stand, mochte an die dreihundert Jahre alt sein. Vielleicht stammte er sogar aus einem der Klöster, an deren Auflösung die Monsalvat Bank gut verdient hatte.

«Unsere Kunden gehören mehrheitlich dem alten Geldadel an und möchten sich von den ordinären Parvenüs unserer Tage abgrenzen. Sie legen Wert auf eine Bank, die ihr Vermögen gewissermaßen …»

«Diskret verwaltet?», half Ellie aus.

«Geschmackvoll wäre der treffendere Ausdruck.»

Ellie nickte, obwohl sie nicht genau verstand, was gemeint war.

«Die nouveaux riches – die Araber, die Orientalen, die Amerikaner – mögen sich an andere Banken wenden. Die Juden haben ohnehin ihre eigenen.»

Er sah, wie Ellie unwillkürlich die Miene verzog.

«Ich weiß, meine Bemerkung ist politisch nicht korrekt, wohl aber faktisch zutreffend. Und allein darauf kommt es in Geldgeschäften an.»

Blanchard drehte wieder den Stummel im Aschenbecher.

«Wie gesagt, wir sind eine außergewöhnliche Firma, nicht zuletzt insofern, als wir nur über eine vergleichsweise dünne Kapitaldecke verfügen. Was uns reich macht, ist unser Personal. Außergewöhnliche Personen wie Sie.»

Ellie saß steif auf dem riesigen Sofa und hatte die Knie aneinandergepresst.

«Sie glauben, ich schmeichle? Ich könnte morgen eine Anzeige an den besten Universitäten des Landes aufgeben und hätte in der nächsten Woche Hunderte von Bewerbungen auf dem Tisch liegen, allesamt von tüchtigen Leuten mit vortrefflichen Abschlüssen, besten Referenzen und beachtlicher Berufserfahrung – einer Erfahrung, die jedoch ausschließlich in einem System gesammelt wurde, das auf den Erfolg dieser Leute gewissermaßen zugeschnitten ist. Sie hingegen, Ellie, sind außerhalb dieses Systems erfolgreich. Und das ist außergewöhnlich. Die anderen glauben, das Leben sei ein Spiel zwischen weißen Grundlinien mit bestimmten Regeln und Schiedsrichtern, die abpfeifen, wenn der eine dem anderen in die Beine grätscht. Aber wir, Sie und ich, wissen es besser.»

Blanchard öffnete eine Mappe, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag, und entnahm ihr zwei Seiten, in denen Ellie ihren Lebenslauf wiederzuerkennen glaubte. Wie war der in seine Hände gelangt?

«Erzählen Sie mir von sich.»

«Sie wissen doch längst über mich Bescheid», erwiderte sie und war selbst überrascht von der Dreistigkeit ihrer Entgegnung. Sie wollte den Job offenbar wirklich nicht. Blanchard aber nahm keinen Anstoß. Im Gegenteil, er schien nichts anderes von ihr erwartet zu haben.

«Eleanor Caris Stanton. Geboren am 22. Februar 1987 in Newport, South Wales. Ihre Mutter arbeitete als Hilfskraft in verschiedenen Fabriken, Ihr Vater …» Er zuckte mit den Achseln. Es schien, dass er die Blätter, die er in der Hand hielt, gar nicht wirklich zur Kenntnis nahm. «Sie besuchten eine unbedeutende Schule und legten einen so bemerkenswerten Abschluss hin, dass Ihnen ein Oxford-Stipendium angeboten wurde. Doch das lehnten Sie ab zugunsten eines Studiums an einer polytechnischen Hochschule in Ihrer Heimatstadt. Hatten Sie Angst vor Oxford? Scheuen Sie Privilegien und Elitarismus? Fürchteten Sie, den in Sie gesetzten Erwartungen nicht gerecht werden zu können?»

«Nein.» Klang ihre Antwort womöglich zu defensiv? «Auch mit dem Stipendium hätte ich mir ein Studium in Oxford nicht leisten können.»

«Angst zu haben ist keine Schande», bemerkte Blanchard. «Wer glaubt, nichts fürchten zu müssen, hat nichts zu gewinnen.»

Ellie zweifelte daran. «Wie dem auch sei, ich bin ja schließlich doch nach Oxford gekommen.»

«In der Tat. Sie waren die Beste Ihres Jahrgangs, haben ein Einser-Examen in Mediävistik geschafft und hätten mit dieser Qualifikation sofort eine lukrative Stelle annehmen können. Stattdessen aber wollten Sie lieber promovieren. Dafür entscheiden sich nur wenige. Waren Sie nicht versucht, Geld zu verdienen und Ihrem Milieu zu entfliehen?»

Ellie stutzte. War er wirklich so taktlos, oder versuchte er, Sie zu prüfen? Sie schaute ihm ins Gesicht, auf seine markanten Falten und glaubte, ein Lächeln erkennen zu können. Mistkerl.

«Es gibt noch andere Fluchtwege als den übers Geld», antwortete sie.

Blanchard nickte und ließ die hohe Sessellehne wippen. «Den Weg des mittellosen Intellektuellen?»

«So ungefähr.»

«Aber der könnte auf Ideenarmut hinauslaufen. Der akademische Elfenbeinturm ist eine Echokammer, ein Spiegelkabinett. Statt die Welt zu betrachten, sieht man letztlich nur sich selbst. Würde Sie das befriedigen?»

Hier sind Sie nicht sicher. Die Worte des Polizisten kamen ihr plötzlich in den Sinn.

«Ich bin gern an der Uni», sagte sie entschieden. «Vielen Dank für Ihre Einladung. Ich fühle mich geehrt. Aber wie Sie wissen, habe ich gerade ein Promotionsstudium begonnen, das mich die nächsten dreieinhalb Jahre in Anspruch nehmen wird. Es vorzeitig abzubrechen kommt für mich nicht in Frage.»

Sie hatte sich diese Worte im Bus zurechtgelegt und sich vorgenommen, den richtigen Ton zu treffen, der nicht beleidigte, aber auch keinen Zweifel aufkommen ließ – etwa so wie bei einem Rendezvous, wenn es galt, dem anderen klarzumachen, dass man nicht die Absicht hatte, mit ihm nach Hause zu gehen.

Blanchard hörte ihr zu und wirkte gelangweilt.

«Haben Sie schon einmal in einer Bank gearbeitet?»

Es dauerte eine Weile, bis sie ahnte, worauf er abzielte. Sie selbst erinnerte sich kaum noch. «Während der Sommerferien einmal. Von einschlägigen Erfahrungen kann allerdings kaum die Rede sein.» Zwölf Stunden die Woche in einer Bausparkasse mit braunen Teppichen und Kieselrauputz an den Wänden. Das einzig «alte Geld» stammte von Pensionären.

«Was hat Sie bewogen?»

Ellie blinzelte. «Wie bitte?»

«Weshalb haben Sie ausgerechnet dort gearbeitet? Warum nicht in einer Bar oder in einer Boutique? Wäre doch viel reizvoller für eine junge Frau wie Sie gewesen.»

«Ich dachte, ich sollte einmal einen Blick auf die andere Seite der Münze werfen.»

Ich wollte sehen, woher das Geld kommt. Damit umgehen. Nah dran sein. Wenigstens einmal genug davon in der Hand haben. Sie war immer arm gewesen und hatte darunter gelitten – unter der Verzweiflung in den Augen ihrer Mutter, wenn sie von der Nachtschicht zurückkehrte, und unter der eigenen Angst, sooft es an der Tür klopfte – mehr als einmal waren sie gezwungen gewesen, ihre Wohnung zu räumen, kaum dass sie sich darin eingerichtet und wohl gefühlt hatten. Sie litt an der Ungerechtigkeit, mit ansehen zu müssen, dass andere Kinder mit teuren Klamotten, Handys und Laptops in die Schule kamen, während sie nur mit einer Schuluniform aus zweiter Hand aufwarten konnte. Später an der Uni protzten die Kommilitonen mit schicken Autos und Wohnungen, während Ellie über einem Kebab-Laden hauste, im Gestank von Bratfett bis tief in die Nacht büffelte und in der Freizeit zu niedrigsten Löhnen jobben musste.

«Gestatten Sie mir einen Hinweis auf unsere Lohnpolitik», sagte Blanchard. «Weil wir ein kleines Unternehmen sind, müssen wir höhere Bezüge bieten als unsere Konkurrenz.» Er nahm das silberne Messer zur Hand und putzte die Klinge. «Zum Glück haben wir tiefe Taschen. Als Anfangssalär kann ich Ihnen fünfundsiebzigtausend Pfund in Aussicht stellen. Dazu käme ein Bonus von zehn bis fünfzehn Prozent. Dieser Anteil steigt von Jahr zu Jahr.»

Ellie ließ die Kinnlade herunterfallen. Was Blanchard angesichts ihrer entgeisterten Miene denken mochte, war ihr gleichgültig. Hatte sie tatsächlich richtig gehört? Das Doktorandenstipendium belief sich auf achttausend im Jahr, und das war mehr, als ihr jemals zur Verfügung gestanden hatte. Sie wusste von Kommilitonen, die in Londoner Spitzenkanzleien arbeiteten und nicht annähernd so viel verdienten, aber trotzdem damit prahlten – weshalb sie davon wusste.

«In London eine Wohnung zu finden ist nicht leicht», fuhr Blanchard fort. «Deshalb stellen wir Ihnen im ersten Jahr eines unserer Apartments zur Verfügung. Im achtunddreißigsten Stock des Barbican Centre. Die Aussicht ist atemberaubend.»

Ellie nickte nachdenklich. Fünfundsiebzigtausend Pfund.

«Selbstverständlich stellen wir alle Mittel, die Sie für Ihre Arbeit brauchen. Einen Laptop, das neueste Smartphone, falls Sie Wert darauf legen. Wir übernehmen auch die Kosten für Ihre Garderobe.»

Unwillkürlich nestelte Ellie an ihrem billigen Rock und stellte sich in einem der Modellkleider vor, die sie im Schaufenster der Boutique gesehen hatte.

«Einen eigenen Dienstwagen brauchen Sie nicht, denn der Verkehr in London ist einfach unzumutbar. Falls Sie weitere Strecken zurücklegen müssen, stellen wir Ihnen einen Chauffeur zur Verfügung. Aber die meisten Geschäftsreisen gehen ohnehin ins Ausland.»

«Stünden viele solcher Geschäftsreisen an?»

«Unsere Klientel ist über ganz Europa verstreut. Schweiz, Italien, Deutschland und natürlich Frankreich. Manche kommen nach London, aber die meisten ziehen es vor, dass wir sie besuchen.»

Ellie war erst ein einziges Mal verreist, im Alter von achtzehn Jahren, gleich nach ihrem Schulabschluss. Sie hatte über sechs Monate lang den Lohn ihres Samstagsjobs gespart, um nach Spanien fahren zu können, wo sie eine Woche lang in einer Jugendherberge untergebracht war, in der es nach Abwässern stank.

«Natürlich sorgen wir dafür, dass Sie so angenehm wie möglich reisen, stets erster Klasse und mit Quartier in ansprechenden Hotels.»

«Ich bin sicher –»

Blanchard winkte mit dem silbernen Messer ab.

«Ellie, wir sollten uns gegenseitig nichts vormachen. Die meisten Jobinterviews sind durch und durch verlogen. Kandidaten loben sich über den grünen Klee und versichern äußerstes Engagement. Im Gegenzug versprechen ihnen die Arbeitgeber eine glänzende Karriere. Tatsächlich aber beuten sie die Arbeitskraft ihrer Angestellten bis zum Gehtnichtmehr aus und setzen diese dann vor die Tür.»

Ellie hörte schweigend zu. Der Rauch seiner Zigarre machte sie schwindlig.

«Wir sind anders. Wir wählen unter potenziellen Mitarbeitern sorgfältig aus und wenn wir den oder die Richtige gefunden haben, halten wir an ihm oder ihr fest. Sie sind eine Investition für uns – eine in Millionenhöhe. Und wir wollen, dass Sie wie jede gute Investition an Wert gewinnen. Zugegeben, der Job, den wir bieten, ist sehr anspruchsvoll. Die Arbeitstage sind lang, manchmal auch die Nächte, aber ich kann Ihnen versprechen, dass Ihre Arbeit faszinierender sein wird als alles, was Sie bislang getan haben. Sie werden den einflussreichsten und intelligentesten Persönlichkeiten Europas begegnen, die Ihnen aufmerksam und dankbar zuhören, weil Sie die Monsalvat Bank vertreten und weil man Sie als ebenbürtig intelligente Gesprächspartnerin schätzen wird. Als die auch wir Sie schätzen.»

Er legte seine Hände ineinander und streckte sie ihr über den Schreibtisch entgegen.

«Ellie, wir sind sehr daran interessiert, dass Sie für uns arbeiten. Können wir Sie locken?»

[zur Inhaltsübersicht]

II

Île de Pêche, AD 1142

Es regnet an diesem Morgen, da wir aufgebrochen sind, den Grafen zu töten. Regentropfen ziehen Kreise auf dem flachen Wasser, die sich endlos überschneiden. Unsere Kähne gleiten darüber hinweg und stören das Muster. Sie sind mit dünnen Tierhäuten bezogen. Ich kann das Wasser darunter spüren wie Pferdefleisch unterm Sattel.

Man könnte uns für Pilger halten. Meine Schwarte kitzelt am Hinterkopf, wo mir Malegant gestern Abend mit seinem Jagdmesser eine Tonsur ins Haar geschnitten hat. Das Habit aus ungekämmter Wolle kratzt auf der Haut. Wir alle tragen Kutten. Vorige Woche haben wir eine Gruppe von Mönchen, die unterwegs nach Rennes war, überrascht und ausgeplündert. Die Nähte spannen sich an den Schultern, denn wir sind breiter als ein durchschnittlicher Mönch. Außerdem tragen wir Brünnen darunter.

Nebel hüllt uns ein. In der Bucht, die wir durchkreuzen, befinden sich an die dreihundert kleine Inseln, doch es ist keine von ihnen zu sehen. Das Wetter hätte für uns nicht besser sein können. Dunkle Boote auf dunkler See sind von den Wachposten nicht auszumachen. Selbst wenn man uns entdecken würde, hätten wir nichts zu befürchten, denn der Regen macht alle Bogensehnen weich. Malegant sagt, Gott sei mit uns, was wir als Scherz verstehen. Wir lachen.

Wir sind zu acht, und jeder von uns hat mindestens ein Dutzend Schlachtkerben an seinem Schwert. Wir haben Blut an den Händen, Narben im Gesicht und Kopfgelder im Nacken. Wir sind Männer, denen man nicht gern auf der Straße begegnet – was die Mönche bezeugen könnten, wenn sie noch leben würden. Aber wir alle fürchten Malegant. Er überragt jeden von uns um Haupteslänge, und alles an ihm ist schwarz: seine Haare und Augen, der Stein im Schaft seines Schwertes und der kreischende Adler auf seinem Schild. Selbst seine Rüstung ist schwarz legiert.

Er zieht sein Jagdmesser und schlitzt sein Habit vom Kragen bis zum Saum auf, als wollte er sich selbst ausweiden. Ohne Verkleidung ist besser kämpfen. Wir folgen seinem Beispiel. Das Geräusch reißenden Tuches bricht die Stille der See.

Aus dem Nebel taucht vor uns ein Schatten auf. Ich höre Wellen an Felsen schwappen. Der Schatten wird größer. Eine Rohrdommel gibt dumpfe Laute von sich. Die Burg liegt direkt am Ufer und wächst aus dem Fels. Wir sind ihr jetzt so nahe, dass ich die Muscheln und Schnecken an den Mauern erkennen kann. Stangen ragen aus dem Wasser, um versenkte Hummerreusen zu markieren.

Wir folgen dem Vogelruf und treffen auf eine steinerne Rampe, die aus dem Wasser zu einem Torbogen aufsteigt. Das Tor ist geöffnet. Ein Kartäusermönch in nebelfarbener Kutte steht davor. Er hält die Hände zu einem Trichter vor den Mund und ahmt den Laut einer Rohrdommel nach.

Er lässt die Arme sinken. Von uns allen hat er das jüngste, unschuldigste Gesicht. Er überzeugt als Mönch.

«Hat jemand Verdacht geschöpft?», fragt Malegant. Sogar seine Stimme klingt schwarz und trocken wie Ruß.

Der Kartäuser schüttelt den Kopf. «Der Graf ist in seiner Kapelle und betet.»

Wir verlassen die Kähne, um zu verhindern, dass sie beim Anlanden leckschlagen. Ich greife nach meinem Schwert und befreie es aus dem provisorischen Einband. Die Mönche, die wir erschlagen haben, hatten Bücher dabei, und das Pergament hält Wasser ab. Ich lasse die Seiten aufs Wasser fallen und sehe zu, wie sie davontreiben. Regen prasselt darauf nieder und will sie untertauchen.

«Bewach das Tor!», befiehlt Malegant dem Kartäuser. «Wenn gleich der Kampf tobt, darf niemand entkommen.»

Er bindet den Gürtel zu einer lockeren Schleife. Das Habit bauscht sich auf Hüfthöhe über dem Heft seines Schwertes, was wie eine Obszönität aussieht. Wir ziehen alle unsere Kapuzen über den Kopf und passieren das Tor.

Der Tag ist noch nicht angebrochen, doch schon herrscht Leben auf der Burg. Stallknechte tragen Eimer voll dampfenden Dungs in die Gärten. Diener kehren die große Halle aus und bringen die Spreu zur Bäckerei, wo sie verfeuert werden soll. Irgendwo krächzen Falken, die gefüttert werden. Im Burgfried lehnt sich eine Frau in weißem Gewand über eine Balkonbrüstung. Vom Nebel umhüllt, wirkt sie so körperlos wie ein Engel.

Ich bilde mir ein, es wäre Ada, und glaube, ein rotes Band zu sehen, das ihre Haare im Nacken zurückhält, dunkle lachende Augen und am Hals die Brosche, mein Geschenk.

Schau nicht hin, flehe ich sie im Stillen an. Wo immer du bist, schließ die Augen. Und ich bitte sie, für mich zu beten.

Aber die Frau ist nicht Ada. Ich ziehe die Kapuze tiefer in die Stirn, um sie aus meinem Gesichtsfeld verschwinden zu lassen.

Die Kapelle ist ein dunkles Gelass, in den Fels gehauen und zur Hälfte gemauert. Viele Füße haben den Boden glatt getreten. In der Rückwand, die zum Meer weist, ist ein Spitzbogenfenster eingelassen. Drei runde rote Glasbutzen sehen aus wie Wunden. Auf dem Altar unter dem Fenster stehen zwei Kandelaber und ein kleiner Reliquienschrein, alles aus purem Gold.

Der Graf kniet vor dem Altar. Er ist kleiner, als ich erwartet habe, zierlich wie ein Zaunkönig mit zurückweichendem weißem Haar und apfelroten Wangen. Er liest aus einer Bibel, die auf einem niedrigen Lettnerpult liegt, während zu beiden Seiten von ihm Mönche – echte Mönche – aufgereiht einander gegenüberstehen und die Liturgie über seinen Kopf hinweg singen.

Sei mir gnädig, Herr, Sünder, der ich bin.

Mir ist schwindlig. Ich wünschte, mein Schicksal abwenden zu können. Malegant durchquert den Raum und streift die Kutte ab. Niemand hält ihn auf. Er tippt den Grafen mit der Schwertspitze auf die Schulter, als wollte er ihn zum Ritter schlagen, und kaum hat der sich zu ihm umgedreht, schlägt er zu.

Die Klinge fährt durch das Schlüsselbein bis hinunter in die Brust. Blut schießt fontänengleich auf. Der Kopf schaukelt wie eine Schweinsblase am Strick. Malegant stemmt dem toten Grafen seinen Stiefel auf den Bauch und zieht das Schwert frei. Blut spritzt über das heilige Buch, als der Graf vornüberkippt. Einer der Mönche stürzt nach vorn, um die Reliquie mit seinem Leib zu schützen. Malegant schlitzt ihm die Kehle auf und stößt den Sterbenden beiseite.

Hinter uns werden Rufe und Schritte laut. Zu spät haben die Wachen des Grafen die Gefahr erkannt. Malegant nimmt den Reliquienschrein und hebt ihn wie einen Kelch triumphierend in die Höhe, während die anderen die verbliebenen Mönche niedermetzeln.

Und ich? Ich weiß, ich müsste mein Schwert ziehen und tun, wofür ich bezahlt wurde. Mich wenigstens schützen. Doch eine höhere Macht hat mich in ihrer Gewalt. Ich erinnere mich an ein vor vielen Jahren abgelegtes Gelübde.

Zur Verteidigung der Kirche, mein Herr, und der Schutzlosen.

In was bin ich nur hineingeraten?

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III

Luxemburg

Lemmy Maartens war sich darüber im Klaren, dass er den bequemsten Job der Welt hatte. Inspekteur der Bankenaufsicht eines Steuerparadieses. Seine schwierigste Aufgabe am Tag, so beliebte er zu scherzen, sei die Entscheidung, wo er zu Mittag essen sollte. Zurzeit aber hatte er es nicht so leicht. Im Gegenteil, er war ins Schwitzen geraten.

«Darf ich nachschenken?»

Die Sekretärin war mit der Kaffeekanne zurückgekommen. Lemmy stellte seine Tasse auf den Tisch und schob sie ihr zu, um ihr nicht zu zeigen, dass seine Hand zitterte. Die Tasse war aus edlem Porzellan gefertigt – von Villeroy & Boch. Er hatte, als die Sekretärin nebenan war, einen Blick auf die Rückseite der Untertasse geworfen.

«Die Frau Direktor wird gleich bei Ihnen sein.»

Lemmy hatte immer schon gewusst, dass ihm die Welt jede Menge vorenthielt. Dass er in seinem Job auf Tuchfühlung mit der internationalen Finanzelite war, die Reichtum und Arroganz aus allen Knopflöchern ausdünstete, verstärkte nur seinen Missmut. Auch er wollte die teuren deutschen Limousinen fahren, die auf dem Parkplatz standen, wollte die italienischen Anzüge derer tragen, die in den Gängen an ihm vorbeieilten. Und er glaubte, dass er sie verdiente.

Darum ließ er sich gern auf Nebengeschäfte ein. In anderen Ländern wurden Inspektoren geschmiert, damit sie ausnahmsweise mal ein Auge zudrückten. In Luxemburg gehörte das Wegschauen gewissermaßen zu Lemmys inoffizieller Jobbeschreibung. Er wurde außerdem bezahlt für seine Diskretion, und die war definitiv verhandelbar. Nichts Ernstes, aber wer erfahren wollte, welches Konkurrenzunternehmen in Zahlungsschwierigkeiten steckte beziehungsweise reif war für eine Übernahme, durfte sich von Lemmy interessante Hinweise versprechen. Zu seinen regulären Bezügen kassierte er so an die zehntausend Euro extra, die er sorgfältig versteckte. Trotzdem geriet er jedes Mal ins Schwitzen.

Er schaute wieder auf das Schild an der Wand. Monsalvat BankSA. Obwohl er schon lange für das Ministerium arbeitete, hatte er von dieser Bank noch nie gehört, was ihn aber nicht weiter verwunderte. In Luxemburg waren über hundertfünfzig Banken vertreten, angelockt von niedrigen Steuersätzen und Inspektoren wie Lemmy, die nicht allzu viele Fragen stellten. Die meisten dieser Niederlassungen bestanden nur aus einem Firmenschild und einer Telefonnummer.

Aus dem Nebenzimmer kam eine Frau in grauem Schlauchrock und weißer Bluse, am Kragen zwei Knöpfe geöffnet. Sie ging wahrscheinlich auf die fünfzig zu und war mit ihren edlen Gesichtszügen und der schlanken Gestalt von einer Schönheit, die der zweimal geschiedene Lemmy zu schätzen wusste.

«Christine Lafarge, Leiterin dieses Büros.» Sie schüttelte ihm die Hand. «Mit Ihrem Besuch habe ich gar nicht gerechnet.»

«Es handelt sich lediglich um eine Stichprobe», beruhigte Lemmy sie. «Eine Formalität. Aus Rücksichtnahme gegenüber der politischen Großwetterlage, wenn Sie verstehen, was ich meine.»

Sie zog die Augenbrauen zusammen. «Normalerweise meldet man uns eine Prüfung telefonisch an, damit wir uns vorbereiten können.»

Lemmy breitete die Arme aus und hoffte, dass ihr seine schwitzenden Handflächen nicht auffielen. «Ich kann nur um Entschuldigung bitten.»

Die Sekretärin brachte den Ausdruck, um den er gebeten hatte: eine Liste von Konten. Lemmy warf einen Blick darauf und tat so, als träfe er eine beliebige Auswahl.

«Dieses hier.»

Mrs. Lafarge hob eine Braue in die Stirn. «Das ist einer unserer größten Kunden. Wenn er wüsste, dass seine Geschäfte unter die Lupe genommen werden, wäre er …» Sie suchte nach einem passenden Wort. «Bestürzt.»

In der delikaten Welt des Luxemburg’schen Finanzwesens war dies als Warnung zu verstehen, wie sie deutlicher nicht hätte sein können. Hände weg. Normalerweise hätte sich Lemmy sofort zurückgezogen und um die Einsicht in ein anderes Konto gebeten, womöglich eins von Mrs. Lafarge selbst vorgeschlagenes, und ihr dann nach drei Stunden gewissenhafter Untätigkeit versichert, dass alles in Ordnung sei.

Doch Lemmys Auftraggeber hatten tief in die Tasche gegriffen. Er legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander und setzte eine ernste Miene auf. «Ich muss leider darauf bestehen. Unsere Vorschriften …» Er schaute zur Decke empor, ganz Diener einer höheren Macht.

«Natürlich», erwiderte Mrs. Lafarge. «Ich werde Ihnen die Unterlagen gleich zukommen lassen, ich muss nur kurz unser Stammhaus in London in Kenntnis setzen.»

Lemmy lächelte dankbar und versuchte, seine schiefen Zähne bedeckt zu halten. Warum, so fragte er sich, fühlte sich sein Mund so trocken an?

London

Gleich an ihrem ersten Arbeitstag kam Ellie zu spät. Eine graue Wolkendecke hing über der Stadt und hielt wie ein Deckel die stickig schwüle Luft unter Verschluss. Sie hatte eigentlich schon am Vorabend nach London kommen wollen, war aber in Oxford geblieben, aufgehalten von Doug, der ihr die halbe Nacht wieder einmal – wie schon den ganzen Sommer über – in den Ohren gelegen hatte. Sie war schließlich in Tränen aufgelöst zu Bett gegangen, um Minuten später, wie ihr schien, vom Wecker wach geklingelt zu werden.

Wie gern wäre sie einfach liegen geblieben! Als sie nun die Stufen zum Eingang der Bank, einer Doppeltür aus mattiertem Glas, emporstieg, hätte sie am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht. Sie fühlte sich unwohl in ihrem neuen Kostüm und den neuen Schuhen, overdressed und schäbig zugleich. Vielleicht, so hoffte sie, würde sie von der Empfangsdame gleich wieder fortgeschickt werden mit dem Hinweis, alles sei nur ein Fehler gewesen.

Du gehörst dort nicht hin.

Von alldem, was Doug ihr an den Kopf geworfen hatte, war dieser Vorwurf der bitterste gewesen.

Die Empfangsdame meldete sie an. Was ihr vom anderen Ende der Leitung aus gesagt wurde, hörte Ellie nicht.

Er hat mich vergessen, dachte sie. Oder sich eines Besseren besonnen. Sie würde zu Doug nach Oxford zurückkehren und gestehen müssen, einen Fehler begangen zu haben. Ganz so unlieb war ihr das nicht.

«Ellie.»

Blanchard kam in die Empfangshalle. Jovial und elegant zugleich schüttelte er ihr die Hand, gab ihr einen Klaps auf die Schulter und beugte sich herab, um einen Kuss auf ihre Wange anzudeuten. «Willkommen im Hause Monsalvat.» Am Ellbogen führte er sie zum Fahrstuhl. «Ich freue mich, dass Sie jetzt zu uns gehören. Hatten Sie eine angenehme Reise?»

«Angenehm», echote Ellie. Sie fühlte sich benommen und von Blanchards unwiderstehlichem Charme eingewickelt. Vielleicht war sie aber auch einfach nur müde.

Blanchard entschuldigte sich, dass ihr Apartment gestern noch nicht bezugsfertig war. «Ein Elektriker hat in letzter Minute eine neue Leitung legen müssen und viel zu lange dafür gebraucht. Irgendetwas in der Art. Unverzeihlich. Aber jetzt ist alles in Ordnung. Mein Fahrer wird Sie nach der Arbeit in Ihre neue Wohnung bringen. Wie war Ihr Sommer? Erholsam, hoffe ich.»

«Ich habe eine Menge gelernt.» Ihrem zukünftigen Arbeitgeber zuliebe hatte Ellie von Anfang Juni bis Ende August auf einem Landsitz in Dorset an einem exklusiven Workshop für Investmentbanker teilgenommen.

«Man hat uns Ihre Bewertung zugeschickt», erklärte Blanchard. «Darin heißt es, dass Sie in der Abschlussprüfung als Beste abgeschnitten haben.»

Ellie errötete. Zeit ihres Lebens musste sie härter arbeiten als andere, um zu erreichen, was sie wollte. Darin war sie gut. Abgesehen davon, hatte ihr der Kreis der anderen Teilnehmer nicht gepasst. Die meisten hatten sich an ihre Internatszeit erinnert gesehen, der sie gerade erst entwachsen waren, und während jene in der Bar saßen, tranken und flirteten, hatte Ellie in ihrem Zimmer vor ihren Büchern gehockt. Wie immer.

Blanchard musterte sie mit prüfendem Blick. «Vielleicht hätten Sie sich mit den anderen ein bisschen mehr amüsieren sollen. Waren die Ihnen zu fremd?»

Ellie starrte ihn an und fragte sich, ob er Gedanken lesen konnte.

«Sie sollten es versuchen. Unsere Arbeit besteht nicht nur darin, Examina zu bestehen und Regeln zu befolgen. Darin auch, aber anderes ist nicht weniger wichtig. Es ist ratsam, Kontakte zu knüpfen. Die anderen brauchen Ihnen nicht zu gefallen. Aber eines Tages könnte Ihnen jemand von denen bei Verhandlungen gegenübersitzen. Und dann wäre es gut, wenn Sie dessen Schwächen kennen.»

Während er sprach, schlich sich ein kalter Ton ein, die erbarmungslose Konzentration eines Jägers. Ellie erinnerte sich an Dougs Worte. Diese Leute sind Raubtiere. Sobald du Schwächen zeigst, zerreißen sie dich in Stücke. Sie hatte ihn veralbert mit den Worten, er sei melodramatisch.

«Da sind wir.»

Blanchard öffnete ihr die Tür zu einem kleinen, quadratisch geschnittenen Büro. Vertraut mit dem Mittelalter, wähnte sich Ellie in einer Klosterzelle. Der Boden bestand aus dunklen Holzdielen, die Wände waren kalkweiß gestrichen. In der Mitte des Raums stand ein ramponierter Schreibtisch, davor ein Ledersessel und an der Wand dahinter ein Aktenschrank. Nach einem Computer oder Telefon suchte Ellie vergeblich. Sie sah nur einen Stapel Akten auf dem Schreibtisch liegen.

«Ich habe meine Sekretärin gebeten, Ihnen die Akten einiger wichtiger Projekte vorzulegen, mit denen wir gerade befasst sind. Sie sollten sich damit vertraut machen, ehe sie mit den Kunden zusammentreffen.»

«Wann wird das sein?»

Blanchard zuckte mit den Achseln. «Vielleicht schon morgen. Vieles in unserem Job lässt sich nicht genau vorhersagen. Wie gesagt, manches, das für unsere Arbeit wichtig ist, lernt man nicht aus Büchern. Die nächsten sechs Monate werden Sie als meine persönliche Assistentin fungieren. Sie befassen sich mit Projekten, die in meinen Geschäftsbereich fallen, müssen sich also nicht mit einzelnen Kunden auseinandersetzen. Einige der Aufgaben, die ich Ihnen stelle, werden Ihnen vielleicht banal oder irrelevant vorkommen. Aber es wird auch solche geben, die von unschätzbarer Bedeutung sind. Wenn Sie sich gut einarbeiten, werden Sie bald im Besitz brisanter Informationen sein.»

Es schien, als wollte er sich weiter auslassen, doch in diesem Moment steckte eine Frau mittleren Alters den Kopf zur Tür herein. «Mrs. Lafarge ist am Telefon.»

Blanchard nickte. «Wenn Sie mich entschuldigen wollen, Ellie. Destrier wird Ihnen gleich Ihre Ausweise, Schlüssel und Arbeitsmaterialien bringen. Er ist unser Sicherheitsbeauftragter. Ein bisschen paranoid, aber dafür bezahlen wir ihn. Seien Sie nett zu ihm.»

In der Tür blieb er noch einmal stehen, drehte sich um und taxierte sie mit einem Blick, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. «Vergessen Sie nicht, Ellie, wir haben uns für Sie entschieden. Sie gehören zu uns.»

 

Als Blanchard gegangen war, setzte sich Ellie an den Schreibtisch und starrte auf die Akten. Der Konkurrenz voraus … mit modernsten Methoden und konzeptionell auf dem neuesten Stand der Dinge – so hatte Blanchard während ihres Einstellungsgesprächs die Maximen der Bank formuliert. Allerdings schienen die uralten Bibliotheken Oxfords moderner zu sein als das Büro hier.

Sie trat vor den Aktenschrank, doch der war verschlossen. An den Schreibtisch zurückgekehrt, zog sie eine Schublade auf und erwartete fast, einen Federkiel samt Tintenfässchen darin vorzufinden. Stattdessen fiel ihr Blick auf zwei rechteckige Gegenstände mit glänzenden Oberflächen, die nach poliertem Gagat oder Basalt aussahen. Der eine war so groß wie ein Kartenstoß, der andere wie ein Buch. In der verstaubten Schublade sahen sie aus wie Artefakte einer außerirdischen Zivilisation.

Beide waren ohne Beschriftung oder Kennzeichnung. Ellie griff nach dem kleineren, um ihn genauer zu betrachten. Von ihrer Hand gestreift, leuchtete die Oberfläche plötzlich auf und unter dem, was wie Glas aussah, zeigte sich ein roter Schriftzug.

Passwort eingeben.

«Sie sollten nicht alles gleich in die Hand nehmen, was Sie hier vorfinden.»

Ellie ließ das Ding fallen. Es prallte auf dem Schreibtisch auf und glühte. In der Tür stand ein groß gewachsener, stämmiger Mann. Er hätte gut ausgesehen, wenn sein Gesicht nicht durch Gewalt verunstaltet worden wäre. Sein grauer Anzug changierte. Unter dem offenen Hemdkragen war der Ausschnitt einer Tätowierung zu sehen. Im linken Ohrläppchen steckte ein goldener Knopf.

Er kam auf sie zu und griff nach dem Gegenstand, den Ellie fallen gelassen hatte.

«Destrier», stellte er sich vor. «Haben Sie noch nie ein Handy gesehen?»

«Meins hat Tasten.»

«Können Sie vergessen.» Er sprach mit weicher Stimme und einem Akzent, der schwer zuzuordnen war. «Das hier ist ab heute Ihr neuer bester Freund. Das Passwort wird Ihnen telefonisch mitgeteilt. Merken Sie es sich. Nicht aufschreiben. Wenn Sie es vergessen haben oder glauben, dass es kompromittiert sein könnte, wenden Sie sich an mich.»

Er ließ eine Tastatur auf der Oberfläche aufleuchten und gab eine Nummer ein. Es zeigten sich weitere Symbole.

«Grün zum Anrufen, rot, um aufzulegen. Später zeige ich Ihnen, was Sie sonst noch alles damit anstellen können. Sie haben eine Flatrate auf Kosten der Firma, können also so viel telefonieren, wie Sie wollen. Ist für uns billiger, als über Umwege in Erfahrung zu bringen, wer was zu wem gesagt hat. Das Gleiche gilt für den Computer.» Er holte den anderen Gegenstand aus der Schublade und tippte ebenfalls eine Nummer ein. Es machte klick, worauf sich ein dünner Deckel öffnete und eine Tastatur samt Bildschirm aufdeckte.

«Das ist ja ein Laptop», sagte sie. Destrier warf ihr einen mitleidigen Blick zu.

«Und das sind Ihre Karten.» Er griff in die Innentasche seines Jacketts, zog einen festen Briefumschlag daraus hervor und schüttete den Inhalt auf dem Schreibtisch aus. «Hier Ihre Kreditkarte. Ohne Limit, aber natürlich werden Ihre Ausgaben überprüft. Sie können keine Unsummen für sich selbst ausgeben. Und mit dieser Karte öffnen sich Ihnen hier im Haus alle Türen, bis auf diejenigen, die für Sie gesperrt sind. Das gilt insbesondere für den sechsten Stock. Dort haben Sie nichts zu suchen.»

Er nahm auf der Schreibtischkante Platz und beugte sich über sie. Ellie wich zurück.

«Sicherheit wird bei uns großgeschrieben. Wir behalten uns das Recht vor, Ihre Aktivitäten am Computer, E-Mails, Telefongespräche und Ihre Wege hier im Haus unter Kontrolle zu halten.»

«Klar», sagte Ellie und fragte sich, welche krummen Sachen man ihr zutraute.

«Sämtliche Netzanschlüsse werden von einer Software automatisch überwacht, die garantiert, dass niemand die Sicherheit des Hauses in Gefahr bringt. Auch nicht aus Versehen.» Er schob ihr ein Blatt Papier entgegen. «Unterschreiben Sie, um Ihr Einverständnis zu erklären.»

Ellie warf einen Blick darauf, lange genug, um anzudeuten, dass sie ernst nahm, was darauf geschrieben stand, und unterzeichnete.

Luxemburg

Gegen Viertel vor fünf hatte Lemmy in Erfahrung gebracht, was sein Kunde wissen wollte. Sein Hemd war durchgeschwitzt und feucht wie ein Spültuch. Die Haare standen ihm zu Berge, und er spürte, wie ihm auf dem Nasenrücken ein Pickel schwoll. Aber das, was er heute verdient hatte, entschädigte ihn für alles.

Er arbeitete noch eine halbe Stunde, um Engagement vorzutäuschen, packte dann seine Aktentasche und ging. Sein Wagen stand in der Tiefgarage am Place des Martyrs, ein silberner Audi, sein ganzer Stolz, bei dessen Anblick sich seine Stimmung sofort hob. Es war kein Spitzenmodell, keines, das Neid oder Argwohn auf Seiten seiner Kollegen erregt hätte, war aber mit allen Extras ausgestattet, die der Katalog zu bieten hatte. Lemmy sah in ihm eine Anzahlung auf seine Zukunft, ein Versprechen auf Erfolg.

Er startete den Motor und ließ sich von der Klimaanlage kühle Luft ins verschwitzte Gesicht wehen. Aus dem Flachmann, den er im Handschuhfach aufbewahrte, trank er einen guten Schluck fünfzehn Jahre alten Scotch – noch eine Schwäche von ihm. Dann lehnte er den Kopf zurück an die mit Leder bezogene Kopfstütze, schloss die Augen und tauchte für einen Moment in berauschende Musik aus zehn Lautsprechern ein. Er nahm sich fest vor, eine Pause von mehreren Monaten einzulegen. Der Stress war auf Dauer nicht auszuhalten, und dank des zu erwartenden Honorars konnte er sich eine solche Auszeit durchaus leisten.

Dass es plötzlich am Fenster klopfte, machte die beruhigende Wirkung des Whiskys fast zunichte. Vor Schreck riss er die Augen auf und sah zu seiner Verwirrung Christine Lafarge vor der Fahrertür stehen.

Schnell ließ er den Flachmann im Türfach verschwinden und suchte hektisch nach dem Schalter, um das Fenster abzusenken. Ein Hauch von Parfüm schlug ihm entgegen.

«Habe ich was vergessen?» Immer schön ruhig bleiben.

Sie lächelte und zeigte zwei perfekte Zahnreihen. «Ich wollte für mein barsches Verhalten heute Morgen um Entschuldigung bitten.» Sie beugte sich ins Fenster. «Ich war auf Ihren Besuch nicht vorbereitet, und wir stehen momentan schwer unter Druck.»

«Der Fluch unserer modernen Welt», entgegnete Lemmy.

«Ich weiß, Sie tun auch nur Ihren Job.» Ihre Hände ruhten im Fensterausschnitt. Sie trommelte nonchalant mit den Fingern auf dem Kunststoff und streifte seinen Ärmel. Lemmy witterte die Chance auf einen unerwarteten Bonus für seine Arbeit.

«Darf ich Sie zu einem Drink einladen?»

Sie gab ein glucksendes Lachen von sich. «Den könnte ich allerdings gebrauchen.»

Sie ging um den Wagen herum, nahm auf der Beifahrerseite Platz und strich mit beiden Händen über ihren Rock, um Lemmy auf ihre Schenkel aufmerksam zu machen. Dass er eine Fahne hatte, entging ihr nicht.

Sie schnallte sich an, bemerkte, dass Lemmy einen verstohlenen Blick auf ihren Ausschnitt warf, und lächelte.

Ein Pappenstiel, dachte sie.

London

Um fünf Uhr klingelte Ellies Handy. Es dauerte einen Moment, bis sie den Schalter gefunden hatte, mit dem sie das Gespräch annehmen konnte.

«Der Wagen von Mr. Blanchard steht für Sie bereit», meldete die Dame von der Rezeption.

Ellie klappte den Aktenordner zu, in dem sie geblättert hatte, und griff nach ihrer Handtasche. Als sie einen Blick in Blanchards Büro warf, telefonierte der gerade. Er lächelte ihr zum Abschied zu.

Blanchards Wagen war ein dunkelblauer Prunkschlitten, der kaum in die enge Gasse vor der Bank passte. Ein livrierter Chauffeur hielt ihr die Fondtür auf. Sie scheute sich, auf dem weißen Leder Platz zu nehmen, und zögerte wie ein Kind vor einem Geschäft voll teurer, zerbrechlicher Ware. Auf dem Lenkrad sah sie ein stilisiertes Flügelpaar mit einem B in der Mitte, das, wie sie glaubte, für Bentley stand.

«Neu in der Mannschaft, Ma’am?», fragte der Fahrer. Ellie wand sich. Noch nie hatte jemand sie Ma’am genannt. Sie nickte.

«Wird jeder neue Mitarbeiter am ersten Tag mit einem solchen Service verwöhnt?», fragte sie.

Sie sah das Lächeln des Fahrers im Rückspiegel. «Nur die wenigsten, Ma’am.»

«Ellie.»

Mit einstudierter Eleganz nahm er die Kurve am Ende der Gasse. Ellie schien es, als müsste der Kotflügel die Mauer einreißen. Sie schaute durchs Fenster auf den von Passanten bevölkerten Fußweg der King William Street. Die meisten würdigten den Bentley keines Blickes. Nur ein Junge, an die zehn Jahre alt, mit kurzer Hose und großer roter Kappe, blieb stehen und starrte unschuldig staunend der großen Limousine hinterher. Ellie winkte ihm zu und staunte ihrerseits, in der City ein Kind zu sehen. Der Junge winkte nicht zurück.

«Er kann sie nicht sehen», erklärte der Chauffeur. «Getöntes Glas.»

Ellie kam sich albern vor.

 

Der Wagen hielt vor einem Hochhaus an – einem von dreien, die aus einer Betonwüste im Osten der City herausragten. Ellie wurde geradezu an eine Befestigungsanlage erinnert. Ehe der Chauffeur Gelegenheit hatte, ihr die Tür zu öffnen, stieg sie aus – und fürchtete sogleich, einen Fauxpas begangen zu haben.

«Sieht aus, als wartete jemand auf Sie», sagte er.

Ellie sah ihn erst auf den zweiten Blick, denn sie hielt nach einer Person im Anzug Ausschau, jemanden von der Bank. Aber dann kam er auf sie zu. Er trug eine braune Cordjacke und ein Leinenhemd, das ihm auf einer Seite aus der Hose gerutscht war. Die dunklen, welligen Haare waren zerzaust, und auf den Wangen spross ein Dreitagebart.

«Doug?»

Die Frage klang harscher als beabsichtigt. Doug gehörte nach Oxford, zu ihrer Vergangenheit und ihren Zweifeln. Es passte ihr nicht, ihn hier zu sehen. Nicht heute.

Sein Lächeln entgleiste. «Ich habe dich in deinem Büro zu erreichen versucht. Dein Chef nannte mir deine neue Adresse. Ich … ich wollte mich entschuldigen.» Er warf einen Blick auf den Bentley und versuchte sich an einer nonchalanten Miene. «Netter Wagen. Gehört der mit zu deinem Arbeitsvertrag?»

«Noch nicht.» Ellie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange. «Entschuldigung angenommen.» Sie sah, dass der Chauffeur darauf wartete, ihr einen Schlüsselbund auszuhändigen.

«Achtunddreißigster Stock. Sie werden sich in Ihrer Wohnung schnell zurechtfinden.»

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis der Fahrstuhl sein Ziel erreichte. Ellie und Doug hielten Abstand voneinander. Der Streit vom Vorabend war noch nicht vergessen.

«Bist du wirklich gekommen, um dich zu entschuldigen?», fragte Ellie vorsichtig. «Oder willst du mich retten und nach Oxford zurückschleppen?»

Doug hob die Hände zu einer Unschuldsgeste. «Ich wollte mich nur davon überzeugen, dass es dir gutgeht.» Sie verließen den Fahrstuhl. Ellie suchte nach dem richtigen Schlüssel. «Und sehen, wie du untergebracht bist. Ich … ich glaub’s nicht.»

Als Ellie die Tür öffnete, war es, als sei der hässliche Betonturm hoch über London wie von Zauberhand in ein französisches Château verwandelt worden: in eine Symphonie aus dunklen Hölzern und kunstvollen Draperien, Ornamenten und lackierten Oberflächen. Wie in einem Museum hingen Ölgemälde in prunkvollen Rahmen an den Wänden – abgesehen von einer Wand, die in Gänze aus Glas bestand. Die Dämmerung hatte eingesetzt. Es wurde Nacht über der Stadt, und vor Ellies Augen breitete sich ein glitzernder Lichterteppich aus. Sie kannte sich in London kaum aus, glaubte aber, die Houses of Parliament und die Saint Paul’s Cathedral erkennen zu können.

«Sieh dir das an!» Doug musterte ein kleines Tischchen aus vergoldetem Ebenholz. «Louis-quatorze, wenn ich mich nicht irre. 17. Jahrhundert. Und der Stuhl dort könnte ebenfalls in Versailles gestanden haben.»

Ellie glaubte zu träumen, als sie durch das Apartment ging. Sie wagte es nicht, einzelne Gegenstände zu berühren. Im Schlafzimmer fand sie ein riesiges, fast hüfthohes Bett aus Walnussholz vor, das wohl auch als Boot hätte flottgemacht werden können. Wie ein Pavillon spannte sich am Kopfende ein Brokathimmel darüber. Die Fenster auf der Ostseite schauten hinaus auf die Türme der Canary Wharf und das Band der Themse, das sich hinzog bis zum dunklen Horizont.

Eine Hand berührte sie. Ellie erstarrte, doch es war nur die von Doug. Sie hatte ihn auf dem tiefen Teppich nicht kommen hören.

Er schmiegte seine Wange an ihren Hals, streifte ihr das Jackett von den Schultern und knöpfte ihre Bluse auf.

«Vielleicht hast du recht», flüsterte er und führte sie zum Bett. «Vielleicht war’s doch keine so schlechte Entscheidung.»

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IV

Île de Pêche, AD 1142

Der Graf kniet immer noch vor dem Altar, doch sein Kopf liegt mehrere Meter weit abseits. Blut rankt in dünnen Zweigen von ihm fort, als suche es nach dem fehlenden Körperteil. Die Wachen stehen wie versteinert an der Tür, schockiert von dem, was sie sehen. Die Kapelle hat sich in ein Schlachthaus verwandelt.

Ich denke an einen Jungen, der vor einem anderen Altar fernab in einer anderen Welt kniete.

Wie bin ich hierher geraten?

Wales, 1127

Ich knie vor dem Bischof. Mir kribbelt der Kopf an der Stelle, wo man mir am Morgen eine Tonsur ins Haar geschnitten hat. Das raue Chorhemd scheuert auf meiner Haut. Die Steinplatte unter meinen Knien ist kalt und hart.

Eine kleine Gemeinde hat sich eingefunden, um diesen Moment mitzuerleben, vorneweg mein Bruder Ralph und mein Vater, sein Verwalter und seine Vasallen sowie der Abt von Saint David, der darauf hofft, dass ich eines Tages mein Erbteil seinem Kloster vermache. Hinter ihnen stehen meine Mutter und meine Schwestern, noch weiter dahinter die Diener und Knechte, deren Frauen und Kinder. An die fünfzig oder sechzig Seelen, die alle davon abhängig sind, dass mein Vater ihre Streitigkeiten schlichtet, ihre Häuser schützt und Abgaben einsammelt. Nicht alle sind dankbar dafür. Ich spüre ihre bitteren Blicke wie Messer im Rücken. Ich bin ihr Feind.

Mir ist klar, warum, obwohl ich es nicht nachvollziehen kann. Sie sind Waliser und Briten, ich dagegen bin ein Normanne. Aber ich bin hier geboren, so wie mein Vater hier geboren ist. Ich habe noch nie meinen Fuß auf normannischen Boden gesetzt. Natürlich kenne ich die Geschichten: wie Herzog Wilhelm von Harold, dem Thronräuber, die Krone Englands forderte; wie mein Urgroßvater Enguerrand an Wilhelms Seite in Hastings kämpfte und siebzehn Engländer erschlug; wie mein Großvater Ralph dem Grafen von Clare nach Wales folgte und dafür mit den Ländereien belohnt wurde, die nun meinem Vater gehören. Ich liebe diese Ritter- und Schlachtengeschichten und liege ständig meinem Lehrer Bruder Oswald in den Ohren mit der Bitte, sie aufs Neue zu erzählen, obwohl er mir lieber von den Heiligen und Jesus berichten würde.

Noch ist mir nicht bewusst, dass jede dieser Geschichten eine Kehrseite hat, dass nämlich immer dann, wenn die Schwerter oder Lanzen meiner Vorfahren ihr Ziel trafen, jene Menschen starben, deren Nachfahren heute hinter mir in der Kirche stehen.

Der Bischof trägt einen Ring, einen schweren Goldreif mit blauem Stein, der sich mir in die Haut drückt, als er seine Hand auf meine Stirn legt. Es fehlt nicht viel, und ich breche in Tränen aus. Ich will nicht Priester sein. Ich will Ritter werden wie Ralph. Ich kann schon gut mit dem Holzschwert umgehen und auf dem Zelter meines Vaters über die Flussauen galoppieren. Aber Ritter zu sein ist teuer. Es müssen Pferde gekauft und gefüttert werden, Waffen und Rüstzeug verschlingen jede Menge Geld, und außerdem wollen Knappen und Stallknechte unterhalten sein. Mein Vater sagt, Ritterschaft lohne sich nur in Zeiten des Krieges, während man als Priester jahraus, jahrein versorgt sei.

Der Bischof beugt sich vor. Er riecht aus dem Mund nach Zwiebeln.

«Du übernimmst nun ein heiliges Amt. Bist du bereit, dein Gelübde abzulegen, allem Irdischen zu entsagen und dich ganz in den Dienst des Herrn zu stellen?»

Ich widerstehe der Versuchung, einen Blick auf Ralph zu werfen, und hoffe, dass er stolz auf mich ist.

«Niemandes Blut zu vergießen?»

Ich balle meine Hand zu einer Faust zusammen, um den Blutfleck zu verbergen. In der Morgendämmerung habe ich mit Ralph die von uns im Wald gelegten Fallen kontrolliert. In einer steckte eine Wildtaube, der ich mit bloßen Händen den Hals umgedreht habe.

«Dich dem Gebot der Keuschheit zu unterwerfen?»

Das tue ich gern, obwohl ich nicht weiß, was es bedeutet. Ich bin acht Jahre alt.

«Peter von Camros, du bist nun Diener der Kirche.»

In jener Nacht liege ich zwischen meinem Hund und meinem Bruder auf unserem Strohlager und wiederhole im Stillen meine Gelübde, denen ich große Bedeutung beimesse. Es ist das erste Mal, dass ich wie ein Erwachsener behandelt worden bin. Mir gefällt der Weg nicht, der mir vorgezeichnet wurde, doch ich verspreche Gott, seinem Willen zu gehorchen.

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V

London

Ellie eilte die Treppe hinauf. Die beiden Flügel der Eingangstür mit den ins mattierte Glas eingeätzten Wappen öffneten sich vor ihr, und ihr kam der launige Gedanke, dass man in früherer Zeit von magischen Toren gesprochen hätte. Sie hatte sich diesmal nicht verlaufen, wohl aber wieder verspätet, weil es ihr schrecklich schwer gefallen war, das große Bett zu verlassen, zumal Doug sie trickreich daran zu hindern versucht hatte.

Sie nickte der Empfangsdame zu und ging zum Fahrstuhl. Und stutzte.

Es gab keinen Rufknopf.

«Sie müssen Ihre Karte zur Hand nehmen.»

Ein Anzugärmel, unter dem eine Manschette mit Goldknopf hervorragte, langte an ihr vorbei und zog eine Plastikkarte durch einen verborgenen Schlitz an der Seite der Tür. Ellie drehte sich um.

«Sie sind die Neue, nicht wahr?»

«Ellie.»

«Delamere.»

Ihr war schon aufgefallen, dass sich in der Bank niemand mit Vornamen vorstellte – so also auch Delamere, obwohl er noch recht jung zu sein schien. Er hatte einen blässlichen Teint und dunkle Augen. Die Mundwinkel zeigten nach unten und verliehen ihm einen Ausdruck leichter Zerknirschung. Obwohl er kaum älter war als Ellie, zeigten sich an den Schläfen erste graue Haare.

«Arbeiten Sie auch in Mr. Blanchards Abteilung?», fragte sie.

Er lächelte verschwörerisch. «Hier arbeiten alle für Blanchard. Ich beschäftige mich mit Rechtsfragen. Sehr langweilig.»

Gemeinsam bestiegen sie den Lift. Delamere drückte auf den Knopf für die zweite Etage und dann unaufgefordert auf den für die fünfte. Ellie betrachtete das Schaltbrett und erinnerte sich an Destriers Worte, wonach sie im sechsten Stock nichts zu suchen hatte.

«Wer arbeitet in der sechsten Etage?», fragte sie und versuchte, beiläufig zu klingen.

Delamere schien in Verlegenheit zu geraten und zupfte an seiner Krawatte. «Monsalvat ist sehr komplex strukturiert. Da verliert man schnell den Überblick. Das ist oft frustrierend, aber Blanchard besteht darauf. Aus Sicherheitsgründen, wie er sagt.»

Mit einem hellen Glockenschlag hielt der Fahrstuhl an. Delamere zog wieder seine Karte durch einen Schlitz, um die Tür zu öffnen.

«Sicherheit scheint hier besonders großgeschrieben zu werden», sagte Ellie. «Wovor hat man Angst? Vor Bankräubern?»

«Blanchard sagt immer, einer Bank lasse sich mehr entwenden als Geld. Ein so altes Haus wie das unsere hat einiges zu verbergen. Jede Menge Geheimnisse.» Die Tür begann sich zu schließen. Er hielt sie mit der Hand auf und schaute Ellie an, seltsam traurig, obwohl er unwillkürlich schmunzelte.

«Ich muss schon sagen: Sie passen so gar nicht in das Schema der anderen jungen Frauen, die hier Anstellung finden.»

Ellie fühlte sich von seinen Worten schwer getroffen. Sie spürte, wie ihr die Augen feucht wurden, und hoffte, nicht in Tränen auszubrechen. Delamere schien zu bemerken, dass er sie verunsichert hatte.

«Keine Sorge, Sie werden’s schon packen», sagte er. «Ganz bestimmt. Aber – seien Sie vorsichtig.»

Er schien noch etwas sagen zu wollen, doch die Tür schnitt ihm das Wort ab. Diesmal hielt er sie nicht zurück.

In der fünften Etage angekommen, hatte sich Ellie wieder so weit gefangen, dass sie zuversichtlich war, in der Begegnung mit weiteren Kollegen Fassung zu bewahren. Idiotin, beschimpfte sie sich. Natürlich bist du anders.

Sie ließ sich noch einen Moment Zeit und schaute in der Halle zum Fenster hinaus auf einen von Mauern umgrenzten Hof, der an Schul- oder Gefängnishöfe erinnerte. Auf dem Dach des gegenüberliegenden Gebäudes putzte sich eine Taube.

Neugierig geworden, drückte Ellie die Stirn an die Glasscheibe, schaute nach unten und zählte die Stockwerke. Erdgeschoss, erster, zweiter, dritter, vierter, fünfter Stock. Als sie aber nach oben blickte, sah sie nur ein Flachdach.

Eine sechste Etage gab es nicht.

Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Ein so altes Haus wie das unsere hat einiges zu verbergen. Jede Menge Geheimnisse. Sie holte ein Papiertaschentuch aus der Handtasche und betupfte ihre Augen, um sicherzugehen, dass ihr die aufquellenden Tränen von vorhin nicht anzusehen waren. Sie wollte sich keine Blöße geben. Dann machte sie sich auf den Weg zu Blanchards Büro.

 

Blanchard war außer Haus. Er hatte auf ihrem Schreibtisch eine Nachricht hinterlassen, geschrieben auf einem cremefarbenen Memozettel mit dem Siegel der Bank. Seine Handschrift mit ihren schwungvoll nach rechts geneigten Buchstaben wirkte altertümlich. Das Papier hatte seinen Geruch angenommen. Es sonderte einen blumigen Duft mit leicht bitterer Note ab. Über Nacht war der Aktenstapel auf ihrem Schreibtisch deutlich angewachsen.