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Über die vielfach unterschätzte Notwendigkeit von Bibliotheken im 21. Jahrhundert. Die Benutzer strömen in Scharen in die Lesesäle und Gruppenarbeitsräume der wissenschaftlichen Bibliotheken. Dabei scheint ihre Aufgabe in Zeiten des Internets immer unklarer zu werden: Ist nicht das Wichtigste schon im Netz verfügbar? Welche Funktion hat die Bibliothek dann noch - ist sie ein Learning Center? Ein Logistikzentrum der Information? Ein sozialer Ort? Macht Teilen und Tauschen das Wesen der Bibliothek aus? Dieses Buch handelt davon, dass wissenschaftliche Bibliotheken eine Hauptaufgabe haben, und zwar seit den ältesten Tagen von Ninive und Alexandria: Die Verantwortung für die Verfügbarkeit des Wissens. Ihr Zweck ist, Auskunft zu ermöglichen über den jeweils erreichten Stand der Erkenntnis. Die Realisierung dieser Idee wird für die einzelne Bibliothek zur Quadratur des Kreises. Bibliotheken müssen viel enger zusammenwirken als früher. Die Idee der Bibliothek funktioniert nur noch im System der Bibliotheken. Doch in Deutschland sitzen die Bibliotheken mit ihren unerledigten Gemeinschaftsaufgaben in der Föderalismusfalle. Damit die Idee der Bibliothek zur Geltung kommen kann, braucht es eine beherzte Bibliothekspolitik. Der ehemalige Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek blickt auf Geschichte und Gegenwart der Bibliotheken und fragt nach ihrer Bedeutung für die Zukunft.
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Seitenzahl: 136
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Michael Knoche
Die Idee der Bibliothekund ihre Zukunft
Bestand halten
Alles im Netz?
Publikation oder Kommunikation
Die Tücken von elektronischen Publikationen
Open Access: Revolution des wissenschaftlichen Publizierens
Mehrwert durch Sammeln
Kontaminierte Sammlungen
Ein kleines Kapitel über das Suchen und Finden
Digitalisierung der schriftlichen Überlieferung
Originale als Goldstandard
Geteilte Verantwortung für Erhaltung und Restaurierung
Zukunft bewahren oder vergessen
Zusammenarbeit versus Wettbewerb
Personalausweis genügt – freier Zugang für alle
Bibliotheken als reale Orte
Ausblick: Der Delphin und der Anker
Dank
Anmerkungen
Die Bibliothek des Goethe-Instituts in Bratislava bietet neben deutschsprachiger Literatur auch andere Objekte zum Ausleihen an, etwa Nähmaschinen, Teleskope oder Großspielzeuge für einen Kindergeburtstag. Die Verantwortlichen werben für eine »Bibliothek der Dinge« und argumentieren, Bibliotheken stünden schon immer für die Praxis von Teilen und Tauschen.
Die Sächsische Landesbibliothek Dresden hat einen sogenannten »Maker Space« eingerichtet, einen offenen Raum für neue Ideen und Do-it-yourself-Projekte. Dort können Techniken wie 3-D-Druck und Laserschneiden ausprobiert und Modelle und Prototypen gebaut werden.
Im zentralen »Library and Learning Center« der Wirtschaftsuniversität Wien, das in einem spektakulären Gebäude von Zaha Hadid untergebracht ist, findet man Bücher im Untergeschoss quasi in Quarantäne. Ein glasverkleideter Magazinraum trägt zur Erläuterung die Aufschrift »Books«.
Andere Bibliotheken haben den Begriff »Bibliothek« gleich ganz aufgegeben und nennen sich zum Beispiel »Kommunikations-, Informations- und Medienzentrum« wie die zentrale Einrichtung der Universität Stuttgart-Hohenheim. Wer fünfundzwanzig Jahre lang keine Bibliothek mehr betreten hat, wird sie nicht mehr wiedererkennen.
Dass Institutionen in der Krise sind, hat Jürgen Kaube einmal gesagt, merkt man daran, dass sie den Eindruck vermittelten, sie wären gerne etwas anderes. Es gäbe Theater, sagt er, die eigentlich lieber Diskussionsstätten, Museen, die lieber Ereignisveranstalter, oder Universitäten, die lieber nur Forschungsstätten wären.[1] Auch Bibliotheken sind anscheinend von Selbstzweifeln geplagt. Bibliothekare* probieren alles Mögliche aus. Vor allem wollen sie unbedingt das Image von bloßen Bücherausleihern abstreifen.
Unterdessen stürmen Bibliotheksbesucher die Leseplätze. An fast keiner deutschen Hochschulbibliothek reicht die Kapazität aus, um allen wissensdurstigen Studenten einen Arbeitsplatz anzubieten. An der Universitätsbibliothek Mannheim wurde ein Ampelsystem eingeführt, mit dessen Hilfe die Studenten auf ihrem Smartphone erkennen können, in welchen Lesebereichen noch freie Plätze zu finden sind. Die Besuchszahlen der deutschen Hochschulbibliotheken sind in den letzten zehn Jahren um 50 Prozent gestiegen.[2]
Keine Krise also? Die Aufgaben der Bibliotheken sind im Wandel begriffen, und die Nutzer machen die Veränderungen gerne mit? Sie strömen in Scharen in die Lesesäle und Gruppenarbeitsräume. Aber vielleicht bescheren sie den Bibliotheken eine letzte Angstblüte, bevor sie bedeutungslos und wie manche Kirchen profanisiert werden? Ehemalige Bibliotheken als Kinos oder Restaurants, besonders dekorativ mit Regalen voller Bücher!
Vor lauter Veränderungen schwirrt allen Beteiligten, den Besuchern, den verantwortlichen Politikern und den Bibliothekaren selber der Kopf: Ist die Bibliothek im Grunde ein Learning Center? Macht Teilen und Tauschen das Wesen der Bibliothek aus? Das Ausprobieren neuer Technologien?
In Deutschland gibt es fast 10.000 öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken. Rund 220 Millionen Besuche zählen sie pro Jahr.[3] Bibliotheken sind noch vor den Museen die Kultureinrichtungen mit den höchsten Besucherzahlen, weit vor den Kinos und Fußballbundesligastadien. Die von den Städten, Gemeinden und Landkreisen unterhaltenen öffentlichen Bibliotheken mit ihren Aufgaben der schulischen, beruflichen und allgemeinen Bildung und Information[4] leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Einlösung des Grundrechts, »sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten« (Grundgesetz Artikel 5, Absatz 1). Öffentliche Bibliotheken sind mit etwa 9000 Einrichtungen der am meisten verbreitete Bibliothekstyp und haben mit den wissenschaftlichen Bibliotheken vieles gemeinsam. Aber sie wären ein eigenes Thema.
Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die wissenschaftlichen Bibliotheken in Deutschland. Das sind die Bibliotheken, die für Forschung, Studium und die wissenschaftlich interessierte Öffentlichkeit geschaffen wurden, also die Staats-, Hochschul- und Spezialbibliotheken.
Wissenschaftliche Bibliotheken haben eine Hauptaufgabe, und zwar seit den ältesten Tagen von Ninive und Alexandria: die Verantwortung für die Verfügbarkeit von Veröffentlichungen. Ihr Zweck ist, Auskunft zu ermöglichen über den jeweils erreichten Stand der Erkenntnis. Um die Funktion eines verlässlichen Speichers zu erfüllen, müssen Bibliotheken heute vernetzte Sammlungen mit analogen und digitalen Publikationen aufbauen. Nur wenn die Sammlungen ihr Eigentum sind, können sie versuchen, sie dauerhaft zur Verfügung zu stellen. Bibliotheken müssen Bestand halten.
Die Idee der Bibliothek ist nach wie vor stark und notwendig. Das ist die eine These dieses Buches. Die andere These lautet: Die Realisierung der Idee wird für die einzelne Bibliothek zur Quadratur des Kreises. Bibliotheken bleiben nur dann starke Akteure im Dienst von Wissenschaft und Öffentlichkeit, wenn sie in die Lage versetzt werden, viel arbeitsteiliger vorzugehen und viel mehr miteinander zu kooperieren, als dies in der Welt der gedruckten Literatur notwendig war. Bibliotheken funktionieren nur noch im System. Aber dafür braucht es eine politische Strategie, damit aus den vielen Bibliotheken ein System von Bibliotheken wird.
Schaut man sich in den Lesesälen der wissenschaftlichen Bibliotheken heute um, so sieht man einerseits junge Leute bei eingeschaltetem Notebook zusammensitzen und miteinander reden und andererseits stille Geistesarbeiter, die etwas in ihren Rechner schreiben. Aber anders als in den klassischen Lesesälen findet man nur noch selten einen selbstgenügsamen Leser, der in einem gedruckten Buch liest.
Der Einzug der Computer in die Bibliothek verleitet viele zu dem Fehlschluss, dass das alte Medium Buch durch das neue Medium Computer abgelöst worden sei. Endlich sei der »Gutenberg-Terror«, so deutet zum Beispiel der Bibliothekar Rick Anderson die Lage, gebrochen – dank des Internets. Der »Content« sei aus dem Korsett (gedrucktes Buch), das bisher den Zugang verhindert habe, befreit und nun in eine neue Umgebung umgezogen, die den »Access« (Zugang) ganz einfach mache.[5]
Manchmal sieht es aus, als litten gerade Bibliothekare unter einer rätselhaften Form des Bücherverdrusses. Das Buch erscheint ihnen in ihren Albträumen als das schlechthin Böse und Gutenberg als Terrorist! So wie sich Pyromanen zur Feuerwehr hingezogen fühlen, scheint es Menschen mit Bibliophobie in Bibliotheken zu treiben.[6] So erklärt auch der Direktor der Bibliothek der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich Rafael Ball in einem Interview: »Jetzt ist das Internet da. Wer Inhalte sucht, braucht keine Bibliothek mehr […] Ein Großteil der Literatur ist schon heute digitalisiert im Internet zu finden. Das Informationsmonopol der Bibliothek ist gekippt.«[7] Die eigene Hochschulleitung war über die Äußerungen ihres neuen Bibliotheksdirektors so erschrocken, dass sie ein paar Tage später in der Neuen Zürcher Zeitung eine Richtigstellung veröffentlichte: »Die ETH-Bibliothek wird auch langfristig das gesamte nachgefragte Medienspektrum pflegen und anbieten.«[8]
Den Medienwandel, der sich derzeit vollzieht, kann niemand übersehen. Die wissenschaftlichen Bibliotheken in Deutschland geben pro Jahr insgesamt 337 Mio. Euro für Neuerwerbungen aus, davon etwas mehr für digitale als für gedruckte Publikationen.[9] Der Trend zum Digitalen nimmt besonders an den Universitätsbibliotheken zu und beansprucht hier zwei Drittel der Finanzmittel. Aber von einem »Ersatz« des einen durch das andere Medium kann nicht gesprochen werden.
»Digital« und »analog« stehen in keinem Gegensatz, sondern einem Komplementärverhältnis. Geändert hat sich der Aggregatzustand von Publikationen. Auch ein Energieversorgungsunternehmen arbeitet heute mit anderen Ressourcen als früher: Nicht mehr mit Kohle oder Atomstrom, sondern mit einem Energiemix, in dem Solar-, Wind- und Wasserenergie eine immer größere Rolle spielen. So wenig wie sich die Kernaufgabe für das Energieversorgungsunternehmen geändert hat, so wenig gilt das für die Bibliothek. Die Bibliothek ist bei einem Medienwandel nie bedeutungslos geworden[10] – weder bei der Ablösung der antiken Tontafeln durch Papyrus, der Buchrollen durch Bücher in der heute gebräuchlichen Kodex-Form noch bei der Verdrängung der mittelalterlichen Handschriften durch den Buchdruck.
Was aber ist der bleibende Gegenstand der Bibliothek? Bibliothekare wie Anderson und Ball bezeichnen ihn mit den Begriffen des »Content« oder des »Inhalts«. Dabei scheint es sich um eine Substanz ohne Eigenschaften zu handeln. Sie kann offenbar alles sein, nur ist sie auf keinen Fall mehr mediengebunden. Content wird flüchtig sichtbar in bedeutungstragenden Zeichen auf dem Computerbildschirm, und wenn er sich noch in einem Buch versteckt, muss er befreit und maschinenlesbar gemacht werden. Es wird so getan, als könne man Content »rein« bekommen – unter Aufgabe aller materiellen Eigenschaften und ohne die zeitliche Dimension, so als ob es Content ohne Kontext gäbe. So scheinbar nüchtern die Digitalfundamentalisten argumentieren, so sehr mystifizieren sie den Gegenstand der Bibliothek. Statt ins Unendliche und Ungreifbare zu schweifen, bestimmt man ihn besser und nüchterner als »Publikation«.
Das andere immer wiederkehrende Zauberwort von Rick Anderson, Rafael Ball und anderen heißt »Access« oder »Zugang«. Aus der Tatsache, dass wesentliche Teile der wissenschaftlichen Information heute online vorliegen, folgern sie, dass Bibliotheken besser darauf verzichteten, das veraltete Medium Buch zu sammeln. Es sei verlorene Liebesmüh, wollte eine Bibliothek heute noch einen eigenen Vorrat an Ressourcen anlegen, also selber »sammeln«. Es verstopfe die Magazine und koste nur Geld. Stattdessen sollte sie kundenorientiert den bestmöglichen Zugang zu den weltweit verteilten digitalen Informationen herstellen. Wenn es unbedingt sein müsse, könnten die noch in Form von Büchern verlangten Publikationen per Fernleihe irgendwoher besorgt werden. »Weg von der Orientierung auf den Bestand, hin zur Orientierung auf den Service« oder – modischer in der mit englischen Begriffen gespickten Fachsprache – »connection versus collection«! So lauten die neuen Losungen der Bibliothekare. Die Mehrheit der bibliothekarischen Gemeinschaft teilt die Sichtweise, Bibliotheken als Logistikzentren der Information zu verstehen, die Zugang zum »Content« herstellen.
Stimmt es denn, dass ein Großteil der Literatur heute schon im Internet zu finden ist? Tatsächlich gibt es Wissenschaftler, die verkünden: Ich brauche keine Bibliothek, ich habe alles im Netz. Das hört sich an wie der Kalauer aus den achtziger Jahren: Wieso Atomstrom? Bei mir kommt der Strom aus der Steckdose. Wie aber kommen wissenschaftliche Publikationen ins Internet? Zum wesentlichen Teil durch Bibliotheken. Der Wissenschaftler mag darauf verzichten, sich selber in das Gebäude der Bibliothek zu begeben, tatsächlich aber nutzt er Dienstleistungen der Bibliothek, wenn er über seinen Computer auf hochwertige elektronische Ressourcen seines Fachgebiets zugreift. Bibliotheken haben sie nach definierten Prinzipien aus einer Riesenmenge an Material ausgewählt, gekauft und in Katalogen angezeigt, das heißt zugänglich gemacht. Außerdem reichern sie das »Netz« selber mit riesigen Mengen an Büchern und Zeitschriften an, indem sie die Bestände konvertieren, die urheberrechtsfrei sind. Bibliotheken fallen im Internet nicht besonders auf und bleiben weitgehend unsichtbar.
Dennoch weist das Internetangebot nach wie vor riesige weiße Flächen auf. In den Geistes- und Kulturwissenschaften erscheinen wissenschaftlich relevante Publikationen, darunter die klassische geisteswissenschaftliche Monographie[11] oder relevante Primärtexte (z. B. in Literatur, Philosophie oder Musik) immer noch ausschließlich auf Papier. Die deutschen Verlage haben 2016 insgesamt fast 73.000 gedruckte Bücher in Erstauflage herausgebracht.[12] Von den Zeitschriften, die die Bayerische Staatsbibliothek abonniert, liegt nur ein gutes Drittel auch in elektronischem Format vor.[13] Weiterhin fehlt im Netz der größte Teil der urheberrechtlich geschützten Publikationen des 20. Jahrhunderts. Daher ist die Behauptung, »ein Großteil« der Literatur sei bereits digital vorhanden, nur vertretbar, wenn man sie strikt auf die aktuelle Literatur der Naturwissenschaften, Technik und Medizin eingrenzt. Für die Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften ist sie falsch und fahrlässig.
Richtig hingegen ist die Einschätzung von Rafael Ball, das Informationsmonopol der Bibliotheken sei gekippt. Wer etwa wissen will, welche Bilder Leonardo da Vinci gemalt hat, sucht keine Bibliothek mehr auf, sondern bedient sich einer Suchmaschine. Die Antwort lässt sich in Windeseile ermitteln, sobald man mit dem Eintippen der Frage fertig ist.
Aber das Internet ist nicht für alles brauchbar. Will man einer Frage tiefer nachgehen, wer zum Beispiel die historische Person hinter der »Mona Lisa« war, liefert das Internet eine Vielzahl von Antworten, darunter wertvolles Wissen und unbewiesene Behauptungen. In manchen Ländern zeigen die Suchmaschinen die Debatte um die mögliche homosexuelle Orientierung des Malers und seines Modells nur lückenhaft an. Den neuesten Stand der Forschung wird man verlässlich nur unter Einbeziehung von kunsthistorischen Büchern ermitteln können, wie sie in einer spezialisierten Bibliothek verfügbar sind. Denn die kunsthistorische Forschung ist nur zum Teil über das Internet zugänglich und zum größeren Teil ausschließlich gedruckt publiziert.
Sollte sich dieser Befund in einigen Jahren umkehren und mehr kunsthistorische Erkenntnisse in digitaler als analoger Form verfügbar sein, wird man trotzdem gut daran tun, den Forschungsstand in einer Bibliothek zu recherchieren. Denn so wie gedruckte kunsthistorische Bücher Geld kosten, kosten auch kunsthistorische E-Books, Zeitschriften und Datenbanken Geld. Diesen finanziellen Aufwand bringen Bibliotheken auf und verwandeln so das private Gut der Urheber in ein öffentliches Gut, das allgemein zugänglich ist. Sie halten auch Publikationen vor, die selten genutzt werden oder in der Beschaffung und Aufbereitung besonders teuer waren. Eine einzelne Person wäre organisatorisch und finanziell wohl überfordert, wollte sie sich auch nur die relevante Literatur zur Mona Lisa zusammenkaufen.
Das Informationsmonopol der Bibliotheken ist tatsächlich gekippt. Private Suchmaschinenbetreiber sind die besseren Informationsvermittler. Trotzdem ist niemandem zu raten, sich bei komplexen Fragen mit Antworten zu begnügen, die von den personalisierten und auf Gewinn ausgerichteten Ranking-Mechanismen von Google vorgeschlagen werden.[14] Außerdem darf nicht vergessen werden, dass Suchmaschinen gar nicht alle Dokumente in der Tiefe des Netzes erreichen. Die nicht erfassten Bereiche des Internets sind weitaus umfangreicher als die indizierbaren Informationen.[15] In dieser Situation bleiben Bibliotheken unverzichtbar in ihrer Funktion als neutrale, verlässliche und kostenfrei zugängliche Orte, an denen man sich über den Stand des Wissens anhand von ausgewählten Publikationen umfassend unterrichten kann.
Kurz und gut: Vieles, aber bei Weitem nicht »alles« ist im Netz. Wenn wissenschaftlich relevante Publikationen im Internet zu finden sind, haben oft Bibliotheken durch Kauf, Lizenzierung oder Eigendigitalisierung dafür gesorgt, dass es sie gibt. Auf Suchmaschinen allein kann man sich nicht verlassen, und ihre kommerzielle Ausrichtung verdient den größten Argwohn. Keine Frage: Das entscheidende Wachstum auch von qualitativ hochwertigen wissenschaftlichen Informationen vollzieht sich im Netz. Darauf müssen Bibliotheken ihre höchste Aufmerksamkeit richten, wenn sie ihre Kernaufgabe, Publikationen verfügbar zu machen, auch in Zukunft erfüllen wollen.
Es zeigt sich nun eine große Schwierigkeit. Es ist unklar geworden, was eigentlich eine Publikation und was eher eine kommunikative Äußerung ist. Um was müssen sich Bibliotheken eigentlich kümmern, wenn sie ihrem Sammelauftrag gerecht werden wollen?
Bücher haben im Gegensatz zu unikalen Objekten, die von Archiven gesammelt werden, die Eigenschaft, in mehreren Exemplaren vervielfältigt und verbreitet zu sein. Digitale Objekte sind nicht nur mehrfach, sondern im Prinzip ubiquitär verfügbar. Sie sind nicht mehr an einen materiellen Träger gebunden, den man vorrätig halten muss und nur an einem bestimmten Ort zugänglich machen kann, sondern sie sind ohne Verlust und mit geringen Kosten beliebig kopierbar. Sie sind leicht zu verändern, permanent zu aktualisieren, ja geradezu fluid. Manchmal handelt es sich um laufend aktualisierte Textkonglomerate, die gar keine lineare Struktur mehr haben. Hinzu kommt: Wissenschaftliche Texte im Netz stammen häufig von zahlreichen Urhebern oder sind sogar nach dem Wiki-Prinzip hergestellt.
Das macht die traditionelle Sammelaufgabe der Bibliotheken, die sich auf elektronische Publikationen erweitert hat, zu einem Kunststück, wie den berühmten Pudding an die Wand zu nageln. Der Medienmix, dem Bibliotheken gerecht werden müssen, wird immer vielfältiger.
Der Buchwissenschaftler Stephan Füssel zählt einige Formen der neuesten Publikationen auf:[16] Neben den gedruckten Verlagsveröffentlichungen und den mittlerweile etablierten E-Books und elektronischen Zeitschriften gibt es zum Beispiel die Plattformen der Selbstverleger. Sie gehören noch nicht zum selbstverständlichen Sammelgut der Bibliotheken. Erst recht herausfordernd wird es, wenn Bibliotheken die Medien jenseits des klassischen Publikationsbegriffs sammeln wollen, die sogenannten Enhanced E-Books beispielsweise, in die auch Bildergalerien, Video- und Audio-Files integriert sind. Mit ihrer Hilfe können z. B. neue Operationstechniken in der Medizin anschaulich gemacht werden. Es gibt auch interaktive E-Books, die mit sozialen Netzwerken verknüpft werden können und die Leser zu Kommentaren animieren. Hier ist die Grenze zu den »Apps« (application software) für die mobilen elektronischen Geräte fließend. Mit Hilfe von Apps können Nachschlagewerke besonders gut aufbereitet werden, aber auch Primärtexte, z. B. im Bereich der Kinder- und Jugendbücher. »Der faule Osterhase«, ein Pixi-Buch des Carlsen-Verlags, ist mit Geräuschen und Mitspieleffekten angereichert.
Die Deutsche Nationalbibliothek sammelt bestimmte deutsche Webseiten, insbesondere solche von Bundesbehörden, Interessenverbänden oder Kultureinrichtungen. Das geschieht zurzeit halbjährlich. Außerdem führt die Bibliothek durch einen Dienstleister gelegentlich Abfragen (webcrawling) zu Ereignissen wie etwa zur deutschen Bundestagswahl 2017 durch. Insgesamt sind mehr als vier Millionen Netzpublikationen archiviert. Ähnlich agieren die Bayerische Staatsbibliothek und die übrigen Landesbibliotheken im Hinblick auf Webseiten ihrer Region.
Anders als die institutionellen haben thematische Webseiten fast immer den Charakter einer Publikation. Doch eine echte Archivierung wird man das Einsammeln bestimmter Elemente des Überlieferungsstroms nicht nennen können. Die dynamische Verlinkung der einzelnen Seiten ist nicht darstellbar, Vollständigkeit kann auch nicht annähernd erreicht werden. Was hier sinnvoll zu leisten ist, muss im Dialog mit der Fachwelt und der Öffentlichkeit austariert werden.[17]
Wissenschaftliche Diskussionen werden heute auch öffentlich in Blogs und auf thematisch geprägten Internetforen geführt.[18]