Die Impfpionierin - Paula Bellheim - E-Book

Die Impfpionierin E-Book

Paula Bellheim

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Beschreibung

Sie kämpfte für eine Welt ohne Leid und überwand dafür Grenzen: Lady Mary Wortley Montagu


England, Anfang des 18. Jahrhunderts. In Europa wüten die Pocken, Hunderttausende sterben. Auch die junge Lady Mary infiziert sich. Sie, die in Adelskreisen für ihren brillanten Geist und ihre Schönheit gerühmt wurde, überlebt, ist aber für immer gezeichnet. Zunächst zieht sie sich zurück, doch als ihr Mann als Botschafter ins Osmanische Reich entsandt wird, entscheidet sie sich, ihn zu begleiten. Erst hier, fern der Heimat, traut sie sich wieder unter Menschen - und erfährt im Kreis türkischer Frauen, wie man sich vor der tödlichen Krankheit schützen kann. Mary ist fasziniert. Wenn sie dieses Wissen mit nach England nimmt und dort verbreitet, kann sie Tausenden Menschen das Leben retten. Aber wie soll sie sich Gehör verschaffen?


Ein packender Roman über eine schillernde Persönlichkeit, die Geschichte schrieb, deren Verdienst aber in Vergessenheit geriet


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Seitenzahl: 520

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumBUCH I: Das HeiratskarussellLondon 1762EdwardDie verdammten AnwälteSkeffingtonEntführungBUCH II: Reise in den OrientLondon 1762EhelebenInfiziertBotschafter des KönigsIm Land der OsmanenEine Kur gegen Pocken?BUCH III: Kampf gegen die PockenLondon 1762Schwester MarMarys KampfNewgate PrisonPopeLondon 1762Nachbemerkung der Autorin

Über dieses Buch

Sie kämpfte für eine Welt ohne Leid und überwand dafür Grenzen: Lady Mary Wortley Montagu England, Anfang des 18. Jahrhunderts. In Europa wüten die Pocken, Hunderttausende sterben. Auch die junge Lady Mary infiziert sich. Sie, die in Adelskreisen für ihren brillanten Geist und ihre Schönheit gerühmt wurde, überlebt, ist aber für immer gezeichnet. Zunächst zieht sie sich zurück, doch als ihr Mann als Botschafter ins Osmanische Reich entsandt wird, entscheidet sie sich, ihn zu begleiten. Erst hier, fern der Heimat, traut sie sich wieder unter Menschen – und erfährt im Kreis türkischer Frauen, wie man sich vor der tödlichen Krankheit schützen kann. Mary ist fasziniert. Wenn sie dieses Wissen mit nach England nimmt und dort verbreitet, kann sie Tausenden Menschen das Leben retten. Aber wie soll sie sich Gehör verschaffen? Ein packender Roman über eine schillernde Persönlichkeit, die Geschichte schrieb, deren Verdienst aber in Vergessenheit geriet.

Über die Autorin

Paula Bellheim ist gebürtige Berlinerin, hat aufgrund der Tätigkeit ihres Vaters jedoch einen Großteil ihrer Jugend im Ausland verbracht. Mit ein Grund, warum sie mehrere Sprachen fließend beherrscht. Beruflich ist sie lange Jahre bei internationalen Firmen im Bereich Kommunikation und Marketing tätig gewesen. Der Roman über Lady Montagu ist ihr Erstling. Paula Bellheim ist Mutter zweier erwachsener Töchter. Ihr Ehemann war erfolgreicher Unternehmer. Das Paar lebt sehr zurückgezogen in Süddeutschland.

LÜBBE

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch dieLiterarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Dr. Stefanie Heinen

Einband-/Umschlagmotive: © Trevillion Images: Lee Avison | Drunaa

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2865-2

luebbe.de

lesejury.de

BUCH I

Das Heiratskarussell

London 1762

Es war ein grauer Wintertag, windig und feucht. Vor dem Haus in der George Street hielt ein Wagen. Eines der Pferde ließ ein paar Pferdeäpfel fallen, während der Kutscher die Bremse anzog und vom Bock sprang. Er trat vor das offene Fenster des Wagens und zog den Hut. »Wir sind da, Ladys. Dies müsste es sein.«

Aus dem Inneren der Kutsche blickte ein junges Mädchen neugierig auf das Haus, vor dem sie gehalten hatten. Ein hübscher dreistöckiger Klinkerbau, etwas von der Straße zurückgesetzt, schlicht und doch elegant im georgianischen Stil, weiße Fenstersprossen, die Läden dunkelgrün gestrichen wie auch die über zwei Marmorstufen zu erreichende Haustür. Davor lag ein kleiner, von einer kniehohen Mauer eingegrenzter Vorgarten, leider kahl und trist in diesen Februartagen.

Hier also wohnt sie jetzt, dachte Luisa und verspürte einen ehrfürchtigen Schauder. Gleich würde sie zum ersten Mal in ihrem jungen Leben der berühmten Großmutter begegnen.

»Träum nicht, Luisa. Steig aus«, befahl Mrs. Roper, ihre Gouvernante, die neben ihr auf der vom Haus abgewandten Seite des Wagens saß.

Luisa öffnete den Verschlag und tat wie geheißen. Der Kutscher hatte die Koffer seiner Fahrgäste bereits ausgeladen und auf dem gepflasterten Gehsteig abgestellt.

»Sonst noch was, Ladys?«, fragte er und rieb sich die kalten Hände. In seinem Grinsen fehlte ein Zahn. »Das wären dann Sixpence, Ladys.«

»Wie bitte?«, knurrte Mrs. Roper, die ebenfalls ausgestiegen war, und warf ihm einen ungehaltenen Blick zu. »Thruppence wären schon zu viel.«

Das Grinsen auf dem Gesicht des Kutschers verschwand. »Ist ein weiter Weg von der Poststation. Ich muss meine Kinder ernähren. Und meine Pferde. Sollen die etwa verhungern?«

»Seine Gäule sehen gut genährt aus. Vier Pence, mehr kriegt er nicht!«

Der Mann zuckte mit den Schultern und hielt die schwielige Hand auf. »Na schön. Ausnahmsweise. Der jungen Lady zuliebe.« Er zwinkerte Luisa zu.

»Werd er nicht unverschämt!«, fauchte Mrs. Roper. »Und das Gepäck soll er gefälligst ins Haus bringen! Vorher gibt’s kein Geld.«

Der Kutscher seufzte und nickte ergeben. »Wie Ihr wünscht, Ma’am.« Er klemmte sich eine Reisetasche unter den Arm und packte mit jeder Hand einen der schweren Koffer. Für die beiden letzten würde er noch ein zweites Mal gehen müssen.

Mrs. Roper stieß das Vorgartentor auf und marschierte mit strammem Schritt auf die Haustür zu, wo sie den schweren bronzenen Türklopfer betätigte. Dann drehte sie sich zu Luisa um, die verlegen am Tor stehen geblieben war. »Nun komm schon, Luisa, und gaff nicht. Du stehst dem Mann im Weg.«

Schüchtern trat Luisa näher. »Vielleicht kommen wir ungelegen«, sagte sie.

Mrs. Roper schüttelte den Kopf. »Ach was! Außerdem, sie wird dir schon nicht den Kopf abbeißen.«

Das sagt sich so, dachte Luisa. Dabei war Lady Mary bekannt für ihre beißenden Pamphlete, für ihre Korrespondenz mit bedeutenden Menschen, für ihre literarischen Fehden mit Politikern und Dichtern. All das hatte sie in Luisas Augen zu einer übermenschlichen Figur werden lassen, und gerade deshalb wollte sie ihre Großmutter endlich kennenlernen. Aber da war natürlich auch der langjährige Familienzwist. Luisa hatte unter Tränen darum kämpfen müssen, dass man ihr gestattete hierherzukommen. Sie fasste sich ein Herz und trat an Mrs. Ropers Seite. Der Kutscher folgte mit dem schweren Gepäck, stellte es ab und kehrte zur Straße zurück, um den Rest zu holen.

Endlich wurde die Tür geöffnet.

Vor ihnen stand eine schlanke, ganz in Schwarz gekleidete Frau in mittleren Jahren, das dunkle Haar zu einem strengen Nackenknoten gebunden. »Guten Tag. Was wünschen die Herrschaften?«, fragte sie mit deutlich französischem Akzent.

»Lady Luisa Stuart«, sagte Mrs. Roper und deutete mit dem Kopf auf Luisa, »möchte Lady Mary, ihrer Großmutter, ihre Aufwartung machen. Mein Name ist Roper. Ich bin Luisas Gouvernante und begleite sie.«

Die Frau an der Tür, vermutlich eine Magd oder Zofe der Hausherrin, blickte Luisa erstaunt an, lächelte dann freundlich und trat zur Seite. »Oh natürlich. Bitte tretet ein. Ich werde Madame Bescheid sagen, sie wird sich freuen.« Damit wandte sie sich eilig ab und verschwand im Haus.

Mrs. Roper wies den Kutscher an, das Gepäck in einer Ecke der Diele abzustellen. Dann entließ sie ihn mit vier in die Hand gedrückten Pennymünzen. Der Mann zählte mit einem Blick nach, nickte und machte sich davon.

Nun betrat auch Luisa das Haus und schloss die Tür hinter sich. Die Einrichtung der Diele war schlicht: ein Möbelstück mit Spiegel, daneben Mantel- und Hutablage, ein abgetretener Teppich, gelb getünchte Wände. Eine Landschaft mit Themse und London im Hintergrund. Etwas unpersönlich das Ganze, fand sie, aber das Haus war ja auch nur gemietet, wie Großmutter geschrieben hatte.

Es dauerte nicht lange, bis die Hausangestellte zurückkehrte und die Gäste in den Salon bat. »Madame kommt gleich«, sagte sie. »Bitte setzt Euch. Eine Erfrischung vielleicht?«

»Nein, danke«, sagte Mrs. Roper mit einer Miene, als wäre es unter ihrer Würde, in diesem Haus etwas zu sich zu nehmen.

Mutters Einfluss, ging es Luisa durch den Sinn. Während der ganzen Reise hatte Mrs. Roper keinen Zweifel daran gelassen, wie starrsinnig sie es fand, dass Luisa darauf beharrte, ihre entfremdete Großmutter zu besuchen, und wie unangenehm es ihr war, sie zu begleiten. Aber Mutter hatte es angeordnet, also hatte sie sich fügen müssen.

»Vielleicht eine Tasse Tee«, sagte Luisa mit einem dankbaren Lächeln. »Falls im Haus vorhanden, natürlich. Die lange Fahrt hat mich durstig gemacht.«

Tee hatte seit den Zwanzigerjahren das Land erobert. Manche hielten sich an grünen Tee, aber am beliebtesten war schwarzer Tee mit etwas Sahne.

Die Magd nickte. »Gerne, Lady Luisa.«

Sie wandte sich schon zum Gehen, als Luisa sie nach ihrem Namen fragte. »Oh, ich heiße Marie Anne und bin Madames Lady’s Maid, wie man hier sagt. Schon seit vielen Jahren.«

»Sie ist aus Frankreich, nicht wahr?«

»Ganz recht. Aus Avignon.«

»Ah«, sagte Luisa lachend. »Comme ça je peux pratiquer mon français.« So kann ich mein Französisch üben.

»Avec plaisir, Madame!«, erwiderte Marie Anne mit einem herzlichen Lächeln. Dann wandte sie sich erneut an Mrs. Roper und fragte, ob sie nicht doch etwas Tee zu sich nehmen wolle, was diese jetzt gnädig gewährte. Marie Anne entschuldigte sich und verließ den Salon.

Die Damen sanken auf zwei mit dunklem Samt bezogene Chaiselongues, und Luisa sah sich neugierig um. Der Salon war opulenter ausgestattet als die Diele. Die Wände waren mit dunkelgrünem Stoff verkleidet, auf dem einige Landschaften in vergoldeten Rahmen hingen, dazu gab es eher zierliche Möbel und Kommoden, ein paar holländische Vasen und zwei orientalische Teppiche. Über allem schwebte ein Kronleuchter von der Decke, und auf den Kommoden standen silberne Kerzenhalter. Allerdings war der Salon unaufgeräumt. Überall lagen Bücher, Zeitungen und Briefe herum. Offensichtlich hatte die Hausherrin dem Gesinde aufgetragen, nichts davon anzurühren. Davon abgesehen war es alles in allem eine gediegene Einrichtung, wenn auch nicht besonders kostbar.

Bald darauf wurde der Tee serviert, diesmal von einer jungen Magd. Mrs. Roper rührte Zucker und etwas Sahne in ihren Tee und kostete ihn. Dann sah sie sich ebenfalls um. »Ich hatte sie für reicher gehalten«, bemerkte sie abfällig. »Wenn man das hier so sieht …«

»Das Haus ist nur gemietet«, entgegnete Luisa schroff. Mrs. Roper war jemand, der Reichtum mit gesellschaftlicher Überlegenheit verband, und ihre Bemerkung bestätigte diese Einstellung einmal wieder. »Lady Mary hat lange in Italien und Frankreich gelebt. Erst vor Kurzem ist sie heimgekehrt. Auf die Schnelle hat sich wohl nichts Besseres gefunden.« Kaum hatte sie das gesagt, ärgerte sie sich auch schon darüber, dass sie es überhaupt für nötig befunden hatte.

»Wahrscheinlich hat sie ihr Vermögen bei den Franzosen verjubelt, anstatt ihrer Tochter etwas zu vererben.«

»Das geht Euch wohl kaum etwas an, Mrs. Roper.«

»Nein, vermutlich nicht. Ich sag es ja nur.« Die Gouvernante nahm noch einen Schluck von ihrem Tee. »Bei den Franzosen hat sie dann sicher auch diese Marie Anne gefunden. Als ob es keine kompetente Dienerschaft in England gäbe.«

»Mrs. Roper! Ich muss Euch bitten, solche Bemerkungen für Euch zu behalten. Besonders in diesem Haus.«

Mrs. Roper warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Sag mal, wie redest du mit mir?«

»Ich rede, wie es mir passt, damit Ihr’s wisst. Wir sind hier nicht bei Maman.«

»Jetzt wirst du auch noch aufmüpfig!« Mrs. Roper warf den Kopf in den Nacken und schoss Luisa einen missbilligenden Blick zu. »Ich wusste, es war ein Fehler herzukommen.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür zum Salon, und eine alte Dame betrat den Raum. Das musste Großmutter sein, Lady Mary Wortley Montagu. Bei ihrem Anblick sprang Mrs. Roper von der Chaiselongue auf und hätte beinahe ihre Teetasse fallen lassen, wie Luisa belustigt bemerkte. So viel zu ihrem großen Mundwerk!

Auch Luisa hatte sich erhoben und blickte mit einigem Herzklopfen ihrer Großmutter entgegen, die, auf einen Gehstock gestützt, langsam auf sie zukam. Sie war nicht besonders groß – Luisa hatte sie sich größer vorgestellt –, trug ein schlichtes langes Kleid aus dunkelblauer Seide mit glockenförmigem Rock und halblangen Ärmeln, keine Perücke, die ergrauten Haare stattdessen hochgesteckt. Allerdings war sie geschminkt. Wahrscheinlich, um die kleinen Narben in ihrem Gesicht abzudecken.

»Du bist Luisa, hat mir Marie Anne gerade berichtet«, sagte Lady Mary nüchtern und blickte sie ohne besondere Wärme an. Stattdessen hielt sie sich ein Lorgnon vor die Augen, beugte sich ein wenig vor und musterte ihre Enkelin eingehend.

Luisa errötete. Sie fühlte sich wie ein Insekt unter der Lupe.

Schließlich trat ihre Großmutter einen Schritt zurück und ließ das an einer Goldkette befestigte Lorgnon auf ihren Busen fallen. »Verzeih, dass ich dich so anstarre, mein Kind, aber meine Augen haben nachgelassen.«

»Das tut mir leid, Großmutter«, hauchte Luisa eingeschüchtert und ein wenig enttäuscht, denn nicht einmal eine Umarmung war ihr zuteilgeworden.

»Das muss dir nicht leidtun«, sagte Lady Mary.

»Vielleicht kommen wir ungelegen«, sagte Luisa verlegen.

»Ungelegen würde ich nicht sagen. Eher überraschend.«

»Mutter wollte mich erst nicht reisen lassen …«

»Ah, deine Mutter!«, sagte Lady Mary. »Wir haben uns lange nicht gesehen, deine Mutter und ich. Du siehst ihr übrigens gar nicht ähnlich, wenn ich das bemerken darf. Eher deinem Vater. Auch der hatte diese blasse Haut, wenn ich mich recht erinnere. Und Sommersprossen. Ja, Sommersprossen. So wie du. Wie viele seid ihr denn jetzt bei euch zu Hause?«

Luisas Hand fuhr an ihr rotblondes Haar. Es hatte dieselbe Farbe wie das ihres Vaters, obwohl das seine schon von Grau durchzogen war. »Wir sind elf Geschwister. Davon fünf Jungen. Ich bin die sechste in der Reihenfolge.«

»Elf, mein Gott!«, stieß Lady Mary aus. »Und meine Tochter lebt noch? Wie hat sie elf Geburten überstanden? Mir waren zwei schon zu viel!«

»Oh, Maman geht es gut. Sie sendet Euch Grüße.«

»Und wie alt bist du?«

»Siebzehn.«

»Siebzehn«, wiederholte Lady Mary erstaunt. »Das heißt, bei deiner Geburt war ich längst nicht mehr im Land. Wie die Zeit vergeht!«

Mrs. Roper, die Lady Mary die ganze Zeit angestarrt hatte, fand plötzlich ihre Stimme wieder. »Verzeiht, wenn ich unterbreche, Mylady, aber bevor ich’s vergesse, die Countess of Bute hat mir einen Brief für Euch mitgegeben.« Sie kramte in ihrer Handtasche, zog einen versiegelten Umschlag hervor und überreichte ihn mit einem tiefen höfischen Knicks.

Die alte Dame nahm den versiegelten Brief entgegen. »Und wer seid Ihr?«, fragte sie etwas von oben herab.

Mrs. Roper deutete erneut einen Knicks an. »Ich bin die Gouvernante der älteren Töchter des Hauses Bute. Roper ist mein Name. Die Countess hat mich gebeten, Luisa zu begleiten.«

»Soso«, murmelte Lady Mary und hielt Luisa die Hand hin. »Hilf mir mal, mich zu setzen, Luisa. Mein Knie macht mir zu schaffen.«

Luisa half ihrer Großmutter, sich niederzulassen, und setzte sich dann ebenfalls. Mrs. Roper blieb unschlüssig stehen. Mit einem Seufzer ließ sich Lady Mary zurück in die weichen Kissen sinken. »Nun setzt Euch schon, Roper«, sagte sie ungeduldig.

»Wann seid Ihr angekommen, Großmutter?«, fragte Luisa.

»Vor drei oder vier Wochen. So genau weiß ich es nicht mehr.«

»Hattet Ihr eine gute Überfahrt?«

»Du scherzt wohl! Mitten im Winter? Nein, es war hundekalt und stürmisch. Marie Anne war hinterher noch drei Tage krank.«

»Und dann habt Ihr dieses Haus gefunden.«

»Schreckliche Einrichtung!« Lady Mary warf einen verächtlichen Blick in die Runde. »Meine eigenen Möbel sind noch nicht angekommen. Mir gehören nur die beiden Teppiche und die Kerzenhalter. Die habe ich in mein Gepäck bekommen. Der Rest …«

Luisa betrachtete die bunten, fein geknüpften Teppiche.

»Das sind persische Teppiche«, fügte Lady Mary hinzu. »Gekauft habe ich sie in Konstantinopel. Ist aber auch schon lange her.«

»Die sind wirklich schön«, sagte Luisa bewundernd.

Lady Mary musterte ihre Enkelin mit einem kritischen Blick. »Warum bist du gekommen, mein Kind? Was willst du hier bei mir?«

»Freut Ihr Euch denn nicht, mich zu sehen?«, fragte Luisa. Sie war über die wenig herzliche Art enttäuscht, mit der sie empfangen worden war. Und jetzt auch noch diese Frage! Als wäre sie der Großmutter lästig. Es war wohl doch dumm von ihr gewesen zu kommen.

»Wie soll ich mich freuen, wenn ich dich noch gar nicht kenne? Aber das wird sich ja wohl jetzt ändern.«

Luisa errötete. »Bitte lest Mamans Brief. Sie wird alles erklärt haben, denke ich.«

»Na schön.« Lady Mary erbrach das Siegel, entfaltete das Briefpapier, hielt sich erneut das Lorgnon vor Augen und widmete sich der Lektüre.

Luisa nutzte die Gelegenheit, sie genauer zu betrachten. Für ein junges Mädchen wie sie war Lady Mary mit ihren bald dreiundsiebzig Jahren eine uralte Frau. Aber sie war in Würde gealtert, das musste man sagen. Mutter hatte erzählt, ihre Großmutter sei einmal eine in ganz London bekannte Schönheit gewesen und habe viele Verehrer gehabt. In der Tat hatte Luisa Porträts gesehen, die das bestätigten.

Und ja, von dieser Schönheit war etwas geblieben, auch wenn Altersflecken an den Händen und die winzigen, unter der Schminke noch erkennbaren Pockennarben das Gesicht ihrer Großmutter an manchen Stellen verunzierten. Ihr Haar war ergraut, sie hatte Falten im Gesicht, aber die machten sie nicht hässlich, ließen sie eher weise erscheinen. Es war das schöne Gesicht einer charaktervollen alten Dame, ein Gesicht, das beeindruckte.

Lady Mary ließ ihr Lorgnon sinken und sah Luisa nachdenklich an. »Deine Mutter schreibt, du hättest mit aller Macht darauf bestanden, mich zu besuchen. Gegen ihren ausdrücklichen Willen.«

»Ich wollte Euch schon lange kennenlernen.«

»Und warum? Ich meine, es ist freundlich von dir, aber ich war zwanzig Jahre im Ausland und hatte nur wenig Kontakt zur Familie. Abgesehen von ein paar Briefen, natürlich. Deine Mutter ist aber auch nicht gerade eine fleißige Briefschreiberin. Das muss ich leider sagen.«

Luisa zuckte mit den Schultern. »Ich habe trotzdem viel von Euch gehört und war neugierig. Egal, was sie zu Hause über Euch sagen, ich … na ja … Ich bewundere Euch.«

»Du bewunderst mich?« Lady Mary lachte auf. »Na so was! Da muss ich mich wohl geehrt fühlen. Aber bewundern solltest du lieber deinen Vater. Es heißt, er hat gute Chancen, Prime Minister zu werden.«

»Er versteht sich gut mit dem König.«

»Davon habe ich gelesen. Doch zurück zu dir, mein Kind. Warum bist du von zu Hause ausgerissen und zu deiner alten Großmutter geflohen?«

»Ich bin nicht ausgerissen. Und ich bin auch nicht geflohen. Aber Maman hatte vor, mich dieses Jahr in die Gesellschaft einzuführen. Und bei Hofe. Wie schon Mary und Anne, meine beiden Schwestern.«

Lady Mary nickte. »Sie schreibt, du hättest das abgelehnt. Dabei ist doch jedes Mädchen von Rang ganz erpicht darauf, dem Monarchen vorgestellt zu werden. Und all die schönen Kleider und Bälle!«

»Das ist nichts für mich«, erwiderte Luisa.

»Erstaunlich!«, murmelte Lady Mary. Dann sagte sie: »Nun, das können wir dann beim Abendessen besprechen. Jetzt solltet ihr beide euch erst einmal bei uns einrichten.« Sie sah Mrs. Roper an. »Ich nehme an, Ihr beehrt uns ebenfalls für eine Weile.«

Mrs. Roper nickte eilfertig. »Wenn Ihr nichts dagegen habt, Ma’am.«

»Ich habe wohl kaum eine Wahl. Meine Tochter besteht darauf.« Sie sah Luisa an, diesmal mit einem warmen Lächeln. »Es kommt zwar unerwartet, aber ich freue mich, dass du da bist.«

***

Trotz der ersten, etwas unterkühlten Begegnung mit ihrer Großmutter gelang es Luisa in den nächsten Tagen, sich zu entspannen und sogar fast heimisch zu fühlen. Vor allem Marie Anne trug dazu bei. Die Französin tat alles, damit Luisa sich wohlfühlte, brachte ihr abends eine heiße Schokolade ans Bett, zeigte ihr die Läden in der Nachbarschaft und besprach jeden Tag mit der Köchin, Madame Paulette, ebenfalls aus Frankreich, was man Schönes für Luisa kochen könne. Meistens waren es Gerichte aus Marie Annes Heimat Avignon, denen auch Lady Mary mit Vorliebe zusprach. Luisa hatte noch nie so gut gegessen, ließ sich die Rezepte erklären und half gelegentlich bei der Zubereitung. Selbst Mrs. Roper, beim ersten Bissen für gewöhnlich misstrauisch, begann nach einer Weile, Madame Paulettes Küche zu genießen.

Es gab noch drei weitere Mitglieder des Haushalts. Da war zum einen die Magd Jane, ein einfaches Mädchen vom Lande, das fürs Aufräumen, Putzen und die Wäsche zuständig war. Den Markt besuchte Madame Paulette selbst. Das ließ sie sich nicht nehmen. Im Weiteren gehörte der junge Knecht William zum Gesinde, der sich um das Pferd und den einspännigen Wagen kümmerte und die meiste Zeit im Stall hinter dem Haus verbrachte. Es sei denn, er trug gerade Holz herein und sorgte sich um das Feuer in den Kaminen. Wasser vom nächstgelegenen Brunnen zu holen war ebenfalls seine Aufgabe.

Und dann war da noch Dottore Bartolomeo Mora, ein rundlicher Italiener mittleren Alters, Lady Marys langjähriger Sekretär und seit ihrer Zeit in Venedig in ihren Diensten. Dottore Mora verbrachte die meiste Zeit in seinem eigens für ihn eingerichteten Kontor, wo er sich um Bestellungen bei den ansässigen Händlern und das Begleichen ihrer Rechnungen kümmerte, aber ganz besonders um Lady Marys Korrespondenz, denn sie schien immer noch mit der halben Welt in Kontakt zu stehen. Fast täglich klopfte ein Bote des kürzlich etablierten General Letter Office an, um Briefe abzugeben und andere mitzunehmen.

Nicht nur die Speisen waren französisch geprägt, auch andere Angewohnheiten wie zum Beispiel etwa die späte Uhrzeit des Abendessens. Engländer aßen für gewöhnlich recht früh zu Abend, sodass Luisa der Magen knurrte, lange bevor endlich zum Mahl gerufen wurde. Neben Luisa und ihrer Großmutter saßen allabendlich auch Mrs. Roper und Dottore Mora am Tisch. Nach dem Essen kommentierte man die Nachrichten aus den Gazetten, oder der Dottore las Gedichte vor, die dann besprochen wurden. Gelegentlich sang er sogar ein Lied aus seiner Heimat. Ein äußerst angenehmer Mensch, dieser Italiener, fand Luisa.

Überhaupt erlebte sie einen Haushalt, in dem man sich wohlfühlen konnte, wenn auch alles etwas improvisiert anmutete und nicht so präzise wie daheim. Es spiegelte die Einstellung der Hausherrin wider, die weniger auf Form und Etikette bedacht war, als Luisa es gewohnt war. Außerdem erwies Lady Mary sich als gar nicht so schroff und abweisend, wie Luisa der erste Eindruck hatte glauben lassen. Im Gegenteil. Die Angestellten, besonders Marie Anne und der Dottore, schienen zur Familie zu gehören, und es durfte gelacht werden. Sogar Mrs. Roper schien etwas umgänglicher zu werden, auch wenn sie die lockere Art des Hauses gern als Schlamperei bezeichnete. Natürlich nur Luisa gegenüber.

»Nun bin ich doch froh, dass ich gekommen bin«, sagte Luisa eines Abends, nachdem der gute Doktor und Mrs. Roper sich bereits zurückgezogen hatten. »Es ist schön bei Euch, Großmama!«

»Das freut mich, Luisa. Aber du kannst ruhig du zu mir sagen. Dieses ‚Ihr‘ und ‚Euch‘ geht mir langsam auf den Geist.«

Luisa errötete. »Ja, wenn es Euch … äh, wenn es dich nicht stört …«

»Warum sollte es mich stören? Du bist doch meine Enkelin. Komm, setz dich zu mir!« Lady Mary nippte zufrieden an einem Glas Sherry. »Seit ich zurück in London bin, trinke ich wieder Sherry. Das ist das Einzige, was ich in Italien und Frankreich vermisst habe. Obwohl es dort natürlich großartige Weine gibt. Aber eben keinen Sherry.«

»Mein Vater ist ebenfalls Liebhaber.«

»Du weißt vielleicht, dass der alte Pirat Francis Drake derjenige war, der die ersten Sherry-Fässer aus Spanien mitgebracht hat. Sogar unsere alte Königin Bess hat davon getrunken. Möchtest du ein Gläschen?«

»Oh nein, danke. Ich trinke weder Bier noch Wein.«

»Gut so, mein Kind. Es kann zu einer schlimmen Gewohnheit werden, wenn man nicht aufpasst. Mein Vater, Gott hab ihn selig, hat mehr Geld bei Wein und Glücksspiel gelassen, als ihm guttat. Und bei schlechten Weibern.«

Erstaunt sah Luisa sie an. »Du meinst doch nicht …«

»Oh doch! Du hast mich schon verstanden. Bei der Sorte von Frauen, die man für ihre Dienste bezahlt. Und bei denen man sich die Pox holen kann, wenn man Pech hat.« Als sie merkte, dass Luisa rot geworden war, fügte Lady Mary hinzu: »Jetzt hab ich dich wohl schockiert. Aber ich halte nichts davon, um die Dinge herumzureden.«

Luisa schob verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr. Was genau Männer bei solchen Frauen suchten, war ihr nur undeutlich klar. Zu Hause sprach man nicht über solche Dinge. Irgendetwas Sündhaftes musste es aber sein, so viel hatte sie flüstern hören.

»Du hast keine Ahnung, wovon ich rede, oder?«, fragte Lady Mary, die sie beobachtet hatte, und als Luisa verlegen den Kopf schüttelte, sagte sie: »Hab ich mir gedacht. Meine fromme Tochter erzieht euch in Unwissenheit. Aber lassen wir das. Du tust jedenfalls gut daran, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und dir im Leben nichts vorzumachen. Nicht alles, was uns umgibt, ist gut und schön, obwohl wir Adeligen natürlich ein privilegiertes Leben führen. Ob wir das allerdings verdienen, ist eine andere Frage.«

Sie nahm einen Schluck von ihrem Sherry und wollte gerade das Glas auf den Tisch neben sich stellen, als sie zusammenzuckte und sich kurz an die Brust fasste.

»Was ist denn, Großmutter?«, fragte Luisa sofort.

»Oh, nichts, mein Kind«, erwiderte Lady Mary, atmete tief durch und setzte ihr Glas ab. »In meinem Alter ist man nie ganz ohne Schmerzen. Mal hier, mal da. Mein Knie zum Beispiel. Manchmal pikt es mich auch im Rücken. Aber keine Sorge, es hat nichts zu bedeuten.«

»Du hast doch nichts am Herzen, oder?«

»Nein, nein! Wo denkst du hin?« Lady Mary lehnte sich zurück und schenkte Luisa ein freundliches Lächeln. »Du bist jetzt eine Woche hier, und sosehr ich mich an dich gewöhnt habe, haben wir immer noch nicht geklärt, was dich eigentlich hergeführt hat. Ich meine, deine Mutter und ich haben uns meistens mehr gestritten als geliebt. Deshalb wundert es mich.«

Luisa holte tief Luft, bevor sie antwortete. Daheim hatte kaum jemand Verständnis für sie, weder die Eltern noch ihre Geschwister. Hier aber hoffte sie, ein offenes Ohr zu finden, schließlich hatte Großmutter selbst ein Leben außerhalb der üblichen gesellschaftlichen Normen geführt.

»Sie machen sich jetzt Gedanken, mit wem sie mich vermählen sollen«, begann sie. »Mutter macht sich Sorgen, weil sie mich nicht hübsch genug findet. Und dann laden sie diese grässlichen Männer ein, die mir Blumen schenken, höflich Konversation machen und mich dabei inspizieren, als stünde ich zum Verkauf. Jedes Mal muss ich mich herausputzen, damit ich möglichst vorteilhaft aussehe.«

»Und das gefällt dir nicht.«

»Es ist schrecklich. Über alle diese Männer – einige waren sehr viel älter als ich – wurden über Vaters Anwälte Nachforschungen betrieben: wie reich sie sind, welche Ländereien sie besitzen oder wie ihr Ansehen bei Hofe ist. Und dann dieses Gerede über Heiratsverträge, Mitgift und so weiter! Ich komme mir vor wie auf dem Markt. Ich bin doch keine Kuh, die meistbietend angeboten wird.«

Lady Mary lachte. Dann sagte sie mit einem bitteren Lächeln: »Oh, ich weiß sehr wohl, wie das ist. Deshalb also bist du hier: um alldem zu entkommen.«

»Ich will keinen dieser Männer. Ich will überhaupt nicht heiraten. Ich will so leben wie du.«

»Leben wie ich? Und was stellst du dir darunter vor?«

»Na ja, du weißt schon: Du lebst allein, bist niemandem verpflichtet, kannst reisen und überhaupt tun und lassen, was du willst.«

»Gott im Himmel! Du bist ja eine richtige Rebellin«, sagte Lady Mary und lächelte.

»Außerdem bist du berühmt, hast Gedichte und Essays publiziert. Und die Pocken besiegt.«

»Ach das!« Lady Mary winkte ab. »Davon redet doch kein Mensch mehr. Jedenfalls nicht, was mich betrifft.«

»Deine Schriften sind immer noch im Umlauf. Das habe ich gehört, auch wenn Maman mir keine zu lesen erlaubt. Ich möchte lernen, wie man geistreiche Dinge zu Papier bringt. Dinge, die die Welt bewegen.«

Erstaunt sah Lady Mary ihre Enkelin an. »Du willst schreiben?«

Luisa nickt. »Ja, das will ich.«

Sie schwiegen einen Augenblick, dann fragte Lady Mary: »Liest du eigentlich gern? Denn bevor man schreiben lernt, muss man erst einmal viel lesen. Man muss wissen, was andere kluge Menschen uns mitgeteilt haben. Besonders wenn man jung ist.«

Luisa zuckte unsicher mit den Schultern. »Vater hat eine Bibliothek, aber die ist fast immer abgeschlossen. Ich habe einige Romane gelesen. Meistens heimlich. Mrs. Roper sagt, Lesen sei nichts für Mädchen. Ich solle lieber auf dem Spinett spielen lernen. Und sticken. Bücher würden den Verstand verderben, behauptet sie. Außerdem mögen Männer angeblich keine Frauen, die ihre Nase in Bücher stecken. Als ob es nur darauf ankäme, was Männer mögen!«

Lady Mary musste lachen. »Nein, das mögen Männer nicht. Die meisten jedenfalls nicht. Da hat Mrs. Roper recht. Aber hör nicht auf sie. Es gibt schon genug dumme Männer in der Welt. Da müssen wir nicht auch noch dumme Frauen wie deine Mrs. Roper erdulden. Frauen können neben Männern nur bestehen, wenn sie sich bilden. Wenn sie wissen, was in der Welt geschieht, wenn sie die Weisheit der Philosophen und der großen Dichter in sich aufsaugen und sich Meinungen erlauben können, die auf Wissen und Vernunft beruhen.«

Luisa blickte sie mit großen Augen an und nickte. »Bringst du es mir bei?«

»Hast du Latein gelernt und Griechisch? Ich denke wohl eher nicht, oder?«

»Nein. Ein bisschen Französisch. Wir hatten einen Hauslehrer.«

»Nun, das ist ein Anfang. Du kannst Voltaire lesen. Wenn es dir mit dem Lernen ernst ist, finden wir einen Lateinlehrer für dich. Oder besser noch, ich unterrichte dich selbst. Latein ist in aller Welt die Sprache der Gelehrten, der klassischen Philosophen und Dichter. Ovid und Catull, die wirst du lieben. Aber vielleicht mute ich dir zu viel auf einmal zu. Fangen wir erst einmal mit Französisch an. Ich schlage vor, du nimmst dir Voltaires Novelle Candide vor. Die ist erst vor ein paar Jahren erschienen und ganz amüsant.«

»Und was machen wir mit Mutters Heiratsplänen?«

»Oh, die können wir sicher etwas aufschieben. Ich werde ihr schreiben. Aber weißt du, ich habe auch geheiratet und bin dabei so schlecht nicht gefahren.«

»Maman sagt, du hättest dich geweigert, den Mann zu heiraten, den dein Vater für dich bestimmt hatte. Sie meint, ich hätte deinen rebellischen Charakter geerbt. Du hast dich sogar entführen lassen. Stimmt das?«

»Oh ja, das stimmt.« Lady Mary lächelte versonnen. »Aber das erzähle ich dir morgen. Es ist spät geworden. Eine alte Dame wie ich braucht ihren Schlaf. Also komm, hilf mir auf!«

***

Am nächsten Tag machte es sich Lady Mary, nachdem sie am Morgen ihrem Sekretär einige Briefe diktiert hatte, nach dem Mittagsmahl zusammen mit ihrer Enkelin im Salon gemütlich. Madame Paulette brachte ihnen zum Nachtisch Tee und eine kleine Torte mit kandierten Früchten und etwas Schlagsahne. Mrs. Roper hatte den Nachmittag frei, um sich in der Stadt umzusehen, und so konnten Großmutter und Enkelin ungestört plaudern.

»Hast du deinen Candide angefangen?«, fragte Lady Mary.

Luisa nickte. Bei der Lektüre hatte sie jedoch schnell gemerkt, dass es eine Sache war, auf Französisch ein paar Worte des täglichen Lebens zu äußern, und eine andere, einen literarischen Text zu verstehen. Und dann auch noch von einem Geist wie Voltaire. »Es ist noch schwer für mich«, gestand sie. »Aber ich habe drei Seiten geschafft. Ich musste nur viele Wörter nachschlagen.«

»Dann schreib sie auf, damit du sie nicht wieder vergisst«, sagte Lady Mary.

Luisa hatte sich gerade etwas von der Torte in den Mund gesteckt. »Hab ich schon«, murmelte sie mit vollem Mund.

»Candide ist natürlich eine Satire«, erklärte Lady Mary. »Voltaire will uns vor Augen führen, wie absurd übertriebener Optimismus angesichts der vielen schrecklichen Dinge in der Welt ist. Seine Novelle passt zu dem, was ich dir gestern gesagt habe: dass du nicht die Augen vor der Realität verschließen sollst. Wir können nachher zusammen noch einmal durchgehen, was du heute gelesen hast.«

»Zuerst wolltest du mir erzählen, wie es zu deiner Heirat gekommen ist. Bitte, du hast es versprochen.«

Lady Mary nahm einen Schluck von ihrem Tee, stellte die Tasse ab und überlegte einen Augenblick. »Wenn wir schon davon reden«, sagte sie schließlich, »muss ich etwas ausholen. Ich weiß ja nicht, was euch eure Mutter über meine Familie erzählt hat.«

»Die Pierreponts?«

»Ganz genau, die Pierreponts.«

»Ich weiß, dass wir die Linie bis zu den Normannen zurückverfolgen können, die mit William dem Eroberer ins Land gekommen sind. Und dass Urgroßvater Evelyn Pierrepont der Earl of Kingston war.«

»Zuletzt war er sogar Erster Herzog von Kingston-upon-Hull. Das hat damit zu tun, dass die Pierreponts im Laufe der Jahrhunderte sehr reich geworden sind. Hauptsächlich durch kluge Heiratspolitik. Siehst du, da haben wir es wieder: Es geht bei diesen Eheschließungen um Geld und Besitz und um nichts anderes.«

»In den Romanen, die ich gelesen habe, ging es immer um Liebe. Oft um verbotene oder tragische Liebe.«

Lady Mary lächelte. »Der Mensch sehnt sich nach Liebe. Besonders junge Mädchen träumen davon. In meiner Jugend ist es mir nicht anders ergangen. Aber die Realität ist meist eine andere. Ich habe nichts dagegen, wenn du solche Romane liest, aber du solltest auch etwas Ernsthafteres lesen wie Voltaire. Und später nehmen wir uns die Klassiker vor.«

Luisa fragte sich, ob sie es würde durchhalten können, so viel in ihr Hirn zu stopfen, und dann auch noch auf Latein und womöglich Griechisch. Aber sie hatte zugestimmt, und Großmutter sollte nicht denken, dass sie kneifen würde. »Der Candide fängt ja auch ganz vergnüglich an«, sagte sie. »Ich werde später weiterlesen.«

»Du kannst mich jederzeit fragen, wenn du etwas nicht verstehst. Aber zurück zu meiner Familie. Meine Mutter, Lady Mary Feilding, war die Tochter von William Feilding, dem Earl of Denbigh, stammte also ebenfalls aus einer reichen und bedeutenden Familie. Ich selbst wurde 1689 als älteste Tochter geboren. Das war in jenem Jahr, als die Macht des Parlaments zum ersten Mal über die des Königs gestellt wurde, ein Jahr nach der Vertreibung König James’ während der Glorreichen Revolution. James war ja Katholik und nicht nur König von England, sondern auch von Schottland gewesen. Er war kein guter König. Und auf Katholiken sind wir Engländer ohnehin nicht gut zu sprechen.«

»Ich weiß, mein Vater redet oft darüber.«

»Das kann ich mir denken. Er entstammt ja selbst einer schottischen Familie. Die Hälfte von denen sind immer noch Jakobiten, soviel ich weiß. Also Anhänger dieses James und seiner Nachkommen. Deshalb hatten wir anfänglich auch Bedenken, als dein Vater darauf bestand, unsere Tochter zu heiraten. Wegen der politischen Verfolgungen der Jakobiten. Manche sind nach Frankreich geflohen. Doch das führt jetzt zu weit, darüber können wir ein andermal reden. Deinem Vater ist es jedenfalls gelungen, sich aus diesem Zwist herauszuhalten, und das ist gut so.«

»Deine Mutter ist früh gestorben«, sagte Luisa.

»Ja, leider. Ich kann mich überhaupt nicht an sie erinnern. Ich war, wie gesagt, die Erstgeborene, dann folgten in schneller Reihenfolge meine Geschwister Frances, Evelyn und schließlich William. Kurz nach seiner Geburt, da war ich gerade erst vier Jahre alt, ist unsere Mutter verstorben. Angeblich an einem Fieber.«

»Dann wart ihr vier mit einem Schlag Halbwaisen.«

»So ist es. Hinzu kommt, dass mein Vater bei ihrem Tod erst siebenundzwanzig war und anderes im Kopf hatte, als sich um kleine Kinder zu kümmern. So kamen wir nach Wiltshire zu seiner Mutter, Großmutter Elisabeth Pierrepont.«

»Hat dein Vater nicht wieder geheiratet?«

»Ja, aber erst viel später. Sein Vergnügen war ihm wichtiger. Er blieb in London und zog, wie es unter jungen Adeligen üblich ist, mit Freunden durch anrüchige Etablissements, verlor eine Menge Geld bei Pferderennen, trank zu viel und zeugte uneheliche Kinder.«

Luisa runzelte die Brauen. »Uneheliche Kinder? Bist du sicher?«

»Es gab jede Menge Gerüchte, und bei seinem Lebenswandel kann ich es mir gut vorstellen. Bist du jetzt wieder schockiert?«

Luisa war tatsächlich errötet. »Na ja. Er war schließlich dein Vater. Da sollte man so was vielleicht nicht sagen.«

Lady Mary zuckte mit den Schultern. »Ich wette, deine Mutter hat dir ein anderes Bild von ihm gezeichnet. Doch die Wahrheit ist, dass er kein guter Vater war, eher einer, der durch Abwesenheit glänzte. Um seine Kinder hat er sich nie gekümmert, und mich hat er erst wieder zur Kenntnis genommen, als es darum ging, mich nach Familientradition mit einem reichen Kerl zu verkuppeln. Du siehst, du bist nicht die Einzige. So ist das in den guten Familien. Trotzdem glaube ich, dass du es mit deiner Familie besser als ich getroffen hast.«

Luisa zog skeptisch die Mundwinkel runter. »Ach, ich weiß nicht.« Dann sagte sie: »Iss mal lieber von deiner Torte. Sie ist wirklich köstlich.«

Lady Mary lächelte. »Paulette meint es gut und verwöhnt mich gern, aber wenn ich alles esse, was sie mir auftischt, werde ich dick und fett. Ich passe schon gar nicht mehr in meine alten Sachen.«

»Aber du bist doch gar nicht dick!«, protestierte Luisa.

»Jedenfalls war ich schon mal schlanker. Wenn es so weitergeht, muss ich mir neue Kleider nähen lassen. Nimm du lieber mein Stück. Du könntest einige Pfunde mehr durchaus vertragen.« Sie reichte Luisa ihren Teller. »Eine Begebenheit aus meiner Kindheit will ich dir nicht vorenthalten, denn sie ist für meinen Vater bezeichnend. Er war Mitglied eines Herrenclubs mit Namen Kit Cat, einer strengen Bastion der Whigs. Das ist die Fortschrittspartei.«

»Ich weiß. Mein Vater gehört zu den anderen, den Tories.«

Lady Mary zog kurz eine angewiderte Grimasse. »Er soll sich schämen. Sag ihm das. Wir sind alle Whigs in der Familie.«

Luisa lachte. »Ich fürchte, er wird wohl kaum auf dich hören.«

»Da magst du recht haben, mein Kind. Aber zurück zum Kit-Cat-Club. Dort wurde regelmäßig diniert, über jeden politischen oder gesellschaftlichen Klatsch schwadroniert, und natürlich wurden dabei Unmengen an Wein und Brandy konsumiert. Es war Tradition, sich den Spaß zu machen, einmal im Jahr die schönste Lady Englands zu proklamieren. Wir Kinder waren gerade zu Besuch bei Lady Cheyne, unserer Tante, als meinem Vater die verrückte Idee kam, ausgerechnet mich zu nominieren. Ich war wohl tatsächlich ein hübsches Kind, aber – mein Gott! – erst sieben Jahre alt. Er schickte also seinen Kutscher los, um mich bei seiner Schwester abzuholen, und erklärte mich im Club zur schönsten Lady des Landes. Ich erinnere mich noch gut daran. Man empfing mich mit wildem Gejohle und Gelächter. Ein Riesenspaß.«

Luisa schlug sich die Hand vor den Mund und lachte laut auf. »Das ist zum Schreien witzig, Großmama!«

»Ich weiß. Ich fand’s als Siebenjährige auch toll. Sie stellten mich auf den Tisch, ich musste mich von allen Seiten zeigen, und dann kürten sie mich tatsächlich zur schönsten Lady, reichten mich reihum von einem Schoß zum anderen und küssten mich ab. Heute würde ich sagen, was für eine Farce, aber als Kind war ich begeistert und ziemlich überwältigt.«

»Wäre ich auch gewesen.«

»Das war’s dann aber auch.« Lady Marys Lächeln verschwand. »Nachdem sie ihren Spaß gehabt hatten, steckte er mich wieder in die Kutsche und ließ mich zu meiner Tante zurückbringen, um sich danach nicht weiter um mich oder meine Geschwister zu kümmern.«

»Mhm, ja. Da haben wir mehr von unserem Vater, auch wenn er oft verreist ist,« sagte Luisa. »Ihr seid also bei Eurer Großmutter aufgewachsen.«

»Ja, diese Jahre sind mir in guter Erinnerung geblieben. Doch schon als ich neun war, verstarb sie. Meine jüngste Schwester Evelyn wurde daraufhin zu unserer kinderlosen Tante Lady Cheyne geschickt, wo sie aufwuchs, und wir anderen wurden nach Thoresby geschickt, ins große Schloss und Anwesen unseres Vaters in Nottinghamshire. Er selbst war nur selten zugegen. Mein Bruder William hatte einen Hauslehrer, Frances und ich diverse Gouvernanten, die von Zeit zu Zeit wechselten. Ansonsten kümmerte sich das Gesinde um uns.«

»Das tut mir leid«, sagte Luisa. »Wart ihr sehr einsam?«

»Du meinst, weil wir ohne Eltern aufwuchsen?« Lady Mary zuckte mit den Schultern. »Wir waren das ja gewohnt, und eigentlich hatten wir es gar nicht schlecht. Frances und ich verstanden uns gut, waren ein Herz und eine Seele. Thoresby ist ja ein herrliches Anwesen. Rund um das Schloss liegt dieser riesige Park, in dem wir Auslauf hatten. Es gab Tiere, wir konnten reiten. William wurde mit dreizehn zur Ausbildung nach Cambridge geschickt. Frances und ich blieben zurück. Für uns Mädchen war die riesige Bibliothek unseres Vaters das Beste. Die hatte er irgendwann angeschafft, obwohl ich bezweifle, dass er selbst überhaupt etwas davon gelesen hat. Für uns aber war sie eine Entdeckung, mehr noch: eine Offenbarung. Frances und ich verbrachten die meiste Zeit mit Büchern. Ich war unglaublich wissbegierig, sog alles in mich auf, brachte mir sogar selbst Latein bei, weil ich Ovid lesen wollte. Von den Gouvernanten konnten wir außer abergläubischem Unsinn wenig lernen. Die haben eher versucht, uns vom Lesen abzuhalten. Es sei einer Lady nicht angemessen, hieß es – ähnlich, wie deine Mrs. Roper es noch heute behauptet. Dabei war die Bibliothek ein Geschenk des Himmels. Damals habe ich angefangen zu schreiben, ganze Notizbücher mit romantischen Geschichten gefüllt, angeregt von Ovid und Vergil.« Lady Mary seufzte versonnen. »Ja, Thoresby hat meinen Geist für die Welt erweckt und mich in gewisser Weise geformt.«

»Und wie hast du Großvater Edward kennengelernt?«

»Hach, ich sehe, dir geht es ums Romantische. Für jemanden, der nicht heiraten will, scheint dich das Thema aber doch ziemlich umzutreiben.«

Luisa errötete. »Du wolltest mir doch davon erzählen«, sagte sie verlegen. »Oder etwa nicht?«

»Natürlich. In deinem Alter war ich ja nicht anders. Ich habe alle Romane von Madeleine de Scudéry verschlungen. Ihre Heroine Sapho, eine schöne und noble Frau, wurde Schriftstellerin und lebte unverheiratet und in Sünde mit ihrem Liebhaber Phaon.«

Luisa hob die Brauen. »So was hat man dich lesen lassen?«

Lady Mary lächelte. »Das habe ich natürlich heimlich gelesen. Ich wollte wie Sapho sein.«

»Das bist du doch auch geworden.«

»Nein, nein, nicht wirklich. Es gab Zeiten, da war ich gegen die Ehe, das gebe ich zu. Aber erzähl das nicht deiner Mutter, sonst denkt sie, ich hetze dich auf.«

Luisa zuckte mit den Schultern. »Keine Sorge. Bei uns daheim ist dein Ruf ohnehin ruiniert.« Sie lachte ausgelassen.

»Ist das so?«, fragte Lady Mary. »Na, es überrascht mich nicht. Umso erstaunlicher, dass sie dich haben herkommen lassen.«

»Ich habe mit Hungerstreik gedroht.«

Lady Mary hob erstaunt die Brauen. »Wirklich! Und? Hättest du‘s wahrgemacht?«

Luisa nickte. »Ich war entschlossen.«

»Du bist mir ja eine.« Lady Mary schüttelte lächelnd den Kopf. »Aber nun zurück zu meiner Jugend. Ich hatte einige Freundinnen, denen ich bei gesellschaftlichen Treffen begegnet war. Wir korrespondierten eifrig miteinander, denn wir wohnten ja meist weit voneinander entfernt auf unseren Landsitzen. Junge Männer waren für uns rätselhafte Wesen, denen wir mit Ausnahme der eigenen Brüder nur selten begegneten und wenn, dann nur in Begleitung von Verwandten oder Gouvernanten. Kein Wunder, dass wir wahnsinnig neugierig und aufgeregt bei dem Gedanken waren, wen unsere Eltern wohl für uns bestimmen würden. Dass unsere eigene Meinung wenig zählte, war uns von Kindesbeinen an eingebläut worden.«

»Ich glaube, das hat sich nicht geändert«, sagte Luisa.

»Bei Festen in der Nachbarschaft oder bei den Pferderennen in Nottingham oder York hatten wir natürlich Gelegenheit, jungen Männern der feinen Gesellschaft zu begegnen. Zu mehr als versteckten Blicken und ein paar höflichen Worten kam es dabei aber nicht. In den Briefen unter Freundinnen begannen wir irgendwann, die Heiratskandidaten, denen wir begegnet waren, in drei Kategorien einzuordnen. Ein gut aussehender junger Mann, in den man sich unsterblich verlieben könnte, war ‚Paradies‘. Einen, den man auf keinen Fall heiraten wollte, war ‚Hölle‘. Und alle anderen waren ‚Limbo‘, die gehörten dazwischen, waren weder heiß noch kalt.«

Luisa klatschte in die Hände. »Oh, das gefällt mir. Dann hab ich bisher aber nur ‚Hölle‘ kennengelernt. Nein, ich übertreibe, ein paar waren auch ‚Limbo‘.«

»Kein Paradies also, aber sonst wärst du ja wohl nicht hier.«

»Nein, das stimmt nicht«, erwiderte Luisa pikiert. »Das hat damit gar nichts zu tun. Glaub mir. Ich bin hier, weil ich dich endlich kennenlernen wollte.«

»Umso besser«, sagte Lady Mary und tätschelte Luisas Hand. »Eine dieser Freundinnen, mit denen ich eifrig korrespondierte, hieß Anne Wortley.«

»Ah!«, rief Luisa und beugte sich neugierig vor.

»Du ahnst es.« Lady Mary lächelte bedeutungsvoll. »Denn meine Freundin Anne hatte einen Bruder.«

Edward

London, November 1709

Mary war inzwischen zwanzig und Frances neunzehn Jahre alt. Auf dem Kontinent tobte der Spanische Erbfolgekrieg. Nicht, dass dieser Krieg ihr Leben in besonderer Weise berührt hätte, außer dass viel darüber geredet und berichtet wurde, doch Mary las eifrig darüber in den einschlägigen Gazetten, die der Postbote ablieferte. Gelegentlich erreichten sie auch Briefe von adeligen Familien in ihrer Bekanntschaft, die von Söhnen berichteten, die ein Offizierspatent erworben hatten und irgendeinem Regiment beigetreten waren, das nun in Flandern oder in Nordfrankreich kämpfte. Einige von ihnen waren nicht zurückgekehrt.

»Warum hört das nicht endlich auf?«, klagte Frances eines Tages. »Ich bin das dauernde Gerede über den Krieg langsam leid.«

»Sie können sich nicht einigen«, erwiderte Mary.

»Ich weiß. Gibt es denn keine Lösung?«

Mary zuckte mit den Schultern. Anscheinend keine, die für beide Seiten annehmbar war. Kaiser Leopold von Österreich wie auch Louis XIV. von Frankreich hatten Anspruch auf das spanische Erbe erhoben. Europa war darüber zweigeteilt: Spanien paktierte mit den Franzosen, andere Fürsten mit dem Kaiser. Doch selbst nach acht Jahren militärischer Auseinandersetzungen war es keiner Seite gelungen, die Oberhand zu gewinnen.

Im September erst hatte der Herzog von Marlborough, Heerführer der gegen Frankreich und Spanien verbündeten Mächte, einen bedeutenden Sieg errungen, wenn auch unter großen Verlusten. Dennoch war es den Franzosen gelungen, sich geordnet zurückzuziehen, sodass im Grunde nichts gewonnen war. Der ruinöse Krieg würde weitergehen.

Eine positive Entwicklung zeigte dagegen die Britische Ostindien-Kompanie. Sie machte den Holländern erfolgreich Konkurrenz, breitete sich auf dem indischen Subkontinent aus, importierte Tee, Gewürze und andere exotische Waren und bescherte ihren Investoren gewaltige Gewinne.

Es war das Jahr, in dem Königin Anne eine Flotte mit viertausend Siedlern zur königlichen Kolonie New York entsandt hatte, die man nach dem Friedensabkommen von Breda vor fünfundvierzig Jahren den Holländern abgenommen hatte. New York war dabei, sich zu einer führenden Kolonie in der Neuen Welt zu entwickeln, unter anderem zu einem lukrativen Zentrum des Sklavenhandels, leider auch zu einem Versorgungshafen für Piraten, die in der Karibik ihr Unwesen trieben.

Seit dem Tod der Großmutter hatten die Schwestern Mary und Frances ihr Leben auf Thoresby Hall, dem prachtvollen Anwesen der Familie in Nottinghamshire, verbracht, wo sie auch das Licht der Welt erblickt hatten. Das große Haus, eigentlich ein herrschaftliches Schloss, hatte ihr Großvater, Henry Pierrepont, der zweite Earl von Kingston, einst erbauen lassen. Jahre später hatte er das Recht erworben, einen Teil des umliegenden Sherwood Forest einzuzäunen und so einen riesigen naturbelassenen Park zu schaffen. Für die halbwüchsigen Schwestern war er ein wunderbares Reich gewesen, das es zu erforschen galt. Vom Jagdaufseher und einem Reitknecht begleitet, waren sie bei gutem Wetter oft zu Pferde unterwegs gewesen, hatten Rehe und Hirsche beobachtet oder Picknicks auf den Auwiesen veranstaltet.

Nach wie vor vertrieben sie sich viel Zeit in der Bibliothek. Fast wahllos sogen sie die Inhalte von allem auf, was ihnen in die Finger kam. Beide lasen romantische Romane, Frances mehr als Mary, die ihrerseits endlose Stunden mit den Werken Shakespeares und Marlowes verbrachte, mit Ciceros Reden, mit Vergil und Ovids Metamorphosen oder dessen Ars Amatoria, Werken, die sie auf Latein las, das sie inzwischen gut genug beherrschte, um für ihre Schwester zu übersetzen. Sie tauschten Gedanken aus, führten Streitgespräche, amüsierten sich über die Geschichten im Decamerone, seufzten bei Catulls Liebesgedichten und fragten sich, wie es wohl wäre, unsterblich verliebt zu sein.

Über eines waren sie sich einig: In der Ehe konnte es wahre Liebe nicht geben. Schon die Troubadoure hatten das gewusst. Die seltenen Besuche in benachbarten Adelshäusern und die Korrespondenz mit ihren gleichaltrigen Freundinnen schien dies zu bestätigen, denn von Liebesglück war bei den jeweiligen Eltern weit und breit nichts zu erkennen. Im Grunde schien die Ehe nur ein Korsett zu sein, eine Verpflichtung, um den Wohlstand der Familie zu mehren, gesellschaftliche Präsenz zu zeigen und Kinder in die Welt zu setzen – in genau dieser Reihenfolge. Wahres Glück ließe sich, wenn überhaupt, nur außerhalb dieser Zwänge finden, befanden sie. Wobei so etwas natürlich verboten war. Wahrscheinlich wäre es also besser, gar nicht erst zu heiraten. Besonders Mary war davon überzeugt.

Und doch fieberten sie das ganze Jahr über den Wintermonaten entgegen, die sie seit zwei Jahren im Londoner Haus des Vaters verbringen durften. Denn dann war die Saison der gesellschaftlichen Verpflichtungen, der Salons und der abendlichen Diners, der feierlichen Ordensverleihungen, der Erhebungen verdienstvoller Männer in den Adelsstand. An solchen Veranstaltungen durften die Schwestern gelegentlich in Begleitung ihrer Tante teilnehmen, die in Chelsea wohnte. Es waren wundervolle Gelegenheiten, mit anderen jungen Damen ihres Alters Bekanntschaft zu schließen, selbstverständlich auch mit den Söhnen des Hochadels, selbst wenn dabei nur wenige Worte und nicht mehr als verstohlene Blicke gestattet waren.

Begegnete ihnen ein junger Mann, den sie als ‚Paradies‘ einstuften, schwärmten sie wochenlang; über einen Vertreter der ‚Hölle‘ machten sie sich lustig und zerpflückten seine widerwärtigen Eigenschaften bis aufs Kleinste. Nicht nur unter sich, auch in ihrer Korrespondenz mit anderen jungen Mädchen. Hätten die jungen Herren gewusst, wie über sie geklatscht wurde!

Ein Skandal machte besonders die Runde. Ein gewisser Lord Herbert hatte, so lauteten Gerüchte, den Nachttopf einer verheirateten Lady gestohlen, in die er verliebt war. Als Trophäe und als ewige Erinnerung an sie.

»Es heißt, er hat ihren Namen eingravieren lassen«, kicherte Frances. »Glaubst du, es stimmt?«

»Ich frage mich, ob er ihn selbst benutzt«, erwiderte Mary, was zu noch mehr Gelächter führte.

Selbstverständlich boten die Monate in London den Schwestern Gelegenheit, Lady Cheyne und Evelyn, die jüngere Schwester, die bei ihr aufgewachsen war, zu besuchen. Lady Cheyne war so etwas wie eine Ersatzmutter für sie, wohingegen sie mit Evelyn wenig Gemeinsamkeiten fanden. Zu verschieden waren sie. Mary und Frances sprachen über Shakespeares Dramen, Philosophen oder romantische Liebe in den Büchern, die sie gemeinsam lasen, und über Marys erste literarische Bemühungen, bei denen sie versuchte, ihre klassischen Helden – etwa Julius Caesar und den großen Alexander – aus der Sicht ihrer Frauen darzustellen. Evelyn dagegen hatte außer Banalitäten wenig beizutragen und fühlte sich von den beiden eingeschüchtert, und so blieb das Verhältnis zu ihr freundlich, aber nicht besonders innig. Auch ihren Bruder bekamen sie nur selten zu Gesicht. William war einem Regiment beigetreten und verkehrte in anderen Kreisen.

Dafür befreundeten sie sich mit den Töchtern der Londoner Nachbarsfamilie und stiegen nachts des Öfteren heimlich über die Gartenmauer, um mit ihnen zu schwadronieren. Irgendwann wurden sie dabei erwischt, und nach strenger väterlicher Ermahnung wurde der Sache ein Ende gemacht. Es war zwecklos, sich dagegen aufzulehnen, denn fortan standen sie unter ständiger Überwachung durch Hausdiener und Gouvernanten. Bei ihrem Bruder hätte der Vater sicher anders reagiert, was für Mary wieder mal ein Beweis dafür war, dass mit zweierlei Maß gemessen wurde.

In diesem Winter sollten Mary und Frances offiziell bei Hofe eingeführt und der Königin vorgestellt werden. Ein grandioses Ereignis, erst recht angesichts ihres ansonsten abgeschiedenen Lebens. Die Aufregung trieb sie wochenlang um. Tagelang übten sie den Hofknicks und wie ihre Majestät anzusprechen wäre.

Auch für ihren Vater, Evelyn Pierrepont, Earl of Kingston, der sonst wenig Interesse für die beiden aufbrachte, war dieser Tag von Bedeutung. Für ihre Ausstattung, so hatte er bestimmt, sollten kein Geld und keine Mühe gescheut werden. Immerhin war dieser Termin die beste Gelegenheit, seine Töchter auf dem Heiratsmarkt bekannt zu machen.

Fieberhafte Vorbereitungen nahmen ihren Anfang. Führende Londoner Schneidermeister wurden eingeladen, Entwürfe vorzulegen, die Lady Cheyne und die Mädchen begutachteten, bis sie sich für zwei der französischen Mode nachempfundene Modelle entschieden. Die Schultern würden frei bleiben, die jungen Brüste jedoch in züchtige, mit Fischbein verstärkte Mieder gezwängt, dazu kamen halblange Ärmel mit Rüschen und weite, ausladende Röcke. Alles in Weiß und Mauve gehalten, abgesehen von kleinen, auf den Röcken aufgestickten künstlichen Rosen. Es wurden Seide, vergoldetes Garn und Brüsseler Spitze eingekauft, Näherinnen gingen ans Werk, Mieder und die mit Federstahl gespreizten Reifröcke wurden angefertigt, alles unter der strengen Aufsicht der ehrenwerten Lady Cheyne, die sich jeden Tag den Fortschritt zeigen ließ.

Am Morgen des großen Tages bemühte sich ein Haarkünstler um aufwendige, mit Fremdhaar ergänzte Frisuren, wie sie in Paris in Mode gekommen waren, bis Mary genug davon hatte und eine einfache Haartracht durchsetzte, mit bis auf die Schultern fallenden, mit der Brennschere perfektionierten Locken und einer minimalen Kopfbedeckung aus weißem Tüll. Dazu wählte sie mit winzigen Diamanten besetzte, ansonsten schlichte Ohrringe aus Großmutters Erbe. Auch für Frances fand sich schöner, aber nicht zu prunkvoller Schmuck.

Mary hätte auch den nicht nötig gehabt. Allein ihre strahlende Schönheit und ihr natürlicher Charme hätten genügt. Sie war dunkelhaarig und von zierlicher, aber wohlproportionierter Gestalt. Perlweiße Zähne in einem unvergleichlichen Lächeln, dunkle und doch strahlende Augen, die den Betrachter nicht selten mit einem spöttischen Blick bedachten, als könnte sie nicht wirklich ernst nehmen, was sie zu hören bekam. Dazu ihre aufrechte Haltung und der forsche Schritt. Ja, sie war trotz ihrer jungen Jahre und geringen Größe eine beeindruckende Erscheinung. Ihre Schwester Frances, ein wenig größer, ähnelte ihr in vielem, allerdings nur oberflächlich und ohne Marys verführerische Ausstrahlung.

Dann war es endlich so weit. Mit einem Hauch von Rouge auf Lippen und Wangen stiegen sie in die wartende Kutsche. Eine zweite stand für Lady Cheyne und den Earl bereit. Dann ging es zum Hampton Court Palace, wo in diesem Jahr die Vorstellung der Debütantinnen stattfinden würde.

Vor dem Palast stauten sich die edlen Fuhrwerke. Palastwachen bildeten Spalier, um die Menge der Schaulustigen zurückzuhalten. Zum Glück regnete es nicht, und die herausgeputzten jungen Damen und ihre Begleiter schafften es trockenen Fußes in den Palast. Etwa zwei Dutzend Debütantinnen sollten an diesem Tag in die Gesellschaft eingeführt werden und sammelten sich aufgeregt im Foyer. Während sie darauf warteten, eingelassen zu werden, wurden letzte Korrekturen an Haar und Roben vorgenommen. Nicht alle Mädchen waren hübsch – eine hatte scheußlich schiefe Zähne, eine andere Pickel im Gesicht –, aber das jugendliche Alter lässt vieles verzeihen, und natürlich waren sie alle wunderbar gekleidet und zurechtgemacht, denn an Geld mangelte es den anwesenden Familien nicht.

Schließlich öffneten sich die hohen Doppeltüren des Saals, und der Zeremonienmeister begann, eine Debütantin nach der anderen aufzurufen und sie würdigen Schrittes unter der kritischen Musterung durch den anwesenden Adel durch den Saal zum Thron der Königin zu geleiten.

Als Mary und Frances an der Reihe waren, betraten sie begleitet von Vater und Tante mit zitternden Knien den mit den Edlen und Schönen des Landes gefüllten goldenen Saal. Für einen kurzen Moment sah Mary sich um. Die Damen ringsum waren in Seide und Tüll gehüllt, in ausladende, mit Schleifen und Rüschen verzierte Röcke. Sie hatten geweißte Gesichter, blutrote Münder und stellten tiefe Dekolletés zur Schau. Die Herren trugen Bundhosen und seidene Strümpfe, nicht selten Uniformröcke mit schillernden Schärpen, an der Seite zierliche Degen. An den Wänden in regelmäßigen Abständen standen livrierte Diener.

Im Hintergrund, auf ihrem leicht erhöhten Thron, saß Königin Anne und blickte ihnen gleichmütig entgegen. Seit ihr Gemahl, Prinz Georg von Dänemark, vor einigen Jahren verstorben war, hatte sie stark zugenommen, ihr Gesicht wirkte teigig und aufgedunsen. Auch das prunkvolle, mit Edelsteinen bestickte Gewand und die sorgsam aufgetragene Schminke konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie krank zu sein schien.

Die beiden Mädchen hatten sich viel von diesem Moment versprochen, jeden Schritt und jede Bewegung einstudiert, sich überlegt, was die Königin fragen könnte und wie sie darauf zu antworten hätten. Doch am Ende war alles enttäuschend schnell vorbei. Zu einem Wortwechsel mit der Monarchin kam es nicht. Sie nickte ihnen freundlich, aber desinteressiert zu und gratulierte dem Vater, der bei Hofe ein häufiger Gast war, zu seinen schönen Töchtern. Dann verbeugten sich die beiden ein zweites Mal und reihten sich unter all den anderen Gästen ein, während die nächste Debütantin vortrat.

Und doch war es nicht umsonst. Da die Pierreponts eine bedeutende und reiche Familie waren, hatte das Publikum ihren Auftritt aufmerksam verfolgt, und dank Lady Cheynes Bemühungen hatten die Schwestern zweifellos die schönsten und aufwendigsten Gewänder der Saison präsentiert. Darüber hinaus machte besonders Marys Schönheit Eindruck und führte bei den Herren zu neugierigem Starren und bei den Damen zu kritischen Blicken und geflüsterten Kommentaren. Sie war unter den Debütantinnen des Jahres die ungekrönte Königin, daran herrschte kein Zweifel. Man bescheinigte ihr ausgezeichnete Chancen auf dem Heiratsmarkt. Die Bewerber würden Schlange stehen, hieß es.

»Hast du bemerkt, wie krank die Königin aussieht?«, fragte Frances, als sie zurück im Londoner Haus des Vaters waren. »Ich fürchte, die lebt nicht mehr lange.«

»Ist doch kein Wunder«, erwiderte Mary. »Die Arme hat siebzehn Schwangerschaften hinter sich. Siebzehn! Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Du etwa?«

Frances schüttelte sich vor Entsetzen. »Und trotz allem hat sie keine Nachkommen. Alles umsonst! Manche wurden stillgeboren, andere sind nach Wochen gestorben. Für eine Mutter muss das schrecklich sein.«

»Wenigstens hatte sie ihren George«, sagte Mary. »Der muss sie sehr geliebt haben.«

»Woraus schließt du das?«

»Sonst wäre sie doch wohl nicht so oft schwanger geworden.«

Marys Bemerkung ließ Frances erröten, doch nachdem sie einen Moment darüber nachgedacht hatte, nickte sie. »Himmel noch mal, du hast recht! Aber irgendwie eine obszöne Vorstellung. Wenn das Liebe ist, verzichte ich lieber.«

»Ausgerechnet du?«, fragte Mary und lachte. »Wer verschlingt denn einen Liebesroman nach dem anderen?«

»In den Romanen ist die Liebe schön und aufregend und romantisch. Das andere ist so … Ich weiß nicht … viehisch.«

Mary zuckte mit den Schultern und seufzte. »Wenn man denn wählen könnte … Doch das eine ist wohl nicht ohne das andere zu haben.«

Tage später brachte der Bote Post, darunter ein Brief von Lady Anne Wortley Montagu, einer jungen Frau, mit der Mary sich angefreundet und eine eifrige Korrespondenz begonnen hatte.

»Meine liebe Freundin«, schrieb Anne.

Ich höre, Ihr habt bei Eurem Debüt vielen gehörig den Kopf verdreht. Wenn Ihr Euch fragt, wieso ich, obwohl nicht zugegen, zu dieser Annahme komme, so wisst, dass ich einen vertrauenswürdigen Spion im Saal der Königin hatte – meinen Bruder Edward. Er war überaus angetan von Euch und hat mich beauftragt zu fragen, ob Ihr gnädigst willens wäret, auch mit ihm zu korrespondieren. Ich muss mich für seine unverzeihliche Impertinenz entschuldigen, habe aber versprochen, seinen Wunsch zu erwähnen. Aber seid versichert, meine Liebe, dass Ihr Euch zu nichts verpflichtet fühlen dürft.

»Wer ist denn dieser Edward?«, fragte Frances, als Mary von dem Brief erzählte.

»Lady Annes Bruder. Du weißt doch, ich schreibe ihr gelegentlich. Die Familie stammt aus dem Norden. Sie besitzen dort Kohlenminen. Edward ist der Enkel des Earl of Sandwich, hat aber als zweiter Sohn keinen Anspruch auf den Titel.«

»Und der will dir schreiben?«

»Warum nicht?«

»Lass bloß niemanden davon wissen. Wir können doch nicht einfach mit irgendwelchen Männern korrespondieren. Vater geht durch die Decke, wenn er davon erfährt.«

Mary grinste. »Das macht es doch gerade spannend.«

Frances hatte natürlich recht, aber Mary fühlte sich geschmeichelt und war neugierig, was für ein Mann dieser Edward sein mochte. Trotzdem schrieb sie ihrer Freundin Anne, dass sie ihrem Bruder keineswegs erlauben könne, mit ihr zu korrespondieren. Das schicke sich nicht, schließlich sei sie kein Marktweib von Covent Garden. Außerdem kenne sie ihn ja gar nicht.

»Bist du nun zufrieden?«, fragte sie Frances, nachdem sie ihr den soeben verfassten Brief vorgelesen hatte.

»Das wäre ich, wenn du es ehrlich meinen würdest.«

»Du glaubst, ich meine es nicht ehrlich?«

»Ich kenne dich zu gut, Schwesterherz.«

»Na so was!«, sagte Mary geheimnisvoll lächelnd, zuckte mit den Schultern und verließ mit dem Brief in der Hand den Raum. »Ich glaube, ich habe das Pferd des Boten gehört«, rief sie noch über die Schulter.

***

Thoresby, Frühjahr 1710

»Lass dich bewundern«, sagte Mary, nachdem sie ihn umarmt hatte. Sie trat einen Schritt zurück und musterte ihren Bruder lächelnd von oben bis unten.

William war drei Jahre jünger als sie, aber für seine siebzehn Jahre hoch aufgeschossen und so mager, dass er den roten Uniformrock kaum auszufüllen schien. Auf seinem Kopf saß der Dreispitz, an den Beinen hatte er geknöpfte blaue Gamaschen, und an seiner Seite hing ein schlanker Degen.

Es war ein schöner Frühlingstag, die Kutsche war bereits vorgefahren, und die beiden standen vor dem Eingangsportal von Thoresby Hall und warteten auf Frances. »Welchen Rang hast du denn inzwischen?«, fragte Mary.

»Immer noch Fähnrich. Aber nächstes Jahr kriege ich ein Offizierspatent. Vater hat es versprochen.«

»Bist du nicht zu jung dafür?«

»Vater kennt den Regimentsoberst. Sie sind im selben Club.«

»Im Kit-Cat-Club?«

»Ja, so heißt der, glaube ich.«

Mary erinnerte sich an diesen Club und an ihren überwältigenden Auftritt dort als Siebenjährige. Im Grunde war es nicht mehr als ein edler Saufverein für reiche Adelige. Anscheinend verkehrte ihr Vater noch immer dort. »Und dieser Freund besorgt dir ein Offizierspatent.«

»Das hat er versprochen.«

Mary wusste, dass man Verbindungen haben musste, um ein Offizierspatent zu erwerben, und natürlich musste man kräftig zahlen. Einem Soldaten aus den unteren Rängen war es praktisch unmöglich, aus eigener Kraft auch nur Leutnant zu werden. Aber an Rang oder Geld mangelte es den Pierreponts nicht, und der Offiziersrang gehörte zum Selbstverständnis adeliger Familien wie der ihren.

»Mit Vaters Hilfe bist du wahrscheinlich bald Oberst.«

»Jetzt übertreibst du aber!«

»Die Uniform steht dir«, sagte sie anerkennend, trat einen Schritt näher und wischte eine Fluse von seiner Schulter. »Aber sie werden dich doch hoffentlich nicht in den Krieg schicken.«

»Leider nicht. Unser Regiment hat noch keinen Marschbefehl.«

»Was heißt ‚leider‘? Bist du so erpicht darauf, dich totschießen zu lassen?«

William bedachte sie mit einem nachsichtigen Lächeln. »Wir werden siegen, Mary. Letzten Herbst hat Marlborough die Froschfresser schon einmal geschlagen. Das nächste Mal machen wir endgültig Hackfleisch aus ihnen.«