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---Enthält den Text der aktualisierten Taschenbuch-Ausgabe--- Vom Glück der Souveränität – warum wir endlich erwachsen werden müssen Gefühl ist Trumpf, Argumente stören, Diskretion war gestern. Wir sind eine Gesellschaft der Kindsköpfe geworden. Erwachsene verhalten sich ungeniert wie Kinder, sind es aber längst nicht mehr. Sie halten das Leben für einen großen Spaß, senden Emojis in die Datenumlaufbahn, schwärmen hemmungslos für Greta & Co. Zugleich behandeln Politiker ihre Wähler wie kleine Kinder. Berlin gibt den Takt vor, die Stadt als Versuchslabor und Partyzone, in der kaum etwas klappt. Alexander Kissler nimmt die Politik ebenso wie den Kulturbetrieb, die Wirtschaft und die Kirchen aufs Korn. Er folgt den mal albernen, mal tragikomischen Verrenkungen unreifer Erwachsener und zeigt die Folgen einer infantilen Gesellschaft: Wenn Vernunft nicht mehr zählt, regiert die Unvernunft. Sein Buch ist eine Einladung, das größte Abenteuer zu wagen, das das Leben für uns bereithält: erwachsen zu werden. Ein fulminanter Aufruf zu mehr Mündigkeit, mehr Eigenverantwortung und weniger Gefühligkeit »Die Kunst des Erwachsenseins besteht darin, Distanz zu ertragen, von sich selbst absehen zu können, den Unterschied zwischen drinnen und draußen, Privatheit und Öffentlichkeit, Ich und Nicht-Ich ermessen zu können. Der innerlich erwachsene Mensch ist grundsätzlich in der Lage, sein Leben selbstständig und nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, ohne zu erwarten, dass er sich mit diesen Vorstellungen immer durchsetzen wird. Er kennt seine Schwächen und seine Stärken und die lange Strecke zwischen den Polen. Er arbeitet mehr an sich als an anderen, nimmt es mit den eigenen Plänen genauer als mit den eigenen Rechtfertigungen. Er hält weder die Welt für eine Ausformung des Ichs noch das Ich für einen bloßen Wurmfortsatz der Welt. Er weiß, was er will. Er will nicht alles und nicht alles sofort. Er scheitert und verzweifelt nicht, er gewinnt und vergisst sich nicht. Er lässt andere nicht für eigene Niederlagen büßen und bleibt im Triumph nicht allein. Wir müssen uns den erwachsenen als einen glücklichen Menschen vorstellen. Sind Sie bereit?« »Ein lesenswertes und aufregendes Buch« Jörg Thadeusz »Fazit: Kissler hat nichts Geringeres als eine Streitschrift wider den Zeitgeist vorgelegt.« Gabor Steingart »Eine erfrischende Lektüre für Jung und Alt, um mehr über das Erwachsenwerden zu erfahren.« Lehrerbibliothek.de , Februar 2021
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Seitenzahl: 289
»Die Kunst des Erwachsenseins besteht darin, Distanz zu ertragen, von sich selbst absehen zu können, den Unterschied zwischen drinnen und draußen, Privatheit und Öffentlichkeit, Ich und Nicht-Ich ermessen zu können. Der innerlich erwachsene Mensch ist grundsätzlich in der Lage, sein Leben selbstständig und nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, ohne zu erwarten, dass er sich mit diesen Vorstellungen immer durchsetzen wird.«
aktualisierte Taschenbuchausgabe
© 2020 by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Covergestaltung von hißmann, heilmann, hamburg
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783749950096
www.harpercollins.de
»Ich will immer ein kleiner Junge bleiben und Spaß haben.«
PETER PAN
Wo und warum die infantile Gesellschaft ihr Haupt erhebt
Der Schauspieler sei ein Mensch, dem es gelungen ist, die Kindheit in die Tasche zu stecken und sie bis ans Lebensende darin aufzubewahren. So formulierte es einmal Max Reinhardt, und weil Max Reinhardt ein ebenso berühmter wie großartiger Theaterregisseur war, wird ihn die eigene Lebenserfahrung zu diesem Bonmot verleitet haben. Es ist doppelbödig und stellt uns vor Probleme: Was macht der Schauspieler mit der Kindheit in der Hosentasche? Lässt er sie dort stecken und erfreut sich still an ihrem Besitz? Holt er sie routiniert hervor, um sich auf der Bühne in andere Menschen verwandeln zu können? Braucht er sie für seine Berufsausübung, die dann eine Ausbeutung wäre der eigenen Kindheit? Und ist jeder Mensch mit einem solchen konservierend-kreativen Zugang zum Kind, das er einmal war, ein Schauspieler?
Dann, ja dann wäre die politische, die mediale, die wirtschaftliche und soziale Bühne der Gegenwart von Schauspielern bevölkert. Die infantile Gesellschaft wird nämlich an immer mehr Stellen Realität. Dass wir in ernsten Zeiten leben, steht dem nicht entgegen, im Gegenteil. Das Kindische wird von Erwachsenen oft eingesetzt, um die Zumutungen des Faktischen zu verschleiern und ganz eigenen Interessen folgen zu können. Von dieser Wechselwirkung und ihren mal komischen, mal tragischen Folgen handelt dieses Buch. Und natürlich vom Glück, das lauert, wenn an die Stelle der Infantilität das wunderbare Abenteuer der Mündigkeit, der Souveränität, der verantworteten Freiheit tritt.
Die infantile Gesellschaft ist jedoch keineswegs eine Erscheinung neueren Datums, wenngleich sie nie ausgeprägter schien als heute. In einem Aufsatz von 1932, erschienen an Heiligabend im Chicago Herald, klagt der Schriftsteller Aldous Huxley: Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts habe ein »morbider Kult des Infantilen« eingesetzt. Dessen Spuren verfolgt der Autor von »Brave New World« zurück zu seinen Schriftstellerkollegen William Wordsworth und Charles Dickens. Von Wordsworth stammt der erstaunliche Satz, das Kind sei der Vater des Mannes. Aldous Huxley hält dagegen: »Für alle früheren Autoren war der Mann immer und ganz fraglos der Vater des Kindes; mit anderen Worten, die erwachsenen Interessen und Werte standen auf einer höheren Stufe als die der Kindheit.« Dieses Verhältnis habe sich seitdem umgekehrt.
Charles Dickens sei auf dieser falschen Spur weitergeschritten, sodass »die höchste Form des Menschentums« plötzlich nicht mehr »der erwachsene Heros« war, sondern »das Baby in mittleren Jahren«. In seinem Roman über die »Pickwickier« (1836) habe Dickens »kahlköpfigen alten Windelnässern« den »Heiligenschein köstlicher Lächerlichkeit« verliehen. Vollendet wurde die »Mythologie des Infantilen« durch Peter Pan, jenen Knaben, der nie erwachsen wird. Diese Geschichte, folgert Huxley, hätte ohne das Bedürfnis der Leute, »sich im Kindischen zu suhlen«, keinen derart großen, keinen allgemeinen Erfolg gehabt. Was folgt daraus? Nichts Gutes. Huxley schließt scharf und bitter: »Der Kult des Kindischen hindert die Menschen daran, während der letzten zwei Drittel ihrer natürlichen Existenz sinnvoll zu leben.«
Rund 90 Jahre später können wir diese Befürchtung auf die Gesellschaft übertragen. Sinnvolles Leben, sinnvolle Politik sind kaum möglich, wenn das Unreife zum Leitbild erhoben wird. Mit dem Kindischen ist freilich nicht das Kindliche gemeint. Das Kindische ist Nicht-Kindern vorbehalten. Kinder verhalten sich sehr zurecht kindlich. Kindische Erwachsene sind Erwachsene im Stand selbstverschuldeter Unreife. Kindisch ist es, so zu tun, als wäre man, was man nicht mehr ist: Kind. Kindisch nennen wir den inszenierten Rückfall in eine abgelebte Zeit. Infantilität ist ein einziges großes So-tun-als-ob. Unernst ist es dem Sinn nach, bitterernst wird es ausgeführt. Peinlich kann es werden.
In unserer gegenwärtigen Gesellschaft stoßen wir auf viele machtvolle Infantilismen. Teils dienen sie politischen, teils wirtschaftlichen Interessen. Manchmal sollen sie auch ein Ich vor der Verantwortung für sein Tun schützen. Oder eine Gruppe davor bewahren, gewogen und für zu leicht befunden zu werden. Erwachsene sind nicht zufällig kindisch. Sie sind es, weil sie es sein wollen. Sie inszenieren sich als unmündig, um nicht zur Rechenschaft gezogen werden zu können. Sie greifen zu vorreifen Verhaltensweisen, um ewig unverbindlich spielen zu können. Und werden so zum Spielball der anderen, der erwachsenen Erwachsenen. Darin liegt die Nachtseite von so viel Kinderei, die Gefahr. Der kindische Mensch wird schnell zum manipulierten Menschen.
Dabei ist die Theorie hinter der punktuellen Rückverwandlung ins Kindliche nicht von vornherein destruktiv. Aus dem Knaben im Mann könnte ein ursprüngliches, unverbogenes Dasein sprechen. Das innere Kind soll die Quelle sein zu einem echten Leben, nicht entstellt von Konvention, Tradition, Bildung. Der authentische Mensch wird im Kind verherrlicht. Insofern ist der Ahnherr unserer kindischen Gegenwart der Philosoph Jean-Jacques Rousseau – ein schlimm missverstandener Rousseau freilich. Nicht Rousseauisten, sondern Vulgärrousseauisten sind die heutigen Helden des Kindischen. Rousseau empfahl keineswegs einer ganzen Gesellschaft, am Ende gar einer nach Milliarden zählenden Weltbevölkerung den Weg zurück zur Natur, ins Unvernünftige und zum Naturwesen Kind. Er plädierte für lokale, überschaubare Gemeinschaften, in denen sich Geist und Natur im Gleichgewicht halten. Er wollte keine kindische, sondern eine wahrhafte Gesellschaft, ohne Lug und Trug und Zärtelei. Für »alte Windelnässer« war da kein Platz. Wir werden von Rousseau in diesem Buch oft hören. Es lohnt sich, ihn zu lesen, vor allem seine Erziehungsphantasie »Émile«.
Leider biegen heute viele Zeitgenossen mit Rousseau falsch ab ins Zauberreich der Gefühligkeit – und in ein Bild von Natur, das ganz und gar unnatürlich ist. Ins Unermessliche gestiegen sind die Ratgeber und Erklärbücher, die in der Natur das einzige legitime säkulare Lehramt erblicken. Natürlich ist der Mensch ein Naturwesen, das mit der ihn umgebenden Natur schonend umgehen sollte. Natürlich schadet der Raubbau an den natürlichen Ressourcen den Menschen am stärksten. Natürlich darf die Sonderstellung des Homo sapiens in der Schöpfung nicht dazu verleiten, rücksichtslos alles auszubeuten, was nicht Mensch ist, und so am Ende den Menschen auch. Keineswegs aber hält die nichtmenschliche Natur ein geheimes Wissen bereit, das dem verbildeten Menschen den Weg weist zurück zu Glück und Zufriedenheit. Wo Fuchs und Igel sich Gute Nacht sagen, sagen sich Igel und Fuchs Gute Nacht – und halten keinen kategorischen Imperativ für den Menschen bereit, errichten keine Lehrsäle für traurige Großstädter. Vögel singen nicht, Bäume wachsen nicht, weil sie damit Menschen trösten wollen, sondern weil sie tun, was nach Vogelart und Baumart ihre Sache ist. Schön, dass sie’s tun.
Besonders deutlich zeigt sich ein kindischer Blick auf die belebte Natur beim Kult um den Wolf. Deutschland ist Wolfsland geworden. Die Ankunft des Raubtiers fällt zusammen mit dem Aufstieg einer nervösen Republik, die vor ihren Abgründen Schutz sucht im Schoß der Natur. Da bietet der edel gewachsene Wolf eine ideale Projektionsfläche. Ungebunden streift er durch Lande, in denen er für ausgerottet galt. Seine Wiederkehr ist in dieser Perspektive das Gütesiegel für eine renaturierte Kulturlandschaft. So klatscht man Applaus, bringt seinen Kindern bei, man müsse vor ihm keine Angst haben – und steht stumm vor der Tatsache, dass Meister Isegrim ein reißendes Raubtier bleibt, das schon vielen Nutztieren den Garaus machte. Wölfe sind eben doch, wer hätt’s gedacht, keine besseren Menschen. Wenngleich sich hier langsam eine Rückkehr zur realistischen Perspektive andeutet, bleibt das Lager der Wolfsschwärmer bemerkenswert groß.
Wenn nicht die unzähmbare Natur, ist dann wenigstens der junge, der minderjährige Mensch eine Quelle besseren Seins? Das Bild vom kindlichen Orakel lässt sich weit in die Vergangenheit zurückverfolgen. Keine spätmoderne Spezialität ist auch dies. Neu allerdings ist die flächendeckende Bereitschaft, dem Kindermund allgemein höchste Weisheitsgrade zuzusprechen. Von den Kindern solle man lernen, tönt es aus Politikermund. Auf die Kinder möge man hören, fordern Künstler und Wissenschaftler. Das eben ist dann doch eine kindische Zumutung zu strategischen Zwecken. Nicht Kindern ist vorzuwerfen, dass sie wie Kinder reden. Aber Erwachsenen ist vorzuwerfen, wenn sie Aussagen von Kindern nutzen, um ihre eigene erwachsene Agenda gegen Kritik zu immunisieren. Insofern sind nicht die kindlichen Klimaaktivistinnen ein Problem für unsere Demokratie. Wohl aber sind’s Erwachsene, die in Kindern jenen Universaljoker meinen gefunden zu haben, mit dem sie jede Debatte zu ihren Gunsten beenden können.
Auch Ökonomie und Kultur haben dem »Kult des Kindischen« (Aldous Huxley) die Pforten geöffnet. Einer Wirtschaft, die auf Bedürfnisbefriedigung und Bedürfniserzeugung setzt, wird man es vielleicht eher nachsehen, wenn sie in kindischen Formen auf Kundenfang geht. Sie bedient einen Markt, den es gibt und den sie ausweiten will. Freilich ist die Frage nach den sozialen Folgekosten nicht geklärt. Der Siegeszug niedlicher Lifestyle-Accessoires aus den Kinderzimmern hinein in die Erwachsenenwelt macht diese gewiss nicht vernünftiger, aufgeklärter, klüger. Und dass der elektronisch betriebene Roller, der E-Scooter, sich zur umweltverschmutzenden Gefahrenquelle entwickelt, kümmert nur einen echten Peter Pan nicht. Für ihn ist er erfunden worden. Früher fuhren Roller kleine Kinder, denen das Fahrrad zu kompliziert erschien. Heute soll die Großstadt-Elite nach Knabenart dahinrauschen.
Schutz vor der Reife bietet auch eine Verkleidungskultur, mittels der sich Erwachsene in Plüschtiere verwandeln oder das Kindsein simulieren. Oder Emojis benutzen anstelle von Worten. Da wundert es nicht, dass die Leichte Sprache sich anschickt, von der sinnvollen Ausnahme zum falschen Leitbild zu werden. Was gedacht war als Sonderfall für eine unterstützensbedürftige Randgruppe, taugt mehr und mehr als Normalfall. Zwischentöne sind out, Hauptsache, man wird irgendwie verstanden. Ministerien duzen die Bürger, Bildungszentralen erklären die Demokratie mit Piktogrammen, Medien machen aus Nachrichten lustige Clips, Laute und Bilder ersetzen Begriffe wie in Vor- und Grundschule. Kommunikation wird zum niedrigschwelligen Angebot für alle Schichten, alle Generationen.
Am gravierendsten zeigen sich die Tendenzen der Infantilisierung in der Politik. Auch dort triumphiert die Anrede im Kumpelton. Des Argumentierens müde oder unkundig, greifen immer mehr Politiker zum direkten Gefühlsappell. Gut sei, was das Wohlbefinden steigert. Wahr sei, was die Emotion eingibt. Das Ich entäußert sich. In den Debatten im Bundestag, in Talkshows, im Radio siegt das direkte Sentiment über das umständliche Abwägen. Da es jedoch eine öffentliche Zurschaustellung von Gefühlen ist, wird durch solche Inszenierung gerade nicht dem Wahren zum Durchbruch verholfen. Auf der Vorderbühne herrscht eine demoskopisch angeheizte Stimmungsdemokratie, während im Maschinenraum der Macht entschieden wird. So könnte die Republik ihren republikanischen Geist verlieren. Dagegen hilft nur der Mut zur Erwachsenheit.
So stehen wir staunend und ergriffen, irritiert und erheitert vor einer Gesellschaft, in der nicht Kinder vorzeitig hinaufgehoben werden ins Erwachsenenzeitalter, was ihnen einst gewiss nicht gut bekam. Wir sehen Volljährige, Erwachsene, Ausgereifte, die sich lustvoll hinabbeugen zum Kind, das sie einmal waren. Sie herzen sich selbst. Sie spielen Unschuld. Sie verlachen den Ernst der Lage. Was diesen indes nicht kümmert. Er bleibt wie ehedem. Um die Lage wirklich zu bessern, für sich und für andere, um der Verschleuderung unserer Gaben ebenso zu entkommen wie ihrer Zurichtung zu fremden Zwecken, müssen wir Erwachsenen noch einmal erwachsen werden. Dieses Buch, das Sie in Händen halten, will zu diesem wunderbaren Abenteuer ermuntern. Und muss darum unbedingt beginnen mit Rousseau und mit Peter Pan und kann weder um das infantile Berlin noch um kindische Kirchen einen Bogen machen. Folgen Sie mir?
Jean-Jacques Rousseau erfindet die Kindheit,Aldous Huxley ärgert sich über den Hass auf die Wirklichkeit,und Peter Pan schlägt Menschen tot
Während ich diese Zeilen schreibe, hat der kleine Jakob eine glückliche Zeit. Jakob ist ein Prachtkerl und der Stolz seiner Eltern. Trifft man sie zusammen im Treppenhaus, strahlen sie einander um die Wette. Jakob hat immer etwas zu erzählen – mal der Mutter, mal dem Vater, ob diese nun gemeinsam mit ihm hinaufsteigen, hinabsteigen oder sich noch drei Stockwerke entfernt von ihm befinden. Jakob lässt sich davon nicht verdrießen. Er sagt alles, was ihn zu sagen drängt, sofort und laut. Und wohin er möchte, da hält er drauflos, augenblicklich. Zu dritt wohnen sie über mir. Manchmal erkenne ich das Kind, das ich war, im kleinen Jakob wieder und freue mich mit ihm.
Viel Energie steckt in dem neuen Erdenbürger, der vier oder fünf Jahre alt sein mag. Kraft ist sein hervorstechendes Merkmal, für mich zumindest, der ich mich bisher nur kurz mit ihm unterhielt, im Treppenhaus, sofern der Zufall es wollte. Aber ich höre täglich das stapfende Glück in der Wohnung über mir, wenn Jakob sie durcheilt. Nichts tut er lieber, als von der Straßenseite zur Hofseite zu rennen, vom vorderen zum hinteren Zimmer, und wieder retour und wieder von vorn. Mal lacht er dabei, mal ruft er, mal bebt seine Stimme vor Zorn. Aber fast immer ist er in Bewegung, und ganz gewiss tut ihm das gut. Nur manchmal, nach der zwanzigsten oder dreißigsten Durchquerung der Zimmerlandschaft, denke ich still bei mir: Warum sagen die Eltern nichts? Wäre es nicht an der Zeit, dass der kleine Jakob lernte, dass alles seine Zeit und das meiste seine zwei Seiten hat? Vom Glück des einen kommt beim anderen zuweilen nur Donner an. Doch dann verscheuche ich den garstigen Gedanken. Schön, dass Jakob so putzmunter ist. Den Ernst des Lebens wird er früh genug kennenlernen. Schön, dass die Eltern ihn gewähren lassen. Ob sie Jean-Jacques Rousseau gelesen haben?
Vor dem Schweizer Philosophen nämlich machte sich niemand so ausführlich und so aufwendig Gedanken, was es heißt, ein Kind zu sein. Und weshalb die Kindheit als eine ganz eigene Epoche zu betrachten sei, nicht als bloßer Vorlauf zum Erwachsensein, den es rasch zu durchmessen gelte – fast so wie die Wohnung über mir, wenn Jakob sie erkundet. In der deutschen Übersetzung umfasst »Émile oder Über die Erziehung« knapp tausend Seiten, unterteilt in fünf große Kapitel, die Rousseau Bücher nennt. Erschienen ist das monumentale Werk im Mai 1762, zu einer Zeit, da Frankreich eine absolutistische Monarchie war und Europa noch immer unter dem Siebenjährigen Krieg litt. »Émile« wurde – ebenso wie das nur einen Monat zuvor erstveröffentlichte philosophische Hauptwerk Rousseaus über den »Gesellschaftsvertrag« – sofort nach Erscheinen verboten.
Jean-Jacques Rousseau, Uhrmachersohn, Autodidakt, geboren 1712 in Genf, galt als Umstürzler, Monarchenhasser und Kirchenfeind. Tatsächlich findet sich im dritten Buch des »Émile« die hellsichtige Prophezeiung: »Wir nähern uns sichtlich einer Krisis und dem Jahrhundert der Revolutionen.« Unmittelbar darauf, versteckt in einer Fußnote, erläutert Rousseau, er halte es für »eine Unmöglichkeit, dass die großen Monarchien Europas noch lange bestehen können. Alle haben schon ihre Glanzepoche gehabt, und jeder Staat, welcher glänzt, geht seinem Untergang entgegen.« Es sollte dann noch 27 Jahre dauern, bis in Paris die Bastille erstürmt und die Republik ausgerufen würde – nur 27 Jahre.
Länger musste sich in Geduld üben, wer die Früchte von Rousseaus Reformpädagogik reifen sehen wollte. Deren Hauptsatz lautet, niedergelegt im zweiten Buch von »Émile«: »Liebet die Kindheit, begünstigt ihre Spiele, ihre Vergnügungen, ihren liebenswürdigen Instinkt.« Rousseau wollte im »Émile« und anhand der ersten rund 20 Lebensjahre des fiktiven Knaben Émile zeigen, was gute Erziehung vermag. Von welchen angeblich bewährten Regeln sie sich fernzuhalten habe, damit aus Kindern gute, glückliche Menschen werden. Er wollte, in anderen Worten, das »unwahre Prinzip unserer Erziehung« aufzeigen. So hieß, 80 Jahre nach »Émile«, eine Schrift des deutschen Philosophen Max Stirner. Auch 1842 also war das Anliegen des »Émile« uneingelöst. Das zeigt, wie sehr Rousseau seiner Zeit voraus war. Oder wie unrealistisch sein kolossales Programm sich anließ.
Aus Sicht des Kindes, scheint es, kann man sich ein Aufwachsen nach der Methode Rousseau nur wünschen. Der »Émile« ist die Lizenz zum Schreien, Toben, Spielen. Lesen soll das Kind wenig und spät, »Robinson Crusoe« reicht vorerst. Stattdessen führt Rousseau seinen Émile, in der Fiktion ein gesundes Kind aus wohlhabendem Elternhaus, zur Erkenntnis des Lebens hinaus in die Natur. Aufwachsen soll Émile im Dorf, nicht in der Stadt, in Einfachheit, nicht im Luxus, auf Wiesen, nicht auf Kissen, keusch, nicht lustbetont: »Die erste Regel ist, die Natur zu beobachten und dem Wege zu folgen, den sie vorzeichnet.« Die Natur spricht aus dem Menschen, solange die Gesellschaft ihn nicht verformt hat. Rousseau dachte zeitlebens groß vom einzelnen Menschen, während er der Menschheit insgesamt allerhand List und Tücke unterstellte. Der größte, der beste, der echte Mensch hört auf die Stimme der Natur in sich, den Instinkt. »Nehmen wir uns nur immer den Instinkt zum Muster.« Das unverbildete Kind, das im Gegensatz zum Erwachsenen den Instinkten freien Lauf lässt, wird zum Symbol gelungener Schöpfung. Der Naturmensch hat die Bande zum Ursprünglichen nicht gekappt. Nur er ist authentisch. »Es gibt im menschlichen Herzen keine angeborene Verderbtheit.«
Darum soll, ja muss das kleine Kind tun, was ihm behagt. So spürt und übt es die Kräfte der Natur in sich, und die Natur hat in Rousseaus Welt alles zum Besten bestellt. Kinder, heißt es im »Émile«, »müssen springen, laufen, schreien dürfen, so oft sie Lust dazu verspüren. Bei allen ihren Bewegungen folgen sie den Bedürfnissen ihrer Natur, die sich zu stärken sucht.« Wer Kindern zu früh die Kindlichkeit abtrainiert, der verhindert ihre Entwicklung zum gesunden, zum ganzen Menschen. Rousseau sah die ersten beiden Lebensjahrzehnte als einen Schonraum der Individuation an. Natürlich bedürfe es von frühester Kindheit an eines Erziehers, wie Rousseau gerne einer gewesen wäre, theoretisch. Praktisch schickte er die eigenen fünf Kinder, Frucht einer Beziehung mit Marie-Thérèse Levasseur, einer Pariser Schneiderin, ins Heim. Mit dem »Émile« ging aus dem faktischen Rabenvater der theoretische Musterpädagoge hervor. Doch die Erziehungsphantasie war auch als eine solche gekennzeichnet, als Gedankenspiel, und hat als solche ihren herausragenden Rang zurecht. »Gibt es überhaupt einen Naturzustand?«, lässt sich mit dem Rousseau-Experten Jean Starobinski und dessen 1971 auf Französisch erschienenen Studie »Rousseau – Eine Welt von Widerständen« fragen – und mit ihm antworten: »Jedenfalls wird er höchstens ein virtueller Ort auf halbem Wege zwischen den Extremen sein.«
Die Natur im Kind soll sich in dessen Lebendigkeit äußern. Ihr ist zunächst alles unterzuordnen: »Ich kenne nur ein einziges erfolgversprechendes Mittel, den Kindern ihre Unschuld zu bewahren, und dies besteht darin, dass ihre ganze Umgebung die nötige Rücksicht auf sie nimmt und sie liebt.« Abermals sollen Kinder Liebe erfahren – »Liebet die Kindheit, begünstigt ihre Spiele« –, und abermals ist der praktische Test dieser Liebe die Entgrenztheit des Spiels. »Seine Spiele sind seine Beschäftigungen«, lesen wir im »Émile«. Später sollte der französische Schriftsteller Émile Chartier, genannt Alain, einen Schritt weitergehen und in den Spielen »die Religion der Kindheit (…) oder, was dem gleichkommt, die Kunst dieses Kindervolkes, das nicht arbeitet«, erblicken. So steht es in »Les idées et les âges«, auf Deutsch: »Von der Liebe, von der Arbeit, vom Spiel« (1962).
Aufgabe der Erwachsenen ist es laut Rousseau, optimale Bedingungen für Spielen und Springen, Laufen und Schreien zu schaffen, drinnen wie draußen. Konkret rät Rousseau: »Lässt man der Ausgelassenheit der Kinder völlig freien Lauf, so ist es freilich ratsam, alles aus ihrer Nähe zu verbannen, wodurch sie teuer zu stehen kommen könnte, und nichts Zerbrechliches und Kostbares in ihrem Bereich zu lassen. Ihre Stube muss mit starken und dauerhaften Möbeln ausgestattet sein; kein Spiegel, kein Porzellan, keine Luxusgegenstände darf man darin antreffen.« Ob die Wohnung über mir in diesem Sinne eingerichtet wurde? Der kleine Jakob muss sich hörbar keine Rücksichtnahmen auferlegen, und das macht mich neidisch. Als ich klein war, lautete das Motto, Kindern müsse man Grenzen setzen. Sonst entwickelten sie sich zu Tyrannen.
Rousseau war freilich als Mensch ebenso widersprüchlich wie als Philosoph. Er wollte »lieber für einen paradoxen Mann gelten, als ein Mann voller Vorurteile sein.« Die »Gesetze der Natur« galten ihm im »Émile« als höchste Richtschnur, die Natur nannte er die »Meisterin«, die nicht irre, weshalb er forderte: »Gewährt der Natur einen langen Spielraum, bevor ihr an ihrer Stelle handelnd auftretet, und hütet euch, ihre Wirkungen zu verhindern.« Er empfahl sogar, was Jakob über mir noch nicht genießen durfte, »viele Spiele zur Nachtzeit«. So verliere der Mensch die Furcht vor dem Dunklen. Überhaupt steckt im »Émile« neben dem Kuschelpädagogen, der die Streiche seines Zöglings bewundernd beobachtet, der strenge Lehrer. »Kindern gegenüber geziemt sich Gewalt, Männern gegenüber Vernunft; das bringt die Ordnung der Natur mit sich; der Weise bedarf keiner Gesetze«: Auch diese Erkenntnis findet sich im »Émile«.
Der fiktive Pädagoge Jean-Jacques will sein Erziehungsobjekt abhärten. Schlimmer als alles Frühreife sei die Verzärtelung. »Leiden und Dulden ist das erste, was er lernen muss.« Émile werde durch Jean-Jacques an »Flinten-, Büchsen- und Kanonenschüsse, ja an die furchtbarsten Detonationen« gewöhnt, damit er später kein Grauen fürchte. Kinder »weinen viel, und das muss so sein.« Sie müssten sich im Wald verlaufen, sich nachts ängstigen, hinfallen auf abschüssigen Pfaden, um für das erwachsene Leben gewappnet zu sein. Zur »natürlichen Erziehung« gehöre es, dem Kind beständig »das menschliche Elend vor Augen« zu führen und so Mitleid zu wecken. »Unglückliche, im Sterben Liegende, Bilder des Schmerzes und des Elends, welch ein Glück, welch ein Genuss für ein junges Herz, das eben erst zum Leben erwacht!« Der Erzieher müsse »Gewalt über das Herz eines Jünglings« gewinnen – und dabei den »Schein der Freiheit« wahren. Zum Wohl des Zöglings, versteht sich.
Die Widersprüchlichkeit des Menschen Rousseau wie auch von dessen Philosophie vererbte sich auf den Nachruhm, bis heute. Derzeit überwiegt die Deutung, hier habe jemand erstmals alle Erziehung radikal vom Kind her gedacht. Was eben auch stimmt, angesichts solcher Sätze im »Émile«: »Das Kind darf nie etwas auf das bloße Wort tun; nichts ist ihm so gut als das, wovon es selbst fühlt, dass es gut ist.« Oder: »Wir verstehen nie, uns an die Stelle der Kinder zu versetzen; statt auf ihre Ideen einzugehen, leihen wir ihnen die unsrigen, und indem wir beständig unseren eigenen Schlüssen nachgehen, häufen wir mit all den Reihen von Wahrheiten nur verschrobene Ansichten und Irrtümer in ihrem Kopf auf.« Insofern hat es seine Berechtigung, wenn man in Jean-Jacques Rousseau einen Vordenker sieht von Summerhill und der Waldorf- und Montessori-Schulen und wenn auch die Praktiker der antiautoritären Erziehung sich auf ihn berufen. Vor und nach 1968.
Die Liebe zur Kindheit, die Achtung des Kindes bedeutete für Rousseau jedoch nicht, die Generationengrenze zu leugnen. Er verschob nur die Marken und änderte die Perspektive. Insofern dominieren in heutigen Debatten die Vulgärrousseauisten. Sie erklären das Kind zum Orakel, aus dem höhere Mächte sprechen. Sie modellieren sich ein Kind nach ihren Maßstäben. Sie wollen durch das vorgestellte Kind als die besseren Erwachsenen erscheinen. Sie schieben Kinder ins Rampenlicht, um sich Zugriff auf eine Zukunft nach eigenem Gusto zu sichern. Sie schaffen sich durch Kinder auf dem Podest eine Tabuzone, in der die Positionen des Podestebauers nicht kritisiert werden sollen. Das argumentative Kindchenschema sorgt für neue Dogmen. Ihr eigenes kindgemäßes Verhalten soll ihnen, den Reifen, vor sich und aller Welt bezeugen, dass in ihnen jugendliche Kräfte sich regen. So wie in dem damals 61-jährigen amerikanischen Theaterregisseur Peter Sellars, als dieser am 27. Juli 2019 die Salzburger Festspiele mit einer Rede eröffnet. Er erklomm die Höhe einer infantilen Zeit ganz.
Dazu muss man wissen: Die Eröffnungsreden der Salzburger Festspiele schreiben nicht selten Geschichte. Etwa 1972, als Eugène Ionesco über die »bedrohte Kultur« sprach. Der rumänische Dramatiker war düster gesinnt, bedauerte den »Hass, der die Völker gegeneinander aufwiegelt«. In diesem »Zeitalter des Zorns« mit seinen waffenstarrenden Machtblöcken warb er für einen anderen Blick auf den Menschen: »Wir haben vergessen, was Kontemplation sein kann. Wir sind nicht mehr imstande, zu betrachten. Wir können nicht mehr zum Himmel aufblicken. (…) Wir müssen wieder lernen, uns zu wundern.« Im Juli 2019 rief Sellars eine neue globale Zivilisation aus und riet Frauen, »im Kampf gegen den Klimawandel« weniger Kinder zu bekommen – im Namen der lebenden Kinder.
Ein Foto vom Tage zeigt Sellars als alten Punk mit irrem Blick, wirrem Haar. Das Bild mag in einem ungünstigen Augenblick aufgenommen worden sein, trifft aber den Kern der Rede. Stringenz suchte man vergebens. Symptomatisch ist die Rede für eine Gegenwart, die es nicht unter Weltrettung macht und die ganze Schöpfung aus einem einzigen Blickwinkel zu betrachten sich angewöhnt – dem des Klimawandels. Natürlich ist nicht die ganze Welt von diesem messianischen Holismus befallen, wohl aber sind es »wir, die Bewohner der westlichen Hemisphäre«, in deren Namen Sellars das Wort ergriff. Und die er züchtigte mit Sätzen wie Peitschenhiebe: »Wir bewegen uns in eine vollkommen falsche Richtung. (…) Die Wissenschaft gibt uns noch genau 15 Jahre, um eine neue, eine ökologische Zivilisation zu schaffen.«
Man muss in vormodernen Zeugnissen suchen, um sich dem Trugbild von »der« Wissenschaft hinzugeben. Die Rationalität moderner Wissenschaft besteht darin, dass sie Zweifel operationalisiert, auch Zweifel an den eigenen, stets nur vorläufigen Ergebnissen. »Die Wissenschaft« gibt es nicht. Der Regisseur aus den Vereinigten Staaten muss diese überholte Fiktion verwenden, um der Zahlenspekulation von den »genau 15 Jahren« Autorität zu verleihen. Was wird sich 2034 ereignen, wenn wir Westler bis dahin keine »neue Zivilisation« geschaffen haben werden? Wird das schlimme Ereignis am 27. Juli 2034 eintreten oder ein paar Tage später, ein paar Wochen eher? Sellars hielt eine pseudoreligiöse Erweckungsrede. Er empfahl sich als Apostel der Klimareligion. Deshalb verwies er auf »Buddhas erste Lehre« und die »sichtbaren und unsichtbaren Naturwelten«.
Was soll der Westler – eine Minderheit der Weltbevölkerung – in den kommenden 15 Jahren zur Weltkatastrophenabwehr tun? Sellars zufolge müssen »wir dringend die Strukturen des Kapitalismus und des internationalen Bankensystems hinterfragen«, müssen zweitens »auf alte, tradierte Erkenntnisse indigener Völker zurückgreifen«, drittens »die Umstellung auf pflanzliche Ernährung intensivieren«, viertens und vor allem auf die Kinder hören: »Kinder sprechen eindringlich mit ihren Eltern. Sprecht weiter! Ihr habt den größten Einfluss auf eure Eltern! Und ihr Eltern, hört auf eure Kinder! Unsere Generation war die Generation der Imperien und der Konsumgesellschaft. Jetzt ist es an der Zeit, eine neue Generation von engagierten, schöpferischen, fürsorgenden jungen Menschen willkommen zu heißen.«
Was hat es mit dem demografischen Faktor auf sich? Frauen sollten »als Partner auf Augenhöhe die Möglichkeit haben, selbstbestimmt zu entscheiden, ob und wann sie Kinder bekommen. Das allein wird schon eine weitreichende Wirkung erzielen« – eine Wirkung, heißt das, auf den Klimawandel. Weniger Kinder, besseres Klima: Darauf läuft die harte Gleichung hinaus. Vom besseren Klima aber werden dann die Kinder profitieren, die heute schon ihren Eltern sagen, wo es lang zu gehen habe, »hört auf eure Kinder!«
Bereits elf Tage vor dem moralischen Imperativ des Peter Sellars, am 16. Juli 2019, äußerte sich Ursula von der Leyen ähnlich, in deutlich abgeschwächter Version freilich und nur am Rande. Die damalige Kandidatin für das Amt der Präsidentin der Europäischen Kommission stellte im Straßburger EU-Parlament »einen neuen Migrations- und Asylpakt« in Aussicht. Ihr Werben hierfür schloss sie mit einer »Geschichte« aus dem privaten Umfeld: »Vor vier Jahren konnte ich einen 19-jährigen Flüchtling aus Syrien bei uns zuhause aufnehmen. Er sprach kein Deutsch, und die Erfahrungen im Bürgerkrieg und auf der Flucht hatten ihn tief gezeichnet. Heute, vier Jahre später, spricht er Deutsch, Englisch und Arabisch fließend. Er absolviert tagsüber gewissenhaft seine Ausbildung und erwirbt in der Abendschule einen weiteren Abschluss. Er ist uns allen eine Inspiration.«
In der Live-Übertragung der Rede im Fernsehsender »Phoenix« sprach die Übersetzerin aus dem Englischen vom »Quell der Inspiration«, zu dem sich der junge Syrer für die ganze Familie entwickelt habe – ein doch recht bizarres, wenngleich planvoll eingesetztes Szenario: Man stelle sich den Küchentisch im Hause von der Leyens, der siebenfachen Mutter, vor, an dem Jung und Alt, Frau und Mann, Verwandte, Bekannte und Angestellte sich von den Worten eines Jugendlichen aus fernem Land inspirieren lassen, also begeistern und entfachen. Nimmt man es ernst, wirkt es komisch. Als hätte es eines Teenagers bedurft, um die Sinn- und Morallücke im Haushalt einer Ministerin zu schließen.
Wer das Kind, das real erlebte oder das strategisch herbeiimaginierte, zum generationenübergreifenden Rollenvorbild erklärt, fällt leicht selbst zurück ins kindliche, wenn nicht kindische Reden. Benannt, nicht ganz gebannt ist diese Gefahr in einer weiteren Bibel des natürlichen Lebens, in Ralph Waldo Emersons Essay »Nature« von 1836, erschienen 74 Jahre nach dem »Émile«. Im rousseauschen Duktus schreibt der amerikanische Schriftsteller, »niemals erscheint die Natur auf gemeine Art und Weise.« Emerson, ein überzeugter Christ und im Gegensatz zu Rousseau kein Kulturpessimist – »der glücklichste Mensch ist der, welcher von der Natur die Lektion der Gottesverehrung lernt« –, sieht in der Natur einen Ausdruck des Geistes. So gelangt er zur bemerkenswerten Aussage, Natur sei »das Medium des Denkens«. Er schätzt also gerade nicht die Nähe zum Instinkt, die ein »naturgemäßes Handeln« sichere, sondern die Wirkung auf den Intellekt. Im Wald erfahre die Seele Schönheit und erhalte der Geist Nahrung. Insofern verbindet Emerson auf geschmeidigere Weise als Rousseau zwei große Sehnsüchte auch unserer Tage: das Bedürfnis nach freier Natur und jenes nach Kreativität.
Emerson war 33 Jahre jung, als er »Nature« schrieb. Rousseau erfand seinen »Émile« im Alter von 50 Jahren. Auch der Amerikaner verherrlicht die Jugend. Auch bei ihm ist sie die Phase werdender Kräfte, wobei Emerson vor allem an moralische und geistige Kräfte denkt, weniger an körperliche, die bei Rousseau eine ebenso große Rolle spielen. Der Genfer wünscht sich eine in jeder Hinsicht starke Kindheit, in der körperliche und seelische Ertüchtigung sich ergänzen. Emerson lobt am lebenslang bewahrenswerten »Geist der Kindheit«, dass er innere und äußere Sinne in Einklang bringe. Der Wald ist gewissermaßen ein Trainingscamp für diese geistige Harmonie: »Auch in den Wäldern wirft der Mensch seine Jahre von sich wie eine Schlange ihre Haut und ist, in welchem Alter auch immer, stets ein Kind. In den Wäldern ist immerwährende Jugend.« Damit aber ist das Höchste erreicht, was ein Mensch werden kann, ein Kind, wieder ein Kind.
Emerson denkt wie Rousseau »Kinder und primitive Völker« zusammen. Eine Portion Antiintellektualismus ist der Emerson’schen Liebe zum inneren Kind beigemischt. Er idealisiert wie Rousseau einen historisch nicht greifbaren Naturzustand, die »Kindheit« der Geschichte, in der die menschliche Sprache »ganz Poesie« gewesen sei. Bei Rousseau hingegen war die »erste Sprache des Menschen« der »Schrei der Natur«: ein Ausruf, eine Reaktion, keine Kunst. Romantisch dachte Rousseau, anders als Emerson, in dieser Hinsicht nicht. Im »Émile« schrieb er: »Alle unsere Sprachen sind künstlich entstanden. Man hat weitläufige Untersuchungen angestellt, ob es eine natürliche und allen Menschen gemeinsame Sprache gebe. Unzweifelhaft gibt es eine solche, nämlich die, welche die Kinder sprechen, ehe sie reden können. Diese Sprache ist zwar unartikuliert, aber trotzdem akzentuiert, klangvoll, leicht verständlich. Die Gewöhnung an die übliche Sprache der Erwachsenen hat sie uns bis zu dem Grade vernachlässigen lassen, dass wir sie völlig vergessen haben.«
So war Rousseau einerseits ambitionierter, wollte er doch die Gesellschaft grundlegend ändern, sie gerechter machen, schöner, gewissenschonender, indem er durch ein neues Erziehungsideal neue Menschen heranbildete. Andererseits war er realistischer als Emerson, der sich von der »Weisheit der Kinder« nicht nur heilende, sondern heiligende Wirkungen versprach – zumindest im Medium des Textes. Schriftsteller war er, Philosoph blieb er, Mister Ralph Waldo Emerson: »Die Kindheit ist der immer wiederkehrende Messias, der in die Arme der gefallenen Menschen kommt und sie anfleht, in das Paradies zurückzukehren.« Einspruch! Die geistvolle Unschuld, die Emerson der Kindheit zuerkennt, die Balance der Sinne kann vom erwachsenen Menschen nicht wieder eingeholt werden – sofern es sie je gegeben hat. Man kann sich nicht zurückverpuppen. Man kann nicht leben im Status des Als-ob. Man kann Erfahrungen nicht durchstreichen. Eine zweite, eine reflektierte Naivität ist nicht zu haben. Wer es dennoch versucht, wirklich versucht und nicht nur dichterisch sich vorstellt, der wird zu einem kindischen Narren wie Peter Sellars in Salzburg.
Mit dem Loblied auf Kind und Kindheit, das Rousseau und Emerson zu unterschiedlicher Zeit und mit verschiedenen Refrains anstimmten, ging ein doppelter Blickwechsel einher. Weil das ideale Kind die Frühe idealisiert, folgt aus der besonderen Beschäftigung mit ihm die Sehnsucht nach den Ursprüngen. Der mythische Anfang des Menschengeschlechts zieht neues Interesse auf sich, das Goldene Zeitalter. »Immer«, schreibt der Schriftsteller Émile Chartier, genannt Alain, »hat der Mensch seine besten Gedanken hinter sich gesucht und nicht vor sich. In allen Legenden lebt das goldene Zeitalter als ein wirkliches und fühlbares Erinnern an einen besseren Zustand (…). Das irdische Paradies ist gewiss nichts anderes als jener Kindheitszustand, ausgesponnen durch des zarten Alters Träume, die noch gar nicht Träume sind; der Traum ist Traum erst dann, wenn das Leben kein Spiel mehr ist.«
Weil das Kind zugleich das meiste Leben noch vor sich hat, sind forciertes Kinderlob und flammende Zukunftsbegeisterung ebenso wenig zu trennen. Zurecht weist der Schriftsteller Aldous Huxley, Autor von »Brave New World«, 1956 in seinem Essay »Morgen und morgen und dann wieder morgen« auf diesen Zusammenhang hin: »Zwischen 1800 und 1900 räumte die Lehre von der ›Taube auf dem Dach‹ in der Mehrzahl westlicher Hirne ihren Platz der Doktrin vom ›Spatzen in der Hand‹. Die motivierende und kompensierende Zukunft wurde nicht mehr als entkörperlichter Glückszustand aufgefasst, den ich und meine Freunde nach dem Tod genießen sollten, sondern als Bedingung irdischen Wohlergehens für meine Kinder oder (…) für meine Enkel oder Urenkel.« Der Blick ist nicht länger zum erhofften Himmel, sondern ins vorgestellte Morgen gerichtet.
Schon damals, anno 1956, ortete Aldous Huxley das »Glück ihrer Urenkel im 21. Jahrhundert« als den argumentativen Knock-out im Mund der unbeirrbaren Fortschrittsapostel, Technikjünger, Umverteiler und Kommunisten. Heute, da das 21. Jahrhundert gekommen ist, wusste sich der 1925 geborene, 2022 verstorbene Journalist Wolf Schneider für einmal unter den vollen Segeln des Zeitgeistes, als er 2019 ein finales Büchlein vorlegte mit dem Titel: »Denkt endlich an die Enkel! Eine letzte Warnung, bevor alles zu spät ist«. Es gebe zu viele Menschen auf der Erde, und diese seien »zu tüchtig, zu gierig« und vermüllten, zertrampelten, vergifteten sie. Kaum drastischer sagt es die ökologische Endzeitsekte »Extinction Rebellion«.
Das Kind als Begriffsjoker im Gespräch unter Erwachsenen: Aldous Huxley analysiert die Instrumentalisierung genau. Er war es auch, der deutlich früher, 1929 im Essay »Swift«, den »Protest gegen die Wirklichkeit« als einen spezifisch kindlichen Zug charakterisierte, denn »nur ein Kind kann sich weigern, die Natur der Dinge zu akzeptieren.« Liebenswert, mag man ergänzen, ist diese trotzige Haltung, wenn eine Vierjährige die Augen schließt in der Erwartung, dann ihrerseits nicht gesehen zu werden. Oder wenn ein Fünfjähriger sich im strömenden Regen die Hand über den Kopf hält, um nicht nass zu werden.
Bei Erwachsenen – da ist Aldous Huxley unerbittlich – ist die »letzte Form von Kinderei« erreicht, sobald sie »die Realität (…) hassen, weil sie nicht den Märchen gleicht, die die Menschen erfunden haben, um sich über die Beschwernisse und Schwierigkeiten des täglichen Lebens hinwegzutrösten; oder sie (…) hassen, weil das Dasein nicht so viel Sinntiefe zu enthalten scheint, wie irgendeiner unserer Lieblingsautoren ihm zuschreibt.« Die Realität ist kein Märchen und keine tiefe Offenbarung? Umso schlimmer denn für die Realität! Huxley sieht sich geradezu umstellt, »extrem häufig«, von Erwachsenen, die »bewusst die Verhaltensweise der Kindheit« nachäffen, vom »gemeinsten und widerlichsten Typ des Sentimentalisten«. Konkret dachte Aldous Huxley an den Schriftstellerkollegen Jonathan Swift, aber auch an die blindgläubigen Anhänger der »Utopie des Sozialismus«.
Swift, schloss Huxley seinen gleichnamigen Aufsatz von 1929, habe vielleicht 200 Jahre zu früh gelebt. Hätte der 1745