Keine Toleranz den Intoleranten - Alexander Kissler - E-Book

Keine Toleranz den Intoleranten E-Book

Alexander Kissler

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Beschreibung

Von der Gefahr falscher Kompromisse!

Schweinefleisch verschwindet aus Schulbüchern, die Moschee von der Seifenpackung – die Selbstzensur des Westens treibt absurde Blüten. Zwar werden Presse- und Meinungsfreiheit beschworen, aber Terror wirkt: Nach den Pariser Anschlägen wird hier und da gefordert, man müsse Blasphemie stärker unter Strafe stellen …

Muss man wirklich Verständnis dafür haben, dass besonders Fromme besonders reizbar sind? Wollen wir die Freiheit opfern für die Illusion, dadurch die Freiheitsfeinde zu besänftigen?

Alexander Kisslers neues Buch ist ein entschiedener Aufruf, die Meinungs- und Religionsfreiheit selbstbewusst zu stärken.

  • Schluss mit der Illusion, Freiheitsfeinde besänftigen zu können
  • Die Schere im Kopf: Warum zu viel Political Correctness der falsche Weg ist
  • Ein herausfordernder Standpunkt in Zeiten ideologischer Verwirrung

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Seitenzahl: 196

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ALEXANDER KISSLER

Keine

Toleranz den

Intoleranten

WARUM DER WESTEN SEINE

WERTE VERTEIDIGEN MUSS

GÜTERSLOHER VERLAGSHAUS

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2015 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Das Gütersloher Verlagshaus, Verlagsgruppe Random House GmbH, weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Cover: Sandro Botticelli, Die Geburt der Venus (Titelbild Cicero 02/15 – Bildbearbeitung: Antje Berghäuser)

ISBN 978-3-641-17481-1

www.gtvh.de

INHALT

1 VORWORT

2 KOUACHI, KOUACHI, COULIBALY:

DIE PARISER ANSCHLÄGE, DER CHRISLAM UND HOUELLEBECQ

3 »DAS HAT NICHTS MIT DEM ISLAM ZU TUN«:

DIE BRIGADE MIT DEN BERUHIGUNGSPILLEN RÜCKT AUS

4 ALLES SO SCHÖN TOLERANT HIER:

DEUTSCHLAND KLOPFT SICH AUF DIE SCHULTER

5 »WECHSELSEITIG UNSERE DUMMHEITEN VERZEIHEN«:

AN VOLTAIRE FÜHRT KEIN WEG VORBEI

6 KETZER MÜSSEN SEIN:

WARUM JOHN LOCKE SICH ZWISCHEN RAIF BADAWI UND CICERO SEHR WOHLFÜHLT UND WAS DIE NATUR DAZU SAGT

7 »JUDE, JUDE, FEIGES SCHWEIN«:

DAS KOPENHAGENER ATTENTAT, MUSLIMISCHER ANTISEMITISMUS UND DIE GANZ ALLTÄGLICHE LEISETRETEREI

8 ABENDLAND, ABGEBRANNT?

WIE DER WESTEN ENTSTAND, WAS ARABIEN WUSSTE UND WIEDER VERGASS UND WANN DIE GEWALTENTEILUNG VOM HIMMEL FIEL

9 SCHERE IM KOPF, MESSER AM HALS:

WIE DER WESTEN SICH ABSCHAFFT, DIE FREIHEIT ZENSIERT UND DABEI TROTZDEM SCHRECKLICH GUTER LAUNE IST

10 DSCHIHAD UNSER:

DIE KIRCHEN UND ANDERE VIRTUOSEN DER WESTLICHEN SELBSTZERKNIRSCHUNG

11 »NUR DURCH DIE MACHT DER SCHARIA«:

WARUM ES BIS HEUTE KEINE ISLAMISCHEN MENSCHENRECHTE GIBT UND DAS GEGENTEIL ABER AUCH STIMMT

12 DAS NEUE BAND

NAMENSREGISTER

LITERATUR (AUSWAHL)

»Wir sollten daher im Namen der Toleranz

das Recht für uns in Anspruch nehmen,

die Unduldsamen nicht zu dulden.«

Karl Popper

»Dem Problem der Toleranz dürften Sie

kaum gewachsen sein, Ingenieur.

Prägen Sie sich immerhin ein, dass

Toleranz zum Verbrechen wird, wenn

sie dem Bösen gilt.«

aus Thomas Manns »Der Zauberberg«

1 VORWORT

Ich sehe die Welt mit anderen Augen seit dem 7. Januar 2015. Zehn Minuten vor zehn Uhr am Morgen las ich die erste Meldung. Es habe einen Vorfall gegeben in der Redaktion der Satirezeitschrift »Charlie Hebdo«. Von Verletzten war die Rede, möglicherweise gab es Tote. Ich schluckte schwer, ich wollte es nicht glauben, ich begriff. »Charlie Hebdo« war die Zeitschrift mit den Mohammed-Karikaturen. Der Terror, zunächst noch ohne Adjektiv, hatte das Herz des alten Kontinents erreicht: Paris, die Metropole der Freiheit. Eine Stunde später war die Hoffnung gestorben, da sei nur Glas kaputtgegangen, da seien vielleicht nur Knochen gebrochen, die wieder zusammenwachsen könnten. Gestorben war die Hoffnung im Kugelhagel der Brüder Saïd und Chérif Kouachi. Nichts würde da mehr zusammenwachsen, nichts heilen. Nun konnte es jeden treffen, überall im Westen, jeden, auch mich.

Den 11. September 2001, der bald zu einer Spielmarke des Grauens verkürzt wurde, zu »9/11«, hatte ich in schlimmer Erinnerung. Es waren Bilder am Fernsehschirm von brennenden Hochhäusern, auf die ich schaute, nachmittags, nach einer Rückfahrt im Auto, während der die Meldungen aus New York von Minute zu Minute gespenstischer geworden waren, immer unfassbarer. Keine kleinen Flugzeuge, stellte sich bald heraus, waren abgeprallt an den beiden Hochhäusern, den Twin Towers. Vielmehr hatten mächtige Passagierflieger diese zum Einsturz gebracht. Am Steuerknüppel der fliegenden Selbstmordbomben hatten Mohammed Atta und seine Glaubensbrüder von al-Qaida gesessen. Sie meinten, im Namen ihrer Religion ein gottgefälliges Werk zu tun, dem »Satan« namens USA eine schmerzliche, vor allem angemessene Lektion zu erteilen.

Doch es blieben damals Bilder am Schirm, die mich verstörten. Es blieben Formen, grauenhafte Formen des Terrorismus, aus einem doch sehr fernen Land. Erst später gelang es mir, auch in New York das zu sehen, was Paris von Beginn der schrecklichen Tage im Januar 2015 an für mich sein sollte, ein Symbol der Freiheit. Mit Paris war stärker noch als im Fall New Yorks sofort und unmittelbar der Westen getroffen. Fanatisierte Muslime hatten, das Wort ihres Propheten auf den Lippen, Menschen exekutiert, weil sie in deren tatsächlich respektlosem Tun eine Beleidigung Mohammeds erblickten. So gewaltig erschien ihnen der Angriff mit Wort und Bild, dass sie ihn mit einem Angriff auf Leib und Leben meinten rächen zu müssen. So bekundeten es die Brüder Kouachi durch ihre Tat. »Rache für Mohammed!« riefen sie. Ich bin mir sicher, sie meinten, was sie schrien.

Damit hatten die Stunden des Grauens Anfang 2015 begonnen. Am folgenden Tag war von einem zweiten Pariser Anschlag die Rede. Diesmal hatte es einen jüdischen Lebensmittelladen getroffen. Ein Attentäter, der sich mit den Brüdern Kouachi abgestimmt hatte, wollte Juden töten. Leider gelang es Amedy Coulibaly sogar, ehe er dann selbst von der Polizei erschossen wurde, ehe er sich, wie zu lesen war, den Kugeln geradezu entgegenwarf. Der Tod des Mörders vollendet in der verqueren Logik des radikalen Islam das vermeintliche Glaubenszeugnis. Was war, was ist da nur los in den Hauptstädten des Westens und in den Köpfen solcher Fanatiker? Noch nicht lange liegt es zurück, dass in Brüssel vier Menschen im Jüdischen Museum von Belgien ermordet wurden, im Mai 2014, weil der Täter, ein Muslim mit französischem Pass, Juden hasste. Und in Sydney starben, ebenfalls im Jahr 2014, zwei Menschen bei einer Geiselnahme, bei der der muslimische Geiselnehmer eine Fahne mit dem islamischen Glaubensbekenntnis ins Schaufenster hängen ließ.

Dem Westen also und den Juden als dessen Exponenten ist der Krieg erklärt worden – nur von einer kleinen Minderheit der Muslime, aber in einem Tonfall der Rechtfertigung und der Anklage, der Brücken baut zum Mehrheitsislam. Mit uns, sagen die enthemmten Attentäter von New York, Brüssel, Sydney und Paris, ist nicht zu spaßen. Wir reden nicht, wir handeln. Unsere Reaktion ist eine Aktion, die euch schachmatt setzt. Denn ihr, ihr Westler, mitsamt euren westlichen Werten und dieser Toleranz, auf die ihr so stolz seid, ihr seid Ungläubige, Abgefallene, ja »denaturierte Menschen« – so, erfuhr ich bald, fasst ein Philosoph den Überlegenheitsanspruch des islamischen Menschenbilds zusammen. Auch ich, der Christ, wäre demnach ein Irrtum der Evolution, eine fatale Unmöglichkeit aus koranischer Sicht.

Um die Welt und mich in dieser Welt ein wenig besser zu verstehen, um jene Sorge zu durchdringen, die mich seit dem 7. Januar 2015 nicht verlässt, musste ich genau wissen, was das Feindbild des militanten Islam auszeichnet, den Westen. Die geistigen Gründungsurkunden las ich, befragte Voltaire und John Locke nach ihrem Bild von Toleranz, aber auch die Bibel. Ich ging in die Schule bei Rémi Brague, Philippe Nemo und Heinrich August Winkler, drei großen Denkern des westlichen Selbstverständnisses unserer Tage. Wohin ich mich auch wendete, überall wurde mir Toleranz als eine Übung in Standhaftigkeit nähergebracht und gerade nicht als gleichförmiges Desinteresse an allem. So aber hat sich der Westen in weiten Teilen in den letzten Jahren entwickelt: zur Vereinigung der Menschen, denen alles egal ist, solange niemand sie beim Lebensgenuss und dessen Verdauung stört. Toleranz aber ist ohne Haltung nicht zu haben.

Das Verhalten von Politik, Medien und Kirchen legt davon ein trauriges Zeugnis ab. Es ist viel zu oft die pure Halt- und Haltungslosigkeit. Aus Angst wie aus Bequemlichkeit regiert in Ansehung des militanten Islam das große Appeasement. Zu den raschesten Äußerungen nach den Attentaten von Paris zählte die quasi regierungsamtliche Beruhigung, derlei habe mit dem Islam nichts zu tun. Islamisten seien letztlich gar keine Muslime. Barack Obama, Präsident der Vereinigten Staaten, äußerte sich kaum klüger; der Islam dürfe nicht diffamiert werden, keine Religion sei für Terrorismus verantwortlich. Welch himmelschreiender Unernst, verstanden sich die Mörder doch als besonders glaubenstreue Fromme auf den Spuren Mohammeds. Vor diesem schlichten Faktum verblasst jede Frage, inwieweit sie sich zu Recht oder zu Unrecht auf diese oder jene Sure beriefen. Es genügt, dass sie es taten, dass sie aus ihrem Bild des Islam die Lizenz zum Mord ableiteten. Also ist es an der Zeit, auch die Gewaltgeneigtheit dieser Religion zu thematisieren.

Das Appeasement des Westens verdient eine mindestens ebenso ernste Anfrage. Was lief da schief in den Schulbänken der Aufklärung zwischen Washington und London, Berlin und Stockholm, wenn der Westen sich zwar sonntags als Wertegemeinschaft begreift, von Montag bis Samstag aber nichts unternimmt, um diese Werte zu verteidigen? Wenn die Selbstzensur fröhliche Urständ feiert und man sich in vorauseilenden Unterwerfungsgesten übt, um weiter an der Illusion festhalten zu können vom friedlichen Nebeneinander von Freiheit und Freiheitsfeindschaft? Lieber ziehen vorgeblich aufgeklärte, in Wahrheit eingeschüchterte Mitteleuropäer potentiell anstößige Karnevalswagen aus dem Verkehr oder sagen Faschingsumzüge wie im Februar 2015 jenen von Braunschweig ganz ab, um den Freiheitsfeinden keine weiteren Angriffsflächen und Anschlagsziele zu bieten, als unverdrossen einzustehen für die Freiheit der Meinung, die Freiheit der Religion, die Freiheit der Versammlung und, sämtliche Freiheiten überwölbend, die Gleichheit aller Menschen von Geburt an.

Die Terrorbrigade »Islamischer Staat« begreift sich auf einem Eroberungszug über das Mittelmeer hin, Rom fest im Blick. Und Rom ist neben Jerusalem und Athen einer der drei Pfeiler dieses großen zivilisatorischen Projekts namens Westen oder Abendland. Fällt Rom, ist der Westen Geschichte. Damit Rom nicht fällt, muss der Westen sich seines inneren Kompasses neu vergewissern. Eine einmalige Vergangenheit, eine ganz außerordentliche Emanzipationsgeschichte, in Blut und Tränen geschrieben, Tränen der Freude wie Tränen des Schmerzes, muss aktualisiert werden – solange deren Restbestände uns noch zu Gebote stehen, wir noch einigermaßen frei greifen können nach dem Quell unserer Freiheiten.

Massiv aufgerüstet hat eine »dunkle Ideologie«, die alles bedroht, was zu lange für selbstverständlich galt, das freie Denken und Leben in einer weitgehend gewaltfreien Gesellschaft des Gemeinwohls und des besseren Arguments. Die dänische Ministerpräsidentin sprach vom Kampf nicht zwischen Islam und Westen, der angebrochen sei, sondern zwischen »Freiheit und dunkler Ideologie«. Was aber ist diese Ideologie anders als das menschenverachtende Wahngebäude radikalisierter Muslime, die dem Westen kein Pardon geben werden?

Von Helle Thorning-Schmidt müssen wir dennoch reden, denn in ihrem Land, in der Hauptstadt Kopenhagen, ereignete sich keine sechs Wochen nach dem Massaker von Paris ein weiterer Anschlag auf den Westen und auf die Juden. Omar Abdel Hamid el Hussein schoss auf die Teilnehmer einer Konferenz über Meinungsfreiheit und Blasphemie und tötete so den Dokumentarfilmer Finn Nør-gaard. Später wollte er in das Jüdische Gemeindezentrum eindringen, in dem gerade Bar Mitzwa gefeiert wurde. Der jüdische Wachmann Dan Uzan bezahlte seinen Dienst mit dem Leben. Zwei Morde also hatte der Palästinenser mit dänischem Pass zu verantworten, ehe auch er erschossen wurde – wunschgemäß, vermutlich. Seine Tat trug weiter dazu bei, dass ich die Welt heute mit anderen Augen sehe als in den Jahren vor 2015. Ich frage mich, wie lange ich hier auf den Straßen von Berlin mich noch frei und sicher werde fühlen können, ohne in jedem abweisenden Gesicht einen Attentäter in spe zu sehen und mich nicht aus dem Haus zu trauen. Das nämlich ist das Perfide am Terrorismus: Er kriecht als momentane Sorge in uns hinein und triumphiert als ewige Drohung.

Von all dem will dieses Buch erzählen, vom Suchen und Wiederfinden des Westens also, der in einer seltsamen Lust am eigenen Untergang gefangen scheint, von Liberalität und Unfreiheit, von Religion und Säkularismus, von Toleranz und von deren unbedingten Grenzen, von einer überlebensnotwendigen Haltung. Und schließlich und endlich auch von einer großen Hoffnung, die ich mir nicht nehmen lassen will.

2 KOUACHI, KOUACHI, COULIBALY:

DIE PARISER ANSCHLÄGE, DER CHRISLAM UND HOUELLEBECQ

Die Verteidigung hat keinen guten Ruf in diesen Tagen. Zuweilen hört man die alte Weisheit, mit dem Sturm werde ein Fußballspiel, mit der Abwehr die Meisterschaft gewonnen. Selbst in dieser Floskel aber schwingt die Geringschätzung des Spiels nach hinten mit. Der spätmoderne Konsument will Spektakel und Offensive, keine Absicherung, kein Abtasten und erst recht kein Hochamt der Verteidigung sehen. Dabei widerlegt manch hohe Niederlage die Mär von der Flucht nach vorne. Wer sich nur am gegnerischen Tor orientiert, läuft leicht ins offene Messer und wird vernichtend geschlagen. Verteidigung muss sein.

Auf weltanschaulichem Geläuf ist es kaum anders. Eine Mannschaft, die sich nicht zu verteidigen weiß, darf von ihrer Niederlage nicht überrascht sein. Ist der Westen, diese doch noch immer stolze geistige Formation, ist dieses sogenannte Abendland momentan verteidigungsfähig, also auskunftsbereit und redewillig? Natürlich ist Verteidigung nicht im militärischen oder polizeilichen Sinne gemeint, obwohl an der Bereitschaft zur Ultima Ratio sich die Ernsthaftigkeit auch dieser Idee bemisst. Der Westen, verstanden als große Freiheitserzählung, als Projekt und Geschichte in einem, könnte in der Stunde seiner größten Bewährung vor eben dieser Herausforderung kapitulieren. Er könnte seiner Sprachunfähigkeit zum Opfer fallen, könnte implodieren in einem ohrenbetäubenden Schweigen, eingehen an innerer Auszehrung. Der britische Historiker Niall Ferguson nennt die »vielleicht schlimmste Bedrohung des Westens« nicht den radikalen Islamismus oder »eine andere von außen kommende Kraft, sondern unser mangelndes Verständnis für und fehlendes Vertrauen in unser eigenes kulturelles Erbe«.

Mindestens zweierlei wäre also nun zu tun: das eigene Erbe zu identifizieren – und den Mut aufzubringen, es standhaft und konsequent, ohne Feigheit und ohne Kompromisslertum, aber auch gelassen zu verteidigen. Die Schwierigkeiten, vom Eigenen zu reden und dafür einzutreten, sind indes ebenso enorm wie die Probleme mit der Verteidigung als Gestus und Haltung. Wer sich verteidigt, der gibt zu, dass er die Wand schon im Rücken, das Messer am Hals spürt, dass es ihm derzeit nicht um Terraingewinne, sondern um Standhalten zu tun ist. Wer sich weiterhin erdreistet, ein spezifisch Eigenes auszumachen, sieht sich mit dem Verdacht konfrontiert, das hohe moralische Ross bestiegen und das Andere, das Fremde von dort oben abqualifiziert zu haben, also ein schlimmer Kulturimperialist zu sein. Womit en passant die dritte enorme Schwierigkeit einer solchen Verteidigung des Westens benannt wäre: Wir müssen von Kultur reden, nicht von Ökonomie, Jurisprudenz oder Body-Mass-Index; auf Zahlen können wir kaum bauen in einer Welt, die ganz aus Zahlen gemacht ist. Das macht es nicht leichter, doch haben wir eine Wahl, wir Menschen des Westens? »Wenn andere Kulturen nicht kritisiert werden dürfen«, schreibt Carlo Strenger, »kann man die eigene nicht verteidigen.« Der Philosoph und Psychologe Schweizer Abstammung, lehrend in Tel Aviv, rechnet sich den Linksliberalen zu und weiß doch auch: Viele »Vertreter der freien Welt, vor allem auf der linken Seite des politischen Spektrums«, tun sich schwer damit, »ihre Lebensform ernsthaft zu verteidigen«. Eine Kultur, ein Projekt und eine Geschichte, ein Prinzip ist der Westen, eine Lebensform aber auch – und zwar jene, die dem Menschen letztlich am meisten entspricht. Trotz aller Abgründe und Dunkelheiten, vor denen das westliche Denken nicht schützt, hat es einen unüberbietbar faszinierenden, verheißungsvoll funkelnden Kern, eine Hoffnung im Innersten, die besagt: Der Mensch ist fähig zur Freiheit.

Interessanterweise kommt in Niall Fergusons »sechs Killerapplikationen, die der Westen entwickelte und die der übrigen Welt fehlten«, die Freiheit nicht explizit vor. Dennoch ist seine unglücklich, da martialisch betitelte Sechser-Liste aufschlussreich. Ferguson beginnt mit dem Wettbewerb, fährt fort mit der »wissenschaftlichen Revolution, insofern als alle größeren Umwälzungen in der Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie und Biologie in Westeuropa stattfanden,« und dem Rechtsstaat, der auf privatem Eigentum und einer gewählten Legislative beruhe. Die vierte Erfolgs-App des Westens sei die moderne Medizin, die fünfte die Konsumgesellschaft, die letzte die Arbeitsethik. Gemischt ist dieses Bündel, und ich sehe vor meinem inneren Auge schon die Fahnen des Protests wehen. Der Wettbewerb sei zum Sozialdarwinismus verkommen, die Wissenschaft habe alle moralischen Skrupel hinter sich gelassen, das Recht könne beugen, wer über hinreichende Mittel verfüge, das Gesundheitswesen pendele zwischen Apparate- und Zwei-Klassen-Medizin, der Konsum terrorisiere den Konsumenten, die Arbeitsethik habe Burn-Out, Depression und Suizidalität hervorgebracht – willkommen in der schönen neuen Warenwelt des Westens!

Keiner dieser Einwände ist aus der Luft gegriffen, doch keiner stimmt ganz. Freiheit, die alle sechs Errungenschaften verbindende Ursprungsqualität, kann ausschlagen zum Wunderbaren wie zum Schrecklichen, zum Scheitern wie zum Gelingen. Diese Wahl zu haben, dieser Verantwortung sich jeden Tag aufs Neue stellen zu müssen, stellen zu dürfen, macht die Größe des westlichen Selbstentwurfs aus. Anders als in ideologisch fest verfugten Gesellschaften richtet sich die Frage nach dem guten Leben an jeden Einzelnen. Selbstverständlich ist solche Blickrichtung nicht. »In der arabisch-muslimischen Welt«, schreibt der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun, »ist der Einzelne bisher nicht in Erscheinung getreten. Was zählt, ist die Umma, die muslimische Nation, der Klan, der Stamm und die Familie.« Frei nach Karl Valentin ließe sich sagen: Freiheit ist schön, macht aber viel Arbeit. Sie verlangt den neugierigen Menschen, der nicht zuletzt von sich selbst sich immer wieder überraschen lässt. Wo die Schattenseiten des westlichen Lebensmodells kritisiert werden, zeigt diese Kritik die Stärke des Kritisierten. Westen meint immer auch Kritik am Westen, der solche Widerworte zulässt, ja herausfordert. Die Uneinigkeit, so Ferguson, ist ein wesentliches Merkmal der westlichen Zivilisation. In Nordkorea Nordkorea zu kritisieren, in Saudi-Arabien die Herrscherfamilie wäre ein einmaliges und vermutlich tödliches Abenteuer.

Vielleicht ist es bezeichnend für einen wirtschaftsliberalen Angelsachsen wie Ferguson, dass er das in vielerlei Hinsicht primäre Betätigungsfeld der Freiheit außen vor lässt, die Freiheit zum Schönen. Natürlich hat die westliche Ästhetik nach dem Jahrhundert der beiden Weltkriege, nach Giftgas und Materialschlacht, nach Shoah und Lager vielerorts Abschied genommen von einer ungebrochenen Schönheit der Proportionalität, vom eingängigen Kunstschönen. Der goldene Schnitt wird in einer Welt, die aus den Fugen geriet, zum falschen Schein; im Banne von Adornos Negativer Ästhetik stehen wir ausnahmslos. Dennoch ist das eigene kulturelle Erbe, dessen Bestandteile lebenskräftig bleiben bis zum Tag ihrer Neuaneignung, unvollständig ohne Kunst in all ihren Formen. Ob der Mensch, wie Schiller hoffte, erst da ganz Mensch wird, wo er spielt, sei dahingestellt. Gewiss aber ist die spielerische Suche nach dem je treffenden Ausdruck für das Menschliche – und sei es mitunter grob oder derb, hässlich oder gar obszön – der zentrale Impuls der Kulturgeschichte des Westens.

Spezifisch westlich, nicht unbedingt universal ist dieser Drang und sind es erst recht die Wege, ihm stattzugeben. Wo die Schere im Kopf schneidet, hat der Westen abgedankt. Zur Wahrung, zur – um das heikle Wort aufzugreifen – Verteidigung des Westens bedarf es auch eines Bekenntnisses zur Freiheit der Kunst als einer Disziplin des Menschlichen. In der Kunst denkt der Mensch über sich nach und gelangt zu einer individuellen Antwort. Diese wiederum ist wie alles, was der Mensch hervorbringt, von sehr heterogener Qualität. Die Freiheit der Kunst birgt in sich die Freiheit der Rezeption, das Risiko, verstanden oder missverstanden, geschätzt oder abgelehnt zu werden. Freiheit macht Unterschiede offenbar und widersteht dem Furor einer totalen Gleichheit, wie sie nur unfreie Gesellschaften zur Staatsräson erheben können. Ergo gilt es, um den Feinden der Freiheit zu wehren, das Recht auf Differenz zu verteidigen.

Carlo Strenger weist darauf hin, dass die wahrheitsunempfindlichen Kulturrelativisten, die fremde Bräuche und unbegriffene Religionen unbesehen respektieren, bereits »die Vorstellung, Bachs h-Moll-Messe könne wertvoller sein als irgendein Popsong oder die Musik eines afrikanischen Stammes«, dem »heiligen Zorn« ihrer politischen Korrektheit zum Opfer darbrachten. Inkorrekt, aber wahr müssen wir deshalb die Mahnung des indischen Philosophen und Publizisten Vishal Mangalwadi nennen, Musik sei »in der westlichen Geisteshaltung so selbstverständlich und so sehr verankert (...), dass sie zentral und als etwas Natürliches zum Leben dazugehört«, während »nach der Lehre des traditionellen Islams Musik haram, unzulässig« sei. Mangalwadi beruft sich auf die Suren 17, 64 und 31, 6 und 53, 59-62 und »Theologen in der Tradition der von Ibn Masud, Ibn Abbas und Jaabir nach Mohammeds Tod entwickelten Koranauslegung« und setzt hinzu: »Andere Interpreten tendieren zu der Sichtweise, dass der Koran Musik nicht verbietet.« Der muslimische Gelehrte Muhammad Hamidullah nennt die melodiöse Koranrezitation eine »nur den Muslimen eigene Kunst. (...) Auch die Musik und der Gesang haben sich unter dem Patronat von Königen und wohlhabenden Muslimen entwickelt.« Auf dem Feld der Uneinigkeit, scheint es, muss sich der Islam nicht unbedingt hinter dem Westen verstecken.

ENDE DER LESEPROBE