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11. Juni 1940. Michele Ragusano betritt das Haus des faschistischen Vereins, in dem er einst Mitglied war. Der Empfang fällt frostig aus: Ragusano war zuvor wegen «systematischer Diffamierung des ruhmreichen faschistischen Regimes» zu fünf Jahren Verbannung verurteilt worden. Prompt gerät er mit Persico aneinander, einem glühenden Faschisten, der zusammenbricht und einen tödlichen Schlaganfall erleidet. Persico wird feierlich begraben. Er wird als Märtyrer des Faschismus gefeiert, eine Straße soll nach ihm benannt werden. Doch dann kommt ein pikantes Detail aus Persicos Vergangenheit ans Licht, das ein ganzes Städtchen, mitten im Krieg, in großen Aufruhr versetzt …
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Seitenzahl: 51
Andrea Camilleri
Die Inschrift
Roman
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
Ihr Verlagsname
11. Juni 1940. Michele Ragusano betritt das Haus des faschistischen Vereins, in dem er einst Mitglied war. Der Empfang fällt frostig aus: Ragusano war zuvor wegen «systematischer Diffamierung des ruhmreichen faschistischen Regimes» zu fünf Jahren Verbannung verurteilt worden. Prompt gerät er mit Persico aneinander, einem glühenden Faschisten, der zusammenbricht und einen tödlichen Schlaganfall erleidet.
Persico wird feierlich begraben. Er wird als Märtyrer des Faschismus gefeiert, eine Straße soll nach ihm benannt werden. Doch dann kommt ein pikantes Detail aus Persicos Vergangenheit ans Licht, das ein ganzes Städtchen, mitten im Krieg, in großen Aufruhr versetzt …
Andrea Camilleri wurde 1925 in Porto Empedocle, Sizilien, geboren. Er ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur und lehrte über zwanzig Jahre an der Accademia d’Arte Drammatica Silvio D’Amico. Seit 1998 stürmte jeder Titel des Autors die italienische Bestsellerliste. Mit seinem vielfach ausgezeichneten Werk hat er sich auch einen festen Platz auf den internationalen Bestsellerlisten erobert. Im Kindler Verlag sind etliche seiner Werke erschienen, zuletzt «Frauen» (2016). Andrea Camilleri ist verheiratet, hat drei Töchter, vier Enkel und lebt in Rom.
Am Abend des elften Juni 1940, also einen Tag nachdem Italien an der Seite seines Verbündeten Deutschland in den Krieg eingetreten war, tauchte im Verein «Faschismus und Familie» Michele Ragusano auf.
Natürlich spielte fast keiner Karten, wie sonst, alle redeten sich die Köpfe heiß über das, was am Vortag in Vigata geschehen war, als der ganze Ort, Alte, Junge, Frauen und Kinder, ja, sogar Kranke, die aus diesem bedeutenden Anlass ihr Bett verlassen hatten, auf der Straße gewesen war, um Mussolinis Rede zu hören, die durch einen Lautsprecher übertragen wurde.
Und kaum hatte Mussolini zu sprechen aufgehört, war der Tumult, das Tohuwabohu, das Getümmel losgegangen. «Tod den Franzosen!», «Tod den Engländern!», «Es lebe der Duce!», riefen sie mit vereinten Kräften, «Es lebe der Faschismus!», und sie waren wie besoffen vor Freude, tanzten und hüpften und sangen «Giovinezza, giovinezza», die Hymne der faschistischen Partei, als wäre der Krieg ein Sechser im Lotto.
Michele Ragusano hatte man seit über fünf Jahren in Vigata nicht gesehen, doch nicht einer von den zwei Dutzend Vereinsmitgliedern, die gerade miteinander redeten, erwiderte seinen Gruß oder fragte, wie es ihm in der langen Zeit ergangen war.
Denn in diesen fünf Jahren hatte Ragusano auf Lipari in der Verbannung gelebt, wozu er wegen «fortgesetzter Diffamierung des ruhmreichen faschistischen Regimes» verurteilt worden war. Darum war es unvorsichtig, sich im vertrauten Gespräch mit ihm zu zeigen, zumal an diesem Abend Cocò Giacalone anwesend war, ein kräftiger, brutaler Mann, bekanntlich ein Spion des Federale und zu allem fähig, weshalb sich auch die treuesten Faschisten vor ihm in Acht nahmen.
Michele Ragusano, der genau dies erwartet hatte, ging, ohne ein Wort zu verlieren, auf das Regal mit den Zeitungen zu, nahm sich eine, setzte sich an einen Tisch und begann zu lesen.
Da erhob sich Cocò Giacalone mit grimmiger Miene, ging zu Don Filippo Caruana, dem Vereinsvorsitzenden, der gerade seine gewohnte Partie Tresette spielte, und flüsterte ihm erregt etwas ins Ohr.
«Ist das denn wirklich nötig?», erwiderte Don Filippo zögernd.
«Absolut!», erwiderte Giacalone energisch.
«Jetzt gleich?»
«Jetzt gleich!»
Don Filippo legte langsam die Karten auf den Tisch, stand widerwillig auf, ging zu Ragusanos Tisch und sagte unter den neugierigen Blicken aller Anwesenden, die ihre Gespräche unterbrochen hatten: «Michè, du darfst hier nicht sitzen.»
«Warum? Habe ich Schulden beim Verein?»
«Nein.»
«Das kann auch nicht sein, denn meine Frau hat mir gesagt, sie hat den jährlichen Mitgliedsbeitrag immer brav bezahlt.»
«Stimmt. Aber darum geht es nicht. Du bist als Mitglied ausgeschlossen worden.»
«Ausgeschlossen? Seit wann denn das?»
«Drei Tage nachdem du in die Verbannung geschickt wurdest, hat die Mitgliederversammlung, die auf Antrag von Cocò Giacalone eigens zu diesem Zweck abgehalten wurde, einstimmig beschlossen, dass du nicht mehr würdig bist, zum Verein zu gehören.»
«So ist das?»
«Genau so.»
«Na gut», versetzte Ragusano betont gleichmütig und erhob sich von seinem Stuhl, «dann will ich nicht länger stören. Guten Abend die Herren.»
«Moment mal!», schaltete sich Don Manueli Persico ein.
Ragusano setzte sich wieder. Alle erstarrten.
Don Manueli Persico, ein angesehener Mann, den alle ‹u nonno›, den Großvater, nannten, war siebenundneunzig Jahre alt und ähnelte einem wandelnden Skelett, allerdings einem Skelett mit langem weißem Bart. Er war so sehr Haut und Knochen, dass er sich, wenn der Tramontana wehte, zwei dicke Steine in die Taschen steckte, um nicht vom Wind gen Himmel geweht zu werden. Doch seine Stimme war noch kräftig.
Im Jahr 1922, da war er schon über siebzig, hatte er bei den Schwarzhemden mitgemacht, als ein erbitterter Kämpfer mit Knüppel und Rizinusöl, und er hatte auch am Marsch auf Rom teilgenommen. Benito Mussolini war auf ihn aufmerksam geworden, hatte ihn ebenfalls «Großvater» genannt und in die erste Reihe gestellt, gleich neben dem Quadrumvirat der Revolution, Arm in Arm mit einem noch nicht achtzehnjährigen Faschisten.
Von da an war er ein glühender Faschist, immer in vorderster Front und stets bereit, das schwarze Hemd zu tragen. Im Krieg gegen die Abessinier und gegen die spanischen Kommunisten hatte er sich als Freiwilliger gemeldet, aber die Anfragen waren wegen seines fortgeschrittenen Alters abgelehnt worden. Ihm gebührte die Ehre, bei Versammlungen auszurufen: «Parteigenossen, wir grüßen den Führer!»
Und die Menge antwortete: «Wir grüßen den Führer!»
«Hier wurde eine schwerwiegende Regelwidrigkeit zum Schaden eines Vereinsmitglieds begangen», erklärte Don Manueli Persico nun.
«Zu wessen Schaden?», fragte Don Filippo.
«Des hier anwesenden Michele Ragusano.»
«Erklärt das bitte genauer.»
«Zunächst möchte ich euch daran erinnern, dass der Faschist sich loyal gegenüber dem Feind und großmütig gegenüber dem besiegten Feind verhält!»
«Das ist uns bekannt», sagte Don Filippo.
«Ihr wisst es, aber ihr handelt nicht danach. Habt ihr Ragusano jemals mitgeteilt, dass er ausgeschlossen wurde?»
«Ich glaube nicht», antwortete Don Filippo.
«Warum nicht?»
«Wir haben es vergessen.»
«Das war die erste Regelwidrigkeit. Kommen wir zur zweiten. Da er nicht informiert wurde, hat Ragusano durch seine Frau weiterhin den Mitgliedsbeitrag bezahlt. Richtig?»
«Richtig», gab Don Filippo zu.
«Nun, dann frage ich euch: Habt ihr den Beitrag zurückgeschickt, oder habt ihr ihn klammheimlich eingesteckt?»
Don Filippo erbleichte.