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Ein kleines Mädchen in Japan bekommt zum Geburtstag von ihrem Vater eine Puppe geschenkt. Als das Mädchen älter ist, wird die Puppe in einem kleinen Boot auf die Wellen des Meeres gesetzt. Offensichtlich eine Tradition, um den Übergang zu einem neuen Lebensabschnitt ins Erwachsenenalter einzuläuten. Der Bruder des Mädchens ist bei dieser Verabschiedung der Puppe zugegen, plötzlich stürzt er in die Wellen, um der Puppe seinen Löwen als weiteren Begleiter ins Boot zu stellen. Das schafft er noch, verschwindet dann aber für immer im dunklen Meer. Einige Zeit später reist ein anderes Mädchen ihrer verschwundenen Puppe hinterher, eine spannende abenteuerliche Reise mit einem ungewöhnlichen überraschenden Ende beginnt.
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Seitenzahl: 144
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Für
Tali
Unsere wundervolle Tochter
Eine Bereicherung in unserem Leben.
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Biografie
Renier-Fréduman Mundil (Pseudonym) ist seit 40 Jahren Arzt, der jetzt zum Ende seines Berufslebens ein verstaubtes Manuskript aus der vollgestopften Schreibtischschublade hervorgezogen hat, das seine Frau anschließend mit dem sauber geputzten und frisch gebügelten Kostüm eines alten Buchdeckels angezogen hat, damit es ein wenig wie Pinocchio selbst durch diese seltsam gewordene Welt spazieren kann.
Mundil ist seit 42 Jahren verheiratet und hat 23 Kinder (nicht erschrecken, es sind 4 eigene, 4 Schwiegerkinder und 15 Enkelkinder). Manche dieser verstaubten Manuskripte entstanden aus dem uralten, einfachen Perpetuum-mobile Grund:
Es war einmal ein Mann, der hatte 24 Kinder, die 24 Kinder sprachen: „Vater, erzähl uns eine Geschichte!“ Da fing der Vater an: Es war einmal ein Mann, der hatte...
Ein kleines Mädchen in Japan bekommt zum Geburtstag von ihrem Vater eine Puppe geschenkt. Als das Mädchen älter ist, wird die Puppe in einem kleinen Boot auf die Wellen des Meeres gesetzt. Offensichtlich eine Tradition, um den Übergang zu einem neuen Lebensabschnitt ins Erwachsenenalter einzuläuten. Der Bruder des Mädchens ist bei dieser Verabschiedung der Puppe zugegen, plötzlich stürzt er in die Wellen, um der Puppe seinen Löwen als weiteren Begleiter ins Boot zu stellen. Das schafft er noch, verschwindet dann aber für immer im dunklen Meer.
Einige Zeit später reist ein anderes Mädchen ihrer verschwundenen Puppe hinterher, eine spannende abenteuerliche Reise mit einem ungewöhnlichen überraschenden Ende beginnt.
Mister Yomoto lebte im Land des Lächelns. Alles in diesem Land lächelte, die Sonne, der Himmel, die Blumen, sogar die grauen Steine. Weil die Natur lächelte, fiel es auch den Menschen leichter, zu lächeln. Selbst in traurigen Augenblicken kam es vor, dass die Gesichter der Menschen von einem feinen Lächeln überzogen wurden anstatt sich in Tränen aufzulösen.
Eines Tages ging Mister Yomoto ins Krankenhaus. Weil er immer lächelte, war es nicht zu erraten, ob er aus einem traurigen oder einem fröhlichen Anlass ins Krankenhaus ging.
Ich will ihn einmal fragen.
Mister Yomoto, warum lächeln Sie?
Der kleine Mann drehte sich um. Aber er sah niemanden.
Wer spricht mit mir? dachte er und lief weiter.
Mister Yomoto hatte uns nicht gesehen. Es ist kein Wunder, denn er lebte bereits vor hundert Jahren, wir leben jetzt.
Später traf ich ihn noch einmal. Und er hat mir erlaubt, seine Geschichte zu erzählen, die eigentlich die Geschichte seiner Tochter Imito ist. An diesem Tag ging er nämlich ins Krankenhaus, weil er Vater geworden war. Seine Frau hatte ein kleines Mädchen bekommen. Es dauerte nur wenige Augenblicke, da war die Kleine Imito bereits zwei Jahre alt. Sie konnte stehen und laufen und einige Wörter sprechen.
Unsere Tochter ist alt genug für eine Puppe, dachte Mister Yomoto.
Ihm war eingefallen, dass seine Tochter in drei Tagen wieder Geburtstag hatte.
Er setzte sich ins Auto und fuhr in die Stadt. Puppen-geschäfte gibt es viel seltener als Lebensmittelgeschäfte oder Friseurläden. Mister Yomoto musste lange suchen, bis er einen Puppenladen gefunden hatte. Der Laden lag am Rande der Stadt, abseits der großen Straßen in einer engen Gasse.
Mister Yomoto trat ein, die Ladenglocke läutete. Nach einer Weile hörte er schlürfende Schritte. Der Wandvorhang öffnete sich und eine alte Frau kam mit kurzen, tippelnden Schritten in den Raum.
Was darf es sein, mein Herr?
Ich suche nach einer Puppe. Für meine Tochter, müssen Sie wissen. Sie wird morgen drei Jahre alt.
Die alte Frau führte Mister Yomoto in einen Nebenraum. Auf kleinen Sesseln und winzigen Stühlen saßen dort die Puppen. Einige trugen glatte blonde Haare, andere schwarze lockige oder auch rotbraune Haare, die sich wie eine Löwenmähne über die Puppenkleider wölbten.
Doch egal ob mit blauem oder rotem, gelbem oder rosafarbenem Kleid, alle Puppen waren neu, kaum älter als ein Jahr.
Haben Sie auch ältere Puppen?, fragte Mister Yomoto. Ich dachte, in einem älteren Geschäft werde ich auch ältere Puppen finden.
Verwundert schüttelte die Frau den Kopf. Diese Frage war ungewöhnlich, ungewöhnlicher, als wenn jemand in einem Obstgeschäft nach blauen Äpfeln fragte. Aber Mister Yomoto konnte es nicht besser wissen. Er war zum ersten Mal Vater geworden, er kaufte zum ersten Mal in seinem Leben eine Puppe.
Es gibt im ganzen Land keine Puppe, die älter als fünfzehn Jahre ist, flüsterte die alte Frau geheimnisvoll. Kennen Sie nicht den Brauch in unserem Land?
Welchen Brauch?, fragte Mister Yomoto neugierig.
Eine Puppe weiß alles über ein Mädchen, sagte die Frau. Sie weiß, wann ein Mädchen weint und warum es weint. Sie weiß, wann ein Mädchen zum ersten Mal verliebt ist, weil ein Mädchen alles mit seiner Puppe bespricht.
Und der Brauch?, unterbrach Mister Yomoto.
Lassen Sie mich zu Ende erzählen. Die Puppe bekommt so etwas wie eine Seele und in dieser Seele steckt viel Wissen über ein Mädchen. Das ist gefährlich. Wenn ein Fremder die Puppe raubt, kann er viel über das Mädchen erfahren. Verstehen Sie?
Er kann erfahren, warum Ihre Tochter geweint hat, worüber sie sich am meisten schämt, wovor sie Angst hat, wer ihr bester Freund ist. Eine Puppe ist wie ein Tagebuch. Möchten Sie, dass ein Fremder diese vielen Dinge über Sie erfährt? Möchten Sie, dass ein Fremder Ihr Tagebuch liest?
Mister Yomoto schüttelte den Kopf.
Und deshalb gibt es einen Brauch?
Die alte Frau nickte.
Aus diesem Grund werden alle Puppen verbrannt, wenn die Mädchen fünfzehn Jahre alt sind. So kann niemand ihre Geheimnisse erfahren.
Warum versteckt man sie nicht, niemand könnte sie rauben!
Heute wird alles geraubt. Selbst Schmuck aus den dicksten Tresoren der Welt. Es gibt keinen sicheren Platz, keinen sicheren Platz für Gold oder Schmuck, Juwelen oder Puppen.
Weinen die Mädchen, wenn ihre Puppen verbrannt werden?
Doch, antwortete die alte Frau. Einige weinen tagelang und brauchen lange, bis sie alles verstehen. Darum wurde ein anderer Brauch eingeführt.
Welchen meinen Sie?, fragte Mister Yomoto.
Die Puppen werden ausgesetzt. Sie kommen in ein kleines Boot und das Boot wird ins Wasser gesetzt. Die Wellen und die Meeresströmung tragen die Puppenboote dann fort.
Mister Yomoto wurde nachdenklich. Vielleicht sollte er seiner Tochter keine Puppe schenken. Würde sie später weinen, wenn er die Puppe verbrennen lassen müsste oder sie auf dem großen Ozean aussetzte?
Kaufen Sie Ihrer Tochter eine Puppe, riet die alte Verkäuferin, als ob sie Gedanken lesen konnte. Fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit, bis dahin kann sich Vieles ändern.
Mister Yomoto nickte.
Sie haben Recht. Was ist aus Ihrer Puppe geworden, als Sie fünfzehn Jahre alt waren?
Mein Vater hat ein kleines Holzboot gebaut. Es war sehr schön, groß wie ein Kinderwagen. In der Mitte gab es einen Mast aus einem alten Tischbein, mit drei Segeln. Einen Tag vor meinem fünfzehnten Geburtstag sind wir an das Meer gefahren. Meine Mutter hatte kleine Beutelchen für den Proviant genäht: trockener Zwieback, Salzfleisch, Fischdosen und Schokoladenwürfel. Ich habe dann das Boot an meine Drachenschnur gebunden und ins Wasser gesetzt. Bald hatte die Meeresströmung das Boot fortgetragen. Die Drachenschnur war zu Ende und ich habe sie durchgeschnitten. Verstehen Sie? Es war, als ob man eine Nabelschnur durchschneidet. Jetzt lebte ich allein und meine Puppe lebte allein.
Plötzlich rief jemand meinen Namen:
Tamashi, Tamashi, warte!
Es war mein Bruder, er wusste, wie traurig ich an diesem Tag war. Ich sehe noch, wie er den Hügel heruntergerannt kam und mir zurief: Hast du keine Angst, dass deiner Puppe etwas passieren könnte? Natürlich hatte ich Angst. Wenn man fünfzehn Jahre alt ist und seine Puppe auf dem großen Meer aussetzt, hat man natürlich Angst. Er hat seine Jacke geöffnet und etwas Großes, Braunes hervorgezogen. Es war sein Löwe, sein liebstes Stofftier.
Der wird deine Puppe beschützen, sagte mein Bruder.
Aber das Boot schwamm bereits weit draußen. Ehe wir uns versahen, ich meine mein Vater und ich, war mein Bruder ausgezogen und sprang ins Wasser. Er konnte schwimmen wie ein Fisch. Bei jeder Welle verschwand sein Körper mit dem braunen Löwen im aufgewühlten Meer. Nach einer Weile, die mir wie die Ewigkeit vorkam, hatte er das Boot erreicht. Wir sahen noch, wie er den nassen Stofflöwen neben meine Puppe ins Boot stellte.
Die alte Frau unterbrach ihre Erzählung. Mister Yomoto wusste sofort den Grund.
Es tut mir leid!, sagte er.
Ja, mein Bruder ist nicht zurückgekehrt. Er wurde von einer Welle erfasst und tauchte nicht wieder auf. Mein Vater hat mich in den Arm genommen und getröstet. Ich höre heute noch seine Worte, als wäre das ganze Unglück erst gestern geschehen:
Wir müssen jetzt tapfer sein.
Und: Du brauchst keine Angst zu haben. Das Holz des Bootes ist ausdauernder als das Wasser, der Löwe ist stärker als die Gefahren des Meeres. Und irgendwann landet das Schiff auf einer Insel, wo die Sonne nicht untergeht und der Sand weiß wie Schnee ist.
Mister Yomoto blickte auf die alte Frau. Sie war einen Kopf kleiner als er, ihr Rücken durch die vielen Jahre nach unten gekrümmt.
Glauben Sie daran? Ich wollte sagen, glauben Sie, dass es diese Insel gibt?
Ich weiß es nicht. Wissen Sie, als Kind bekommt man viel erzählt. Einiges stimmt, anderes soll den Kindern nur die Angst nehmen. Mit fünfzehn war ich kein Kind mehr, aber die Ängste aus der Kindheit bleiben. Wenn Sie als Kind Angst vor Spinnen haben, bleibt diese Angst, auch wenn Sie erwachsen sind. Damals war ich sehr ängstlich, als meine Puppe in dem winzigen Holzboot auf dem großen Meer verschwand.
Der Gedanke, irgendwo hinter dem blauen Horizont befindet sich eine schneeweiße Insel, auf der meine Puppe einmal leben wird, hat mir sehr geholfen.
Sie haben Recht, erwiderte Mister Yomoto. Im riesigen Ozean liegen tausende von Inseln. Auf einigen soll es seltsame Tiere geben und Pflanzen, die noch kein Mensch gesehen hat. Sicherlich existieren auch Inseln, auf denen bisher kein Mensch seinen Fuß gesetzt hat.
Der Mann blickte wieder auf die vielen neuen Puppen, die im Regal aufgereiht standen. Welche sollte er nehmen? Über welche würde sich seine Tochter am meisten freuen? Er wollte die hübscheste aussuchen. Jeder sucht die schönste Puppe, wenn er seiner Tochter ein Geschenk machen will.
Die alte Frau stellte sich neben Mister Yomoto.
Sie sollten nicht nach der Schönheit gehen, sagte sie.
Warum?
Denken Sie daran, in fünfzehn Jahren wird diese Puppe über das große Meer fahren, allein, mutterseelenallein. Vielleicht wird sie in einen Sturm geraten. Vielleicht wird ein Raubfisch sie verfolgen oder ein unheimliches Piratenschiff wird ihren Weg kreuzen. Ich meine, wer in diese Gefahren gerät, muss nicht schön sein. Suchen Sie eine kluge Puppe aus, eine, die stabil und kräftig ist.
Dass eine Puppe schön ist, lässt sich leicht herausfinden. Aber woher weiß ich, ob sie klug und geschickt ist?, fragte Mister Yomoto.
Sie müssen in die Puppenaugen schauen, sagte die alte Frau.
Wieder betrachtete Mister Yomoto die vielen Figuren. Es dauerte lange, schließlich blieb er vor einer der vielen Puppen stehen. Vor ihm, auf einem gedrechselten Holzstuhl saß eine Puppe, die etwa so lang wie sein Arm war. Ihre hellen, lockigen Haare fielen ihr ins Gesicht, wölbten sich über das bunte, mit Tierbildern geschönte Kleid. Die Handflächen waren gedrungen, die Finger dagegen fein wie Spinnweben. Zwei grüne Augen saßen unter buschigen Augenbrauen, eine schmale Nase verlor sich in der runden Oberlippe, von unten schob sich das Kinn wie ein zu schmal gezeichnetes „V“ in die Züge des Mundes.
Ich nehme diese Puppe, sagte Mister Yomoto, ich glaube, sie wird meiner Tochter gefallen.
Die alte Frau holte die leblose Figur aus dem Regal und legte den kleinen Körper, der aus Holz und Baumwolle, Seide, Perlen und Leder zusammengesetzt war, auf den Tisch.
Ich werde sie Ihnen einpacken!
Das ist sehr nett, erwiderte Mister Yomoto. Darf ich Sie bitten, dieses Papier zu benutzen?
Aus seiner Tasche holte er eine Rolle seidenes Geschenkpapier, das er vormittags gekauft hatte.
Auf diese Weise erhielt Mister Yomotos kleine Tochter Imito ihre erste Puppe und es blieb die einzige in ihrem Leben. Mister Yomoto setzte sich noch am selben Tag an seinen Schreibtisch und schrieb die Erzählung der alten Verkäuferin auf. Irgendwann, bevor seine Tochter fünfzehn Jahre alt wurde, musste er sie darauf vorbereiten, von der Puppe Abschied zu nehmen. Er hatte das Gefühl, dass die Geschichte der alten Frau dabei helfen könnte. Er wusste nicht, ob es ein guter, ein sinnvoller Brauch war, die Mädchen mit fünfzehn Jahren von ihren Puppen zu trennen. Aber Bräuche haben ihre Vergangenheit, ihren Grund, ihr Anrecht, und er beugte sich vor der Größe des althergebrachten Brauches.
Wieder vergingen nur einige Augenblicke, und die kleine Imito stand vor ihrem achten Geburtstag. Als sie nach der Schule heimkehrte, war ihr Vater bereits zu Hause. An jedem Geburtstag seiner Tochter nahm sich Mister Yomoto einen Tag frei, um mit ihr zu feiern.
Dieses Jahr sah der Geburtstagstisch seltsam aus: keine Blumen, keine schön verpackten Geschenke, keine Geburtstagstorte.
Stattdessen ein wirres Durcheinander von verschieden großen und andersartig geformten Holzteilen, dazwischen viele Werkzeuge, Holzleim, Nägel und Schrauben.
Willst du aus mir einen Jungen machen?, fragte Imito.
Mister Yomoto lachte.
Wie kommst du darauf? Warum sollen nicht auch die Mädchen mit Holz, Hammer und Nägeln arbeiten. Trotzdem bleiben sie Mädchen!
Soll das ein Puppenhaus werden?
Mister Yomoto schüttelte den Kopf.
Vielleicht ein Puppenwagen?
Mister Yomoto schüttelte den Kopf.
Vielleicht ein Krokodilrückenlederthron?
Mister Yomoto verneinte erneut.
Jetzt weiß ich es! Ein Schlitten für meine Puppe.
Mister Yomoto schüttelte immer noch den Kopf. Ich werde dir eine Geschichte vorlesen, danach wirst du auf die richtige Antwort kommen.
Er las die Geschichte der alten Frau, wie ihr Vater das Schiff gebaut hatte, wie die Puppe mit dem Holzboot ins Wasser gesetzt wurde, wie der Junge mit dem Stofflöwen angestürmt kam, wie er dem Schiff hinterherschwamm und wie das Puppenboot am blauen Horizont verschwand. Davon, dass der Junge in den aufgewühlten Wellen des Meeres unterging und nicht mehr zurückkehrte, davon erzählte er nichts. Die Geschichte war ohnehin traurig und er wollte seine Tochter nicht zu sehr beunruhigen. Mister Yomoto blickte hoch. Seine Tochter hatte ihr fröhliches Lächeln verloren.
Jetzt bist du sicherlich traurig?
Ein bisschen, aber ich habe noch sieben Jahre Zeit, bis meine Puppe auf die Reise geht.
Sieben Jahre vergehen schnell. In sieben Jahren bist du ein gutes Stück größer - und ich wahrscheinlich einige Zentimeter kleiner als jetzt.
Imito konnte wieder lachen.
In sieben Jahren kannst du mit meiner Puppe über das große Wasser fahren. Klein genug wärst du dann auf jeden Fall.
Mister Yomoto erhob sich.
Mit einer Puppe übers Meer segeln ist wohl eher das Richtige für einen abenteuerlichen Kindskopf. Die Vorstellung, ich sitze mit der Puppe in einem kleinem Holzboot und über uns türmen sich die Wellen hoch wie die Häuser auf verwandelt meine Haut in ein raues Waschbrett. Imito steckte die Hand in den Rücken ihres Vaters.
Dafür fühlt sich dein Fell noch recht glatt an, sagte sie.
Mister Yomoto war froh, dass seine Tochter nicht mehr traurig war. Sieben Jahre sind eine lange Zeit, um sich auf einen Abschied vorzubereiten. Beide begannen, die wirr durcheinanderliegenden Holzteile auf dem Tisch zu sortieren. Es war früh am Nachmittag. Mister Yomoto und seine Tochter arbeiteten eifrig am Zusammensetzen des Bootes. Am Abend war der Rumpf des Schiffes fertiggestellt. Der Rest hatte Zeit, fast sieben Jahre Zeit.
Imito lebte mit ihren Eltern in einem riesigen Hochhaus. Die Menschen wohnten in fünfzig Etagen übereinander und wäre nicht die Decke des einen Zimmers, die gleichzeitig den Fußboden des nächsten Stockwerkes bildete, dazwischen gewesen, hätten fünfzig Menschen auf- und übereinander gestanden. Eine Pyramide von fünfzig Menschen: Jeder steht mit seinen Füßen auf dem Kopf des Anderen. Die Häuser standen eng beieinander. In einige Fenster fielen nie die wärmenden Sonnenstrahlen, nur der graue Schatten des nächsten Hauses überzog diese Räume.
Auf den Dächern waren Spiegel so geschickt angebracht, dass die Sonnenstrahlen von dort in die dunklen Zimmer gelenkt wurden. Aber ein Sonnenstrahl, der aus einem Spiegel kommt, bringt nicht das warme, gelbe Licht der Strahlen, die von der Sonne direkt ins Zimmer fallen. Am frühen Abend standen alle Räume im Dunkeln. Die Sonne hatte sich hinter die Berge verkrochen und in den Zimmern der Häuser fingen tausende von Lampen an, wie kleine künstliche Sonnen die Dunkelheit der Nacht fernzuhalten.
Imito saß auf ihrem Bett. Viel hatte sie heute erlebt, mehr als an den anderen Tagen. Ausgerechnet heute gab es niemanden, mit dem sie über diese Erlebnisse sprechen konnte. Ihr Vater, Mister Yomoto, war für zwei Tage verreist, ihre Mutter besuchte ein Konzert. Wem das Viele erzählen, wenn es keine Ohren gibt, die zuhören. In der Schrankvitrine stand das kleine Holzboot, an dem sie und ihr Vater seit über zwei Jahren arbeiteten. Wo befand sich eigentlich die Puppe?