Die Intelligenz der Pferde - Marlitt Wendt - E-Book

Die Intelligenz der Pferde E-Book

Marlitt Wendt

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Beschreibung

Aktuelle Studien der Kognitionsforschung belegen eindrucksvoll, dass die Intelligenz der Pferde bisher weitgehend unterschätzt wurde. Pferde bewegen sich geistig ebenso leichtfüßig in den Bereichen des abstrakten Denkvermögens wie in der komplexen Welt ihres sozialen Gefüges. Die Verhaltensbiologin Marlitt Wendt erläutert in diesem Buch anschaulich und für den interessierten Laien bestens verständlich die aktuellen Ergebnisse wissenschaftlicher Studien, die Mechanismen des Lernverhaltens und die verborgenen mentalen Fähigkeiten der Pferde.

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Marlitt Wendt

Die Intelligenz der Pferde

Ein kluger Kopf unter jedem Schopf

Inhalt

VORWORT: EINSTEIN IN PFERDEGESTALT?

DIE UNTERSCHÄTZTE PFERDELOGIK – EINFÜHRUNG IN DIE KOGNITION DER PFERDE

Warum Hauspferde und keine Wildpferde?

Aber braucht man dazu Studien?

Verschiedene Arten von Verhaltenstests

Pferde im Intelligenztest

Was verstehen Pferde?

Wie Wahrnehmung funktioniert

Wahrnehmung: kontextabhängig und veränderbar

PFERDE DENKEN ANDERS – WIE INTELLIGENT SIND PFERDE?

Pferdeintelligenz im Visier

Positive Einflüsse

Ich denke , also bin ich ein Pferd

Lernen als Konstrukt

Lernst du noch oder verstehst du schon?

Klassische Konditionierung oder Reiz-Reaktions-Lernen

Operante Konditionierung oder Lernen am Erfolg

1 Positive Verstärkung

2 Negative Verstärkung

3 Negative Strafe

4 Positive Strafe

Fazit

Pferdeforschung: Behaviorismus contra Kognitivismus

Vegetarische Wunderkinder

WENN PFERDE IHREN EIGENEN KOPF BENUTZEN – KOGNITIVE FÄHIGKEITEN

Was die kleinen Blindenpferde alles leisten

Pferde in einer abstrakten Welt

Geruchsunterscheidung

Objekterkennung

Objektpermanenz

Pferde lieben es kniffelig

Nur Pferde lösen Pferdeprobleme

Neues aus der Pferdeforschung

Verhalten als Belohnung

EIN GROSSER PFERDEKOPF VOLLER IDEEN – PFERDELOGIK IM ALLTAG

Auf der Weide

Strafe muss sein?

Erfolgreich belohnen

Die Pferdelogik sagt: „Eins und eins bleibt zwei.“

Profibotaniker

Funktionskreise auf der Weide

Die innere Uhr

Konditionierungsprozesse auf beiden Seiten

Bedeutung kleinster Erinnerungssplitter

IM ZICKZACKKURS DURCHS PFERDEGEHIRN – WAS STECKT UNTER DEM PFERDESCHOPF?

Im pferdischen Oberstübchen

Empfindung aus Sicht des Pferdes

Denkslalom

Wie kategorisieren Pferde ihr Weltbild?

Sinn für Schönheit?

Das Pferdegehirn in seiner Umwelt

Vollblüter schlauer als Kaltblüter?

Ein weiter geistiger Horizont

Bewegung macht schlau

KEIN PFERD IST EINE INSEL – SOZIALE INTELLIGENZ

Die Pferdeherde unter sich

Komplexe Herdenkonstellationen

Das Beziehungsgeflecht

Feine Antennen

Soziale Lebewesen auf Augenhöhe

DEM PFERDEVERSTAND AUF DIE SCHLICHE KOMMEN – JEDES PFERD IST ANDERS

Wo geht es hin?

Um die Ecke gedacht

Verhaltenskreativität

Konzentrationsfähigkeit testen

Ein Besuch im Morgengrauen

Vertrauen gegenüber ungewohnten Untergründen

Der Schneemann

Spaziergang mit Überraschungsmoment

Geschicklichkeit

NACHWORT: PFERD UND MENSCH – EINE SEELENVERWANDTSCHAFT

Pferdekosmos der Gefühle

Wir spiegeln uns in ihren Augen

ANHANG

Tipps zum Weiterlesen

Studien im Internet

Kontakt zur Autorin

Register

Autorin und Verlag haben den Inhalt dieses Buches mit großer Sorgfalt und nach bestem Wissen und Gewissen zusammengestellt. Für eventuelle Schäden an Mensch und Tier, die als Folge von Handlungen und/oder gefassten Beschlüssen aufgrund der gegebenen Informationen entstehen, kann dennoch keine Haftung übernommen werden.

Copyright © 2013 by Cadmos Verlag, Schwarzenbek

Gestaltung und Satz: Ravenstein, Verden

Lektorat: Anneke Fröhlich

Titelzeichnung und Zeichnungen im Innenteil: Susanne Retsch-Amschler Fotos im Innenteil: siehe Fotonachweise

Konvertierung: epublius GmbH, Berlin

Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Abdruck oder Speicherung in elektronischen Medien nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung durch den Verlag.

ISBN Print 978-3-8404-1038-3

ISBN Epub 978-3-8404-6143-9

ISBN Kindle 978-3-8404-6144-6

VORWORT

Einstein in Pferdegestalt?

Ein Fachbegriff im Buchtitel – schon halbiert sich die Leserschaft, so lautet eine Faustregel in der Verlagsbranche. Da das Thema Pferdeintelligenz so wichtig ist, wäre es schade gewesen, dieses Risiko einzugehen, indem man das Buch korrekterweise mit dem Stichwort Kognition bezeichnet hätte. Streng genommen ist dies nämlich genau das Thema dieses Buches: das Erkenntnisvermögen von Pferden. Der Begriff „Intelligenz“ ist sehr einseitig und in einem menschlichen Sinne geprägt. Die Suche nach den „kognitiven Fähigkeiten“ stellt eine größere Bandbreite dar, das Pferd kann so in Bezug auf seine ganz individuellen Möglichkeiten betrachtet werden und wird nicht in ein vorher festgelegtes Bewertungskonzept gepresst. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, einen Überblick darüber zu gewinnen, was die Forschung in diesem so schnell voranschreitenden Gebiet für Ergebnisse dazu liefert, was Pferde von ihrer Welt verstehen, wie sie sich selbst sehen und wie wir uns ihrem Denken und Fühlen annähern können.

Bei meinen Vorträgen geht immer ein Raunen durch das Publikum, wenn ich berichte, dass in den USA schon diverse Miniponys zum Blindenführpferd ausgebildet wurden. Es erscheint vielen Reitern unglaublich, wie so etwas möglich sein kann. Sicher kann man über die artgerechte Unterbringung dieser Tiere streiten; unbestritten ist jedoch, dass sie genau das tun, was viele Jahre lang für undenkbar gehalten wurde: Sie erledigen einen Job, der sonst nur Blindenhunden vorbehalten war, und dies mindestens genauso gut (siehe Seite 45). Sie sind ebenso in der Lage, sich im Stadtverkehr zurechtzufinden, ihren blinden Menschen sicher über Treppen zu führen oder den nächstgelegenen Zebrastreifen anzuzeigen. Gerade diese kleinen Pferde haben auch den Forschern bewiesen, dass mehr hinter den dichten Ponyschöpfen steckt, als man lange Zeit erwartet hat.

Inzwischen gehen die Forschungen noch weiter, sie befassen sich außer mit dem eindrucksvoll unter Beweis gestellten Lernverhalten der Pferde auch mit den weiteren Teilgebieten der Kognitionsforschung, wie etwa mit dem Gedächtnis der Pferde oder ihren komplexen Gehirnleistungen. Außerdem beschäftigen sie sich mit sämtlichen mentalen Prozessen, mit denen das Pferd seine Umwelt und sich selbst wahrnimmt, Probleme löst und sich an Vergangenes erinnert.

So erstaunlich viele Ergebnisse dieser Studien auch sein mögen – komplett eintauchen können wir natürlich immer noch nicht in den Geist des Pferdes. Vieles bleibt uns noch verborgen, aber es ist spannend, den für uns erfassbaren Anteil der Denkprozesse zu ergründen. Dabei wird immer deutlicher, dass das Pferd eben wie ein Pferd denkt und nicht wie ein Mensch. Es hat seine eigene Art der Intelligenz, nicht unbedingt eine bessere, aber auch keine generell schlechtere. In manchen Punkten sind Pferde dem Menschen sogar überlegen, in anderen können sie nicht einmal Kleinkindern das Wasser reichen. Im Laufe der Evolution haben sich die kognitiven Fähigkeiten des Pferdes genau so ausgeformt, wie es sich für das Überleben in der pferdischen Umwelt als passend erwiesen hat.

Marlitt Wendt, im August 2013

DIE UNTERSCHÄTZTE PFERDELOGIK

Einführung in die Kognition der Pferde

Heutzutage stellen sich Forscher auf der ganzen Welt Fragen zum Erkenntnisvermögen der Pferde, um zu beantworten, wie diese wohl die Welt sehen – ein äußerst interessantes Forschungsgebiet. Was verstehen sie von dem, was um sie herum passiert? Können sie sich an einzelne Zusammenhänge erinnern oder Ereignisse bewerten? Wie sehen sie sich selbst und was verstehen sie von ihrer Umwelt und physikalischen Naturgesetzen? Und wie sehen die Pferde andere Tiere und auch uns Menschen? Verwenden sie im Kontakt zu fremden Spezies andere Kommunikationsformen und können Freundschaften zwischen unterschiedlichen Arten entstehen?

Für mich am wichtigsten ist die Frage, was wir von den Pferden lernen und wie wir für sie ein möglichst lebenswertes Pferdeleben garantieren können. Damit meine ich eine erfüllte Existenz, die nicht nur ihre körperlichen Bedürfnisse befriedigt, sondern in der sie auch in ihrer Persönlichkeit wahrgenommen und nach ihrem individuellen Potenzial geistig gefördert werden.

Warum Hauspferde und keine Wildpferde?

Lange Zeit konzentrierte sich die Verhaltensforschung auf die Beobachtung von frei lebenden Pferden, wie etwa den Mustangs in den USA oder den Camargue-Pferden in Frankreich. Hier sollte das unverfälschte Leben unter natürlichen Bedingungen beobachtet und aufgrund der hier gewonnenen Daten auf die Natur und das Denkvermögen der Hauspferde an sich geschlossen werden. Die Sache hatte nur leider mehrere Haken: Zunächst einmal sind die heute wild lebenden Pferde keine wirklichen Wildpferde, sondern verwilderte Hauspferde. Das Hauspferd ist ja nicht die domestizierte Form des Mustangs. Auch die Przewalski-Pferde sind keine direkten Vorfahren unserer Hauspferde, sondern eben lediglich nahe Verwandte. Was nun bei den Beobachtungen der Forscher für die eine Gruppe von Pferden galt, musste bei einer anderen Gruppe absolut nicht vorkommen.

Sehr wichtige Faktoren für die Kognition der Pferde sind neben der jeweiligen Umwelt auch ihr soziales Umfeld, ihre Lebenserfahrungen und ihre individuelle Persönlichkeit. All diesen Parametern wurde in den ersten Studien keine Rechnung getragen. Man kann Pferde nicht einfach gedanklich in einen Topf werfen. Es ist ein großer Unterschied, ob wir das Verhalten bei der Wassersuche bei Pferden in der Namib-Wüste beobachten oder ob wir eben dieses Verhalten im von Schnee und Eis geprägten Gletschergebiet auf Island betrachten. Pferde haben sich über viele Generationen mit ihrem Verhaltensrepertoire an die vorherrschenden Umweltbedingungen angepasst und besitzen dementsprechend besondere Stärken, aber auch Schwächen. Sie wären überfordert, wenn man sie vor Aufgaben stellte, denen sie aufgrund ihrer Herkunft nicht gewachsen sind. Das kognitive Spektrum der Pferde ist somit immer geprägt von dem feinen Zusammenspiel ihrer Lebensbedingungen, ihres genetischen Erbes, ihrer sehr persönlichen Lebensgeschichte und ihren Lernerfahrungen.

Vom „echten“ Wildpferd, also dem Vorfahren unserer Hauspferde, der eben auch schon je nach Lebensraum auf unserer Erde in unterschiedlichen Typen vorkam, bis zu den vielen heute existierenden Pferderassen vollzogen sich tief greifende Veränderungen in körperlicher, aber auch geistiger Hinsicht. Zunächst konnte, wie bei den meisten Haustieren im Verlauf der Domestizierung, ein Prozess beobachtet werden, der zu einer Reduktion der Hirnmasse und zu einer Verminderung des Riech- und Hörvermögens geführt hat. Deswegen ist das Hauspferd allerdings kein „unvollständiges“ Wildpferd – es hat sich nur an seine neue Umwelt angepasst und neue Fähigkeiten ausgestaltet, wie etwa die sozialen Bindungsmöglichkeiten anderen Arten und auch dem Menschen gegenüber. Während das prähistorische Wildpferd vor allem aufgrund seiner besonders leistungsfähigen Sinne extrem reaktionsschnell war und damit frühzeitig auf bedrohliche Situationen reagieren konnte, ist das heutige Hauspferd doch wesentlich ruhiger und vor allem dem Menschen gegenüber weniger scheu. Teilweise schlummert das Erbe der Wildpferde in jedem Pferd; es wird immer wieder Situationen geben, in denen das Pferd nicht rational überlegt, wie es sich verhalten soll, sondern rein emotional und spontan agiert. Bestimmte Situationen lösen etwa Urängste beim Pferd aus. So wird ein sich am Boden näherndes, quasi lauerndes Objekt immer misstrauisch beäugt werden, da es sich aus Pferdesicht hier im Zweifelsfall um den sprichwörtlichen Säbelzahntiger handeln könnte. Da sich manche der Wildpferd-typischen Reaktionen jedoch für den Gebrauch der Pferde in menschlicher Obhut wenig eigneten, versuchte der Mensch, das Pferd mithilfe der gezielten Zucht nach seinen Vorstellungen zu verändern. So wurde etwa generell Wert auf ein weniger aggressives Wesen gelegt und auf ein weniger ausgeprägtes Sexualverhalten der männlichen Tiere. Den Unterschied macht zum Beispiel ein Vergleich mit den auch heute noch als Wildtiere lebenden Zebras deutlich. Zebras gelten als sehr schwer dressierbar, da sie eben die für das Haustierdasein besonders erwünschten Eigenschaften wie Zugewandtheit dem Menschen gegenüber oder weniger impulsives Verhalten nicht wie gezielt gezüchtete Haustiere besitzen.

Außerdem hat der Mensch die Fähigkeiten der Pferde geprägt, indem er sie in den letzten Jahrhunderten gezielt für seine Zwecke gezüchtet hat. Je nach Verwendungszweck entschied er sich für bestimmte Elterntiere, um deren Eigenschaften weiterzuvererben. So wählte er etwa für die Arbeit mit Rindern gezielt Tiere aus, die über das verfügten, was man später mit „cow sense“ bezeichnete. Es handelte sich dabei um Pferde, die sozusagen ein Gespür für Rinder hatten, also keine Angst vor ihnen zeigten und sich gut in ihre Bewegungen und Verhaltensmuster einfühlen konnten. Ebenso wählte der Mensch besonders wendige und sprintstarke Tiere, aber eben auch solche, die sich sehr gut räumlich orientieren konnten und einen Überblick über zahlenmäßig größere Ansammlungen behielten. Deswegen sind die heutigen Quarter Horses aus gerade diesen für die Rinderarbeit gedachten Arbeitslinien selektiert worden und werden auch bei ähnlich gestalteten Kognitionstests sehr gut abschneiden. Sicher müssen auch individuelle Eigenschaften der einzelnen Tiere mit einbezogen werden, aber ein für die schwere Zugarbeit im Wald gezüchtetes Rückepferd etwa wird von Natur aus andere Eigenschaften mitbringen und eher in anderen Arbeitsbereichen glänzen und sich wohlfühlen.

Möchten wir uns also den kognitiven Fähigkeiten unserer Hauspferde annähern, so müssen wir sie mit all ihren verschiedenen Anlagen wahrnehmen und als einzigartige Persönlichkeiten. Pferde begleiteten den Menschen auf dem Weg durch die verschiedenen Epochen ganz entscheidend. Ihre Fähigkeiten zur Kooperation mit anderen Pferden und auch dem Menschen, ihre Schnelligkeit und Ausdauer und auch ihre große Kraft ermöglichten es dem Menschen, sich immer weiter zu entwickeln. So gingen die Evolution des Menschen und seine Erfindungen und Entdeckungen, wie die Erfindung des Rades oder die Entdeckung neuer Kontinente, Hand in Hand mit der Zucht und damit Formung unterschiedlicher Pferdetypen und ihrer einzigartigen kognitiven Fähigkeiten.

Heutige Pferde reagieren anders als prähistorische Wildpferde, die von Säbelzahntigern angegriffen wurden.

Erst Studien bringen Klarheit darüber, ob zum Beispiel das Verhalten gegenüber anderen Tierarten individuell von der Persönlichkeit und den Erfahrungen eines einzelnen Pferdes abhängt oder als allgemeingültiges, pferdetypisches Verhalten anzusehen ist. (Foto: Shutterstock.de/Sari ONeal)

Aber braucht man dazu Studien?

Viele im vorangegangenen Kapitel beschriebene Aspekte werden dem interessierten Pferdeliebhaber wahrscheinlich schon bekannt sein. Warum also soll überhaupt auf wissenschaftlicher Ebene diesen Fragen nachgegangen werden, um dann Dinge zu erfahren, die Pferdemenschen doch ohnehin schon wissen? Immerhin gibt es jede Menge Bücher, in denen das Verhalten von Pferden genau beschrieben wird. Und jeder Pferdebesitzer kennt sein Pferd und seine Fähigkeiten doch selbst am besten, oder etwa nicht?

Tatsächlich können die Beobachtungen der Pferdebesitzer und Trainer interessante Ansätze für die Erforschung der Intelligenz und Kognition des Pferdes liefern. Allerdings reichen sie allein nicht aus, um das jeweils beobachtete Phänomen abschließend erklären zu können. Der Pferdetrainer besitzt zwar eine Fülle an Einzelfallbeschreibungen, aber diese sind immer nur für ein bestimmtes Tier und genau für die vorliegende Situation gültig. Hätte ein Außerirdischer etwa Albert Einstein bei seiner Arbeit beobachtet und aufgrund dieser Ergebnisse Schlussfolgerungen über die Intelligenz des Menschen im Allgemeinen gezogen und daraus die Mindestanforderung für die Kenntnis der Physik eines Erdenbürgers entwickelt, so würde sich die große Mehrheit der Menschen wohl von diesem Anforderungsprofil schlichtweg überfordert fühlen. Auch bei Pferden gibt es scheinbar besonders clevere Exemplare und andere, die uns nicht so sehr mit ihren geistigen Fähigkeiten beeindrucken; es sind dabei zumeist die leisen Talente und Fähigkeiten, die uns auf den ersten Blick verborgen bleiben. Zudem neigt jeder beobachtende Mensch dazu, das Verhalten des Tieres sehr subjektiv zu deuten und zu bewerten. Wir interpretieren Pferdeverhalten oft nach menschlichen Maßstäben, setzen Fähigkeiten als gegeben voraus oder beurteilen Fehler vorschnell als rein negativ.

Studien versuchen, all diese Schwierigkeiten zu vermeiden. In der Forschung sollen Daten gesammelt werden, um Erklärungsmodelle für Verhaltensweisen zu finden und um die vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten auf ihre wahrscheinlichste Bedeutung zu prüfen. Nehmen wir uns ein Beispiel vor: Meine Haflingerstute Chihiro stellt sich, nachdem ich mit dem Absammeln der Weide fertig bin, immer auf ihren Putzplatz. Sie schaut mich dabei an und wartet geduldig an eben dieser Stelle, als wollte sie sagen: „Hier bin ich, lass uns zusammen etwas machen.“ Doch ist das wirklich die einzig mögliche Erklärung für dieses Verhalten? Interpretiere ich nicht eine Hoffnung in ihr Verhalten hinein? Wäre Chihiro ein Mensch, so könnte er sagen, warum er sich so verhält. Er würde vielleicht sagen, dass er erkannt hat, dass ich mit der Arbeit fertig bin und nun Zeit für ihn habe. Möglich, dass meine Stute das ebenso erkennt. Sie könnte aber auch schlicht aus der Erfahrung heraus meinen typischen Zeitablauf gelernt haben und diesen vorwegnehmen. Viele Pferde orientieren sich sehr stark an Gewohnheiten und haben ein sehr gutes Zeitgefühl. Sie könnte mich auch genau beobachtet haben und meine Absicht erkennen, etwa dass ich im Begriff bin, ihr Putzzeug aus der Sattelkammer zu holen. Sie könnte aber auch ganz einfach darauf hoffen, dass sie eine Belohnung für ihr braves Verhalten erhält, wie sie es in der Vergangenheit schon häufig erlebt hat. Eventuell juckt es sie auch am Rücken und sie will mich als „Werkzeug“ benutzen, da sie selbst diese Stellen nicht erreichen kann. Oder es ist schlichtweg Zufall.

Wollen wir nun herausfinden, was diese spezielle Verhaltensweise wirklich bedeutet, so brauchen wir kontrollierte Bedingungen. Nur so können wir ausschließen, dass Rahmenbedingungen immer wieder anders sind und das Verhalten sich nicht miteinander vergleichen lässt. In Verhaltensstudien werden die Probanden-Pferde mit einer vorher genau festgelegten Situation konfrontiert. Diese wurde aufgrund der vorher geleisteten Beobachtungen und der daraus abgeleiteten Thesen entwickelt. Während des Versuchsablaufs würde man nun dafür sorgen, dass immer nur definier-te Elemente eines Ablaufs geändert werden. Will man nicht nur nachweisen, ob meine Chihiro ein Zeitgefühl besitzt, sondern Pferde im Allgemeinen in der Lage sind, bestimmte Zeitpunkte wiederzuerkennen, so würden wir eine Stichprobe auswählen. Wir können ja nicht sämtliche Pferde dieser Erde in unsere Studie mit einbeziehen, daher wählen wir eine Gruppe an Pferden aus, die möglichst repräsentativ ist, also den Pferdetyp widerspiegelt, den wir testen wollen. Wollen wir also Hauspferde testen, so werden wir keine Przewalskipferde für unsere Datenaufnahme auswählen. Wenn wir wissen wollen,ob Hengste und Stuten gleichermaßen dieses Verhalten zeigen, müssen wir beide Geschlechter mit einbeziehen. Lassen wir sämtliche Testpferde unsere Aufgabe durchlaufen, so können wir die Ergebnisse miteinander vergleichen.

Möchte man etwas über die speziellen Eigenschaften einer bestimmten ursprünglichen Rasse erfahren, so bietet es sich an, sie in ihrem natürlichen Umfeld zu beobachten, wie diese Gruppe Exmoorponys in ihrer Heimat. (Foto: Shutterstock.de/eastern light photography)

Wollen wir dabei testen, ob es eine Rolle spielt, dass Chihiro ihr Verhalten erst im Laufe der Zeit mit mir erlernt hat, würden wir zwei Gruppen miteinander vergleichen. Die eine Pferdegruppe wird vorher mit Belohnungen trainiert, dass sie sich selbstständig auf eine bestimmte Position stellt, die andere Gruppe nicht. Nun haben wir sozusagen eine Kontrollgruppe, die dokumentiert, ob ein bestimmtes Verhalten hauptsächlich erlernt ist oder ob vielmehr eine angeborene Fähigkeit dafür verantwortlich ist.

Extrem wichtig beim Erstellen von Studien ist es, dass der Versuchsleiter möglichst wenig voreingenommen ist, da es sonst passieren kann, dass er wertet und das Ergebnis in eine bestimmte Richtung lenkt. Aus diesem Grund werden häufig Videoaufnahmen gemacht, die später analysiert oder sogar von Personen nach einem festgelegten Schema bewertet werden, die gar nicht wissen, was eigentlich in dieser Studie erarbeitet werden soll. Wer die Fragestellung nicht kennt, beurteilt eher das tatsächlich beobachtbare Verhalten und richtet sich weniger nach dem, was er gern sehen würde. Diese Vorgehensweise zwingt den Versuchsleiter auch dazu, klare und eindeutige Beurteilungskriterien festzulegen, die nicht nur er selbst in einer Situation beobachten kann, sondern die auch von anderen gleichermaßen identifiziert werden können.

Im Anschluss an die Phase der Datenaufnahme folgt die mindestens ebenso wichtige Arbeit der statistischen Auswertung. Es verhalten sich ja nicht alle teilnehmenden Pferde gleich, sodass das Ergebnis auf den ersten Blick eindeutig wäre. Im Normalfall dient die Statistik dazu zu entscheiden, ob Unterschiede zwischen Ergebnissen zufällig entstanden sind oder ob diese in einem Kausalzusammenhang stehen. Darüber hinaus kann sich der Versuchsleiter über die statistische Auswertung ein genaues Bild von der Verteilung der Daten machen und zum Beispiel überprüfen, welche Verhaltensweisen von den meisten Tieren gezeigt werden und welche eher selten.

Erst nach der statistischen Auswertung folgt die Interpretation der Daten, die Diskussion darüber, warum Pferde sich so oder so verhalten und inwiefern dieses Verhalten nützlich, also „intelligent“ aus Sicht der Tiere ist. Hier werden auch mögliche Fehlerquellen aufgedeckt. War beispielsweise der Versuchsaufbau wirklich geeignet, um eine allgemeingültige Aussage treffen zu können? War das Tier motiviert genug oder hatte es vielleicht Stress in dieser Situation? Ganz wichtig ist auch die Frage, ob ein Pferd überhaupt anatomisch in der Lage ist, eine bestimmte Aufgabenstellung zu erfüllen. Wollte man etwa dem Pferd beibringen, einen Text aus einem Buch wiederzuerkennen, so wird allein die Tatsache, dass das Pferdeauge eher für die Fernsicht konzipiert ist, diese Versuchsanordnung disqualifizieren. Wir müssten also dann einen Versuchsaufbau entwickeln, bei dem der Text auf großen Tafeln präsentiert wird. Haben nun unsere Testpferde die betreffenden Textseiten nach einigen Durchläufen identifizieren können, so gilt es, die Mechanismen ihres Lernerfolgs näher zu untersuchen. Abschließend müssten wir dann noch ergründen, ob alle Pferde dieselbe Strategie verfolgen oder ob individuelle Unterschiede und kreative Lösungsmöglichkeiten der einzelnen Tiere zu demselben Ergebnis führten.

Verschiedene Arten von Verhaltenstests

Je nachdem, welche Fragestellung in einer Studie beleuchtet werden soll, bieten sich unterschiedliche Arten von Studien an. Ganz grob unterteilen kann man diese Studien in beschreibende Studien, bei denen wir etwa eine Pferdeherde beobachten und registrieren, wann ein bestimmtes Verhalten gezeigt wird, und experimentelle Studien, bei denen wir das einzelne Pferd ganz konkret vor eine Aufgabe stellen und daraufhin die Daten auswerten. Diese beiden wissenschaftlichen Vorgehensweisen haben jeweils ihre Vor- und Nachteile und ergänzen sich im Idealfall. Sicher will man herausfinden, wie das natürliche Leben der Pferde sich in ihrem Verhaltensrepertoire widerspiegelt und wie sie sich den unterschiedlichen Herausforderungen ihres Lebens stellen. Diese Art der Datenaufnahme in der Pferdeherde ist allerdings sehr zeitaufwendig und komplex, da immer das Verhalten mehrerer Tiere zueinander beobachtet werden muss. Die Arbeit im Experiment zeigt uns dagegen ganz konkrete Details, wir erfahren jedoch wenig über denGesamtzusammenhang und können das beobachtete Verhalten eventuell nur schwer in den natürlichen Alltag einordnen.

Im Ethogramm werden sämtliche beobachtbaren Verhaltensweisen genau beschrieben, wie zum Beispiel die unterschiedlichen Elemente des Spielverhaltens. (Foto: Shutterstock.de/Olga_i)

Beiden Varianten gemein ist es, dass gesammelte Informationen wissenschaftlich korrekt aufgezeichnet werden müssen. Es reicht nicht zu sagen: „Pferd A hat öfter intelligentes Verhalten als Pferd B gezeigt.“ Wir müssen vielmehr die Verhaltensweisen genau benennen und sie auch quantifizieren, um etwa zu berechnen, wie viel häufiger ein Verhalten vorkommt. So werden wir bestimmte Verhaltensweisen auswählen, die wir für unsere Fragestellung als wichtig erachten, und diese ganz genau definieren.

Wollen wir etwa beschreiben, wie genau ein Pferd sich bewegt, wenn es etwas Bestimmtes macht, so erstellen wir ein sogenanntes Ethogramm, eine Art Katalog für Verhaltensweisen, in dem genau aufgelistet ist, welche Möglichkeiten es gibt. So wird sich nicht nur schlicht der Begriff „stehen“ finden, sondern eben auch „stehen und dabei grasen“, „mit ruhendem Hinterfuß stehen“ oder „neben einem Artgenossen stehen“. In einem aussagekräftigen Ethogramm werden Verhaltensweisen so beschrieben, wie sie beobachtet werden können; Wertungen oder Interpretationen werden nicht aufgeführt. Wir können ja niemals wissen, was im Kopf des jeweiligen Pferdes in dieser Beobachtungssituation vorgeht, und sollten uns daher einer subjektiven Einordnung enthalten. Schon eine so unverfängliche Schlussfolgerung wie: „Mein Pferd steht jetzt auf der Weide und frisst Gras, es muss wohl hungrig sein“, beinhaltet bereitsunsere eigene Wertung. Denn es könnte genau in diesem Moment sein, dass das Pferd nur als Übersprungshandlung grast und nicht etwa, um seinen Hunger zu stillen.

Beim Behavioral-Sampling wartet man auf das Auftreten eines speziellen, seltenen Verhaltens, wie etwa auf den Konflikt zweier Junghengste beim Rangeln um eine Stute. (Foto: Shutterstock.de/AndreAnita)