Die jüdische Wunde - Natan Sznaider - E-Book

Die jüdische Wunde E-Book

Natan Sznaider

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Beschreibung

Das jüdische Dilemma zwischen Assimilation und Eigenständigkeit – von der Aufklärung bis heute

Die Deutschen lieben Nathan. Doch Lessings Bühnenfigur konnte die Hoffnung, dass es eines Tages keine Rolle mehr spielen würde, ob jemand Jude sei, nicht erfüllen. Und als Hannah Arendt 1959 den Lessing-Preis entgegennahm, sprach sie sich in ihrer Dankesrede ausdrücklich gegen diese Idee der Assimilation aus, die am Ende zum Verschwinden jüdischer Identität führen würde. Das jüdische Dilemma zwischen Anpassung und Autonomie konnte seit der Aufklärung nicht aufgelöst werden – auch der Staat Israel steht in dieser Spannung zwischen säkularer und religiöser Identität. Natan Sznaider ist überzeugt, dass dieser Widerspruch nie verschwinden wird. Was spricht dagegen, ihn zu akzeptieren und anzuerkennen, dass wir immerhin als Ungleiche gleich sind?

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Seitenzahl: 339

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Das ist das Cover des Buches »Die jüdische Wunde« von Natan Sznaider

Über das Buch

Die Deutschen lieben Nathan. Doch Lessings Bühnenfigur konnte die Hoffnung, dass es eines Tages keine Rolle mehr spielen würde, ob jemand Jude sei, nicht erfüllen. Und als Hannah Arendt 1959 den Lessing-Preis entgegennahm, sprach sie sich in ihrer Dankesrede ausdrücklich gegen diese Idee der Assimilation aus, die am Ende zum Verschwinden jüdischer Identität führen würde. Das jüdische Dilemma zwischen Anpassung und Autonomie konnte seit der Aufklärung nicht aufgelöst werden — auch der Staat Israel steht in dieser Spannung zwischen säkularer und religiöser Identität. Natan Sznaider ist überzeugt, dass dieser Widerspruch nie verschwinden wird. Was spricht dagegen, ihn zu akzeptieren und anzuerkennen, dass wir immerhin als Ungleiche gleich sind?

Natan Sznaider

Die jüdische Wunde

Leben zwischen Anpassung und Autonomie

Hanser

Judesein gehört für mich zu den unbezweifelbaren Gegebenheiten meines Lebens, und ich habe an solchen Faktizitäten niemals etwas ändern wollen.

Eine solche Gesinnung grundsätzlicher Dankbarkeit für das, was ist, wie es ist, gegeben und nicht gemacht, physei und nicht nomoi, ist präpolitisch …

Hannah Arendt

Vorwort

In diesem Essay erzähle ich Geschichten von Juden und Jüdinnen. Manche von ihnen sind wahr, andere könnten wahr sein. Geschichten haben Theorien voraus, dass sie Versionen der Welt ans Licht bringen, die sonst nicht zu sehen wären, dass sie also finstere Nächte erhellen können. Die hier erzählten Geschichten berühren zentrale Fragen des jüdischen Lebens wie Assimilation, Emanzipation, Autonomie, Anpassung, Verfolgung, Exil und Heimatlosigkeit. Manchmal regten aktuelle Ereignisse diese Geschichten an, etwa die Antisemitismus-Debatte im Sommer 2022 während der documenta 15, eine Debatte, die gerade für Juden und Jüdinnen in Deutschland ein einschneidendes Ereignis war. Schon seit einigen Jahren beobachte ich im progressiven Milieu innerhalb und außerhalb Deutschlands immer häufiger eine universalisierende Erinnerung an den Holocaust, die unter dem Deckmantel der Aufklärung die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden in eine Reihe mit anderen Verbrechen massenhafter und organisierter Gewalt stellt. Im Falle der Shoah kann das zu einer Missachtung, ja sogar Auslöschung partikularer jüdischer Erinnerungen führen.

Deshalb will ich mit diesem Buch zu den Geschichten und Erinnerungen zurückkehren, die sich gegen das Vergessen stemmen. Es geht mir um das, was Juden und Jüdinnen zugestoßen ist. Natürlich verstehe ich die Versuchung, universell, europäisch, progressiv, inkludierend zu denken und zu fühlen. Sie ist auch mir nicht fremd. Sie ist aber auch eine Verlockung, die in ihrem eigenen Fortschrittsgedanken gefangen bleibt. Auch davon bin ich beeinflusst, sonst könnte ich gar nicht darüber schreiben. Aber ich weiß auch, dass Gewaltgeschichten Menschen voneinander trennen und nicht miteinander verbinden.

Dieser Essay schließt an mein vorheriges Buch an, steht aber für sich. In Fluchtpunkte der Erinnerung: Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus hatte ich 2022 aus einem wissenssoziologischen Blickwinkel die Perspektiven der Debatten zur Vergleichbarkeit von Holocaust und Kolonialismus untersucht. Ich hatte — aus Israel blickend — den Eindruck, dass diese Debatten in eine Sackgasse geraten waren, und ich hatte den Wunsch, einen Weg aus dieser Sackgasse heraus zu finden. Ich fragte mich, wie man Holocaust und Kolonialismus analysieren kann, ohne die verschiedenen partikularen Erfahrungen zu relativieren. Nach meinem Verständnis verlaufen die Linien der Erinnerung an Holocaust und Kolonialismus parallel, sind scheinbar nah, und doch treffen sie sich vielleicht in der Wahrnehmung der Leser und Leserinnen. Es handelt sich um parallele Beschreibungen aus bestimmten Perspektiven. Gemeinsame Beschreibungen von Holocaust und Kolonialismus sind daher möglich, können Zusammenhänge im Bewusstsein herstellen, die tatsächlich existieren — oder auch nicht. Der »Fluchtpunkt der Erinnerung« ist für mich der Punkt, an dem sich Wirklichkeit und Vorstellung treffen. Zwei Jahre danach scheint es, dass diese zwei moralischen Narrative oft unübersetzbar sind. Ich versuche auch zu verstehen, warum diese Unübersetzbarkeit sich festsetzt.

Es geht also auch um Gespräche und nicht geführte Gespräche zwischen Juden und Nichtjuden. Und es geht um den Staat Israel als Umsetzung jüdischer politischer Souveränität. In der Spannung zwischen dem Zionismus als säkularer Nationalbewegung, die Selbstbestimmung für das jüdische Volk erstrebt, und dem Judentum als religiöser Tradition und Volksreligion leben nicht nur Juden und Jüdinnen in Israel, sondern auch außerhalb Israels. Mir geht es gar nicht um die großen Erzählungen, nicht um die Klärung von historischen oder theoretischen Begrifflichkeiten wie Totalitarismus, Faschismus, Kolonialismus, sondern um das konkrete jüdische und nichtjüdische »Ich war dabei«.

Ich schreibe von Israel aus nach Deutschland. Das Buch ist aus diesen Bruchlinien hervorgegangen. Es sind auch die Bruchlinien eines Bürgers eines Staates, der die Moderne aus einer anderen Perspektive als seine Leser und Leserinnen außerhalb Israels verhandeln muss. Ich begann dieses Buch, als dieser Staat in den ersten Monaten von 2023 von einer Protestwelle erfasst wurde, bei der es um den modernen, westlichen Charakter des Staates ging. Den letzten Teil des Buches schrieb ich, während die Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel eindrang, ein Massaker anrichtete, Menschen aufs Brutalste ermordete, Geiseln in den Gazastreifen verschleppte und Israel als Antwort darauf den Gaza-Krieg begann. Ich spreche bewusst von »während«, weil wir nach dem 7. Oktober immer wieder am Morgen des 7. Oktober 2023 aufwachen. Diese Ereignisse sind miteinander verknüpft, sie zeigen die Bruchlinien zwischen Israel und Europa, aber auch die Bruchlinien zwischen dem Jüdischen und Nichtjüdischen. Der Blick des Buches ist ein jüdischer Blick aus Israel. Israel hat sich nie als universales Projekt verstanden. Israel ist die partikulare jüdische Lösung für ein partikulares jüdisches Problem. Diese der Moderne inhärente Mehrdeutigkeit macht sich an der Gegenwart der Juden fest. Ihre Sichtbarkeit in der Welt durchdringt diese Mehrdeutigkeit, ihre Unsichtbarkeit versucht sie zu verdecken.

In diesem Buch geht es auch um visuelle Darstellungen des Jüdischen und die Spannung zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren. Das ist mit ein Grund dafür, dass ich dieses Buch wie ein Triptychon gliedere. Es setzt sich aus drei Tafeln zusammen. Auf jeder dieser Tafeln erzählen Menschen Geschichte und Geschichten. Es geht dabei um die Zerbrechlichkeit der Figuren. Diese Geschichten zeigen auch die Grenzen der Universalisierung auf. Nicht allein um den Gegensatz von Universalismus und Partikularismus geht es, sondern eher um den Gegensatz von Ein- und Mehrdeutigkeit. Das Triptychon symbolisiert auch drei Linien und drei Punkte, die nicht auf einer Geraden liegen. Es ist dieses Dreieck, welches die deutsche (und auch europäische), jüdische und israelische Geschichte in ein Verhältnis setzt, das Dreieck zwischen universaler Menschlichkeit, israelischem Bürger und Juden in einer Minderheitengesellschaft. Die erste Tafel erzählt die Geschichte des jüdischen Traumes von Gleichheit und Anpassung, die zweite Tafel handelt von der Ernüchterung, und die dritte setzt sich mit dem Übergang vom Traum zum Albtraum auseinander.

Mein Dank geht an zwei Institutionen, die für mich wertvolle Orte des Austauschs waren und mir erlaubten, von der »anderen« Seite her nachzudenken und die jeweiligen Bibliotheken in München und Wien zu nutzen. Im Sommer 2022 durfte ich am CAS (Center for Advanced Studies) in München sein, im Frühjahr 2023 am IFK (Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften) in Wien. Ohne die Großzügigkeit dieser Institutionen gäbe es dieses Buch nicht. Großer Dank auch an Albert Gröber für seine ständige Hilfe.

Natan Sznaider. Tel Aviv, Februar 2024

I

Nennen wir ihn Nathan

Unbekannte Welten

Titelbild »Jüdisches Leben in Deutschland. Die unbekannte Welt nebenan«, SPIEGEL GESCHICHTE4/2019

Die unbekannte Welt nebenan. So titelt der SPIEGEL im April 2019 sein Sonderheft GESCHICHTE über jüdisches Leben in Deutschland. Zwei Herren im besten Alter, in ein Gespräch vertieft, schauen sich an und reden, die Welt um sie herum scheint sie nicht zu interessieren. Eine gewöhnliche Alltagsszene? Ganz im Gegenteil. Die beiden sind nicht Teil der Welt. Sie scheinen die Wirklichkeit zu ignorieren und sind ganz auf sich selbst bezogen. Sie tragen abgewetzte Kleidung und Schuhe, Äußerlichkeiten interessieren sie offenbar nicht. Im Hintergrund ist der Hauseingang einer vermutlich Berliner Straße zu erkennen, darübergeblendet ein großer Davidstern. Das Foto macht sie sichtbar: Die beiden sind unverkennbar Juden, »Ostjuden«, Juden also, die aus Osteuropa nach Deutschland eingewandert sind, um dort zu bleiben, was dann auch ein Problem für andere, weniger sichtbare Juden wird. Denn diese Juden waren in der Tat erkennbar anders. Mit dem Begriff »Ostjude« im Gegensatz zu den unsichtbaren »Westjuden«, die geglaubt hatten, in eine neue Welt aufgebrochen zu sein, verbindet sich Sichtbarkeit, Tradition, Rückschritt, Partikularismus. Das mag auch der Blick des Fotografen gewesen sein.

Namen haben sie keine, sie sind — wie der Titel bekundet — unbekannt. Ich will einen der beiden Nathan nennen, denn dieser Name ist in Deutschland eine vertraute Ikone, obwohl nicht weit verbreitet. Ein Name, der nicht unbedingt mit osteuropäischen Juden assoziiert wird, ganz im Gegenteil: Nathan ist mehr als ein Vorname. Er ist gerade in Deutschland eine Ikone, bekannt als Nathan der Weise, eine fiktive Figur, geschaffen 1779 von Gotthold Ephraim Lessing1, eine Figur, die für vieles steht und stehen muss, nämlich für Aufklärung und Toleranz, für Kunst und Theater. Lessings Nathan der Weise ist nach wie vor eine der wichtigsten Projektionsflächen jüdischen Lebens in Deutschland und hat sogar die Jahre 1933 bis 1945 überlebt. Nathan der Weise lebt Ende des 12. Jahrhunderts während der Zeit der Kreuzzüge in Jerusalem. Deutsche Schüler und Schülerinnen glauben ihn aus dem Unterricht zu kennen, die Theater arbeiten sich immer noch an ihm ab. Er steht für das Gute im Menschen, nicht weniger eine jüdische Ikone als Anne Frank.2 Er steht für gegenseitige Anerkennung, Toleranz, Aufklärung, für die Idee, dass Juden und Jüdinnen Menschen wie andere Menschen sind.

Lessings Nathan lebt aber nicht nur im 12. Jahrhundert in Jerusalem, sondern auch Ende des 18. Jahrhunderts in Berlin. Dort heißt er Moses Mendelssohn, gilt als der vielleicht wichtigste Protagonist der jüdischen Aufklärung und des Versuchs, das moderne Judentum universal zu verstehen und aus den rückständigen Zwängen des Partikularismus zu befreien. »Wir träumten von nichts als Aufklärung«, so der Titel der Ausstellung über Moses Mendelssohn in Berlin im Jahr 2022. Für Mendelssohn war die Aufklärung ein universeller und deutscher Traum. Universal hieß für ihn in erster Linie deutsch, deshalb übersetzte er die Hebräische Bibel ins Deutsche.3 Sie wird, mit hebräischen Buchstaben gedruckt, in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts veröffentlicht. Nichts ist Mendelssohn wichtiger, als dass Juden Deutsch lesen und sprechen können. Für ihn ist Deutsch die Sprache der Aufklärung. Unser Nathan auf dem Spiegel-Titel kann kein richtiges Deutsch. Er spricht Jiddisch, die Sprache der Ostjuden.

Wie Nathan ist auch Mendelssohn eine jüdische Traumfigur, weise, tolerant, fromm. Er ist keiner dieser Ostjuden, wie ihn der Spiegel auf dem Titel platzierte, dessen Äußeres, rückständig und aus der Zeit gefallen, schon Ende der 1920er Jahre, als das Foto aufgenommen wurde, Unbehagen auslöste. Viele dieser Ostjuden sprechen kein richtiges Deutsch, sondern »mauscheln« ein für viele eher unverständliches Jiddisch, eine Sprache, die nicht nur von Antisemiten jüdischen Hausierern angedichtet wird. Das sind nicht die Juden, die Bürgerrechte und Emanzipation für sich reklamieren können. Mendelssohn jedoch steht genau für diese Bürgerrechte, die Juden und Jüdinnen in »Mitbürger« verwandeln, er steht für Emanzipation, für die Befreiung der Juden aus ihrem selbst auferlegten Joch. Ein jüdischer Sokrates, wie ihn Lessing liebevoll nennt.

Unser Nathan ist wahrhaftig kein Sokrates, und die deutsche Bibelübersetzung des Moses Mendelssohn wird er gewiss auch nicht lesen. Auch die Namen Lessing und Kant kennt er vermutlich nicht, dafür Namen, die in der deutschen Philosophie und auf deutschen Bühnen eher unbekannt sind. Sie gehören nicht zu den Juden, die Teil werden von der ihnen unbekannten christlichen Welt nebenan. Und sie wollen das auch nicht. Damals wie heute müssen sie sich von Nichtjuden und Juden anhören, dass sie in Sprache, Kleidung sowie Riten und Gebräuchen partikular bleiben wollen, dass sie rückständig sind, anders als Moses Mendelssohn oder Nathan der Weise, dass sie weiter in einem Stammesdenken gefangen sind, aus dem man sich eigentlich befreien sollte. Und nach Maßstäben der aufgeklärten Moderne sind sie tatsächlich rückständig. In den Augen derer, die sie als Fremde sehen, sind sie keine Europäer, sondern orientalische Fremdlinge, Semiten, die man nicht nur ablehnen kann, sondern zurückweisen muss. Ihre Sichtbarkeit macht sie verletzlich. Ihre offen praktizierte Religiosität, ihre traditionelle Kleidung, ihre Wohnverhältnisse verweisen auf weitere Unterscheidungen des Fort- und Rückschrittlichen.

Die Sichtbarkeit dieser Merkmale löst bei anderen, unsichtbaren Juden, den Nachfolgern des weisen Moses Mendelssohn, der selbst noch ein sichtbarer Jude war, Panik aus. Sie glauben, im öffentlichen Raum ihren Partikularismus beherrschen und kontrollieren zu können. Diese Juden und Jüdinnen sind stolz auf ihre Assimilation, sie fühlen sich angekommen, sprechen ein klares Deutsch, führen Geschäfte, gehen auf Universitäten, schreiben Bücher und Zeitungsartikel, haben Liebschaften mit nichtjüdischen Menschen, feiern Weihnachten und fallen für das deutsche Vaterland. Manche konvertieren zum Christentum, um auch religiös universell zu sein. Sie glauben fest an ihre Unsichtbarkeit als Juden und Jüdinnen. Sie können sich auf der Straße bewegen, ohne als Juden oder Jüdinnen erkannt zu werden. Manchmal funktioniert ihr Name wie eine Klingel, aber auch den kann man gegebenenfalls ändern. Sie wollen mit Nathan und seinem Freund möglichst wenig zu tun haben, denn sie verstehen sich als fortschrittlich und aufgeklärt. Diese Unsichtbarkeit aber erweist sich als Illusion, die auf dem Irrglauben beruht, unsichtbare Juden seien sicher vor den Angriffen der Nichtjuden. Sie glauben, dass man, geschützt von einer Tarnkappe, weniger angreifbar sei. Sie sind bürgerlich und redlich, Mitbürger im besten Sinne. Nathan der Weise trägt diese Tarnkappe der Aufklärung und der Toleranz, unter der er sich auf ein Gespräch mit dem Sultan einlassen kann. Er spricht die Sprache Lessings und wird in diesem makellosen Deutsch zu einer Figur des jüdischen Deutschen, der nicht von anderen Deutschen unterschieden werden kann. Er wird auch gerne in modernen Designeranzügen auf die Bühne gestellt, um die Zeitlosigkeit der Figur zu unterstreichen.4 Nathan und der Sultan sprechen zunächst über Geld und Kredite, die der Sultan braucht, aber schon bald geht es um die Wahrheit:

»Mir denn? — Was will der Sultan? was? — Ich bin Auf Geld gefaßt; und er will — Wahrheit. Wahrheit!«5

Juden sind fürs Geld zuständig, das gilt auch bei Lessing als normal. Dass Juden aber auch Wahrheit verhandeln, mag Ende des 18. Jahrhunderts neu sein. Nathan soll Saladin erklären, welcher Glaube nun der wahre sei. Darauf ist Nathan nicht vorbereitet. Er will dem Sultan Geld bringen und muss ihm nun vorsichtig die Wahrheit erklären:

»So ganz Stockjude seyn zu wollen, geht schon nicht. —

Und ganz und gar nicht Jude, geht noch minder.

Denn, wenn kein Jude, dürft er mich nur fragen,

Warum kein Muselmann? — Das wars! Das kann

Mich retten! — Nicht die Kinder blos, speist man

Mit Mährchen ab. — Er kömmt. Er komme nur!«6

Nathan erzählt dem Sultan ein Märchen, in dem alle Religionen gleich richtig oder gleich falsch sind. In einer aufgeklärten Gesellschaft kann der Jude nicht wie der Stockjude bei sich selbst bleiben, sonst wäre er weiter in seiner mittelalterlichen Partikularität und im Ghetto gefangen. So ganz Stockjude geht also nicht mehr. Für Nathan, Mendelssohn und Lessing handelt diese Erzählung vom Zusammenbruch des Ghettos. Nathan muss sich wie jeder andere Jude fragen, ob er in erster Linie Mensch, Deutscher oder Jude ist. Juden und Jüdinnen verlieren ihre traditionelle Sichtbarkeit. Die Autonomie, durch die sich eine kollektive Gruppe auszeichnet, konnte auch Juden oft Schutz gewähren. Die Emanzipation, die von einem zentralen Staat ausgeht, verlangt von ihnen Assimilation, was sie als Individuen am Ende schutzlos lässt und sie verwundbarer macht, weil sie sich mit den Augen der Nichtjuden als universale Menschen betrachten.7 Und ist nicht Nathan auch der noble und edelmütige Jude, weil er die Ermordung seiner eigenen Familie mit fast schon stoischer Gelassenheit hinnimmt?

Aufklärung heißt daher nicht mehr jüdische Selbstbestimmung, sondern von der nichtjüdischen Umwelt toleriert oder geduldet zu werden. Und darum geht es auch in Nathan der Weise. Der jüdische Partikularismus soll im Namen der Menschheit aufgegeben werden. Um als universale Menschen anerkannt zu werden, werden sichtbare Juden gezwungen, im Sinne eines westlichen Begriffs von Fortschritt ihre Sichtbarkeit zu verbergen, aufzugeben, zu verleugnen. Juden wie auf dem Titelbild des Spiegels waren schon damals vielen Juden peinlich. »Galizische Zustände« nannten das die etablierten Berliner Juden während der Weimarer Republik.8 Israelische Zustände nennt man das heute, wenn man die jüdische Sichtbarkeit des souveränen Staates Israel kritisiert.

Das Bild der beiden jüdischen Männer wurde im Jahr 1928 im Berliner Scheunenviertel aufgenommen, wo viele Ostjuden lebten. Damals waren Juden deutsche Staatsbürger, die jüdischen Lebenswelten jedoch Judenhass und antisemitischer Hetze ausgesetzt. 91 Jahre später löst das Titelbild wieder Unbehagen aus. Gerade jüdische Menschen sehen darin Klischees, die das Bild bedient, das außerdem keine Vorstellung zeitgemäßen jüdischen Lebens vermittle. Aber Nathan und sein Freund sind nicht einfach nur Klischees, sondern sichtbare Juden, klar erkennbare orthodoxe Juden, mit denen viele moderne Juden in Israel, dem modernen Nationalstaat der Juden, aber auch außerhalb Israels nicht mehr identifiziert werden wollen. Mehr noch, diese mediale Repräsentation gilt sogar als antisemitisch, vor allen Dingen bei säkularen Juden. Die säkularen Betrachter und Betrachterinnen kennen diese Welt ihrer vermeintlichen Vorfahren, und doch ist sie ihnen fremd. Einerseits sind es synchrone Welten. Die orthodoxen Juden sind Teil der jüdischen Gesellschaften innerhalb und außerhalb Israels. Andererseits sind es auch diachrone Welten, wie das Bild selbst, das Ende der 1920er Jahre aufgenommen wurde. Das Leben der orthodoxen Juden findet in einer zeit- und raumlosen Parallelgesellschaft statt und erinnert viele »Säkulare« an ihre eigene Vergangenheit, an die Welt des Thorastudiums, der Familie, der Gottesfurcht und des Gottvertrauens. Wie in den jüdischen Gemeinden Osteuropas und anderen Teilen der Welt bis ins frühe 20. Jahrhundert oder sogar bis zu ihrer Vernichtung durch die Nazis leben diese orthodoxen Juden in einer Welt ohne politische Souveränität, in Gemeinden und Gemeinschaften getrennt von der nichtjüdischen Welt. Die Gründung des Staates Israel als jüdischer Staat oder Judenstaat verändert das Verhältnis von Moderne und Judentum von Grund auf. Es bringt die Ausübung politischer Souveränität in die jüdischen Lebenswelten. Nathan und sein Freund, aber auch alle, die sich in der Tradition des weisen Nathan sehen, sind gezwungen umzudenken, das schwierige Verhältnis von Universalismus und Partikularismus zu übertragen auf das Verhältnis zwischen Staaten. Die Idee eines »jüdischen Staates« — eines Staates, in dem Juden und die jüdische Religion und Nation als partikulare Markierung verstanden werden, von denen nichtjüdische Bürger oft ausgeschlossen sind — trifft frontal auf ein universales aufklärerisches Gleichheitsdenken.

Israel: Das Verhältnis von Moderne und Judentum

Das ist der Grund, warum in Israel das Verhältnis von Moderne und Judentum zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Frage gestellt und neu verhandelt wird. Und diese Verhandlungen müssen aber gleichzeitig außerhalb Israels geführt werden, von Juden wie von Nichtjuden. Es geht dabei auch um die Weltsicht orthodoxer Juden, die die Geschlechter in eine Frauen- und eine Männerwelt trennen, besonders in der Synagoge, aber auch im öffentlichen Raum. Sie kennen klare Grenzen zwischen dem Heiligen und dem Profanen, dem himmlischen und dem irdischen Jerusalem. Es ist eine Welt, die an den Messias glaubt, der die Juden und damit die Menschheit überhaupt erlösen wird. Es ist aber auch eine Welt, die fast vollständig vernichtet wurde. Sie will den Zionismus überwinden, aber das gelingt ihr nicht. Auch säkulare Juden wissen nicht viel über orthodoxe oder ultraorthodoxe Juden, sie sind ihnen eher unheimlich, sie kennen sie vielleicht von gewaltsamen Demonstrationen in Jerusalem gegen die Verletzung der Sabbatruhe, von schwierigen Koalitionsverhandlungen mit ihren Parteien in Israel, von übertriebenen Forderungen ihrer politischen Repräsentanten, die aus ihrem Partikularismus keinen Hehl machen. In den letzten Jahren werden diese Gemeinschaften durch Streaming-Dienste wie Netflix in die Wohnzimmer getragen, um sie nicht nur sichtbarer, sondern auch bekannter zu machen. Dort wird zum Beispiel seit 2013 in der Fernsehserie Shtisel die Geschichte einer orthodoxen Familie in Jerusalem als Familiendrama aufbereitet. Es geht um bekannte Themen wie Liebe und Trauer und um all die großen und kleinen Familiendramen, die auch in den bekannten Welten nebenan über die Bühne gehen.

Aus einer anderen Perspektive erzählt die Serie Unorthodox über die unbekannte Welt. Sie basiert auf den Büchern der Schriftstellerin Deborah Feldman, die sich aus dem orthodoxen Milieu herausschreiben will.9 In ihrem Buch und in der Serie geht es auch um Emanzipation und um Berlin. Es ist die Emanzipationsgeschichte einer jungen Frau aus einer ultraorthodoxen Familie in Brooklyn, Menschen, ähnlich wie Nathan und dessen Freund auf dem Spiegel-Cover. Diese moderne Netflix-Version handelt das Verhältnis von Nathan und seiner Umwelt neu aus als eine moderne Emanzipationsgeschichte nicht nur der Juden, sondern auch der Frauen. Die Heldin heißt Esty, sie flieht nach Berlin, um einer arrangierten Ehe zu entkommen. Dort trifft sie eine kosmopolitische Gruppe junger Musiker und Musikerinnen, freundet sich mit ihnen an und befreit am Ende sich — sexuell und künstlerisch. Die Schlüsselszene ist eine »Wiedertaufe« im Wannsee, wo sie ihre Perücke — ein Attribut der verheirateten jüdisch-orthodoxen Frauen — ins Wasser wirft und mit gekreuzten Armen im See schwimmt. Das ist die neue Ringparabel, nicht nur Kinder speist man mit Märchen ab, auch die Abonnentinnen und Abonnenten von Netflix. Durch die Befreiung von der Perücke, dem sichtbaren Zeichen jüdischer Partikularität, verwandelt sich Esty die Serienheldin in Esty die Weise, unsichtbar, äußerlich nicht mehr als Jüdin erkennbar. Nun steht ihr der Weg in die Berliner Nachtklubszene offen. Sie hat erfüllenden Sex mit einem jungen Musiker, versöhnt sich mit ihrer ehemals orthodoxen Mutter, die mit einer deutschen Frau in Paarbeziehung lebt, und erfindet sich neu als Sängerin im kosmopolitischen Berlin, das am Ende die junge Jüdin aus den partikularen Fesseln der Ultraorthodoxen befreit. Alle möglichen Klischees werden hier bedient. Nathan der Weise in der serientauglichen Version von Netflix zelebriert die Versöhnung zwischen einer Jüdin und den Deutschen. Die Juden und Jüdinnen, wie ihr vorgesehener Ehemann aus New York und seine orthodoxen Freunde, die von Anfang an als Unterdrücker weiblicher Sexualität und freier Lebensformen falschliegen, werden von der Metropole Berlin und ihren sich als universalistisch gerierenden Bürgern in die Schranken gewiesen und am Ende von der Heldin buchstäblich nach Hause geschickt. Auch hier steht Berlin für den allmächtigen und entgrenzten deutschen Universalismus, der sich als progressiv, aufgeklärt und deutschsprachig versteht.

Nathan und sein Freund auf dem Titelbild wurden zur Zeit der Aufnahme noch nicht nach Hause geschickt. Das wird erst fünf Jahre später geschehen. In ihrem Selbstbild symbolisieren die beiden Herren auf dem Titelbild die historische Kontinuität der Juden durch die Geschichte, ohne die es die säkularen Juden nicht geben kann. Da ist viel mehr zu sehen als nur Klischees. Die Herren, die uns von diesem Titelbild anschauen, wirken wie ein Spiegelbild, das zurückblickt, sie erinnern an das ikonische Bildnis des Dorian Gray10, denn säkulare Juden können sich nicht von ihrem eigenen historischen Wir befreien, das mit ihnen weiterexistiert und angesichts der weiter fortschreitenden Modernisierung möglicherweise immer älter aussieht. Wie Nathan und sein Freund kleiden sich orthodoxe Männer auch heute schwarz und gehen oft auch im heißen Sommer Israels im Mantel auf die Straße, dazu große schwarze Hüte, ein Bart und Schläfenlocken. Die Frauen tragen lange Röcke oder Kleider, verheiratete Frauen bedecken ihr Haar mit Perücken. Aber diese historische Kontinuität ist eine Scheinkontinuität. In Israel gelten seit der Staatsgründung Regelungen, die es orthodoxen Juden möglich machen, weiterhin als autonome Gemeinschaft innerhalb des Staates Israel zu leben, wie zum Beispiel mit eigenen Schulen, ähnlich einer anerkannten Minderheit. Ein autonomes Schulsystem ist eine Sache, aber der ständig tobende Kampf um die Befreiung von der Wehrpflicht eine andere. Denn die orthodoxen Juden kämpfen auch darum, dass der jüdische Staat nicht nur ein ethnischer Nationalstaat, sondern zugleich ein religiöser Staat wird. Orthodoxe Juden — wie auf unserem Foto — haben sich gegen die Emanzipation der Juden in Europa gewehrt, gegen die sie sich im 19. Jahrhundert absetzten. Die Bezeichnung »orthodox« stammt aus der Zeit, in der Juden sich der Aufklärung verweigerten. Sie wurde von den jüdischen Gegnern der Orthodoxie eingeführt und bedeutete so viel wie Intoleranz und Partikularismus.11 Diese Bezeichnungen sind im israelischen Kulturkampf bis heute gang und gäbe.

Viele orthodoxe Juden verstehen sich als die wahren Juden und beobachten die Modernisierungsprozesse des Judentums mit Misstrauen und Abneigung. Ihre Rabbiner wehren sich gegen die Vergöttlichung des Menschen, die sie in den Ideologien des 19. Jahrhunderts zu erkennen glauben. Sie wehren sich auch gegen das, was sie als Vergöttlichung des Staates und der Nation empfinden, und stellten sich deshalb von Anfang an gegen die zionistische Bewegung. Sie leben oft mit dem Paradox, dass sie selbst ein Produkt der Moderne sind, gegen die sie sich wehren und von der sie abhängig sind. Das ist nur einer der kulturellen und politischen Kämpfe im jüdischen Nationalstaat Israel, der dort in der Gegenwart tobt, der aber auch außerhalb Israels von modernen Juden und Jüdinnen mit Misstrauen verfolgt wird. Die Widersprüche innerhalb und außerhalb Israels liegen offen. Die zionistische Revolution ist und war nie eine Französische Revolution, die universale Werte wie Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit verspricht. Es ging nicht nur um einen radikalen Neubeginn für die jüdischen Lebenswelten, sondern auch um deren Fortsetzung unter dem Vorzeichen der politischen Souveränität. Es geht daher auch um jüdischen Partikularismus, einen Partikularismus, den das Titelbild des Spiegels offen zur Schau stellt. Die anfängliche Ablehnung des Zionismus spielt für die meisten orthodoxen Juden in Israel keine Rolle mehr. Israel existiert, und die Orthodoxen haben sich nicht nur damit abgefunden, sondern wollen das Land in ihrem Sinne umformen. Dies mag auch der Hintergrund für die Verschärfung der Auseinandersetzungen sein, die der moderne Staat Israel in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 erlebte. Die Orthodoxen sind nicht einfach in der Vergangenheit gefangen, sie stellen ihre eigenen Forderungen an die Moderne. Die politischen und kulturellen Kämpfe innerhalb Israels erwecken oft den Eindruck, als ob es um klassisch binäre Probleme ginge: Die einen sagen, Israel sei ein westlich-liberaldemokratischer Staat wie eben andere Staaten auch, die anderen behaupten, Israel entfremde sich von den jüdischen Traditionen. Diese Spannung zwischen jüdisch und demokratisch wirkt aus der jüdischen Diaspora zurück nach Israel. Jüdisch und demokratisch heißt sichtbar und unsichtbar, aufgeklärt und orthodox zugleich.

Die israelische Souveränität verändert den jüdischen Blick. Juden sind nicht mehr Fremde und Marginalisierte, sondern verfügen als souveräne Subjekte über Macht. Der Zionismus ist eine Befreiungsbewegung für jene, die nicht dazugehörten, die unterdrückt und diskriminiert waren, wie Nathan und sein Freund auf dem Titelbild — auch wenn wir vermuten können, dass sie vor 1933 die zionistische Bewegung eher ablehnten. Nach dem Vernichtungskrieg gegen die europäischen Juden wuchs die Dringlichkeit, einen eigenen Staat zu gründen, der 1948 Wirklichkeit wurde und aus europäischer Sicht den Jüdinnen und Juden endlich Freiheit und Gerechtigkeit versprach. Aus israelischer Sicht war die Staatsgründung die zwingende Antwort auf die versuchte Vernichtung. Der politische Kampf um Israels Selbstverständnis ist freilich ein Kampf, der schon mit dem Beginn der jüdischen Moderne am Ende des 18. Jahrhunderts einsetzte, dem Kampf um die europäische Judenemanzipation und die damit zusammenhängende jüdische Frage. Der Konflikt zwischen Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit löst sich aus dem europäischen Kontext und wird nun in Israel selbst verhandelt: der säkulare »Staat Israel« mit seinen Institutionen und Staatsbürgern, die ihrem Leben nachgehen wie andere Menschen in Europa oder Amerika auch, zur gleichen Zeit und am gleichen Ort dessen heilig aufgeladene Variante, in der ganz andere Gesetze gelten und sogar andere Zeitstrukturen. In der Staatlichkeit Israels manifestiert sich nicht nur die Spannung zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Heiligkeit und Souveränität der jüdischen Existenz. Die Souveränität macht das Jüdische wieder sichtbar, obwohl der politische Zionismus vom aufklärerisch inspirierten Impuls der Unsichtbarkeit ausging, die Juden wie alle anderen Völker werden zu lassen.

Wäre es wahr, dass Juden genauso Menschen sind wie alle anderen, dann wären die Juden keine Juden mehr. Unsere beiden Männer auf dem Bild wissen das sehr wohl. Es gibt in der Tat viele Juden und Jüdinnen nicht nur in Israel, die in der Symbolik der beiden Männer das Exil, das Ghetto erkennen. Rabbinisches Denken steht für jene Zeit der scheinbaren Macht- und Wehrlosigkeit, der Zeit ohne Politik und Souveränität, weder relevant für den souveränen Staat Israel noch für moderne assimilierte Juden. Für unseren Nathan und seinen Freund geht es in der Tat nicht um Toleranz. Das ist das Problem und das Dilemma der assimilierten Juden in Deutschland vor der Zeit des Nationalsozialismus. Sie ziehen sich an wie die Deutschen, sprechen wie die Deutschen, feiern Weihnachten wie die Christen, aber sie bleiben trotzdem nur geduldete Juden. Auch der Zionismus ist in diesem Widerspruch gefangen. Er ist anfangs eine Bewegung von assimilierten Juden, die auf der Suche nach Heimat und Mutterland waren. Das können sie aber nicht in Europa finden. So hat man sich sein eigenes Mutterland gesucht, das die Vergangenheit und Gegenwart der biblischen Überlieferung lokalisiert, die nicht auf einem temporalen, sondern örtlichen Prinzip der Ordnung beruht. Der Zionismus ist eine antimessianische Bewegung, er greift aktiv in die Geschichte ein und will nicht auf die Erlösung oder die Ankunft des Messias warten. Andererseits kann er sich nur auf die eigenen messianischen jüdischen Wurzeln berufen.12

So wirken religiöse und messianische Lehren im Hintergrund immer weiter, auch wenn die Staatsgründer sich als säkulare Sozialisten verstehen, die freilich tief in der jüdischen Tradition verankert sind. All diese Widersprüche kann der Staat Israel in seiner 75-jährigen Geschichte mehr schlecht als recht ausbalancieren. Die Staatlichkeit Israels ist in der Tat eine statische Kraft, ein Gegengewicht zu den messianischen Kräften, die das Land im Frühjahr 2023 nach den Wahlen vom 1. November 2022 erfassen. Der Wahlausgang steht für eine politische Wende, die die bürgerlichen und nichtreligiösen Parteien in der Opposition von den politischen Entscheidungen ausschließt. Es hätte anders kommen können, aber nun haben die sichtbaren Juden im israelischen Parlament eine Mehrheit und wollen die Sichtbarkeit auch durch drakonische Gesetzgebung festlegen. Der Staat soll sichtbar jüdischer werden. Das ist nicht Politik, sondern Theologie, die die Souveränität Gottes auf den Staat übertragen will. Gegen diese Aushöhlung der Gewaltenteilung kämpft Woche für Woche die israelische Zivilgesellschaft. Sie beruft sich dabei auf einen Abschnitt der israelischen Unabhängigkeitserklärung von 1948:

»Der Staat Israel wird der jüdischen Einwanderung und der Sammlung der Juden im Exil offenstehen. Er wird sich der Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten, die Heiligen Stätten unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen treu bleiben.«13

Im gesamten Text der Unabhängigkeitserklärung ist immer wieder die Spannung zwischen jüdischer Tradition und bürgerlichem Aufbruch zu spüren. Dementsprechend muss sie auch diese Spannung zwischen Partikularismus und Universalismus austarieren. Sie ist ein widersprüchliches Dokument, muss es auch sein, denn der Staat Israel ist eine partikulare Lösung eines partikularen Problems, gleichzeitig aber eben auch ein Staat. Die partikulare jüdische Erfahrung, nirgends auf der Welt willkommen zu sein, machte den Staat Israel nötig. Ein sicherer Ort sollte geschaffen werden, der auch dann vor der Rolle des Opfers schützt, wenn alle anderen Orte unerreichbar werden. Also nicht nur ein Staat, sondern viel mehr noch ein theologisch überhöhter Fluchtort. Auf der anderen Seite versteht sich dieser Staat Israel auch als Demokratie, eine politische Staatsform, die im Zuge der Emanzipation und Aufklärung ihre moderne Form erlangte. Die Menschen in Israel wollen jüdisch und gleichzeitig demokratisch sein, sichtbar und unsichtbar, partikular und universell, wie es auch in einem israelischen Grundrecht von 1992 verankert ist.14

Wie das Partikulare und Universale gemeinsam gelebt werden können, obwohl sich das eigentlich nicht denken lässt, zählt seit jeher zu den Dilemmata der jüdischen Welt, zu denen nicht zuletzt der Staat Israel gehört. Auch historisch verbindet die Balance zwischen Autorität und Machtlosigkeit die jüdische Geschichte mit dem Staat Israel. Die Selbstbegrenzung der staatlichen Souveränität, wie sie in der Unabhängigkeitserklärung Israels im Sinne der Propheten Israels gefordert wird und wie sie sich in der Gewaltenteilung demokratischer Staaten niederschlägt, führt seit der Staatsgründung vor 75 Jahren zu immer neuen Konflikten. Die Unabhängigkeitserklärung beruft sich nicht zufällig auf die Propheten Israels und deren universelle Botschaften, auf eine Transzendenz also, die nicht allein den Menschen vertraut, sondern Sicherheit und Vertrauen in Gott sucht. Diese Einschränkung menschlicher Souveränität stellt nun aber gerade der jüdische Staat Israel in Frage. Der fast schon permanente Ausnahmezustand und die fehlende Trennung von Staat, Nation und Religion resultieren aus seinem ethnischen und partikularen Charakter. Es geht dabei nicht nur um einen Kulturkampf zwischen dem Religiösen und dem Säkularen. Allein schon, dass der Staat Institutionen und Vertretern der Orthodoxie den Vollzug wichtiger Zeremonien wie Heirat, Scheidung und Bestattung überlassen hat oder dass die jüdischen Feiertage die offiziellen Feiertage des Landes sind, hat wenig mit Religion, aber viel mit der Legitimation Israels als jüdischem Staat zu tun. Nathan und sein Freund gehören also zu Israel, so wie sie vor 100 Jahren zum Judentum gehörten und das immer noch tun. Die jüdische Frage, die durch das Foto gestellt wird, ist auch die israelische Frage. Was für ein Staat ist Israel? Nathan und seinem Freund mag die Antwort nicht schwerfallen. Zunächst wehren sich Nathan und sein Freund gegen die zionistische Idee. Sie empfinden es als Frevel, Gotteswerk den Menschen zu überlassen. Einen jüdischen Staat wird es geben, wenn der Messias kommen wird. Und dieser Messias ist noch nicht da, aber er wird kommen.

Ganz im Sinne Kafkas glauben wohl auch Nathan und sein Freund, dass der Messias nur eine Projektion in die Zukunft sein wird:

»Der Messias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird, er wird erst einen Tag nach seiner Ankunft kommen, er wird nicht am letzten Tag kommen, sondern am allerletzten.«15

Das macht unsere beiden Freunde wohl nicht nur zu Gegnern der »weisen« assimilierten Juden, sondern auch zu Gegnern des Zionismus. Für sie gibt es keine großen Unterschiede zwischen diesen beiden ungläubigen jüdischen Formationen der Assimilation und des Zionismus. Nathan und sein Freund erleben die Staatsgründung Israels im Jahr 1948 wohl nicht mehr. Sie sind schon vorher vertrieben und ermordet worden. Ihre Freunde und Verwandten im neu gegründeten Staat müssen nun ihren Frieden mit dem Messias machen, mit dem Staat leben, ohne wirklich Teil davon zu sein. Oder ihn vielleicht doch nach eigenen Vorstellungen umbauen? Wenn überhaupt Staat, dann soll Israel ein partikularer Gottesstaat sein, der von Gott legitimierte Macht ausübt, manifestierte Heiligkeit, die nicht verhandelt werden kann und die durch ein Territorium symbolisiert wird. Souveränität über die biblischen Stätten lassen Religion und Politik ineinander aufgehen.

Auch die hebräische Sprache ermöglicht einen Übergang zwischen den orthodoxen und modernen jüdischen Lebenswelten. Die zionistische Bewegung formt die heilige Sprache des Hebräischen zu einer säkularen Sprache, in der man modern denken und sprechen kann. Damit wird nicht nur die heilige Sprache säkularisiert, sondern auch die säkulare Sprache heilig aufgeladen. Wie die assimilierten Juden verachten auch die Zionisten das jiddische »Mauscheln«, was sie wie ihre »weisen« Juden mit Rückständigkeit und Primitivität identifizierten. Ein zionistischer Jude spricht Hebräisch, nicht das Hebräisch, mit dem Nathan in der Synagoge in Berlin betet, sondern ein neues und modernes Hebräisch, das aber nie seinen heiligen Schatten verlieren kann.16 Säkulare Juden in Israel geraten dadurch unter Zugzwang. Sie halten — und zwar auf Hebräisch — universale Weltbilder als Antwort dagegen. Die werden von der anderen Seite aber nicht verstanden. Ein Gespräch kann so nicht geführt werden, zu unterschiedlich sind die Positionen. Was heißt es, ein nichtjüdischer Jude zu sein, und warum überhaupt gibt es Israel? Am Ende bleibt nur das Nachtasyl, wie es Max Nordau mit Zustimmung von Theodor Herzl in Bezug auf den britischen Vorschlag von 1903, den Juden Uganda zu überlassen, bezeichnet.17 Ein Platz, an dem man sicher und in Frieden leben kann. Das aber könnte man auch in den USA. Dafür braucht man den Staat Israel nicht. Die Lebenswelten von Nathan und seinem Freund sind integraler Teil dieses Staates Israel.

Jüdische Weltanschauungen

Bei diesem Konflikt geht es auch um die Vermittlung verschiedener Sprachen und Bilder. Hunderttausende Menschen demonstrierten seit dem Frühjahr 2023 jeden Samstag auf der Straße, um ihre Vorstellung von Israel zu verteidigen und um dafür zu kämpfen, dass für Juden »normale« Politik möglich ist, als habe die Souveränität Israels die »jüdische Frage«, die die beiden Herren auf dem Foto gestellt haben, gelöst. Diese Demonstrationen hielten bis Ende September 2023 an. Wie bei der Emanzipationsbewegung im 19. Jahrhundert geht es darum, ob es gelingen kann, die politischen Kapazitäten des Staates von den mächtigen religiösen und historischen Kräften der jüdischen Volkszugehörigkeit zu unterscheiden. Es sind die Widersprüche, in denen sich Staatsbürgerschaft, Zivilgesellschaft und kulturelle Identitäten bewegen.

91 Jahre nach der Aufnahme des Bildes und ein Jahr vor den Massendemonstrationen in Israel tobte im Sommer 2022 in Deutschland eine Debatte über die mediale und künstlerische Repräsentation von Juden und Israel, in der all diese Fragen aufgeworfen wurden. Es ging um jüdische Sichtbarkeit, also auch um Antisemitismus, es ging um Israel und seinen Charakter als säkularer und religiöser Staat, und es ging um Politik und Emanzipation. Auf der documenta 15 in Kassel hatte das indonesische Künstlerkollektiv Taring Padi Bilder gezeigt, die antisemitische Klischees bedienten. Die künstlerische Leitung der Ausstellung, die ebenfalls aus Indonesien stammende Künstlergruppe Ruangrupa, stellte sie in den Kontext postkolonialistischer Debatten und wollte keinen Zusammenhang mit der Shoah erkennen. Postkolonialistische Politik und Kunst kämpfen für die Emanzipation partikularer unterdrückter Menschen und müssten also eigentlich das zionistische Anliegen verstehen. Doch gerade Israel als Staat und Israel als Idee stehen im kritischen Fokus dieser Debatten. Ist diese moderne Judenfrage die Kehrseite der Judenemanzipation?

Während der documenta 15 2022 wurde auch über die verschiedenen Beschreibungen jüdischer Wirklichkeiten gestritten. Israel wurde im Namen eines progressiven und universalistischen Weltbilds als rückschrittliche, kolonialistische und partikulare staatliche Formation angegriffen. Und wie beim Spiegel-Titelbild wurde dabei eine eindeutig antisemitische Bildsprache verwendet, die freilich nicht als solche gesehen werden sollte. Aber anders als auf dem Spiegel-Cover waren die Vorwürfe auch gegen Israel gerichtet. Denn die Debatten, die im Jahr 2022 geführt wurden, sind fast 200 Jahre alt, sie kreisen um die Emanzipation der Juden in Deutschland und Europa, um die Gleichberechtigung jüdischer Bürger und Bürgerinnen als Staatsbürger, also auch um Nathan und seinen Freund. Der Streit um die documenta 15 war ein Streit über die Darstellung von Juden in Bildern — und damit auch über den Partikularismus des jüdischen Nationalstaates, der drei Jahre nach Ende der Shoah gegründet wurde.

Ein Jahr später brach 2023 in ebendiesem Staat erneut ein Kulturkampf um das Verhältnis von Partikularismus und Universalismus los. Kein Zufall, dass einer der Auslöser dieses Kampfes die vollständige Freistellung orthodoxer junger Männer von der Bürgerpflicht des Armeedienstes war, der die Ungleichheit zwischen orthodoxen und modernen Juden legal institutionalisieren würde. Gerade der Militärdienst und die damit verbundene bürgerliche Pflicht, ständig zum Kampf bereit zu sein, unterscheidet den souveränen Staat Israel von der jüdischen Diaspora. Mit diesem Dilemma muss jedes Urteil über die Politik Israels zurechtkommen. Ist es ein Staat, der souverän seine Politik umsetzt, oder sind orthodoxe Juden immer noch nach ihrem eigenen Verständnis als Minderheit anzuerkennen? Jüdische und israelische Identität sind oft nicht auseinanderzuhalten, das verschärft den Konflikt, wie das Ethnische vom Politischen unterschieden werden kann. Denkbar ist, dass dieses von der Französischen Revolution ins Leben gerufene Dilemma, ob Juden als »Nation« keine Rechte, aber als Individuen alle Rechte bekommen können, also der sichtbaren Partikularität gegenüber dem »unsichtbaren« Universalismus, heutzutage auch für Israel gilt, ein partikularistischer Staat par excellence, ein Staat der Juden oder sogar ein Judenstaat, der sich jenseits des postnationalen Zeitgeistes definiert. Israel versteht sich ethnisch, und die Kriterien für seine Staatsbürgerschaft sind ebenso wie die für sein kollektives Gedächtnis partikular. Übliche Vorstellungen von Staatsbürgerschaft und kollektiver Erinnerung würden verlangen, dass Israel seine ethnische Grundlage aufgibt, nach der es seine Staatsangehörigen definiert, die ja die jüdische Reaktion auf den Holocaust und den Antisemitismus ist.

1933 class="Abbildung_Tabelle Legende_Abb">Moritz Daniel Oppenheim (1800—1882): »Johann Kaspar Lavater und Gotthold Ephraim Lessing besuchen Moses Mendelssohn, Spandauerstr. 68, Alt-Berlin«. Gemälde 1856, Öl auf Leinwand, 70 x 58 cm, Inv.Nr. 75.18. Berkeley, Judah L. Magnes Memorial Museum

Schach der Toleranz

Moritz Daniel Oppenheim (1800—1882), einer der ersten jüdischen Maler in Deutschland, die breite Beachtung fanden, dachte sich 1856