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Ein Gipfeltreffen der Superstars: Thomas Piketty, der Ökonom aus Paris, und Michael J. Sandel, der Philosoph aus Harvard, diskutieren über Gleichheit und Gerechtigkeit. Stets haben sie dabei die aktuellen Fragen im Blick: die wachsende soziale Ungleichheit, den Klimawandel, die Massenmigration, den Aufstieg der Rechten, die Zukunft der Linken. Wenn zwei der klügsten Köpfe unserer Zeit die Kernthemen unserer Zeit erörtern, dann ergibt das nicht nur viel Stoff zum Nachdenken, sondern bereitet auch ein großes intellektuelles Vergnügen. Wir leben in einer Zeit tiefer politischer Instabilität und schwerer Umweltkrisen. Was ist zu tun, um gegenzusteuern? Piketty und Sandel stimmen in vielen Punkten überein: Wir brauchen mehr Investitionen in inklusive Gesundheit und Ausbildung, höhere progressive Steuern, klare Grenzen für die Macht des Reichtums und der Märkte. Aber wie kommen wir dahin? Und sollen wir materiellen Wohlstand oder sozialen Wandel priorisieren? Schließlich: Wie ist es um all diese Themen bestellt, wenn überall auf der Welt ein neuer radikaler Nationalismus auf dem Vormarsch ist?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Thomas PIKETTY
Michael J. SANDEL
DIE KÄMPFE DER ZUKUNFT
Gleichheit und Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert
Aus dem Englischen übersetzt von Stefan Lorenzer
C.H.BECK
Cover
Inhalt
Textbeginn
Titel
Inhalt
1: Weshalb muss uns Ungleichheit Sorgen bereiten?
2: Sollte Geld weniger wichtig sein?
3: Die moralischen Grenzen des Marktes
4: Globalisierung und Populismus
5: Meritokratie
6: Lotterien: Sollten sie bei der Hochschulzulassung und der Bestellung von Abgeordneten eine Rolle spielen?
7: Besteuerung, Solidarität, Gemeinschaft
8: Grenzen, Migration, Klimawandel
9: Die Zukunft der Linken: Identität und Wirtschaft
Fußnoten
Zum Buch
Vita
Impressum
1
Michael Sandel
Thomas, vielen Dank für die Einladung zu diesem Gespräch über Gleichheit an der Paris School of Economics. Um zu erkunden, was Gleichheit bedeutet, kann man mit der Frage beginnen, weshalb Ungleichheit eine so wichtige Rolle spielt. Ihre Forschungen haben uns allen eindringlich vor Augen geführt, wie groß die Einkommens- und Vermögensungleichheiten sind. Lassen Sie uns mit diesen Ungleichheiten beginnen. Sie haben gezeigt, dass in Europa die reichsten 10 Prozent mehr als ein Drittel allen Einkommens und mehr als die Hälfte allen Vermögens auf sich vereinen. Und in den USA sind die Ungleichheiten noch größer. Viele von uns finden das besorgniserregend, aber warum genau ist es ein Problem?
Thomas Piketty
Ich freue mich, dass wir Gelegenheit zu dieser Diskussion haben. Lassen Sie mich zunächst festhalten, dass ich im Hinblick auf Gleichheit und Ungleichheit optimistisch bin. Das habe ich in Eine kurze Geschichte der Gleichheit, meinem letzten Buch, betont: So groß die Ungleichheit auf der ganzen Welt, in Europa wie den USA, in Indien wie Brasilien heute ist, langfristig hat es eine Tendenz zu mehr Gleichheit gegeben. Woraus entspringt diese Tendenz? Sie entspringt, und darin steckt zugleich eine Antwort auf Ihre Frage, der sozialen Mobilisierung und einer starken, unüberhörbaren politischen Forderung nach Gleichheit der Rechte beim Zugang zu dem, was wir als Grundgüter begreifen. Dazu zählen Bildung, Gesundheit, Wahlrecht und, ganz allgemein, möglichst umfassende Teilhabe an verschiedenen Formen sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen, bürgerlichen und politischen Lebens. Sie haben in Ihren eigenen Arbeiten unterstrichen, wie wichtig demokratische Teilhabe und Selbstverwaltung sind. Ich denke, dieses Bedürfnis nach demokratischer Teilhabe und Selbstverwaltung hat auch die langfristige Tendenz zu mehr Gleichheit angetrieben.
Nun gab es diese Tendenz nicht immer. Sie ist sicher nichts, was seit Urzeiten da war, sondern setzt vor allem gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit der Französischen Revolution und der Aufhebung der Adelsprivilegien ein, teilweise auch mit der Amerikanischen Revolution. Mit der Abschaffung der Sklaverei, dem Aufkommen der Arbeiterbewegungen, dem allgemeinen Wahlrecht für Männer und schließlich für Frauen setzt sie sich im 19. Jahrhundert fort. Und diese Tendenz hält mit dem Aufbau der sozialen Sicherungssysteme, der progressiven Steuer und der Dekolonisierung auch im 20. Jahrhundert an. Selbst in den letzten Jahrzehnten ist sie nicht abgerissen. Wir sprechen oft über die mit den 1980er Jahren anbrechende neoliberale Ära als Ära wachsender Ungleichheit. In manchen Hinsichten trifft dies auch zu. Aber in anderen Ungleichheitsdimensionen, etwa der Geschlechter- und «Rassen»-ungleichheit, zum Teil auch der Ungleichheit zwischen Nord und Süd hat die langfristige Tendenz zu mehr Gleichheit sich behauptet. Und ich bin davon überzeugt, dass sie sich auch in Zukunft fortsetzen wird. Weshalb? Weil seit dem Anbruch der Moderne auch das demokratische Bewusstsein gewachsen ist, der Anspruch auf gleichen Zugang zu Grundgütern, auf Teilhabe, auf Würde in jeder Form. Und das ist, auch für die monetären Dimensionen von Ungleichheit, die eigentliche Antriebskraft.
Um mit Ihrer spezifisch auf Einkommens- und Vermögensungleichheit bezogenen Frage zu schließen: So korrekt die von Ihnen genannten Zahlen zum hohen Ungleichheitsniveau von heute sind, vor 100 Jahren waren sie schlimmer. Und vor 200 Jahren waren sie noch schlimmer. Es hat den langfristigen Fortschritt also gegeben. Einfach vom Himmel gefallen ist dieser Fortschritt noch nie. Er hat stets große politische Kämpfe und soziale Mobilisierungen erfordert. Und das wird in Zukunft nicht anders sein. Die gute Nachricht ist, dass diese Kämpfe sich gewinnen lassen und in der Vergangenheit schon gewonnen worden sind. Vielleicht ist ihre Erforschung einer der besten Wege, uns auf die nächsten Schritte vorzubereiten.
Michael Sandel
Wenn ich Sie recht verstehe, haben Sie gerade drei Gründe dafür genannt, dass Ungleichheit ein Problem ist. Der erste betrifft den Zugang zu Grundgütern. Der zweite die politische Gleichheit: Stimmrecht, Macht, Teilhabe. Und schließlich haben Sie beiläufig einen dritten Grund erwähnt: Würde. Ich würde gern sehen, ob wir diese drei Gründe, aus denen es auf Gleichheit und Ungleichheit entscheidend ankommt, voneinander abheben können.
Nehmen wir, ganz hypothetisch, einmal an, wir hätten die gleiche Einkommens- und Vermögensungleichheit, die wir heute haben, aber irgendwie würde es uns gelingen, den politischen Prozess von dieser ökonomischen Ungleichheit abzukoppeln. Stellen wir uns vor, wir könnten eine öffentliche Finanzierung von Wahlkämpfen ohne private Wahlkampfspenden auf die Beine stellen. Stellen wir uns vor, wir könnten den Lobbyismus so einhegen, dass Schluss mit dem unverhältnismäßigen Einfluss mächtiger Unternehmen und reicher Individuen auf die Politik wäre. Stellen wir uns vor, wir könnten politische Mitsprache und Teilhabe von den Effekten der Einkommens- und Vermögensungleichheit ablösen. Stellen wir uns vor, wir könnten den Zugang zu Grundgütern – Gesundheit, Bildung, Unterkunft, Ernährung, Verkehr – durch einen großzügigeren Wohlfahrtsstaat gewährleisten. Stellen wir uns also vor, das erste Problem, Zugang zu Grundgütern, und das zweite Problem, Zugang zu Teilhabe und politischer Mitsprache, wären gelöst, die Einkommens- und Vermögensungleichheiten aber blieben unverändert. Gäbe es dann immer noch ein Problem?
Thomas Piketty
Ja, ich denke, es gäbe immer noch ein Problem, das insbesondere die Grundwürde und die mit Ungleichheit einhergehenden menschlichen Beziehungen und Verhältnisse beträfe. Ein monetäres Gefälle ist nie bloß ein monetäres Gefälle. Es lässt sich von einem sozialen Gefälle nicht trennen. Natürlich zählt der Einfluss von Unternehmen auf Politik und Medien zu den sichtbarsten Auswirkungen des Geldes auf die öffentliche Sphäre. Und es ist schwer vorstellbar, wie wir bei der Einkommens- und Vermögenshierarchie, die wir heute haben, dieses Problem in den Griff bekommen sollten. Aber, um Ihr Gedankenexperiment ernst zu nehmen, selbst für den hypothetischen Fall, dass wir es könnten, gäbe es immer noch eine gewaltige Ungleichverteilung der Kaufkraft, also der Macht, die Zeit anderer zu kaufen. Wenn ich mit meinem Stundeneinkommen Ihr ganzes Arbeitsjahr kaufen kann, dann zieht in die menschlichen Beziehungen eine Art sozialer Distanz ein, die zu sehr ernsten Bedenken und Fragen Anlass gibt. Was von massiven monetären Ungleichheiten bedroht wird, sind daher die Grundfesten unserer Ideale von Demokratie und Selbstverwaltung, die nicht nur die formale Organisation politischer Wahlkämpfe und den formalen Zugang zu Nachrichten betreffen, sondern auch die eher informellen sozialen Beziehungen innerhalb lokaler Gemeinschaften, in denen Menschen interagieren und miteinander kommunizieren.
Das wichtigste politische und philosophische Argument scheint mir aber ein buchstäblich historisches zu sein: Unsere Geschichte hat gezeigt, dass wir in der Lage waren, diese Probleme durch eine gemeinsame Anstrengung anzupacken. Wir haben es geschafft, nicht allein Ungleichheit beim Zugang zu Grundgütern und politischer Teilhabe, sondern auch monetäre Einkommens- und Vermögensungleichheit stark abzubauen. Trotz wachsender Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten ist heute, und das gilt weniger, aber doch auch für die USA, das Einkommensgefälle zwischen den obersten 10 Prozent oder den obersten 1 Prozent und den unteren 50 Prozent oder 10 Prozent sehr viel geringer als vor hundert Jahren.
Wir haben uns also langfristig auf mehr Gleichheit zubewegt. Und das ging nicht nur nicht auf Kosten des Wohlstands oder anderer legitimer Ziele, die mit der Gleichheit im Gleichgewicht stehen sollten, sondern war tatsächlich ein Schlüsselmoment in der Entwicklung modernen Wohlstands. Warum? Weil der Aufbau eines inklusiveren und egalitäreren sozioökonomischen Systems, insbesondere beim Zugang zu Bildung, tatsächlich eine unabdingbare Voraussetzung des enormen Wohlstandswachstums war.
Das gilt allerdings mit zwei Einschränkungen. Erstens sollten wir, wenn wir vom Zugang zu Grundgütern sprechen, nicht vergessen, dass die Güter, die wir als grundlegend betrachten, heute nicht die gleichen wie vor hundert Jahren sind. So lautet heute eine der großen Fragen, wie wir zu einem fairen Bildungssystem kommen, unter Einschluss der Hochschulbildung – eine Frage, zu der Sie viel geschrieben haben und auf die wir später zu sprechen kommen. Fürs Erste nur so viel: Dass wir ehrgeizigere egalitäre Ziele für die Hochschulbildung gewissermaßen ad acta gelegt haben, scheint mir eine Quelle vieler unserer heutigen ökonomischen und mehr noch demokratischen Probleme zu sein.
Ein zweiter wichtiger Vorbehalt, den ich sofort anmelden möchte, ist die internationale Dimension, namentlich das Nord-Süd-Gefälle. Einen großen Teil des Wohlstands, den wir heute im Norden, in Europa wie den USA genießen, verdanken wir nicht allein dem Bildungsaufschwung sowie inklusiveren Investitionen in Gesundheit und Qualifikationen – an sich eine gute Sache, eine institutionelle Win-win-Transformation. Dieser Wohlstand wurde auch durch globale Arbeitsteilung möglich. Und dahinter steckt tatsächlich eine manchmal höchst brutale Ausbeutung natürlicher, also auch menschlicher Ressourcen, die zudem mit dem Extrapreis jener Bedrohung der planetaren Nachhaltigkeit bezahlt wird, die uns immer schärfer vor Augen tritt. Für mich ist dies eindeutig die größte Einschränkung jener positiven Tendenz zu mehr Gleichheit und Wohlstand, die voranzutreiben ich als die größte Aufgabe der Zukunft bezeichnet habe. Aber zugleich ist dies einer der Gründe, aus denen ich letztlich optimistisch bleiben möchte, da ich überzeugt bin, dass wir diese planetarische Herausforderung nur bewältigen können, wenn wir auf dem Weg zu mehr Gleichheit noch weiter gehen, als wir es uns jemals hätten träumen lassen.
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Michael Sandel