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Mit seinen voluminösen Bestsellern «Das Kapital im 21. Jahrhundert» und «Kapital und Ideologie» hat Thomas Piketty eine internationale Debatte über die Ursachen sozialer Ungleichheit in Gang gebracht. Sein neues Buch ist eine bewusst komprimierte Weltgeschichte der sozialen Konflikte und Konstellationen und zugleich eine Lektion in globaler Gerechtigkeit: das eine Ökonomie-Buch, das wirklich jeder gelesen haben sollte. Thomas Piketty hat mit seinen Büchern die soziale Ungleichheit wieder zurück ins Zentrum der politischen Debatten gebracht. Er sieht und benennt den Fortschritt in der Geschichte, und er zeigt uns, mit welchen Mitteln er erzielt wurde. Aber zugleich verwandelt er die historischen Einsichten in einen Aufruf an uns alle, den Kampf für mehr Gerechtigkeit energisch fortzusetzen, auf stabileren historischen Fundamenten und mit einem geschärften Verständnis für die Machtstrukturen der Gegenwart. Denn auf dem langen Weg zu einer gerechteren Welt stellt sich für jede Generation die Frage, ob sie ein neues Kapitel der Gleichheit aufschlägt - oder eines der Ungleichheit.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
THOMAS PIKETTY
Eine kurze Geschichte der
GLEICHHEIT
Aus dem Französischenvon Stefan Lorenzer
C.H.Beck
«Wir wissen, dass wir es besser machen können. Die Vergangenheit zeigt uns wie. Die Zukunft liegt an uns.»
Thomas Piketty
Mit seinen voluminösen Bestsellern «Das Kapital im 21. Jahrhundert» und «Kapital und Ideologie» hat Thomas Piketty eine internationale Debatte über die Ursachen sozialer Ungleichheit in Gang gebracht. Sein neues Buch ist eine bewusst komprimierte Weltgeschichte der sozialen Konflikte und Konstellationen und zugleich eine Lektion in globaler Gerechtigkeit: das eine Ökonomie-Buch, das wirklich jeder gelesen haben sollte.
«Thomas Piketty ist gerade dabei, der Karl Marx des 21. Jahrhunderts zu werden.»
Waltraud Schelkle, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Thomas Piketty lehrt an der École d’Économie de Paris und an der renommierten École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen «Das Kapital im 21. Jahrhundert» (42020), «Kapital und Ideologie» (2020), «Ökonomie der Ungleichheit» (32020), «Der Sozialismus der Zukunft» (2021) und zuletzt «Rassismus messen, Diskriminierung bekämpfen» (2022).
DANKSAGUNGEN
EINFÜHRUNG
Eine neue Wirtschafts und Sozialgeschichte
Das Aufbegehren gegen Ungerechtigkeit und die Suche nach gerechten Institutionen
Die Kräfteverhältnisse sind nicht alles
KAPITEL 1: DER LANGE WEG ZUR GLEICHHEIT: ERSTE ANMERKUNGEN
Menschlicher Fortschritt: Bildung und Gesundheit für alle
Weltbevölkerung und Durchschnittseinkommen: Grenzen des Wachstums
Die Wahl sozio-ökonomischer Indikatoren: eine politische Frage
Für eine Mehrheit von Sozial- und Umweltindikatoren
Ohne Messung von Ungleichheiten keine nachhaltige Entwicklung
KAPITEL 2: DIE ALLMÄHLICHE DEKONZENTRATION VON MACHT UND EIGENTUM
Die Entwicklung der Eigentumskonzentration seit dem 18. Jahrhundert
Eigentum und Macht: Ein Bündel von Rechten
Eigentum an Produktionsmitteln, an Wohnraum, am Staat, am Rest der Welt
Die schwierige Geburt einer vermögenden Mittelschicht
Der lange Weg zu mehr Einkommensgleichheit
KAPITEL 3: DAS ERBE DER SKLAVEREI UND DES KOLONIALISMUS
Industrielle Revolution, Kolonialismus und Ökologie
Am Ursprung der großen Kluft: Die europäische Militärherrschaft
Das Baumwollimperium: Die Machtübernahme durch die globale Textilindustrie
Protektionismus, Zentrum-Peripherie und System-Welt-Beziehungen
Europa als Provinz. Die Besonderheit des Westens überdenken
Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Geschichte der Staatsbildung
KAPITEL 4: DIE FRAGE DER WIEDERGUTMACHUNG
Das Ende der Sklaverei: Die finanzielle Entschädigung der Eigentümer
Muss der französische Staat die von Haiti gezahlten Schulden zurückerstatten?
Die britischen und französischen Entschädigungen für Sklavenhalter von 1833 und 1848
Die Vereinigten Staaten: Der lange Marsch einer Sklavenhalterrepublik
Der Kolonialismus nach dem Ende der Sklaverei und die Frage der Zwangsarbeit
Frankreich, eine sich selbst verkennende Kolonialrepublik
Die Frage der Wiedergutmachung: Gerechtigkeit im transnationalen Maßstab neu denken
KAPITEL 5: REVOLUTIONEN, STATUS, KLASSEN
Das Ende der Privilegien und Statusungleichheiten?
Der lange Weg aus Zwangsarbeit und halberzwungener Arbeit
Schweden um 1900: Ein Mann, hundert Stimmen
Die Metamorphose der Privilegien: Demokratie von Geldes Gnaden
Das Fortbestehen des Zensuswahlrechts: Die Wirtschaftsplutokratie
Partizipativer Sozialismus und geteilte Macht
KAPITEL 6: DIE GROSSE UMVERTEILUNG, 1914–1980
Die Erfindung des Sozialstaats: Bildung, Gesundheit, soziale Sicherung
Der zweite Quantensprung des Steuerstaats: Eine anthropologische Revolution
Die Erfindung der progressiven Einkommen und Erbschaftsteuer
Reale Steuerprogression und Sozialvertrag: Die Frage der Steuerakzeptanz
Die progressive Steuer als Mittel zum Abbau von Ungleichheit nicht nur nach, sondern vor Steuern
Die Liquidation der Kolonialvermögen und der Staatsschulden
Der Wiederaufbau Europas durch Streichung der Staatsschulden
KAPITEL 7: DEMOKRATIE, SOZIALISMUS UND PROGRESSIVE EINKOMMENSTEUER
Die Grenzen der Gleichheit: Hyperkonzentration des Eigentums
Sozialstaat und progressive Steuer: Eine Systemtransformation des Kapitalismus
Eigentum und Sozialismus: Die Frage der Dezentralisierung
Für einen demokratischen, selbstverwalteten und dezentralisierten Sozialismus
Der freie Kapitalverkehr: Die neue Zensusmacht
KAPITEL 8: REALE GLEICHHEIT GEGEN DISKRIMINIERUNG
Bildungsgleichheit: Stets proklamiert und nie verwirklicht
Für eine positive Diskriminierung anhand sozialer Kriterien
Über das Fortbestehen des Patriarchats und des Produktivismus
Diskriminierungen bekämpfen, ohne die Identitäten zu verhärten
Soziale Gleichstellung und Wohlstandsumverteilung in Einklang bringen
Rassismus messen: Die Frage der ethnisch-«rassischen» Kategorien
Religiöse Neutralität und die Heucheleien der französischen Laizität
KAPITEL 9: AUSWEGE AUS DEM NEOKOLONIALISMUS
Das Wirtschaftswunder und der Süden: Die Grenzen des National-Sozialstaats
Neokolonialismus, Handelsliberalisierung, Steuerparadiese
Das Blendwerk der internationalen Hilfen und der Klimapolitik
Rechte für arme Länder: Auswege aus der Zentrum-Peripherie-Logik
Vom National-Sozialstaat zum Föderal-Sozialstaat
Für einen sozialen und demokratischen Föderalismus
KAPITEL 10: FÜR EINEN DEMOKRATISCHEN, ÖKOLOGISCHEN SOWIE ETHNISCH UND KULTURELL DIVERSEN SOZIALISMUS
Kräfte des Wandels: Klimaerwärmung und Kampf der Ideologien
Der chinesische Sozialismus. Schwachstellen einer perfekten digitalen Diktatur
Vom Krieg der Kapitalismen zum Kampf der Sozialismen
Wird das Geld uns retten?
Für einen universalistischen Souveränismus
«Das ist interessant, was Sie schreiben, aber ginge es nicht auch kürzer, sodass ich Freunde und meine Familie an Ihren Forschungen teilhaben lassen könnte?»
Dies kleine Buch ist auch eine Reaktion auf diese bei Begegnungen mit Leserinnen und Lesern oft vorgetragene Bitte. In den letzten zwanzig Jahren habe ich drei Bücher zur Geschichte der Ungleichheiten geschrieben, die es (jeweils!) auf um die tausend Seiten bringen: Les Hauts Revenus en France au XXe siècle (Grasset 2001), Das Kapital im 21. Jahrhundert (C.H.Beck 2013) und Kapital und Ideologie (C.H.Beck 2020). Diese Arbeiten stützen sich ihrerseits auf ein groß angelegtes internationales Forschungsprogramm, aus dessen historischen und vergleichenden Untersuchungen neben einer ganzen Reihe von Gemeinschaftsarbeiten auch die World Inequality Database (WID.world) hervorgegangen ist.[1] Der Umfang dieser Forschungsergebnisse ist dazu angetan, den gutwilligsten Bürger zu entmutigen. Es war Zeit für ein Resümee, das ich hiermit vorlege.
Dennoch belässt es dieser kleine Band nicht bei einer Zusammenfassung der wichtigsten Lehren, die sich aus jenen Arbeiten ziehen lassen. Indem ich die Debatten der letzten Jahre zu den einschlägigen Fragen aufgreife, werfe ich einen neuen Blick auf die Geschichte der Gleichheit, der sich aus einer Überzeugung ergibt, die sich im Zuge meiner Forschungen gefestigt hat: Der Weg zur Gleichheit tut sich in einem Kampf auf, der lange zurückreicht und auch im 21. Jahrhundert weitergehen wird, immer vorausgesetzt, dass wir ihn alle aufnehmen und uns von den Spaltungen zwischen Identitäten, aber auch zwischen Disziplinen freimachen, die uns oft genug nicht vorwärtskommen lassen. Ökonomische Fragen sind zu wichtig, um sie einer kleinen Kaste von Spezialisten und Führungspersonal zu überlassen. Dass die Bürger sich dieses Wissen zurückerobern, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Änderung der Machtverhältnisse. Natürlich hoffe ich, den einen oder anderen Leser dafür zu gewinnen, sich eines Tages in die umfänglicheren (und dennoch, um das gleich zu betonen, sehr zugänglichen!) Werke zu vertiefen. In der Zwischenzeit aber lässt sich dieser kurze Text auch unabhängig von den andern lesen. Allen Leserinnen, Studierenden und Bürgern, von deren Fragen diese Arbeit zehrt, sei dafür gedankt, dass sie mich zu diesem Vorgehen ermutigt haben. Ihnen ist mein Buch gewidmet.
1 Siehe T. Atkinson, T. Piketty, Top Incomes over the 20th Century, Oxford: Oxford University Press 2007; T. Atkinson, T. Piketty, Top Incomes: A Global Perspective, Oxford: Oxford University Press 2010; F. Alvaredo, L. Chancel, E. Saez, T. Piketty, G. Zucman, Rapport sur les inégalités mondiales 2018, Paris: Seuil 2018; A. Gethin, C. Martinez-Toledano, T. Piketty, Clivages politiques et inégalités sociales. Une étude de 50 démocraties, 1948–2020, Paris: EHESS/Gallimard/Seuil 2021. Zahlreiche Texte und Materialien, die auf diese Untersuchungen zurückgehen, sind verfügbar auf wid.world, wpid.world und piketty.pse.ens.fr.
Dieses Buch bietet eine vergleichende Geschichte der Ungleichheit zwischen gesellschaftlichen Klassen in menschlichen Gesellschaften – oder vielmehr eine Geschichte der Gleichheit, gibt es doch eine langfristige historische Tendenz zu mehr sozialer, ökonomischer und politischer Gleichheit.
Gewiss haben wir es mit keiner friedvollen, geschweige denn linear fortschreitenden Geschichte zu tun. Revolten und Revolutionen, soziale Kämpfe und Krisen aller Art spielen in der Geschichte der Gleichheit eine Schlüsselrolle. Und diese Geschichte ist auch durchsetzt von vielfältigen Phasen des Rückschritts und der identitären Abschottung.
Gleichwohl gibt es eine historische Bewegung hin zur Gleichheit, zumindest seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. So ungerecht sie scheinen mag, die Welt der beginnenden 2020er Jahre ist egalitärer als die von 1950 oder 1900, die ihrerseits in zahlreichen Hinsichten egalitärer war als die Welt von 1850 oder 1780.
Wie die Entwicklungen im Einzelnen aussehen, variiert je nach historischer Epoche und je nachdem, ob man sich für eine Ungerechtigkeit interessiert, die den Rechtsstatus, das Eigentum an den Produktionsmitteln, das Einkommens- oder Ausbildungsniveau, das Geschlecht, die nationale oder ethnische Herkunft betrifft – alles Dimensionen, die uns hier beschäftigen werden. Aber ganz gleich, welches Kriterium man anlegt – auf lange Sicht ist der Befund derselbe. Zwischen 1780 und 2020 sind in den meisten Regionen und Gesellschaften der Erde, ja in gewisser Weise weltweit Entwicklungen zu verzeichnen, die zu mehr Status-, Eigentums-, Einkommens-, Geschlechter- und «Rassen»-Gleichheit geführt haben. In mancher Hinsicht hat sich dieser lange Weg zur Gleichheit auch in der Phase zwischen 1980 und 2020 fortgesetzt, die freilich, wenn man sie aus globaler und mehrdimensionaler Perspektive betrachtet, komplexer und widersprüchlicher erscheint, als man zuweilen denkt.
Sosehr die langfristige Tendenz zur Gleichheit sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert behauptet, sie bleibt doch von begrenzter Tragweite. Auf allen genannten Ebenen (Rechtsstatus, Eigentum, Macht, Einkommen, Geschlecht, Herkunft) bestehen die Ungleichheiten in erheblichem und ungerechtfertigtem Maße fort, zumal sie auf individueller Ebene oft gehäuft auftreten.
Eine Tendenz zur Gleichheit zu behaupten, kommt keineswegs dem Aufruf gleich, darüber in Jubel auszubrechen. Im Gegenteil: Eher geht es um den Aufruf, auf der Basis solider historischer Kenntnisse den Kampf fortzusetzen. Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie es zu dieser Bewegung hin zu mehr Gleichheit tatsächlich gekommen ist, wenn wir besser verstehen, welche Kämpfe und Mobilisierungen, welche institutionellen Errungenschaften, welche Rechts-, Sozial-, Steuer-, Bildungs- und Wahlsysteme nachhaltig für Gleichheit gesorgt haben, dann lassen sich daraus wertvolle Lehren für die Zukunft ziehen. Leider wird dieser kollektive Lernprozess, in dem wir uns vor Augen führen können, was gerechte Institutionen sind, oft genug durch Geschichtsvergessenheit, aber auch dadurch behindert, dass sich die einzelnen Wissensgebiete gegeneinander abschotten. Um auf dem Weg zur Gleichheit voranzukommen, ist es entscheidend, sich auf die Geschichte zu besinnen und nationale Grenzen ebenso wie Fächergrenzen zu überwinden. Dieses Buch, das ein optimistisches Buch ist und durchaus die Bürger mobilisieren will, versucht als zugleich historische und sozialwissenschaftliche Arbeit, einen Schritt in diese Richtung zu tun.
Dass diese Kurze Geschichte der Gleichheit sich heute schreiben lässt, ist vor allem den zahlreichen internationalen Arbeiten zu danken, die in den letzten Jahrzehnten die wirtschafts- und sozialgeschichtliche Forschung zutiefst verändert haben.
Ich werde mich namentlich auf die vielfältigen Untersuchungen stützen, die eine wahrhaft globale Perspektive auf die Geschichte des Kapitalismus und der Industriellen Revolution allererst eröffnet haben. So etwa das Werk, das Ken Pomeranz 2000 zur «Großen Kluft» zwischen Europa und China im 18. und 19. Jahrhundert veröffentlicht hat,[1] wahrscheinlich das wichtigste und einflussreichste Buch zur Geschichte der Weltwirtschaft seit Fernand Braudels Die Geschichte der Zivilisation. 15.–18. Jahrhundert von 1979 und Immanuel Wallersteins Arbeiten über die «Weltsysteme».[2] Die Entwicklung des westlichen Industriekapitalismus ist nach Pomeranz unauflöslich an die internationalen Systeme der Arbeitsteilung, an die hemmungslose Ausbeutung natürlicher Ressourcen und die von den europäischen Mächten über den Rest der Planeten ausgeübte Militär- und Kolonialherrschaft gebunden. Diese Schlussfolgerung ist von jüngeren Arbeiten, ob es sich nun um die Untersuchungen von Prasannan Parthasarathi oder von Sven Beckert handelt oder um Arbeiten im Umkreis der «neuen Geschichte des Kapitalismus», eindrucksvoll bestätigt worden.[3]
Die Geschichte der Kolonialreiche und der Sklaverei wie die Global and Connected History haben in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren insgesamt enorme Fortschritte gemacht und ich werde mich intensiv auf diese Arbeiten stützen. Ich denke insbesondere an die Forschungen von Frederick Cooper, Catherine Hall, Or Rosenboim, Emmanuelle Saada, Pierre Singaravélou, Sanjay Subrahmanyam, Alessandro Stanziani und zahlreicher anderer, die in meiner Darstellung zu Wort kommen werden.[4] Meine Arbeit ist auch inspiriert vom Wiederaufleben der Forschungen zur Sozialgeschichte und zur Geschichte sozialer Kämpfe.[5]
Ebenso wenig hätte diese Kurze Geschichte der Gleichheit sich ohne die Fortschritte der Geschichte der Reichtumsverteilung zwischen sozialen Klassen schreiben lassen. Diese historische Disziplin hat ihrerseits eine lange Geschichte. Alle Gesellschaften haben Erkenntnisse und Untersuchungen über das tatsächliche, angenommene oder erstrebenswerte Wohlstandsgefälle zwischen Reichen und Armen hervorgebracht, angefangen mit Platons Politeia oder seinen Nomoi (die Kluft, rät Platon dort, sollte nicht größer als eins zu vier sein). Im 18. Jahrhundert erklärt Jean-Jacques Rousseau, die Erfindung und maßlose Anhäufung von Privateigentum stehe am Ursprung der Ungleichheit und der Zwietracht unter den Menschen. Erst mit der Industriellen Revolution freilich werden wirkliche Untersuchungen zu Löhnen und Lebensumständen von Arbeitern angestellt und neue Quellen der Einkommens-, Eigentums- und Gewinnermittlung erschlossen. Im 19. Jahrhundert versucht Karl Marx, das Beste aus den britischen Finanzdaten und Nachlassverzeichnissen seiner Zeit zu machen, auch wenn die Mittel und Quellen, die ihm zu Gebote stehen, sehr dürftig sind.[6]
Systematischere Gestalt nehmen die Forschungen zu diesen Fragen im Laufe des 20. Jahrhunderts an. Die Forscher beginnen, in großem Stil Daten über Preise und Löhne, Grundrenten und Gewinne, Erbschaften und Grundstücke zu sammeln. 1933 veröffentlicht Ernest Labrousse seine Esquisse du mouvement des prix et des revenus en France au 18e siècle, eine monumentale Studie über den Rückgang der landwirtschaftlichen Löhne gegenüber Getreidepreisen und Grundrente in den Jahrzehnten vor der Französischen Revolution, im Kontext starken Bevölkerungsdrucks. Man wird dies kaum als einzige Ursache der Revolution begreifen wollen, aber klar ist, dass es die wachsende Unbeliebtheit der Aristokratie und des bestehenden politischen Regimes verstärkte.[7] In ihrer dem Mouvement du profit au XIXe siècle gewidmeten Arbeit von 1965 verdeutlichen Jean Bouvier und seine Mitautoren von den ersten Zeilen an, welchem Forschungsprogramm sie sich verschrieben haben: «Solange die Einkommen unterschiedlicher Klassen der heutigen Gesellschaft von der wissenschaftlichen Forschung nicht erfasst werden, wird sich eine tragfähige Wirtschafts- und Sozialgeschichte nicht in Angriff nehmen lassen.»[8]
Häufig mit der von 1930 bis 1980 besonders einflussreichen Annales-Schule assoziiert, widmet sich diese neue Wirtschafts- und Sozialgeschichte auch der Untersuchung von Eigentumssystemen. 1931 veröffentlicht Marc Bloch seine klassische Studie zum Charakter mittelalterlicher und moderner Agrarsysteme.[9] Adeline Daumard legt 1973 die Befunde einer breit angelegten Auswertung französischer Nachlassarchive des 19. Jahrhunderts vor.[10] Die Bewegung stagniert seit den 1980er Jahren ein wenig, aber sie hat bleibende Spuren in der sozialwissenschaftlichen Forschungspraxis hinterlassen. So haben im Laufe des vergangenen Jahrhunderts eine ganze Reihe von Historikern, Soziologen und Ökonomen, von Christian Baudelot und Emmanuel Le Roy Ladurie bis zu Gilles Postel-Vinay, zahlreiche historische Untersuchungen zu Löhnen und Preisen, zu Einkommen und Vermögen, zum Zehnten und zum Grundbesitz veröffentlicht.[11]
Gleichzeitig haben US-amerikanische und britische Wissenschaftler dazu beigetragen, die Fundamente einer Geschichte der Wohlstandsverteilung zu legen. 1953 verknüpft Simon Kuznets die ersten Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (die er mit anderen im Gefolge des Traumas der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre ins Leben gerufen hatte) mit Daten aus der Bundeseinkommensteuer (die 1930 nach langen politischen und verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen eingeführt worden war), um die Entwicklung des Anteils hoher Einkommen am Nationaleinkommen zu berechnen.[12] Kuznets’ Untersuchung berücksichtigt nur ein einziges Land (die Vereinigten Staaten) während eines relativen kurzen Zeitraums (1913–1948), aber es handelt sich um die erste Untersuchung ihrer Art und sie erregt großes Aufsehen. Robert Lampman wird 1972 entsprechend mit Daten aus der Bundeserbschaftsteuer verfahren.[13] 1978 vertieft Tony Atkinson diese Analyse am Beispiel britischer Erbschaftsdaten.[14] Historisch noch weiter zurück geht Alice Hanson Jones, die 1977 die Ergebnisse ihrer breit angelegten Untersuchung der US-amerikanischen Nachlassverzeichnisse der Kolonialzeit vorlegt.[15]
Auf der Grundlage dieser früheren Arbeiten ist zu Beginn der 2000er Jahre ein neues historisches Forschungsprogramm zu Einkommens- und Vermögensverhältnissen entstanden, an dem teilzunehmen ich das Glück hatte, mit der maßgeblichen Unterstützung sehr vieler Kollegen wie Tony Atkinson, Facundo Alvarez, Lucas Chancel, Emmanuel Saez und Gabriel Zucman.[16] Verglichen mit den früheren Arbeiten hat dieser neue Anlauf von avancierteren technischen Mitteln profitiert. Zwischen 1930 und 1980 führten Labrousse, Daumard oder Kuznets ihre Forschungen praktisch ausschließlich von Hand auf Karteikarten durch. Jede Datenerhebung und jede Ergebnistabelle erforderten einen erheblichen technischen Aufwand, sodass dem Forscher mitunter wenig Zeit und Energie für die Arbeit der historischen Auslegung, der Mobilisierung anderer Quellen und der kritischen begrifflichen Arbeit blieb. Fraglos hat dies dazu beigetragen, eine Geschichtswissenschaft zu schwächen, die zuweilen als zu seriell galt (also zu sehr auf die Erstellung zeitlich und räumlich vergleichbarer historischer Reihen konzentriert, die eine notwendige, aber keinesfalls zureichende Bedingung sozialwissenschaftlichen Fortschritts sind). Die während dieser ersten Forschungsphase erhobenen Daten haben zudem wenig Spuren hinterlassen, was ihrer möglichen Wiederverwendung und einem echten Kumulationsprozess nicht förderlich war.
Umgekehrt haben die Fortschritte der Digitalisierung es möglich gemacht, die Analyse auf größere Zeiträume und eine größere Zahl von Ländern auszudehnen. Aus diesem Forschungsprogramm hervorgegangen, vereint die World Inequality Database (WID.world) 2021 die Anstrengungen von fast 100 Forschern, die sich auf über 80 Länder beziehen.[17] Die über Einkommens- und Vermögensverteilung zusammengetragenen Daten erstrecken sich in bestimmten Fällen vom 18. und 19. Jahrhundert bis in die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts. Durch diesen erweiterten Zeit- und Vergleichshorizont ließen sich die Vergleiche vervielfältigen und bedeutende Fortschritte in der sozialwissenschaftlichen, ökonomischen und politischen Interpretation der beobachteten Entwicklungen erzielen. Diese kollektive Arbeit war es, die mich dazu ermuntert hat, 2013 und 2019 zwei Bücher zu veröffentlichen, die eine erste deutende Synthese der historischen Entwicklung der Wohlstandsverteilung bieten und öffentliche Debatten über diese Fragen angeregt haben.[18] Im Anschluss an die in den 1960er Jahren von den Politikwissenschaftlern Seymour Lipset und Stein Rokkan angestoßenen Arbeiten habe ich gemeinsam mit Amory Gethin und Clara Martinez-Toledano den Strukturwandel sozialer Ungleichheiten und politischer Spaltungen untersucht.[19] Trotz der Fortschritte, die diese verschiedenen Untersuchungen gezeitigt haben, muss aber unterstrichen werden, dass noch viel zu tun bleibt, um Quellen und Kenntnisse miteinander zu verknüpfen und so die an den freigelegten Veränderungen beteiligten Vorstellungen und Institutionen, Mobilisierungen und sozialen Kämpfe, Strategien und Akteure angemessen analysieren zu können.
Wenn es also, allgemeiner gesprochen, heute möglich ist, diese Kurze Geschichte der Gleichheit zu schreiben, dann dank sehr vieler sozialwissenschaftlicher Arbeiten, die sich der unterschiedlichsten Methoden bedienen und unsere Erkenntnisse in diesen Fragen vorangebracht haben. So hat in den letzten Jahren insbesondere eine neue Generation interdisziplinär arbeitender Forscher mit Forschungen an der Grenze zwischen Geschichte, Ökonomie, Soziologie, Recht, Anthropologie und Politikwissenschaften das Nachdenken über die sozialgeschichtlichen Dynamiken der Gleichheit und Ungleichheit erneuert. Ich denke an die Arbeiten von Nicolas Barreyre, Tithi Bhattacharya, Erik Bengtsson, Asma Benhenda, Marlène Benquet, Céline Bessière, Rafe Blaufarb, Julia Cagé, Denis Cogneau, Nicolas Delalande, Isabelle Ferreras, Nancy Fraser, Sibylle Gollac, Yajna Govind, David Graeber, Julien Grenet, Stéphanie Hennette, Camille Herlin-Giret, Élise Huillery, Stephanie Kelton, Alexandra Killewald, Claire Lemercier, Noam Maggor, Dominique Méda, Éric Monnet, Ewan McGaughey, Pap Ndiaye, Martin O’Neill, Hélène Périvier, Fabian Pfeffer, Katharina Pistor, Patrick Simon, Alexis Spire, Pavlina Tcherneva, Samuel Weeks, Madeline Woker, Shoshana Zuboff und so vielen anderen, die ich hier nicht alle erwähnen kann und die im Verlauf des Textes auftauchen werden.[20]
Was sind die wichtigsten Schlussfolgerungen, die sich aus dieser neuen Wirtschafts- und Sozialgeschichte ziehen lassen? Die nächstliegende lautet zweifellos: Ungleichheit ist zunächst und vor allem eine soziale, historische und politische Konstruktion. Es gibt, anders gesagt, auf ein und demselben wirtschaftlichen oder technischen Entwicklungsstand stets mehr als eine Weise der Organisation eines Eigentums- oder Grenzregimes, einer sozialen und politischen Ordnung, eines Steuer- oder Bildungssystems. Die zugrundeliegenden Entscheidungen sind politischer Natur. Sie sind abhängig von Kräfteverhältnissen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und herrschenden Weltanschauungen, und sie führen zu Ungleichheitsniveaus und -strukturen, die je nach Gesellschaft und Epoche extrem unterschiedlich sind. Alle Wohlstandsbildung in der Geschichte ist Resultat kollektiver Prozesse: Sie hängt von der internationalen Arbeitsteilung, der Nutzung natürlicher Ressourcen des Planeten und der Akkumulation von Kenntnissen seit den Anfängen der Menschheit ab. Menschliche Gesellschaften erfinden unablässig Regeln und Institutionen, um sich zu organisieren, um Reichtum und Macht zu verteilen. Aber stets treffen sie dabei politische und reversible Entscheidungen.
Die zweite Lehre lautet, dass es seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine langfristige Tendenz zu mehr Gleichheit gibt. Dieser lange Weg zur Gleichheit ist die Konsequenz des Aufbegehrens gegen Ungerechtigkeiten und sozialer Kämpfe, die es möglich gemacht haben, Kräfteverhältnisse zu verändern und Institutionen zu stürzen, über die die von sozialer Ungleichheit profitierenden herrschenden Klassen ihre schützende Hand halten, um sie durch neue, emanzipatorische, für die Mehrheit gerechtere soziale, ökonomische, politische Regeln zu ersetzen. Bei grundlegenden Veränderungen in der Geschichte der Ungleichheitsregime spielen soziale Konflikte und fundamentale politische Krisen eine tragende Rolle. Es sind die Bauernaufstände von 1788/89 und die Ereignisse der Französischen Revolution, die zur Abschaffung der Adelsprivilegien führen. Und nicht das Geflüster hinter vorgehaltener Hand in Pariser Salons, sondern der Sklavenaufstand von Saint-Domingue von 1791 läutet das Ende des atlantischen Sklavenhandels ein. Im 20. Jahrhundert haben soziale und gewerkschaftliche Mobilisierungen eine maßgebliche Rolle bei der Schaffung neuer Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit und beim Abbau von Ungleichheiten gespielt. Die beiden Weltkriege können ihrerseits als Konsequenz sozialer Spannungen und Widersprüche gelten, wie sie mit der unerträglichen Ungleichheit einhergingen, die vor 1914 auf nationaler wie internationaler Ebene herrschte. In den Vereinigten Staaten war ein mörderischer Bürgerkrieg nötig, um 1865 dem Sklavenhaltersystem ein Ende zu setzen. Und ein Jahrhundert später, 1965, wird es nur durch eine sehr starke afroamerikanische Mobilisierung gelingen, das System der legalen «Rassen»-Diskriminierung abzuschaffen (ohne darum schon den illegalen, aber bis heute ganz realen Diskriminierungen Einhalt zu gebieten). Die Beispiele sind Legion: In den 1950er und 1960er Jahren spielen die Unabhängigkeitskriege eine Schlüsselrolle bei der Überwindung des europäischen Kolonialismus; erst jahrzehntelange Unruhen und Mobilisierungen führen 1994 zum Ende der südafrikanischen Apartheid, und so weiter.
Neben Revolutionen, Kriegen und Aufständen sind häufig Wirtschafts- und Finanzkrisen die Schlüsselmomente, in denen sich soziale Konflikte herauskristallisieren und Kräfteverhältnisse neu definiert werden. Die Krise der 1930er Jahre trägt maßgeblich zur anhaltenden Delegitimierung des Wirtschaftsliberalismus und zur Rechtfertigung neuer Formen staatlicher Intervention bei. In jüngerer Vergangenheit haben die Finanzkrise von 2008 und die Krise der weltweiten Pandemie schon begonnen, eine Reihe von Gewissheiten zu erschüttern, die gerade noch unantastbar schienen, etwa über die annehmbare Höhe von Staatsschulden und die Funktion von Zentralbanken. Eine lokalere, aber symptomatische Rolle hat der Aufstand der «Gelbwesten» gespielt, der 2018 in Frankreich die Regierung zwang, ihre besonders inegalitären Pläne zur Erhöhung der Benzinsteuer aufzugeben. Und zu Beginn der 2020er Jahre haben Bewegungen wie Black Lives Matter, #MeToo und Fridays for Future ihre eindrucksvolle, grenz- und generationsübergreifende Mobilisierungskraft im Kampf gegen «Rassen»-, Geschlechter- und Klimaungleichheiten unter Beweis gestellt. In Anbetracht der sozialen und ökologischen Widersprüche des gegenwärtigen Wirtschaftssystems werden Aufstände, Konflikte und Krisen wohl auch in Zukunft eine zentrale Rolle spielen, unter Bedingungen, die sich nicht exakt vorhersagen lassen. Das Ende der Geschichte ist nicht in Sicht. Der Weg zur Gleichheit ist noch lang, vor allem in einer Welt, in der die Ärmsten (und namentlich die Ärmsten der ärmsten Länder) mehr und mehr unter Klima- und Umweltschäden werden leiden müssen, die sie der Lebensweise der Reichsten verdanken.
Aber Kämpfe und Kräfteverschiebungen, auch das lehrt die Geschichte, reichen nicht aus. Sie sind eine notwendige Bedingung der Entmachtung inegalitärer Institutionen und herrschender Mächte, aber sie bieten leider keine Gewähr dafür, dass die neuen Institutionen und Mächte, die an ihre Stelle treten, auch wirklich so egalitär und emanzipatorisch sind wie erhofft.
Der Grund ist einfach. So leicht es ist, den inegalitären oder repressiven Charakter bestehender Institutionen und Regierungen anzuprangern, so schwierig ist es, sich auf alternative Institutionen zu verständigen, die wirklich mehr soziale, wirtschaftliche und politische Gleichheit schaffen und zugleich individuelle Rechte und das Recht jeder und jedes Einzelnen auf Andersartigkeit respektieren. Die Aufgabe ist nicht unmöglich, im Gegenteil, aber sie erfordert Bereitschaft zur Abwägung, zur Auseinandersetzung mit anderen Standpunkten, zur Dezentralisierung, zum Kompromiss, zum Wagnis. Sie erfordert die Einsicht, dass man aus historischen Verläufen und der Erfahrung anderer lernen kann. Und vor allem erfordert sie die Einsicht, dass nicht im Voraus feststeht und darum debattiert werden muss, wie die gerechten Institutionen denn eigentlich aussehen sollen. Wie wir sehen werden, hat sich der Weg zur Gleichheit seit dem 18. Jahrhundert auf die Entwicklung einer Reihe institutioneller Errungenschaften gestützt, die als solche untersucht werden müssen: Gleichheit vor dem Recht; allgemeines Wahlrecht und parlamentarische Demokratie; kostenlose und obligatorische Schuldbildung; allgemeine Krankenversicherung; progressive Einkommen-, Erbschaft- und Vermögensteuer; Mitbestimmung und Gewerkschaftsrecht; Pressefreiheit; internationales Recht; und so weiter.
Keine dieser Einrichtung hat eine ein für alle Mal anerkannte Form angenommen, jede kommt eher einem zerbrechlichen, ungesicherten, vorläufigen, sich ständig neu bestimmenden Kompromiss gleich, der aus spezifischen sozialen Konflikten und Mobilisierungen, aus genommenen oder verpassten Abzweigungen, aus besonderen historischen Momenten hervorgegangen ist. Und jede krankt an vielfältigen Unzulänglichkeiten, jede muss stets wieder infrage gestellt, ergänzt und durch andere ersetzt werden. Formale Rechtsgleichheit, wie wir sie derzeit fast überall haben, schließt massive Diskriminierung aufgrund von Herkunft oder Geschlecht nicht aus; die repräsentative Demokratie ist nur eine unter den unvollkommenen Formen politischer Teilhabe; die Ungleichheit des Zugangs zu Bildung und Gesundheitsversorgung bleibt immens; progressive Steuer und Umverteilung sind auf nationaler wie internationaler Ebene von Grund auf zu überdenken; die Machtverteilung in Unternehmen steckt noch in den Kinderschuhen; dass die Medien fast ausnahmslos ein paar Oligarchen gehören, kann schwerlich als vollkommenste Form der Pressefreiheit gelten; das internationale Rechtssystem, das auf unkontrolliertem Kapitalverkehr ohne soziale oder klimatische Zielvorgaben beruht, kommt meist einem Neokolonialismus zugunsten der Reichsten gleich; und so weiter.
Um bestehende Institutionen zu erschüttern und neu zu definieren, wird es auch künftig Krisen und Kräfteverschiebungen, aber zugleich kollektive Lern-, Aneignungs- und Mobilisierungsprozesse durch neue politischer Programme und institutionelle Ansätze brauchen, die durch unterschiedliche Dispositive der Gewinnung und Verbreitung von Erkenntnissen und Erfahrungen auf den Weg gebracht werden müssen: Parteien und Gewerkschaften, Schulen und Bücher, Bewegungen und Begegnungen, Zeitungen und Medien. Natürlich spielen innerhalb dieses Ganzen die Sozialwissenschaften eine Rolle, die freilich nicht überschätzt werden sollte: Es sind die sozialen Aneignungsprozesse, die am wichtigsten sind, und sie werden auch und vor allem durch kollektive Organisationen möglich, deren Formen ihrerseits neu zu erfinden sind.
Es sind daher zwei komplementäre Klippen, die es zu umschiffen gilt: Die Rolle der Kämpfe und Kräfteverhältnisse in der Geschichte der Gleichheit darf einerseits nicht vernachlässigt, andererseits nicht verabsolutiert werden, um darüber die Bedeutung der institutionellen und politischen Perspektiven wie der Ideen und Ideologien, die solche Perspektiven eröffnen, zu unterschätzen. Der Widerstand der Eliten ist ein unausweichliches Faktum, in der heutigen Epoche (mit ihren transnational operierenden Milliardären, die reicher als ganze Staaten sind) mindestens so sehr wie zu Zeiten der Französischen Revolution. Er lässt sich nur durch kollektive Mobilisierungen und in Krisen- und Spannungsmomenten überwinden. Die Vorstellung aber, es gäbe einen spontanen Konsens über gerechte und emanzipatorische Institutionen, den es nur noch in die Tat umzusetzen gälte, um den Widerstand der Eliten zu brechen, ist eine gefährliche Illusion. Fragen wie die Organisation des Sozialstaats, die Neugestaltung der progressiven Steuer und der internationalen Verträge, die postkolonialen Entschädigungen oder der Kampf gegen Diskriminierungen sind so komplex und technisch anspruchsvoll, dass sie sich nicht bewältigen lassen, ohne bei der Geschichte Rat zu suchen, an der Verbreitung des Wissens zu arbeiten und die Standpunkte gegeneinander abzuwägen. So wichtig er sein mag, der Klassenstandpunkt reicht nicht aus, um eine Theorie der gerechten Gesellschaft, des Eigentums und der Grenzen, der Steuer, der Bildung, des Lohns, der Demokratie zu bilden. Angesichts ein und derselben sozialen Erfahrung wird es stets eine Art ideologischen Spielraum geben, zum einen, weil die Klasse selbst vielfältig und mehrdimensional ist (Status, Eigentum, Einkommen, Abschluss, Geschlecht, Herkunft, etc.), und zum anderen, weil die Komplexität der aufgeworfenen Fragen die Vorstellung verbietet, rein materielle Gegensätze ließen einen und nur einen Schluss darüber zu, wie gerechte Institutionen auszusehen haben.
Nichts könnte diese beiden Klippen besser veranschaulichen als die Erfahrung des Sowjetkommunismus (1917–1991), ein Großereignis, das sich über das 20. Jahrhundert erstreckt und es in gewisser Weise definiert. Einerseits waren es durchaus Kräfteverschiebungen und erbitterte soziale Kämpfe, die es den bolschewistischen Revolutionären erlaubt hatten, das zaristische Regime durch den ersten «Arbeiterstaat» der Geschichte zu ersetzen, einen Staat, der zunächst beachtliche Fortschritte im Bildungs- und Gesundheitssystem wie im Industriesektor verzeichnen konnte und zudem erheblichen Anteil am Sieg über den Nationalsozialismus hatte. Auch ist keineswegs ausgemacht, dass ohne den Druck der UdSSR und der kommunistischen Internationale die besitzenden Klassen des Westens die Sozialversicherung und die progressive Steuer, die Dekolonisierung und die Bürgerrechte einfach hingenommen hätten. Auf der anderen Seite sind es die Verherrlichung der Kräfteverhältnisse und die unter den Bolschewiki herrschende Gewissheit, im Besitz der einen und einzigen Wahrheit über die gerechten Institutionen zu sein, die zu dem allseits bekannten totalitären Desaster geführt haben. Die von ihnen geschaffenen institutionellen Grundstrukturen (Einparteiensystem, bürokratische Zentralisierung, Hegemonie des Staatseigentums, Ablehnung von Genossenschaftseigentum, Wahlen, Gewerkschaften etc.) wollten emanzipatorischer sein als die bürgerlichen oder sozialdemokratischen. Und doch führten sie zu Repressionen und Inhaftierungen in einem Ausmaß, das nicht allein dieses Regime jeder Glaubwürdigkeit beraubt und zu seinem Sturz geführt, sondern auch seinen Teil zum Aufkommen einer neuen Form des Hyperkapitalismus beigetragen hat. Am Ende ist Russland, das Land, das im 20. Jahrhundert alles Privateigentum abgeschafft hatte, zu Beginn des 21. Jahrhunderts Welthauptsitz der Oligarchen, der Finanzverschleierung und der Steuerflucht geworden. Aus all diesen Gründen sollten wir uns diese unterschiedlichen institutionellen Strukturen genau ansehen, wie wir denn auch einen Blick auf die vom chinesischen Kommunismus eingeführten Institutionen werfen müssen, die sich als nachhaltiger (aber darum nicht weniger repressiv) erweisen könnten.
Ich werde versuchen, beide Klippen zu umschiffen: Die Kräfteverhältnisse dürfen weder vernachlässigt noch überbewertet werden. Soziale Kämpfe spielen eine Schlüsselrolle in der Geschichte der Gleichheit, aber die Frage der gerechten Institutionen und der egalitären Debatten, in denen sie nur geklärt werden kann, muss ebenso ernst genommen werden. Es ist nicht immer ganz leicht, eine Balance zwischen diesen beiden Aspekten zu finden: Legt man zu großen Nachdruck auf die Kräfteverhältnisse und sozialen Kämpfe, gerät man in den Verdacht, dem Manichäismus zu verfallen und die Frage der Ideen und Inhalte zu vernachlässigen. Konzentriert man sich dagegen auf die ideologischen und programmatischen Schwächen der Koalition für Gleichheit, gerät man in den Verdacht, sie zu schwächen und den kurzsichtigen Egoismus der herrschenden Klassen (der freilich oft offensichtlich ist) zu unterschätzen. Ich werde mein Bestes tun, in keine der beiden Fallen zu tappen, aber ich bin nicht sicher, ob mir dies stets gelingen wird und bitte Leserinnen und Leser im Voraus um Nachsicht. Vor allem hoffe ich, dass die in diesem Buch versammelten historischen und vergleichenden Befunde ihnen dabei behilflich sein werden, Klarheit über ihre eigene Vision einer gerechten Gesellschaft und der sie tragenden Institutionen zu gewinnen.
1 Siehe K. Pomeranz, The Great Divergence. China, Europe and the Making of the Modern World Economy, Princeton, NJ: Princeton University Press 2000.
2 Siehe F. Braudel, Civilisation matérielle, économie et capitalisme, Paris: Armand Colin 1979; I. Wallerstein, Das moderne Weltsystem, Frankfurt: Syndikat 1986–2012.
3 Siehe P. Parthasarathi, Why Europe Grew Rich and Asia Did Not. Global Economic Divergence 1600–1850, Cambridge: Cambridge University Press 2011; S. Beckert, Empire of Cotton. A Global History, New York: Knopf 2014; S. Beckert, S. Rockman, Slavery’s Capitalism. A New History of American Economic Development, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2016; J. Levy, Ages of American Capitalism: A History of the United States, New York: Random House 2021.
4 Siehe zum Beispiel F. Cooper, Citizenship Between Empire and Nation. Remaking France and French Africa 1945–1960, Princeton: Princeton University Press 2014; C. Hall, N. Draper, K. McClelland, K. Donington, R. Lang, Legacies of British Slave-Ownership: Colonial Slavery and the Formation of Victorian Britain, Cambridge: Cambridge University Press 2014; O. Rosenboim, The Emergence of Globalism. Visions of World Order in Britain and the United States 1939–1950, Princeton: Princeton University Press 2017; E. Saada, Les enfants de la colonie. Les métis de l’empire français, entre sujétion et citoyenneté, Paris: La Découverte 2007; P. Singaravelou, S. Venayre, Histoire du monde au XIXe siècle, Paris: Fayard 2017; S. Subrahmanyam, Empires Between Islam and Christianity, 1500–1800, Albany: SUNY Press 2019; A. Stanziani, Les Métamorphoses du travail contraint. Une histoire globale, 18e–19e siècles, Paris: Presses de Sciences Po 2020.
5 Siehe H. Zinn, A People’s History of the United States, New York: Harper 2009 (1980); M. Zancarini-Fournel, Les Luttes et les Rêves. Une histoire populaire de la France de 1685 à nos jours, Paris: La Découverte 2016; G. Noiriel, Une histoire populaire de la France. De la guerre de Cent Ans à nos jours, Marseille: Agone 2018; D. Tartakowsky, Le pouvoir est dans la rue. Crises politiques et manifestations en France, 19e–20e siècles, Paris: Flammarion 2020; B. Pavard, F. Rochefort, M. Zancarini-Fournel, Ne nous libérez pas, on s’en charge! Une histoire des féminismes de 1789 à nos jours, Paris: La Découverte 2020.
6 Siehe dazu T. Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München: C.H.Beck 2014, S. 20–28 und 302–305.
7 Siehe E. Labrousse, Esquisse du mouvement des prix et des revenus en France au 18e siècle, Paris: Dalloz 1933. Siehe auch A. Chabert, Essai sur les mouvements des prix et des revenus en France de 1798 à 1820, Paris: Librairie de Médicis 1949. Die Arbeit dokumentiert ein Aufholen der Löhne unter der Revolution und dem Kaiserreich.
8 Siehe J. Bouvier, F. Furet, M. Gilet, Le Mouvement du profit en France au xixe siècle. Matériaux et études, Den Haag: Mouton 1965.
9 Siehe M. Bloch, Les Caractères originaux de l’histoire rurale française, Paris: Armand Colin 1931.
10 Siehe A. Daumard, Les Fortunes françaises au 19e siècle. Enquête sur la répartition et la composition des capitaux privés à Paris, Lyon, Lille, Bordeaux et Toulouse d’après l’enregistrement des déclarations de successions, Den Haag: Mouton 1973.
11 Siehe neben den bereits zitierten Arbeiten F. Simiand, Le Salaire, l’Évolution sociale et la Monnaie, Paris: Alcan 1932; C. Baudelot, A. Lebeaupin, Les Salaires de 1950 à 1975, Paris: INSEE 1979; J. Goy, E. Le Roy Ladurie, Les Fluctuations du produit de la dîme. Conjoncture décimale et domaniale de la fin du Moyen Âge au 18e siècle, Den Haag: Mouton 1972; G. Postel-Vinay, La Terre et l’Argent. L’agriculture et le crédit en France du 18e siècle au début du 20e siècle, Paris: Albin Michel 1998; J. Bourdieu, L. Kesztenbaum, G. Postel-Vinay, L’Enquête TRA, histoire d’un outil, outil pour l’histoire, Paris: INED 2013.
12 Siehe S. Kuznets, Shares of Upper Income Groups in Income and Savings, NBER 1953.
13 Siehe R. J. Lampman, The Share of Top Wealth-Holders in National Wealth, Princeton: Princeton University Press 1962.
14 Siehe T. Atkinson, A. J. Harrison, Distribution of Personal Wealth in Britain, Cambridge: Cambridge University Press 1978.
15 Siehe A. H. Jones, American Colonial Wealth: Documents and Methods, New York: Arno Press 1977.
16 Siehe T. Piketty, Les Hauts Revenus en France au XXe siècle, Paris: Grasset 2001; T. Atkinson, T. Piketty, Top Incomes over the 20 th Century, a. a. O.; dies., Top Incomes: A Global Perspective, a. a. O.
17 Die World Inequality Database wurde 2011 zunächst unter dem Namen World Top Incomes Database ins Leben gerufen, bevor sie mit der Publikation des Rapport sur les inégalités mondiales 2018 (F. Alvaredo, L. Chancel, T. Piketty, E. Saez, G. Zucman, Paris: Seuil 2018) ihren heutigen Namen annahm.
18 Siehe T. Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, a. a. O.; Kapital und Ideologie, München: C.H.Beck 2020.
19 Siehe A. Gethin, C. Martinez-Toledano, T. Piketty, Clivages politiques et inégalités sociales, a. a. O. Siehe auch S. Lipset, S. Rokkan, «Cleavage Structures, Party Systems and Voter Alignments: An Introduction», in: Party Systems and Voter Alignments: Cross-national Perspectives, New York: Free Press 1967.
20 Dort finden sich auch die genauen Belege.
KAPITEL 1
Kommen wir gleich zum Kern der Sache. Es gibt menschlichen Fortschritt und der Weg zur Gleichheit ist ein Kampf, der gewonnen werden kann. Aber er ist auch ein Kampf mit ungewissem Ausgang, ein anfälliger sozialer und politischer Prozess, der nie abgeschlossen und gesichert ist. Ich werde zunächst die im Hinblick auf Bildung und Gesundheit erzielten Fortschritte in Erinnerung rufen, bevor ich der hochpolitischen Frage der Wahl sozio-ökonomischer Indikatoren nachgehe. Im nächsten Kapitel werden wir dann erste Elemente und Größenordnungen einer allmählichen Dekonzentration von Macht, Eigentum und Einkommen untersuchen.
Es gibt menschlichen Fortschritt. Um sich davon zu überzeugen, reicht ein Blick auf die Entwicklung von Gesundheit und Bildung in der Welt seit 1820 (siehe Grafik 1). Die verfügbaren Daten sind lückenhaft, aber an der Tendenz gibt es keinen Zweifel. Die Lebenserwartung bei Geburt ist zwischen 1820 und 2020 von etwa 26 auf 72 Jahre im weltweiten Durchschnitt gestiegen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts fielen der Kindersterblichkeit etwa 20 % der Neugeborenen während ihres ersten Lebensjahres zum Opfer, heute sind es weniger als 1 %. Konzentriert man sich auf die Personen, die das erste Lebensjahr vollendet haben, steigt zwischen 1820 und 2020 die Lebenserwartung von etwa 32 auf 73 Jahre. Vor zwei Jahrhunderten noch konnte nur eine kleine Minderheit hoffen, 50 oder 60 Jahre alt zu werden, heute ist dieses Privileg die Norm.
Die Menschheit erfreut sich heute besserer Gesundheit und hat auch besseren Zugang zu Bildung und Kultur als je zuvor. Informationen aus zahlreichen Studien und Erhebungen belegen, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts kaum 10 % der über 15 Jahre alten Weltbevölkerung alphabetisiert waren. Heute sind es mehr als 85 %. Auch diese Diagnose ließe sich durch trennschärfere Indikatoren bestätigen. So ist die durchschnittliche Zahl der absolvierten Schuljahre von kaum einem Jahr vor zwei Jahrhunderten auf mehr als acht Jahre in der heutigen Welt und auf mehr als zwölf Jahre in den am weitesten entwickelten Ländern gestiegen. 1820 gingen weniger als 10 % der Weltbevölkerung in die Grundschule, 2020 besucht mehr als die Hälfte der jungen Generationen der reichen Länder die Universität: Was einst Klassenprivileg war, steht mehr und mehr der Mehrheit offen.
Natürlich haben sich mit diesem großen Sprung nach vorn auch die Ungleichheiten selbst nur verlagert. Beim Zugang zu elementarer Bildung und Gesundheitsversorgung gibt es weiterhin ein starkes Nord-Süd-Gefälle, und fast überall bleibt dieses Gefälle auf den oberen Etagen des Bildungs- und Gesundheitssystems erheblich, etwa bei der Hochschulbildung. Darin liegt, wie wir noch sehen werden, eine der großen künftigen Herausforderungen. Halten wir fürs Erste nur fest, dass dies die Regel ist: Der lange Weg zur Gleichheit verläuft über Etappenziele. In dem Maße, in dem der Zugang zu bestimmten Grundrechten und Grundgütern (wie Alphabetisierung oder medizinische Grundversorgung) mehr und mehr der gesamten Bevölkerung offensteht, entstehen auf höheren Niveaus neue Ungleichheiten, die neue Antworten erfordern. Die Suche nach der idealen Demokratie ist nichts anderes als der Weg zur politischen Gleichheit in all ihren Formen (soziale, ökonomische etc.), und dieser Weg ist ein laufender, nie abgeschlossener Prozess.
Die wesentlichen Fortschritte bei Lebenserwartung und Alphabetisierung sind, um auch das vorauszuschicken, im 20. Jahrhundert erzielt worden, in einer Phase also, die nach harten politischen Auseinandersetzungen einen starken Ausbau des Sozialstaats und der progressiven Steuer erlebt hat. Wir kommen ausführlich darauf zurück. Im 19. Jahrhundert waren die Sozialbudgets kümmerlich, die Steuer regressiv und die Fortschritte im Hinblick auf diese Indikatoren extrem langsam, ja unerheblich. Menschlicher Fortschritt ist nie eine «natürliche» Evolution, er ist stets an spezifische historische Prozesse und soziale Kämpfe gebunden.