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Ein völlig neuer Zugang, um u. a. die Corona-Pandemie besser zu verstehen: Der Wissenschaftshistoriker Andreas Bernard geht in seinem Buch »Die Kette der Infektionen« von der Hypothese aus, dass die Bekämpfbarkeit von Epidemien an ihre Erzählbarkeit gebunden ist. Neben dem dezidiert medizinischen Anteil am Kampf gegen Seuchen – der Entwicklung von Impfstoffen, der Erforschung von Immunität – erscheint die Frage, wie Epidemien und ihre Ausbrüche abgebildet werden, ob sie überhaupt abbildbar sind, für den Erfolg der Eindämmung zentral. Andreas Bernard macht diesen Zusammenhang, der im Hinblick auf die Corona-Pandemie seit dem Frühling 2020 immer wieder deutlich wurde, in seinen Studien zur Geschichte der Pocken, der Cholera, der Influenza, der Poliomyelitis oder der Frühzeit von Aids sichtbar. Er untersucht, inwiefern der Siegeszug der Bakteriologie im späten 19. Jahrhundert eine neue Darstellung der Ansteckungsprozesse durchgesetzt hat, deren Erzählformen und Sprachbilder heute noch gültig sind. Außerdem beschäftigt er sich mit dem Ursprung und dem Ende von Epidemien, als zwei neuralgischen Punkten der Seuchenerzählung, arbeitet die Begleitnarrative von »Immunität« seit dem 18. Jahrhundert heraus und analysiert die Bedeutung von Kommunikationsmedien wie dem Brief, dem Telegramm und den aktuellen Tracking-Apps, deren Nachrichten über die Epidemie in einen Wettlauf mit dem Voranschreiten der Krankheit treten. Andreas Bernards Buch »Die Kette der Infektionen« verbindet medizinhistorische und erzähltheoretische Forschung und schafft einen bislang kaum beachteten Zugang zur Geschichte der Epidemien, der auch einen neuen Blick auf die Corona-Pandemie der letzten Jahre ermöglicht.
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Seitenzahl: 328
Andreas Bernard
Zur Erzählbarkeit von Epidemien seit dem 18. Jahrhundert
Die wirksame Bekämpfung von Epidemien ist an ihre Erzählbarkeit geknüpft. In seinem wegweisenden Buch untersucht Andreas Bernard diese These und fragt, inwiefern der Siegeszug der Bakteriologie im späten 19. Jahrhundert eine neue Darstellung der Ansteckungsprozesse durchgesetzt hat, deren Erzählformen noch heute gültig sind. Außerdem beschäftigt er sich mit dem Ursprung und dem Ende von Epidemien, den zwei neuralgischen Punkten der Seuchenerzählung, und der epidemiologischen Bedeutung von Kommunikationsmedien wie Brief, Telegramm oder Tracking-Apps.
In Verbindung von medizinhistorischer und erzähltheoretischer Forschung eröffnet das Buch einen bislang kaum beachteten Zugang, der auch einen neuen Blick auf die Corona-Pandemie der letzten Jahre ermöglicht.))
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Andreas Bernard, geboren 1969 in München, lehrt Kulturwissenschaften an der Leuphana-Universität Lüneburg und ist Autor der »Süddeutschen Zeitung«. Im Fischer Verlag sind folgende Bücher erschienen: »Die Geschichte des Fahrstuhls: Über einen beweglichen Ort der Moderne« (2006), »Kinder machen: Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie« (2015), »Komplizen des Erkennungsdienstes: Das Selbst in der digitalen Kultur« (2017) sowie »Das Diktat des Hashtags« (2018).
Erstes Kapitel Das Ende der Pocken und der Anfang von Aids: Epidemiologische Abschluss und Ursprungserzählungen
1. Erfassung und Ausrottung: Das »Smallpox Eradication Programme« der WHO
2. Promiskuität als Krankheit: Theorien der Ansteckung in der Frühzeit von Aids
3. »Patient null« und die Erzählbarkeit des Ursprungs
4. Infizierte Körper, infizierte Zeichen
Zweites Kapitel Vom Miasma zu den Mikroben: Das Aufkommen der Bakteriologie und ihr Einfluss auf die Darstellungsweisen von Epidemien
1. Die Mikrobe: Herstellung eines neuen Erkenntnisobjekts
2. Ansteckung durch Atmosphäre: Die Miasma-Theorie
3. Reduktionismus im Labor
4. Fäden, Ketten, Zusammenhänge: Neue Erzählformen der Bakteriologie
5. Infektion und Verbrechen: Die Figur des gesunden Überträgers
6. Die Spanische Grippe 1918: Kollaps der bakteriologischen Erzählung
Drittes Kapitel Übertragung der Keime, Übertragung der Daten: Elemente einer Mediengeschichte der Epidemiologie
1. Die doppelte Mitteilung: Pockeninfektionen per Post
2. Entkoppelung von Nachrichten und Körpern: Zur epidemiologischen Funktion der Telegraphie
3. Rudolf Virchow und Robert Koch: Seuchenbekämpfung und Datentransfer im 19. Jahrhundert
4. Epidemiologische Mimesis: Die Corona-Warn-App
Viertes Kapitel Narrative der Immunität
1. Unterbrechung der Kommunikation
2. »Sündige Vermessenheit«: Die Anfänge der Impfung in Europa
3. Kuhpocken und Menschenpocken: Edward Jenners Entdeckung der Vakzination
4. Rurale und urbane Bedingungen von Immunität: Die Bedeutung des Ländlichen für Jenners Impfexperimente
5. Pasteur und das Problem der Immunität im bakteriologischen Zeitalter
6. Behrings Heilserum und Ehrlichs Seitenketten: Chemische Theorien der Immunität am Ende des 19. Jahrhunderts
7. Vom immunen Ort zum Immunsystem
Epilog
Bibliographie
Der 8. Mai 1980 ist ein festlicher Tag in der Geschichte der Epidemien. Auf der 33. Weltgesundheitsversammlung in Genf wird zum ersten und bislang einzigen Mal eine Seuche für weltweit ausgerottet erklärt. Dank einer aufwendigen Impf- und Erfassungskampagne ist es der WHO seit 1967 gelungen, die Pocken, jahrhundertelang eine der gefährlichsten Ansteckungskrankheiten und in Teilen Afrikas, Asiens und Südamerikas noch verbreitet, innerhalb eines Jahrzehnts flächendeckend zu bekämpfen. Im Herbst 1977 wurde der letzte erkrankte Patient registriert, der Koch Ali Maow Maalin in der somalischen Kleinstadt Merka, und nach einer auf zwei Jahre festgelegten Übergangsperiode, in der man weiterhin jeden Verdachtsfall untersuchte und eine hohe Belohnung auf die Entdeckung von Pockenkranken aussetzte, verkündet die WHO an einem symbolträchtigen Datum – 35 Jahre nach dem Sieg über einen anderen Menschheitsfeind – den historischen Erfolg. »Angesichts der Fortschritte und Ergebnisse des weltweiten Ausrottungsprogramms«, heißt es in dem kurzen Text des Zertifikats, »erklärt die WHO feierlich, dass die Welt von den Pocken befreit wurde, einer verheerenden Krankheit, die seit frühesten Zeiten über zahlreiche Länder in epidemischer Form hinweggefegt ist und Tod, Blindheit und Entstellung hinterlassen hat«.[1] Das Titelbild der zeitgleich erscheinenden Ausgabe von World Health, einer Zeitschrift der WHO, zeigt einen Erdball und den darüberliegenden Schriftzug »Smallpox is dead!«.
In den Tagen der stolzen Erklärung von Genf, »im Mai 1980« (eine konkretere Datierung ist, wie so oft im verschwommeenn Zeitraum einer beginnenden Epidemie, nicht überliefert), erfährt der kanadische Flugbegleiter Gaëtan Dugas in Quebec von seiner Krebserkrankung. »In seinem Gesicht hatten sich lilafarbene Wundmale gebildet, die nach einer Biopsie als Kaposi-Sarkom diagnostiziert wurden«[2] – eine seltene Form von Hautkrebs, die zuvor nur bei älteren Männern im Mittelmeerraum und in afrikanischen Ländern bekannt war. Dugas, nach seinem Tod 1984 als »Patient null« der Aids-Epidemie in den USA bezeichnet, ist nicht der einzige Mann untypischen Alters, der im Frühling 1980 unter dieser Krankheit leidet. In San Francisco wird ein Patient seit Anfang des Jahres behandelt, in New York hat man diesen Hautkrebs sogar schon im Herbst 1979 in zwei Fällen diagnostiziert. Alle Erkrankten sind homosexuelle, nach eigener Auskunft sexuell promiskuitive Männer, deren Blutuntersuchungen einen akuten Mangel sogenannter T-Zellen aufweisen, einer Gruppe weißer Blutkörperchen, die der Immunabwehr dienen. Die Male des Kaposisarkoms, wie auch die zahlreichen anderen Krankheitssymptome der ersten Patienten – chronische Müdigkeit, Fieber, Durchfall, Herpesinfektionen und Lungenentzündungen –, werden von den Ärzten in New York und Kalifornien als Sekundär-folgen dieser Schwächung des Immunsystems interpretiert. Am Ende des Jahres sind in den USA 55 und in Europa und Afrika mindestens zehn homosexuelle Männer an dem rätselhaften neuen Leiden erkrankt, vier davon sind gestorben.[3]
Die Ursache der fatalen Immunschwächung ist vollkommen unklar. Manche Ärzte machen den nitrithaltigen Wirkstoff einer in der Schwulenszene von New York und San Francisco verbreiteten Inhalationsdroge verantwortlich, manche einen Impfstoff gegen Hepatitis B – Theorien, die zumindest die Schreckensvision einer neuen Ansteckungskrankheit ausschließen würden. Andere Mediziner vermuten tatsächlich eine sexuell übertragene Infektion durch ein mutiertes oder bislang unbekanntes Virus. Erste Kommentare von Politikern und Kirchenvertretern bezeichnen die Krankheit als längst überfällige Strafe Gottes für die Sünde homosexueller Ausschweifungen.
Das Ende der einen Epidemie und der Anfang der anderen, das auf Urkunden und Briefmarken gedruckte, zelebrierte Datum der Ausrottung und der vage, zerfaserte, erst nachträglich rekonstruierte Ursprung: Im Mai 1980 fallen diese beiden neuralgischen Zeitpunkte zusammen, und die Unterschiede, wie über das Ende der Pocken und den Anfang von Aids berichtet wird, sind im ersten Moment erkennbar. Auf der einen Seite die epidemiologisch gesicherten, einem routinierten Programm folgenden letzten Schritte einer Einkreisung; auf der anderen Seite die prekäre Erkenntnis einer unkontrollierten Ausweitung, die in der öffentlichen Debatte rasch zu apokalyptisch und chauvinistisch geprägten Interpretationen führt. Diese Differenz macht aber grundsätzlich deutlich, wie wichtig in der Geschichte der Epidemien darstellende und erzählende Verfahren sind. Neben dem genuin medizinischen Anteil am Kampf gegen Seuchen – und das betrifft seit über zweihundert Jahren vor allem die Entwicklung von Impfstoffen und die Erforschung von Immunität – erscheint die Frage, wie Epidemien und ihre Ausbrüche erzählt werden, ob sie überhaupt erzählbar sind, für den Erfolg der Eindämmung zentral. Dieser Zusammenhang hat sich im Hinblick auf die Corona-Pandemie zwischen 2020 und 2023 bei jeder Pressekonferenz des Robert-Koch-Instituts, bei jedem Blick auf Statistiken, Infektionsdiagramme und Warn-Apps verfestigt.
Die folgenden Überlegungen zur Geschichte der Epidemien seit dem 18. Jahrhundert bemühen sich daher genau um diese Engführung von medizinischen und darstellenden Verfahren bei der Überwindung von Seuchen. Das Buch geht von der Hypothese aus, dass die Bekämpfbarkeit von Epidemien an ihre Erzählbarkeit gebunden ist. Wenn Ansteckungskrankheiten, wie in der Medizingeschichte häufig bemerkt wurde, als Proben auf die Haltbarkeit sozialer und politischer Ordnungen aufzufassen sind, betrifft diese Erschütterung ebenso das Vermögen, die Ausnahmelage auf kohärente Weise abzubilden und in eine narrative Ordnung zu überführen. Dieser Zusammenhang von Epidemiologie und erzählerischen Verfahren ist auch der Grund dafür, warum medizinische Abhandlungen und Seuchenberichte in diesem Buch einer Lektüre unterzogen werden, deren Augenmerk auf formellen Fragen und Problemen des Standorts, auf Metaphern und semantischen Verschiebungen eher an die Beschäftigung mit literarischen Texten erinnert. Die Dokumente über Pocken und Cholera, Typhus und Diphtherie, Influenza und Aids sind Gegenstand eines close reading, das nach dem Aufkommen der Bakteriologie im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts insofern als zulängliche Weise der Annäherung erscheint, als sowohl die untersuchten Quellen des Buches als auch dessen eigene Methode mikroskopische Verfahren anwenden – einmal zur Freilegung von infektiösen Keimen, einmal zur Freilegung von Erkenntnis- und Darstellungsbedingungen, die zu einer bestimmten Zeit bestimmte Aussagen über Seuchen gestatten. Joseph Vogl hat dieses Analyseverfahren einmal »Poetologie des Wissens« genannt. In den Jahren um 1980 werden die narrativen Strategien der Epidemiologie deshalb besonders anschaulich, weil sich in dem Zeitraum auf historisch einmalige Weise die Rhetorik der souveränen Eindämmung und die Rhetorik der panischen Entgrenzung einer Ansteckungskrankheit miteinander verschränken. Das Ende der Pocken und der Anfang von Aids – parallele Ereignisse in der Geschichte der Epidemien – bieten sich daher als geeigneter Ausgangspunkt dieser Untersuchung an.
1967, neun Jahre nachdem die sowjetische WHO-Delegation eine globale Initiative zur Ausrottung der Pocken angeregt hat, werden in 31 Ländern der Erde noch über 130000 Fälle der potenziell tödlichen Infektionskrankheit vermutet.[1] Die größte Schwierigkeit, die regelmäßigen Ausbrüche in diesen Regionen unter Kontrolle zu bringen, liegt für die WHO nicht an der mangelnden Durchführung von Impfungen. Die Vakzination gegen Pocken – in Europa schon seit der Wende zum 19. Jahrhundert auf rein empirische Weise praktiziert, ohne Wissen um die Prozesse der Immunität – wird nach der Entdeckung des Pockenvirus und der Entwicklung von haltbarem Trockenimpfstoff im frühen 20. Jahrhundert weltweit eingesetzt. Auch andere Merkmale der Krankheit schaffen vergleichsweise günstige epidemiologische Voraussetzungen für die Bekämpfung der Seuche: Pocken werden nur von Mensch zu Mensch übertragen, ohne tierischen Zwischenwirt, und die Ansteckungsfähigkeit der Infizierten ist äußerlich erkennbar, an den Pusteln im Gesicht und am gesamten Körper. Dennoch haben sich im ersten Jahrzehnt nach dem Beschluss eines globalen Konzepts zur Ausrottung kaum Fortschritte ergeben. Das »Intensified Smallpox Eradication Programme«, das 1967 ins Leben gerufen und in einem Handbuch für alle WHO-Mitarbeiter in den betroffenen Ländern niedergelegt wird, führt daher zu einer Neuausrichtung der Eindämmungsstrategie. Ihr Schwerpunkt liegt neben den Impfkampagnen nun auf der Optimierung und Vereinheitlichung der bislang vernachlässigten Erfassungsarbeit.
In dem 1500 Seiten starken, monumentalen Abschlussbericht Smallpox and its Eradication, den die WHO im Jahr 1988 veröffentlicht, ist diese entscheidende Verschiebung im Kampf gegen die Pocken minuziös nachgezeichnet. »Während sich die Ausrottungskonzepte bis 1967«, so die Autoren, »ausschließlich auf Massenimpfungen konzentrierten, kamen nun Maßnahmen der Erfassung hinzu. Zuvor wurde der genauen Registrierung von Pockenfällen international und in den Ländern selbst wenig Aufmerksamkeit geschenkt; in den endemischen Ländern gab es keine nationalen Initiativen, die zur Dokumentation von entdeckten Ausbrüchen eingerichtet worden wären. Ab 1967 hingegen änderte die WHO den Indikator, der zur Messung der Fortschritte herangezogen wurde: Anstelle der Anzahl der Impfungen stand nun die Anzahl der registrierten Pockenfälle innerhalb einer Region im Zentrum des Interesses.« Gestützt wurde diese Korrektur durch aufwendige Studien in den Pockengebieten von Indien, Brasilien und Nigeria am Ende der sechziger Jahre, die ergaben, dass »sich die Fälle sogar in stark betroffenen Regionen eher in kleineren Gruppen ballten und sich nicht so schnell und weiträumig verstreuten wie allgemein gedacht«. Diese Beobachtung führte zu der Erkenntnis, »dass die Verbreitung der Pocken rascher gestoppt werden könnte, wenn man größere Bedeutung auf die Entdeckung der einzelnen Fälle legen würde«. Denn, so das WHO-Handbuch für die mobilen Kontrollteams vor Ort: »Wie akkurat die Impfkampagnen auch sein mögen – ein Land mit einem unzulänglichen Erfassungssystem kann nie ermitteln, ob die Ausrottung der Krankheit gelungen ist.«[2]
In den Schlussetappen der weltweit choreographierten Bekämpfung einer Seuche überlagert das Augenmerk auf der verlässlichen Dokumentation der Fälle die eingespielte medizinische Arbeit. Wie funktioniert das engmaschige Netz der Registrierungen genau, das die WHO ab 1967 über die betroffenen Länder legt? Eine Voraussetzung der besseren Überwachung besteht darin, dass Infizierte nicht mehr wie bislang im nächstgelegenen Krankenhaus untergebracht werden, in schlecht isolierten Stationen, wo sie mit anderen Patienten in Berührung kommen und das Virus weitergeben. Die lokalen Kontrolleinheiten der WHO sind nun vielmehr angewiesen, die Pockenkranken in Quarantänen vor Ort zu halten, unterstützt von Wärtern, die ohne Unterbrechung vor der Eingangstür des Wohnhauses wachen und, wenn nötig, »die anderen Türen vernageln«. Für die Nomadenvölker Äthiopiens und Somalias schreibt die WHO zwei Isolationsmaßnahmen der Kranken vor: entweder separate Zelte mit Küche und Latrine, umgeben »von einem Sperrgürtel aus Dornbusch«, oder »ein eigens errichtetes Lager, das nur von Pockenkranken bewohnt wird«.[3]
Was für die zentrale Dokumentation in Genf als »Ausbruch« gilt und welche Maßnahmen dieses Ereignis nach sich zieht, wird im Fortgang des verschärften Ausrottungsprogramms immer präziser definiert. Ab 1974 reicht die Erkrankung eines einzigen Menschen aus, um einen Ort 28 Tage lang (ab 1975 42 Tage lang) als Schauplatz eines »aktiven Pockenausbruchs« zu klassifizieren. Während dieser Zeitspanne besuchen die lokalen WHO-Einheiten den Ort einmal in der Woche und überprüfen die angewiesenen Maßnahmen; wenn die Pusteln am Körper des letzten Erkrankten nach dieser Frist verheilt sind und in den 48 Stunden darauf kein neuer Fall in der Umgebung bekannt wird, sollen die Kontrollteams gegenüber ihrer Bezirksleitung »beglaubigen, dass der Ort von der Liste der aktiven Ausbrüche gestrichen werden kann«.[4]
Mit hohem personellem Aufwand durchkämmt die WHO auf systematische Weise die letzten endemischen Regionen der Seuche. Ab 1973 gibt es Pockenausbrüche noch in Teilen von Bangladesch, Indien, Nepal, Pakistan, Äthiopien und Somalia; detaillierte Pläne werden erarbeitet, um »in jedem bewohnten Ort« der betroffenen Gebiete Fälle aufzudecken oder die Abwesenheit der Krankheit zu verifizieren. Es stellt sich heraus, »dass die Kontrolleinheiten in städtischen Regionen 150 Häusern am Tag oder ca. 1000 Häusern in der Woche einen Besuch abstatten« können; innerhalb von zehn Tagen gelingt es jedem der zwölfköpfigen WHO-Teams, etwa 150000 Menschen in einer Region zu befragen und wenn nötig zu untersuchen. Wird in einem Dorf oder einer Siedlung ein Pockenfall entdeckt, bleiben die Impfärzte der Kontrolleinheiten bis zu 28 Tage am Ort zurück und impfen alle Bewohner und eintreffenden Besucher. Am Beispiel Indiens heißt es in dem Abschlussbericht: »Ein gesamter Bundesstaat konnte auf diese Weise innerhalb von sieben bis zehn Tagen abgedeckt werden.« Mehr als 100000 Mitarbeiter sind in der ersten Hälfte der siebziger Jahre alleine in diesem Land für die WHO im Einsatz.[5]
Elementare Bedeutung für das Erfassungssystem kommt dabei, wie der Band Smallpox and its Eradication ausführt, der Verlässlichkeit der gesammelten Daten zu. Jede Kontrolleinheit sendet einmal in der Woche einen Bericht über die entdeckten Pockenerkrankungen an die Bezirksleitung; diese Zahlen werden wiederum an die regionale und anschließend an die nationale Gesundheitsbehörde weitergeleitet. In Indien besteht dieses Netzwerk Anfang der siebziger Jahre aus über 8000 Kontrollteams, rund 400 Bezirksleitungen und 31 Regionalbehörden, die ihre gebündelten Berichte nach Neu-Delhi schicken. Die nationalen Behörden schließlich übermitteln die Pockenfälle in ihrem Land »einmal in der Woche per Telex oder Post an die WHO-Zentrale« in Genf. Jede Woche erscheinen diese aktuellen Daten in der Zeitschrift Weekly Epidemiological Record.[6]
Für die Geschichte der Pocken (oder der »Blattern«, wie sie in Deutschland auch lange Zeit hießen) ist es folgerichtig, dass gerade die möglichst lückenlose Registrierung der Fälle in den 1970er Jahren die weltweite Ausrottung gewährleisten soll. Mitte des 18. Jahrhunderts, in der Zeit der größten Ausbrüche in Europa, wurde die Krankheit zu einem Katalysator der neu entstehenden Wissenschaft der Bevölkerungsstatistik. Die verheerende Ansteckungskrankheit war vor der Entdeckung der Vakzination in manchen Jahren für zehn Prozent aller Todesfälle in London, Paris oder Berlin verantwortlich, und frühe Medizinalstatistiker wie Johann Peter Süßmilch leiteten die Notwendigkeit, die losen Sterberegister in den Kirchenbüchern und Hospitälern zu bündeln und auf ihre Regelmäßigkeiten und Sprünge hin zu befragen, ausdrücklich von dieser Seuche ab, die sämtliche Bewohner einer Region ereilen und miteinander in Beziehung setzen konnte. Die Kategorie der »Bevölkerung«, als ein ganzheitliches, statistisch analysierbares Wissensobjekt, bildete sich im 18. Jahrhundert gerade im Kampf gegen die Pocken heraus, in der Ambition, die Verbreitungswege der Erkrankungen durch die akribische Sammlung und Interpretation von Daten genauer zu verstehen.[7]
Wenn der Generaldirektor der WHO das Ende der Pocken 1980 als »Triumph des Managements«[8] beschreibt, greift er die früh erkannte Bedeutung der Menschenerfassung für die Bekämpfung von Epidemien auf. Die globale Arbeit der Ausrottungskampagne profitiert dabei von bestimmten Eigenheiten dieser Krankheit, die das Aufspüren von gegenwärtigen und ehemaligen Fällen erleichtern. Im Unterschied zu den anderen großen Seuchen seit dem 19. Jahrhundert – der Cholera, dem Gelbfieber, dem Typhus, der Grippe – lässt sich sowohl die akute Infektion eines Menschen als auch die überstandene Erkrankung an äußeren Körperzeichen ablesen, an den infektiösen Pusteln auf der Haut und an den im Gesicht zurückbleibenden Narben. Die erfolgreiche Ausrottung der Pocken, die sukzessive Einkreisung aller Ausbrüche hat also auch einen semiotischen Anteil; sie verdankt sich der Entzifferbarkeit der Krankheit ohne diagnostische Hilfsmittel. »Übertragen wird die Infektion«, so der Abschlussbericht der WHO, »nur durch Personen mit Ausschlag; dies machte es vergleichsweise einfach, die Kette der Infektionen zu verfolgen«.[9] Bewohner mit vernarbten Gesichtern geben den Kontrollteams vor Ort zudem Aufschluss darüber, wer die Krankheit bereits durchlitten hat, und liefern einen verlässlichen Abgleich der tatsächlichen Fälle in einer Siedlung oder einem Haus mit den bislang gemeldeten Daten.
Auf diese Weise stellen die lokalen Mitarbeiter in der Frühzeit des Ausrottungsprogramms fest, dass die eigenständige »Meldedisziplin« der Bewohner in den letzten endemischen Regionen nachlässig ist, was die WHO Anfang der siebziger Jahre zur Einführung eines zusätzlichen Untersuchungsformats namens »Facial Pockmark Survey« bewegt, einer auf standardisierten Formularen dokumentierten Kontrolle aller befragten Personen auf Pockennarben. Durch diese Ermittlungen, so der Bericht, »wurde offensichtlich, dass bislang wahrscheinlich nur etwa einer von hundert Fällen angezeigt wurde«.[10] Die Daten der »Facial Pockmark Surveys« dagegen bieten den Kontrolleinheiten von nun an einen genauen Überblick, wie viele Personen eines Ortes die Krankheit bereits überstanden und einen Immunschutz entwickelt haben.[11]
Mitte der siebziger Jahre haben sich die Pockenausbrüche auf einzelne Gebiete in Indien und Bangladesch und auf Nomadenstämme in den Bergen Äthiopiens reduziert. Um über neue Erkrankungen möglichst schnell und zuverlässig informiert zu werden, beginnt die Weltgesundheitsorganisation ein Hilfsmittel zu verwenden, das auf den ersten Blick eher wie ein archaischer Anreiz der Verbrechensbekämpfung wirkt und die Parallele von epidemiologischer und polizeilicher Arbeit in Erinnerung ruft. Die WHO setzt eine großzügige finanzielle Belohnung auf die Mitteilung unentdeckter Pockenfälle aus, eine Art Kopfgeld, das gerade in den wirtschaftlich prekären Ländern, in denen die Krankheit noch regelmäßig ausbricht, hohe Attraktivität entfachen soll. In Indien beträgt die auf Plakaten in der Region des Ausbruchs und über Mund-zu-Mund-Propaganda annoncierte Belohnung Ende 1974 100 Rupien, umgerechnet 12,50 US-Dollar; im Juli 1975, kurz nach der Entdeckung des letzten Falles im Land, sogar 1000 Rupien, bei einem Durchschnittsverdienst von zehn Rupien am Tag. Dieses im Dienst der vollständigen Ausrottung stehende Denunziationsprogramm führt tatsächlich zur Entdeckung verbliebener Einzelfälle. In Bangladesch, dem einzigen Land, das die Übergabe der Geldbeträge genau dokumentiert hat, werden bis 1975 insgesamt 28000 Dollar für die Entdeckung von Pockenkranken gezahlt.[12]
Im Sommer 1976 scheint das »Smallpox Eradication Programme« der WHO bereits sein Ziel erreicht zu haben. Äthiopien – das einzig verbliebene Land, in dem noch Ausbrüche registriert wurden – gilt als frei von Pocken. Nach dem letzten von der Liste gestrichenen Fall am 9. August treffen die Kontrollteams sieben Wochen lang auf keine neue Erkrankung, und die WHO plant bereits, die weltweite Ausrottung im Herbst 1976 bekanntzugeben. Doch in Somalia bricht die Seuche wieder aus, zunächst in Mogadischu, dann ab dem Frühjahr 1977 vor allem unter den Nomadenstämmen im Süden des Landes. Alleine im April ermitteln die lokalen Mitarbeiter 157 Ausbrüche; insgesamt zählt die WHO bis zum Herbst 1977 über 3000 Fälle.[13] Die Erfassung der Kranken in Somalia wird laut dem Abschlussbericht auf doppelte Weise erschwert. Zum einen führt die politische Auseinandersetzung mit Äthiopien um die von beiden Ländern beanspruchte Region Ogaden im Herbst 1976 zur Weigerung Somalias, mit der Weltgesundheitsorganisation zusammenzuarbeiten; die Zertifizierung der Pockenfreiheit Äthiopiens und die Entdeckung neuer Fälle im eigenen Land wird von der Regierung zunächst als politische Verschwörung deklariert. Erst als die Vielzahl neuer Erkrankungen nicht mehr zu verschleiern und Somalia auf finanzielle und logistische Unterstützung angewiesen ist, willigt das Land ein, mit der WHO zu kooperieren. Der im Juli 1977 ausbrechende Ogadenkrieg hemmt die Bewegungsfreiheit der Kontrollteams aber bis zuletzt.[14]
Die zweite Erschwernis der Erfassungsarbeit hat, wie der Abschlussbericht erwähnt, mit der Lebensweise der infizierten Bevölkerungsgruppen in Somalia zu tun, die großteils aus »nomadischen Viehzüchtern« besteht. »Ihre Routen von Tag zu Tag waren unvorhersehbar. Das machte es außergewöhnlich schwer, irgendeine Art der systematischen Überwachung und Impfung durchzuführen, vor allem in der Regenzeit, wenn die Straßen unpassierbar waren.«[15] Den WHO-Einheiten gelingt es aber, über den Rauch von Lagerfeuern und die frischen Ausscheidungen des Viehs die Wege der Nomadenstämme zu identifizieren und ihre Lage aufzuspüren. Die Kranken werden in Quarantäne gehalten, die Ungeimpften vakziniert, und in jedem Lager übergeben die Mitarbeiter dem Stammesführer eine »smallpox recognition card« der WHO, um andere Einheiten darauf aufmerksam zu machen, dass diese Gruppe schon erfasst worden ist. Die Unterstützung bei der Entdeckung von Pockenfällen ist, wie der Bericht in einem separaten Textkasten pointiert ausführt, bei manchen Nomadenvölkern nicht besonders ausgeprägt. Sie verstecken nach der Ankunft des Kontrollteams die mit Hautausschlägen verunstalteten Mitglieder ihres Stamms. Doch ein WHO-Mitarbeiter, so die Anekdote in Smallpox and its Eradication, wendet in einem Lager einen Trick an, der auf die generelle Hilfsbereitschaft des Nomadenvolks zählt: »Er steuerte das Fahrzeug absichtlich in tiefen Schlamm. Eine große Menge strömte von überall her in Richtung des Autos, um es herauszuziehen, und darunter fanden sich vier Personen mit akuten Pocken.«[16]
Am 31. Oktober 1977 wird in Merka, einer Hafenstadt gut hundert Kilometer südlich von Mogadischu, der letzte Pockenfall entdeckt. »Der Patient, Ali Maow Maalin«, heißt es im Abschlussbericht, »war ein 23-jähriger Koch, der seit dem 22. Oktober an einer fieberhaften Erkrankung litt und seit dem 26. Oktober einen Ausschlag entwickelte. Obwohl er bei der WHO vorübergehend als Impfhelfer angestellt war, bevor er Krankenhauskoch in Merka wurde, war er selbst nie erfolgreich geimpft worden.« Maalin steckt sich offenbar bei zwei kranken Kindern eines Nomadenstamms an, die er am 12. Oktober in einem Auto nur einige hundert Meter lang vom Krankenhaus in ein Isolationslager begleitet. Zunächst wird bei ihm Malaria diagnostiziert (die Krankheit, an der er im Jahr 2013 tatsächlich gestorben ist); nach dem Auftreten des Ausschlags wird klar, dass der Koch an den Pocken leidet, als erster Stadtbewohner in Somalia seit vielen Monaten. Maalin wird zunächst in der eigenen Wohnung und anschließend vier Wochen lang in einem Lager isoliert. Anders als die abgeschieden lebenden Nomadenstämme hatte er in den Tagen vor seiner Erkrankung flüchtigen Kontakt zu zahlreichen Menschen, wodurch die WHO sofort weitgreifende Maßnahmen in Merka veranlasst. Jeder Ungeimpfte in den etwa fünfzig Häusern in direkter Nachbarschaft Maalins wird vakziniert, in den Tagen darauf die Bewohnerschaft aller 800 Häuser seines Stadtbezirks. Sechs Wochen lang durchforsten die WHO-Mitarbeiter einmal pro Woche die gesamte Kleinstadt nach weiteren Fällen. »Mit polizeilicher Unterstützung wurde ein Kontrollpunkt auf der Straße nach Merka errichtet, und auch auf den drei Fußwegen in die Stadt hinein gab es Kontrollpunkte, so dass alle Personen, die Merka besuchten oder verließen, aufgehalten und inspiziert werden konnten.« Zwischen dem 31. Oktober und dem 14. November 1977 impfen die WHO-Mitarbeiter knapp 55000 Personen; alle 91 Kontakte, die Maalin für die zehn Tage der Inkubationszeit angegeben hat, können innerhalb von 24 Stunden verständigt, auf ihre Impfnarbe am Oberarm untersucht und wenn nötig vakziniert werden. Keiner von diesen Menschen entwickelt einen Ausschlag. »Im Anschluss«, so der WHO-Bericht, »wurde fünf Monate lang alle vier Wochen eine Haus-zu-Haus-Untersuchung im gesamten Gebiet von Lower Shabelle durchgeführt«, der 25000 Quadratkilometer umfassenden Region, zu der Merka gehört. »Die Kontrollteams entdeckten keine weiteren Erkrankungen.«[17]
Am 29. Dezember 1977 wird dieser letzte Fall von der Liste der Ausbrüche gestrichen, und die WHO bestimmt eine Frist von zwei Jahren, in der mit Hilfe enormer Belohnungen, 1000 Dollar pro bestätigter Mitteilung, nach weiteren Fällen gesucht werden soll. Dieses Angebot führt »unter jungen Nomaden«,[18] wie es im Bericht heißt, zwar zu flächendeckender Fahndungsarbeit in Somalia, aber die rund fünfzig Kranken mit Hautausschlag, die bis Ende 1979 zur Anzeige bei den lokalen Gesundheitsbehörden gelangen, entpuppen sich sämtlich als Windpocken-Fälle. Im Dezember 1979 erklärt die WHO die Pocken in einer ersten Meldung für ausgerottet; fünf Monate später findet die Zertifizierungsfeier im Palais des Nations in Genf statt.
Die Verstörung, die von einer neuen epidemischen Krankheit ausgeht, wächst in dem Maße, in dem sich die Ausbreitung jeder Logik zu entziehen scheint. Im Juni 1981 publiziert das wöchentliche Bulletin der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC, »Centers for Disease Control«, einen Artikel über die rätselhafte Häufung lebensbedrohlicher Lungenentzündungen bei jüngeren Männern in Kalifornien, verursacht durch eine multiple Pilzinfektion. Für gesunde Menschen sind diese Infektionen ungefährlich; nur bei Patienten mit stark beeinträchtigtem Immunsystem, durch Vorerkrankungen oder nach einer Organtransplantation, können sie schwerwiegende Folgen haben. Fünf Männer, »alle aktive Homosexuelle«, wie es in dem kurzen Bericht heißt, »wurden zwischen Oktober 1980 und Mai 1981 in drei verschiedenen Krankenhäusern in Los Angeles behandelt«. Zwei davon sind in der Zwischenzeit an der sogenannten Pneumocystis-Pneumonie (PCP) gestorben. Die Autoren referieren die Fallgeschichten der 29- bis 36-jährigen Männer und betonen, dass sie einander »nie persönlich begegnet sind. Sie hatten weder gemeinsame Kontakte, noch war ihnen bekannt, dass einer ihrer Sexualpartner diese Krankheiten gehabt hätte.« Alle fünf Patienten »konsumierten Inhalationsdrogen; einer von ihnen erwähnte die Drogensucht seiner Eltern«.[1]
Einen Monat nach diesem Artikel, der ersten wissenschaftlichen Notiz über die neue, noch namenlose Krankheit, erscheint im Morbidity and Mortality Weekly Report der CDC ein zweiter Bericht, der ein komplementäres Phänomen untersucht, die plötzlich ansteigende Verbreitung des Kaposisarkoms »unter homosexuellen Männern in New York und Kalifornien«, wie es im Aufsatztitel heißt. 26 Patienten zwischen 26 und 51 Jahren sind seit 1979 mit der in den USA äußerst ungewöhnlichen Krebsart diagnostiziert worden; acht von ihnen leben nicht mehr. In den zwanzig Jahren davor hat es in dieser Altersgruppe nur insgesamt drei registrierte Erkrankungen in New York gegeben. Bei den meisten Männern, so der Artikel, wurden zudem jene Pilz- und Herpesinfektionen entdeckt, an denen auch die fünf Personen in Los Angeles erkrankt sind.[2]
Im August 1981, nach den Rückmeldungen zahlreicher Ärzte und Kliniken auf die beiden Artikel, zählen die »Centers for Disease Control« bereits 108 Fälle der unbekannten Krankheit mit 43 Toten. Die Frage, die sich die neu eingerichtete Arbeitsgruppe der CDC stellen muss, ist zunächst, wie diese einzelnen, lose verstreuten Ausbrüche zusammenhängen. Wer wird krank und warum? Dass sowohl die fünf kalifornischen Männer als auch die gut zwei Dutzend Kaposisarkom-Fälle etwas miteinander zu tun haben müssen, behaupten beide Artikel des Morbidity and Mortality Weekly Reports, wenngleich mit unterschiedlicher Prägnanz. Der zweite Bericht ist vorsichtig mit Schlussfolgerungen über den betroffenen Personenkreis. Im ersten Bericht von Anfang Juni heißt es dagegen mit einer entschiedeneren Formulierung: »Die Tatsache, dass alle Patienten Homosexuelle waren, lässt darauf schließen, dass es eine Verbindung gibt zwischen einem Aspekt des homosexuellen Lebensstils oder einer Krankheit, die durch sexuellen Kontakt erworben wird, und dem Auftreten der Pneumocystis-Pneumonie in dieser Bevölkerungsgruppe.«[3]
Eine auffällige Häufung von Patienten, deren Alter und körperliche Disposition zwar in keinem erwartbaren Verhältnis zum Ausbruch ihrer Leiden steht, deren sexuelle Präferenz sie aber miteinander verbindet: In der Anfangszeit der neuen Krankheit, die von den »Centers for Disease Control« im Juli 1982 offiziell als Epidemie klassifiziert wird, fehlt jede Erkenntnis über den zugrundeliegenden Erreger, ja sogar über die Frage, ob die Schwächung des Immunsystems und die fatalen Infektionen durch einen übertragbaren Erreger verursacht werden. In Ermangelung dieses Wissens wird eine vage Kategorie wie »homosexueller Lebensstil«, in der sich soziale, ästhetische, sexuelle und pathologische Facetten vermischen, zum frühesten Verdachtsmoment, um die Verteilung der Fälle besser zu verstehen. Der erste Name, der sich Anfang 1982 unter den Ärzten und Gesundheitsbehörden für die Krankheit etabliert, »GRID«, greift diese Spur auf; die Bezeichnung »Gay-Related Immune Deficiency« bindet die mysteriöse Immunschwäche der Patienten an ihre sexuelle Präferenz, ohne dass dieser Zusammenhang medizinisch beglaubigt werden könnte.
Die großen Zeitungen und Presseagenturen, die nach vereinzelten Meldungen über die beiden Artikel in Morbidity and Mortality Weekly erst ein Jahr später, ab Frühling 1982, regelmäßig über die neue Epidemie berichten, stellen die Kategorie des »Lebensstils« immer wieder in den Mittelpunkt. »Viele Homosexuelle haben eine hohe Anzahl von Sexualpartnern«, heißt es in einem Artikel der Associated Press vom März 82, »und diese flüchtigen Intimitäten könnten der Grund für zahlreiche Infektionen sein«. Drei Monate später heißt es in einem weiteren Artikel der Agentur über die sich ausbreitende Krankheit: »Wissenschaftler, die eine Häufung seltener Krebs-Fälle bei homosexuellen Männern untersuchen, haben die Krankheit mit häufigem Sex mit Fremden in Verbindung gebracht.«[4] Promiskuitive Sexualität als solche gilt in dieser Frühphase als wahrscheinliche Ursache der Erkrankung – nicht ein Virus, nicht ein Mikroorganismus, nicht eine konkrete Form der Übertragung, sondern eine soziale Praxis. Die Immunschwächung ist Effekt der abweichenden Biographie.
Im Juni 1982 berichtet Morbidity and Mortality Weekly über eine Interviewreihe, die Mitarbeiter der CDC-Arbeitsgruppe mit Kaposisarkom- und Pneumocystis-Pneumonie-Patienten in Los Angeles und dem südlich der Stadt gelegenen Orange County durchgeführt haben. Von 19 bekannten Krankheitsfällen werden acht noch lebende Männer und »nahe Freunde« von sieben verstorbenen über Sexualpartner in der Vergangenheit befragt, und es zeigt sich, dass »innerhalb von fünf Jahren vor dem Einsetzen der Symptome neun Patienten (sechs mit KS und drei mit PCP) sexuellen Kontakt mit den anderen an KS oder PCP leidenden Patienten« gehabt haben. Drei der sechs am Kaposisarkom Erkrankten entwickelten Symptome nach dem Sex mit Männern, bei denen die Krankheit bereits ausgebrochen war, nach einer Inkubationszeit von neun, 13 und 22 Monaten. Diese als Los Angeles Cluster Study bekanntgewordene Befragung stützt, wie es im Kommentarteil heißt, zum ersten Mal anhand verlässlicher Daten die Hypothese, dass sich die neue Krankheit durch sexuelle Übertragung verbreitet. Wobei die Verfasser weiterhin zwei Möglichkeiten der Ansteckung in Betracht ziehen, eine konkrete und eine nicht näher definierte toxikologischsoziale: Bei der einen »werden noch unbekannte Infektionserreger sexuell übertragen und verursachen die Immunschwächung, die KS und/oder PCP unter homosexuellen Männern zugrunde liegt«. Bei der anderen Möglichkeit, so die Autoren in vager Diktion, »führt der sexuelle Kontakt mit Patienten mit KS oder PCP nicht direkt zu einer erworbenen Immunschwächung, sondern weist einfach auf einen bestimmten Lebensstil hin«.[5]
Was die Studie jedenfalls zum ersten Mal empirisch darlegt, ist ein bestimmter Zusammenhang der Fälle. Der ermittelte »Cluster« der Infektionen bündelt und ordnet die losen Erkrankungen; »er zeigt überzeugend«, so einer der Autoren gegenüber der New York Times am Tag der Veröffentlichung, »dass dieses Leiden nicht vollkommen zufällig unter homosexuellen Männern auftaucht«,[6] sondern auf Ansteckung beruht. Zudem gibt die Interviewreihe Aufschluss über die ungewöhnlich lange Inkubationszeit der Krankheit. Zwischen der mutmaßlichen sexuellen Infektion und dem Auftreten der Hautkrebs- oder Lungenentzündungs-Symptome vergehen laut Auskunft der Patienten bis zu zwei Jahre.
Im Sommer 1982 erhärtet sich also der Verdacht, dass sexueller Verkehr zwischen promiskuitiven Männern eine Beeinträchtigung des Immunsystems herbeiführen kann, und es stellt sich die Frage, warum diese fatale körperliche Schwächung gerade homosexuelle Männer ereilt. Sowohl Mediziner als auch Politiker bemühen sich um erste Antworten. Im New England Journal of Medicine erscheint ein Artikel über eine New Yorker Studie, in der 81 gesunde homosexuelle Männer auf ihre Immunabwehr untersucht werden. Als Ergebnis zeigt sich, dass 67 von ihnen einen geringeren Anteil an T-Zellen unter den weißen Blutkörperchen aufweisen als die Kontrollgruppe der heterosexuellen Männer, also genau jenen zellulären Baustein, der nach jüngsten biochemischen Forschungen vordringlich für die Stabilität des Immunsystems verantwortlich ist. Der durchschnittliche Wert dieses Zelltyps liegt bei der Gruppe der 81 Homosexuellen sogar näher bei den am Kaposisarkom erkrankten Männern als bei der heterosexuellen Kontrollgruppe. Die Autoren betonen zwar, dass diese Ergebnisse bei der verhältnismäßig kleinen Kohorte der Untersuchten »Zufall«[7] sein könnten und korrigieren ihre Hypothesen in späteren Artikeln. In Presseberichten über die Krankheit GRID wird die Studie im September 1982 aber auffallend häufig erwähnt, weil sie ein Erklärungsmodell für die Gefährdung der betroffenen Bevölkerungsgruppe anbietet. Homosexuelle Promiskuität kann mit Hilfe dieser Daten als latent pathologische Praxis beschrieben werden, so als wäre die Anfälligkeit für Immunschwäche im Körper disponiert, als gäbe es eine prinzipielle Verbindung von abweichender Sexualität und labiler gesundheitlicher Konstitution. Das vor 1980 nur im medizinischen Sprachgebrauch vertraute Wort »Immunsystem« wird in der Anfangszeit der neuen Epidemie zu einem Indikator für kulturelle Normalität. Pat Buchanan, Berater des neuen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan (und in den neunziger Jahren selbst zweimal Anwärter auf das Amt des republikanischen Präsidentschaftskandidaten), spricht denselben Zusammenhang auf populistische Weise aus. In einem Interview mit der Zeitung New York Post sagt er 1983: »Die Schwulen haben der Natur den Krieg erklärt, und nun übt die Natur fürchterliche Vergeltung.«[8]
Genau in diese Zeit, in der wissenschaftliche und chauvinistische Interpretationen die Begrenzung der neuen Krankheit auf homosexuelle Männer deuten, fällt jedoch eine verstörende Ausweitung der betroffenen Personenkreise. Dass sich unter den frühen Infizierten auch einige heterosexuelle Männer befinden, zeigte sich bereits im Verlauf des Jahres 1981 und wurde mit der Drogensucht der Patienten erklärt. Im Dezember 1981 erkrankte auch zum ersten Mal eine heroinabhängige Frau am Kaposisarkom. Im Juli 1982 dann, nur wenige Wochen nach der Veröffentlichung der Los Angeles Cluster Study, ziehen zwei fast zeitgleich auftauchende Nachrichten die Hypothese von der »Schwulenkrankheit« GRID in elementare Zweifel. Der Leiter der CDC-Arbeitsgruppe, James Curran, gibt auf einer Pressekonferenz bekannt, dass sich bei 34 aus Haiti geflohenen Menschen beiderlei Geschlechts, die nun in fünf verschiedenen US-Bundesstaaten leben, die typischen Symptome der Epidemie gefunden haben. Und einige Tage später macht die Gesundheitsbehörde drei Fälle von Pneumocystis-Pneumonie mit »frappierend ähnlichen« Immundefekten unter Hämophilie-Patienten öffentlich – Bluterkranken, deren Herkunft, sexuelle Präferenz und Lebensgewohnheiten sich in keine Muster ethnischer und sozialer Abweichung einpassen lassen.[9] »Die haitianischen Fälle stehen für eine neue Entwicklung der Immunkrankheit«, sagt James Curran der New York Times. »Geht es hier um dieselbe Sache wie bei den homosexuellen Männern und den Drogenabhängigen? Und wenn ja, was hat das zu bedeuten? Die Antwort ist: Wir wissen es nicht.« Ein Mitarbeiter Currans wird über die Hämophilie-Patienten mit den Worten zitiert: »Bluter sind definitiv eine andere Bevölkerungsgruppe als homosexuelle Männer, haitianische Flüchtlinge und Fixer. Wir suchen dennoch nach einem gemeinsamen Erreger der Erkrankungen.«[10] In diesen Aussagen vom Juli 1982 zeichnen sich zwei Reaktionsweisen der amerikanischen Gesundheitsbehörde ab: zum einen die nicht zu unterdrückende Sorge um die unkontrollierbare Ausweitung der Epidemie, zum anderen der Versuch, die immer heterogeneren Betroffenengruppen weiterhin zu vereinheitlichen, auf einen Nenner zu bringen, um die Logik der Ausbrüche zu verstehen. Dass eine Disposition des Immunsystems homosexueller Männer für die Epidemie verantwortlich ist, scheint nach dem Auftauchen der neuen Fälle unmöglich. Doch was eint die disparaten Erkrankungen? Die drogenabhängigen Patienten verwenden gebrauchte Spritzen, die Hämophiliker benötigen regelmäßige Bluttransfusionen. Über die Gruppe der haitianischen Flüchtlinge heißt es, dass sie in ihrem Heimatland an Voodoo-Ritualen teilgenommen hätten, in denen Injektionen von menschlichem und tierischem Blut eine Rolle spielen.[11] Alle vier bislang betroffenen Personengruppen, so die Annahme der Ärzte, kamen überdurchschnittlich oft mit fremden Körperflüssigkeiten in Kontakt. Die Gefährdung, an der neuen Epidemie zu erkranken, könnte also weniger mit einem abweichenden »Lebensstil« zu tun haben als mit riskanten Momenten des Austauschs, sowohl sexueller als auch medizinischer oder ritueller Art, an denen wie auch immer kontaminierte Sekrete von einem Körper in den anderen gelangen.
Die allgemeine Beruhigung, die von dieser Information ausgehen soll, hängt damit zusammen, dass die Krankheit weiterhin als eine selektiv ausbrechende beschrieben wird. Sie ist ab der zweiten Hälfte des Jahres 1982 zwar nicht mehr auf homosexuelle Männer beschränkt, aber auch die anderen betroffenen Personenkreise teilen einen bestimmten Sonderstatus, der sie in der öffentlichen Auseinandersetzung für die Krankheit anfällig macht. Die Drogenabhängigen, die in archaische Rituale verstrickten Flüchtlinge, die Bluterkranken: lauter Figuren, die wie die homosexuellen Männer eine Außenseiterposition einnehmen, die in sozialem, ethnischem, medizinischem Sinne pathologisiert werden können. Die vier Personenkreise sind die Risikogruppen der neuen Epidemie, wie ein im Zusammenhang mit der Krankheit aufkommender Begriff besagt.[12]
Ende 1982 schließlich werden die ersten Fälle von Kindern bekannt, die am Kaposisarkom und an Pneumocystis-Pneumonie leiden. Die »Centers for Disease Control« berichten über zwanzig erkrankte Kleinkinder unter den mittlerweile rund 800 Infizierten in den USA; ein knapp zwei Jahre alter Junge sei Anfang Dezember verstorben. Auch wenn die Fälle laut CDC in die Logik der »Risikogruppen« eingebettet werden können, weil die Kinder entweder an Hämophilie leiden oder drogenabhängige Eltern haben: Die biographische Unschuld der jüngsten Patienten, ihr von kulturellen Stigmata und Zuschreibungen noch weitgehend freies Leben, löst im Tonfall der Presseberichte ein wachsendes Unbehagen vor der Entgrenzung der Epidemie aus. Wo es in der New York Times noch im Mai 1982 hieß: »Bislang haben die Epidemiologen keinen Beleg dafür gefunden, dass sich die Krankheit wie die Grippe oder die Masern von Mensch zu Mensch überträgt; die Gesamtbevölkerung muss nicht besorgt sein«, reißt diese Schwelle spätestens mit den Nachrichten von erkrankten und gestorbenen Kleinkindern ein. Nun droht die bislang gewährleistete Domestizierung der neuen Epidemie, die gesundheitspolitische Beschränkung auf »Risikogruppen«, ihre Überzeugungskraft zu verlieren und genau das einzutreten, was ein Artikel der Zeitschrift Newsweek mit dem Befund nahelegt: »Die ›Schwulenseuche‹ ist auf die Gesamtbevölkerung übergeschwappt.«[13]
Von Ende 1982 bis zur erfolgreichen Isolation des Erregers HIV durch französische und amerikanische Virologen im Frühjahr 1984 währt eine etwa eineinhalbjährige Zeitspanne, in der sich das anhaltende Rätseln über die mikrobiologische Ursache der Epidemie mit der Einsicht verbindet, dass sich die ersten Begrenzungsstrategien nicht aufrechterhalten lassen. Das betrifft auch den offiziellen Namen der Krankheit, der sich nach dem Beschluss einer CDC-Konferenz im Juli 82 ändert; die Assoziation mit der sexuellen Präferenz der Patienten in »GRID« wird durch die neutralere, offenere Bezeichnung »Acquired Immune Deficiency Syndrome« ersetzt – »A.I.D.S«, dann »AIDS« und schließlich »Aids« (als immer beiläufigere, immer nahtloser in die Sprache verwobene Schreibweise, wie Barbara Weingart bemerkt hat).[14] Gerade die Ausweitung der möglichen Betroffenengruppen verschärft aber die panischen Reaktionen und Verhaltensweisen in der amerikanischen Öffentlichkeit, die ab 1983 auch in deutschen Zeitungsartikeln über die Epidemie in plakativen Aufzählungen beschrieben werden. »Piloten weigerten sich«, so der Spiegel im Juli 83, »Aids-Patienten ins Flugzeug zu lassen; Polizisten und Gefängnisaufseher versehen sich mit Schutzanzügen und Spezialhandschuhen, wenn sie mit Aids-Kranken umgehen; Photomodelle lehnen es ab, sich von homosexuellen Maskenbildnern schminken zu lassen; in Büros und Fabriken sträuben sich Angestellte und Arbeiter, neben Aids-kranken Kollegen zu arbeiten.« Im Stern heißt es in ähnlichen Satzkaskaden, in denen sich die bedrohliche Entgrenzung der Infektionen sprachlich abbildet: »Krankenschwestern und Polizisten tragen Spezialkleidung und Mundschutz, wenn sie sich Schwulen nähern. Fernsehtechniker in San Francisco versperrten Kranken den Weg ins Studio zu einer Sendung über AIDS. Ein Geschworenen-Gericht in derselben Stadt lehnte es ab, sich zu einer Beratung zu versammeln, weil eines ihrer Mitglieder krank war.« Und die ZEIT berichtet im Oktober 1983 über die »hysterischen« Verhältnisse in den USA: »Beamte weigerten sich, die Pässe von Touristen bei deren Rückkehr aus Haiti anzurühren.«[15] Die Angst vor der Krankheit überträgt sich wesentlich schneller als die Krankheit selbst.
Wenn die Anfangszeit einer Epidemie von dem Bemühen geprägt ist, die Wege der Verbreitung zu ermitteln, eine kohärente Abbildung der sich ausweitenden Erkrankungen zu gewähren, nimmt ein Aspekt eine besonders wichtige Rolle ein: die Frage des Ursprungs, die Suche nach jenem Fall, mit dem die Serie der Ansteckungen begonnen hat. Der »Patient null« dient der Erzählbarkeit der Epidemie als Eichpunkt, als Instanz, die für die Linearität und narrative Ordnung der zerstreuten Fälle bürgen soll. In der Cluster Study vom Juni 1982 taucht neben den erkrankten oder bereits gestorbenen Kaposisarkom- und Pneumonie-Patienten aus Los Angeles und Orange County ein Interviewpartner auf, der in dem Artikel als »Nicht-Kalifornier« bezeichnet wird. »Zwei Patienten aus dem Orange County hatten sexuellen Kontakt« mit ihm, so die Studie; »ein Patient mit KS