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Der Vesuv steht kurz vor dem Ausbruch - ausgerechnet jetzt, wo die Dschinn-Zwillinge John und Philippa mit ihrem Onkel Nimrod Urlaub in Neapel machen. Und nicht nur das: Überall auf der Erde legen die Vulkane bedrohliche Aktivitäten an den Tag. Mit der Hilfe eines isländischen Professors finden die drei Dschinn heraus, dass die sogenannten Hotaniya-Kristalle Ursache für die drohende Umweltkatastrophe sind. Sie sollen in dem Grab des berühmten Mongolenherrschers Dschingis Khan liegen. Der Ort des Grabs ist jedoch unbekannt. Eine gefährliche Reise rund um die Welt beginnt ... Das siebte und letzte Abenteuer der »Kinder des Dschinn« - spannend wie kein anderes!
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Seitenzahl: 510
P. B. Kerr
Die Kristalle des Khan
Der Vesuv steht kurz vor dem Ausbruch – ausgerechnet jetzt, wo die Dschinn-Zwillinge John und Philippa mit ihrem Onkel Nimrod Urlaub in Neapel machen. Und nicht nur das: Überall auf der Erde legen die Vulkane bedrohliche Aktivitäten an den Tag. Mit der Hilfe eines isländischen Professors finden die drei Dschinn heraus, dass die sogenannten Hotaniya-Kristalle Ursache für die drohende Umweltkatastrophe sind. Sie sollen in dem Grab des berühmten Mongolenherrschers Dschingis Khan liegen. Der Ort des Grabs ist jedoch unbekannt. Eine gefährliche Reise rund um die Welt beginnt …
Das siebte und letzte Abenteuer der »Kinder des Dschinn« – spannend wie kein anderes!
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P.B. Kerr wurde 1956 in Edinburgh/Schottland geboren. Er studierte Jura an der Universität Birmingham und arbeitete zunächst als Werbetexter, bis er sich einen Namen als Autor von Krimis und Thrillern für Erwachsene machte. Viele seiner Bücher wurden internationale Bestseller, etliche mit großem Erfolg verfilmt. Für seine Arbeit wurde er u.a. zweimal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Mit der Abenteuer- und Fantasy-Serie «Die Kinder des Dschinn» gelang ihm auch als Kinderbuchautor auf Anhieb ein internationaler Erfolg. Die Filmrechte daran hat sich Hollywoods Star-Regisseur Steven Spielberg gesichert.
Widmung
»Komm zurück nach Sorrent«
Groanin kündigt
Snorri Stürlüson
Groanin checkt ein
Der Abstieg
Tutsi-Frutsi
Der Stein kommt ins Rollen
Entführt
»Morocco bound«
Groanins neue Stellung
Shopping in Fes
Kameläon
Sidi Mubarak Bombay
Ruhe sanft
Die allertraurigste Geschichte (sehr frei nach Ford Madox Ford)
»Schick einen Wunsch zu den Sternen«
Der Spion am Himmel
Ein wenig leichte Lektüre
The Spiders from Mars
»Suspicious Minds«
Auf dem Kamelmarkt von Kandahar
Sprechdurchfall
»It´s a sin«
Der Schrei
Eine umwerfende Frau
Ein ganz einfacher Plan
Der Feuerring
»Brot! Herrliches Brot!«
Tief in Gedanken
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit eines Kamels
Getrennte Wege
Der Traumpfad des Charlie Gardipy
Das Klagelied von Jimmy Shepard
Fallout
Grabjäger
Die Grabräuber von Dschingis Khan
Der Olgoi-Khorkhoi
Schadenfreude
»Sitting on the dock of the bay«
»Invisible Touch«
Das Morgenständchen
Das Opfer
Eine menschliche Denkweise
Anmerkung des Verfassers
Danksagungen
In memoriam: Fiona Kerr
Nimrod – ein mächtiger englischer Dschinn und Onkel der ähnlich mächtigen, aber sich gar nicht ähnlichen Zwillinge John und Philippa Gaunt – hatte nicht die geringste Ahnung, wie er auf die Idee gekommen war, seine jungen Patenkinder einzuladen, ihn in die süditalienische Stadt Sorrent zu begleiten, wo er jedes Jahr in seinem bevorzugten Grandhotel, dem Excelsior Vittoria, seinen Urlaub verbrachte. Das Hotel, das man genau an der Stelle errichtet hatte, an der einst die Ferienvilla des römischen Kaisers Augustus stand, war für Kinder noch nie besonders interessant gewesen. Es war voller alter Leute, wertvoller Antiquitäten, eleganter Fresken und stocksteifer Kellner in weißen Jacketts. Sorrent selbst hatte nur Holzeinlegearbeiten und Intarsien zu bieten, einen atemberaubenden Blick auf den Golf von Neapel und den Vulkan Vesuv. Ganz zu schweigen von der Aussicht auf die Schadenfreude, der größten Jacht der Welt, die in der Bucht vor Anker lag, sowie der unmittelbaren Nachbarschaft zur Stadt Pompeji, die im Jahr 79 bei einem verheerenden Vulkanausbruch vollständig zerstört und verschüttet worden war. Doch vermutlich würde keine dieser Attraktionen auf Nimrods Begleiter großen Eindruck machen.
John hatte etwas gegen Urlaub in Hotels, die nicht über Breitbildfernseher und eine riesige Palette englischer Fernsehprogramme verfügten; Philippa war nur ungern ohne Internet und ihren Laptop, und die unzuverlässige Netzwerkverbindung des Hotels sorgte bei ihr schon bald für Frustration und Langeweile. Nimrods Butler Groanin, der die drei Dschinn auf ihrer Italienreise begleitete, hielt generell nichts von Städten, in denen er weder eine anständige Tasse Tee noch eine aktuelle englische Tageszeitung bekommen konnte. Da er jedoch ein ziemlicher Snob war, bewunderte er das Hotel Excelsior Vittoria wegen der vielen Könige und Königinnen, die dort schon abgestiegen waren. Groanin war ein begeisterter Fan der englischen Königsfamilie und verreiste nie ohne ein silbergerahmtes Porträt von Königin Elisabeth II., das er stets andächtig auf seinen Nachttisch stellte.
An ihrem zweiten Abend in Sorrent saßen die vier auf der Panoramaterrasse des Hotels, genossen das Abendessen und die funkelnden Lichter von Neapel auf der anderen Seite der Bucht. Nimrod erzählte von den letzten Tagen Pompejis und der Exkursion, die sie am nächsten Tag dorthin unternehmen würden, während die Zwillinge zuhörten und höflich ihre Langeweile verbargen.
Als Nimrod fertig war, runzelte John die Stirn und fragte: »Was ist das italienische Wort für Déjà-vu?« Achselzuckend fügte er hinzu: »Ihr wisst schon: das Gefühl, dass man etwas schon mal gesehen oder erlebt hat.«
»Das müsste già visto sein, denke ich«, sagte Nimrod. »Und mir gefällt die Idee, einen neuen Namen für Déjà-vu zu verwenden. Der französische Begriff ist mir inzwischen viel zu vertraut. Ich werde deine Idee sofort übernehmen.« Nimrod zündete sich eine gewaltige Zigarre an und blies einen dreieckigen Rauchring in Richtung des Vulkans. »Aber was kommt dir so vertraut vor, John, das Hotel oder die Gegend?«
»Die Gegend«, gestand John. »Und vor allem Pompeji. Ich weiß, dass ich noch nie dort war, aber irgendwie fühlt es sich so an. Und das kann ich mir nicht erklären.«
»Mir geht es genauso«, gestand Philippa. »Seit ich den Vesuv gesehen habe, werde ich das Gefühl nicht los, ihn irgendwie zu kennen.«
»Vielleicht habt ihr in einem früheren Leben zu den Einwohnern von Pompeji gehört, die unter der Vulkanasche begraben wurden«, meinte Groanin und schniefte laut. »Vorausgesetzt, ihr glaubt an solchen Unsinn wie Wiedergeburt.«
Die vier konnten natürlich nicht wissen, wie recht sie hatten. Und sie würden es auch nie erfahren. Keiner von ihnen war sich bewusst, dass sie tatsächlich schon in Pompeji gewesen waren und den Vesuv gesehen hatten. Und wiederum auch nicht. Ihr vorhergehender Besuch gehörte zu einem früheren Abenteuer, das sich in einem parallelen Universum abgespielt hatte, welches nicht zu dem bekannten Universum gehörte, in dem sie sich jetzt bewegten. Was nichts anderes hieß, als dass es so gewesen war und wiederum auch nicht. Und da sich dieser frühere Besuch in Pompeji weit jenseits ihres kosmologischen Horizonts ereignet hatte, weißt vielleicht nur du, als allwissender Leser, warum und wieso sie dort gewesen waren. Begnügen wir uns mit dem Hinweis, dass sie keinerlei Erinnerung an dieses frühere Abenteuer hatten, was völlig normal ist, wenn man durch ein Wurmloch der Raumzeit reist.
Damit soll es für den Moment genug sein. In der Welt, in der sie sich derzeit befanden, war es nie geschehen, und als niemand Groanins provokante Bemerkung aufgriff, fügte dieser hinzu: »Auch wenn man sich an einem so schönen Abend eine Katastrophe wie einen Vulkanausbruch kaum vorstellen kann. Die Bucht ist so ruhig und blau und der Himmel so klar und der Vesuv … tja, von hier aus mag man kaum glauben, dass es tatsächlich ein Vulkan ist. Ich habe schon Warzen gesehen, die bedrohlicher wirkten als dieser Vulkan. Ich sage, es gibt Warzen, die bedrohlicher aussehen als dieser Vulkan.«
»Trotzdem ist es einer der gefährlichsten Vulkane der Welt«, sagte Nimrod. »Und mit Sicherheit von Europa. Auf der Hitliste der Vulkane steht er wahrscheinlich an dritter Stelle. Nicht auszumalen, welche Schäden, Störungen und Todesopfer ein Ausbruch nach sich ziehen würde. Ehrlich gesagt, wäre der Eyjafjallajökull dagegen nur ein überlaufender Aschenbecher.«
Wie nicht anders zu erwarten, war Nimrods Aussprache dieses zungenbrecherischen isländischen Namens tadellos.
»Ey-da-fährt-ja-Joghurt?«, wiederholte John, so gut er konnte. »Was soll denn das heißen?«
»Das ist auch ein Vulkan«, sagte Philippa. »Auf Island. Liest du denn keine Zeitungen? Er hat im Frühjahr 2010 den gesamten Flugverkehr von und nach Europa behindert. Der Eyjafjallajökull.«
»Die Aschewolke«, sagte Groanin. »Natürlich. Wochenlang konnte man nirgendwo hinfliegen. Wenigstens nicht mit einem Flugzeug. Die Asche hat die Motoren sämtlicher Düsenjets lahmgelegt, die versucht haben, durch die Wolke zu fliegen. Überall auf der Welt saßen Leute fest. Ja, den isländischen Vulkan hatte ich fast vergessen. Schon verrückt, was man alles vergisst, nicht?«
»Ist ja auch nicht unbedingt ein Name, den man sich leicht merken kann«, meinte John und versuchte, ihn auszusprechen, solange er den Klang noch im Kopf hatte, nur dass es sich eher anhörte wie: »Eierflädle und Ölkutteln.«
»Jedenfalls bin ich froh, dass der Vesuv hier schön friedlich aussieht«, sagte Groanin. »Da braut sich nicht das Geringste zusammen.«
»Schon, aber ein friedlicher Anblick sagt nichts darüber aus, was sich unter der Oberfläche tut«, meinte Nimrod.
»Es sei denn, du redest von John«, bemerkte Philippa ungnädig.
John beachtete sie gar nicht, und Nimrod tat das Gleiche.
»Der Vesuv«, erklärte er, »war achthundert Jahre lang ruhig, ehe er im Jahr 62 wieder auszubrechen begann. Und der Mount St. Helens, im amerikanischen Bundesstaat Washington, war siebenhundert Jahre lang friedlich, ehe er 1480 wieder aktiv wurde. Es ist ziemlich rätselhaft, was einige längst erloschene Vulkane dazu bringt, wieder aktiv zu werden. Bei anderen scheint die Erklärung wesentlich eindeutiger zu sein: ein Erdbeben zum Beispiel. Wenn man bedenkt, wie viele Vulkane es auf der Erde gibt und welche Urgewalt in ihnen steckt, ist es erstaunlich, dass sie nicht mehr Störungen verursachen.«
»Wie viele Vulkane gibt es denn?«, fragte John. »Insgesamt. Weiß das jemand?«
»Genau weiß es niemand«, sagte Nimrod, »weil sich viele von ihnen auf dem Meeresboden befinden. Dennoch sind seit Beginn der Aufzeichnungen etwa sechs- bis siebenhundert Vulkane an Land aktiv geworden, und die Menschen haben gelernt, mit ihnen zu leben. Selbst heutzutage ereignen sich im Jahr etwa fünfzig Vulkanausbrüche. Der letzte Ausbruch des Kilaueas auf Hawaii dauert seit 1983 an. Unsere Familie hat natürlich einen guten Grund, sich an diesen Vulkan zu erinnern.«
»Haben wir das?«, fragte John.
Philippa sah ihren Bruder voller Verachtung an. »Oh Mann«, sagte sie. »Der Kilauea hat Mutters Körper zerstört und sie gezwungen, die Gestalt von Mrs Trump anzunehmen, unserer Haushälterin.«
»Ach ja«, sagte John, »jetzt fällt es mir wieder ein.«
»Eure Mutter hatte das Pech, in einen pyroklastischen Strom zu geraten statt in eine schlichte Dampfwolke. Letztere hätte ihr Körper wahrscheinlich ohne Weiteres überstanden, Ersteren aber nicht. Die Temperatur eines pyroklastischen Stroms kann mehr als achthundert Grad Celsius erreichen.«
»Du scheinst dich mit diesem Thema gut auszukennen, Onkel Nimrod«, stellte Philippa fest.
»Mit Vulkanismus? Oh ja. Aber das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass wir Dschinn aus Feuer gemacht sind. Unsereins hatte schon immer eine besondere Beziehung zu Vulkanen. In der Tat waren einige der bedeutendsten Vulkanologen der Welt Dschinn.«
»Was das angeht, muss es ein gewaltiger Vorteil sein, aus nichts als heißer Luft zu bestehen«, bemerkte Groanin. Er hatte ein bisschen zu viel vom örtlichen Wein getrunken, was vermutlich auch erklärte, warum er sich hinabbeugte und eine der Hotelkatzen streichelte.
Nimrod lächelte fröhlich. Er war viel zu gut gelaunt, um sich von Groanins Beleidigung provozieren zu lassen. Die Bucht von Neapel übt eine beruhigende Wirkung auf die Leute aus, was erklärt, warum sie so gern dorthin fahren.
»Das ist gut, Groanin. Wirklich sehr gut.«
»Vielen Dank, Sir.«
»Ich war selbst viele Jahre lang Gastprofessor am Institut für planetarische Geowissenschaften an der Universität von Hawaii«, sagte Nimrod. »Und davor Inhaber der Corleone-Professur für Vulkanologie an der Universität von Palermo in Sizilien.«
Während Nimrod fortfuhr, die Liste seiner akademischen Qualifikationen auf dem heißen Gebiet der Vulkanologie aufzuzählen, bemühte sich John vergeblich, ein Gähnen zu unterdrücken.
»Tut mir leid«, sagte er dann. »Ich finde das alles sehr interessant, aber ich glaube, es ist Zeit für mich, ins Bett zu gehen.«
»Für mich auch«, gestand Groanin. »Das liegt an der vielen frischen Luft hier. Die ist ein bisschen zu frisch für meinen Geschmack. Schlägt mir auf die Bronchien. Der Dunst von Manchester ist mir allemal lieber.«
John und Groanin standen vom Tisch auf, sagten Gute Nacht und gingen zurück ins klimatisierte Hotel, in dem es Johns Meinung nach ein wenig zu kühl war, für Groanin hingegen nicht kühl genug.
Der junge Dschinn verzog sich auf sein Zimmer im vierten Stock, putzte sich die Zähne und verfolgte eine Weile einen italienischen Fernsehbericht über einen vierzehnjährigen rumänischen Jungen namens Decebal, der in einer Stadt in der Nähe von Rom eine Straßengang anführte.
John, der selbst vierzehn war, fand, das sei reichlich jung, um eine Gang anzuführen, daher nahm er an, dass er etwas missverstanden hatte. Andererseits sah der Junge wirklich wie vierzehn aus.
Als die Sendung zu Ende war, knipste John das Licht aus und schlief auf der Stelle ein. Er hatte seltsame, unwirkliche Träume über Berge und Tibet, alternde Nazis, freundliche Affen, vierzehnjährige Ganoven und sprechende Wölfe.
Groanin tat mehr oder weniger das Gleiche. Er sah fern und putzte sich die Zähne, die allerdings nicht echt waren. Er legte sie in ein großes Glas Wodka Tonic, das neben dem Porträt der Königin auf seinem Nachttisch stand. Dann las er ein wenig in David Copperfield, was bei ihm schon immer ebenso gut wirkte wie jede Schlaftablette.
Es dämmerte schon, als der Butler vom Klirren des Kronleuchters über seinem Bett erwachte, das sich anhörte, als hätte die Hand einer unsichtbaren Macht oder Gestalt über das komplizierte Arrangement der Glasprismen gestrichen. Groanin knipste seine Nachttischlampe an und sah, dass der Kronleuchter hin und her schwang. Im nächsten Moment erbebte das ganze Zimmer wie ein russisches Passagierflugzeug (im Flug), und auch ohne den Ausschlag eines Seismografen oder die Fernsehnachrichten zu sehen, wusste er, dass er gerade ein Erdbeben miterlebte, und ein ziemlich gewaltiges noch dazu.
Zermürbt vom Schwanken seines Zimmers, schob sich Groanin sein Gebiss in den Mund und trank den Wodka Tonic aus, Erdbeben hin oder her. Solche ausschweifenden Gewohnheiten kennt man von Butlern auf der ganzen Welt.
»Macht Euch keine Gedanken, Majestät«, sagte er zum Porträt der Königin. »Ich passe schon auf Euch auf, mein Mädchen. Bei mir seid Ihr sicher.« Mit diesen Worten verstaute er das kostbare Bild wieder in seinem Koffer, ehe er schlingernd und schwankend aus dem Zimmer und die Treppe hinuntertorkelte. Unter den Gästen, die sich in Sicherheit bringen wollten, entdeckte er John.
John hatte noch nie ein Erdbeben erlebt, und sämtliche Gedanken daran, dass er gern wissen würde, wie es sich wohl anfühlen mochte, waren ihm restlos vergangen. Das hier war viel beängstigender, als er angenommen hatte.
»Wir müssen hier raus!«, rief er Groanin zu. »Damit uns das Gebäude nicht auf den Kopf fällt!«
»Das weiß ich, Jungchen«, grummelte der Butler. »Ich bin leider Gottes nicht erst seit gestern auf der Welt.«
Die meisten Gäste flüchteten sich eilig in die Sicherheit der Poolregion und der weitläufigen Gärten und Orangenhaine des Hotels. John und Groanin wären ihnen vermutlich gefolgt, wenn sie nicht Nimrod und Philippa erspäht hätten, die auf der rückwärtigen Seite des Hotels auf die Terrasse traten, auf der sie am Vorabend gegessen hatten. Wenn man bedachte, wie steil die Klippen unterhalb des Terrassengeländers abfielen, schien dies nicht unbedingt der sicherste Zufluchtsort zu sein. Es ging dort fast fünfundzwanzig Meter senkrecht in die Tiefe, und der Gedanke, dass der Abhang und die Terrasse jeden Moment unter ihren Füßen nachgeben konnten, ließ Groanin innehalten.
»Ist es wirklich ratsam, dort draußen zu stehen, Sir?«, wandte er ein. »Im Garten sind wir bestimmt besser aufgehoben.« Er wandte sich nervös um und zeigte in die andere Richtung. »Das wäre in diese Richtung.«
Einen Moment lang stand Nimrod im violetten Licht der italienischen Dämmerung schweigend da, das Gesicht dem Meer zugewandt und die Hände auf die elegante Steinbalustrade gestützt, sodass er dem römischen Kaiser Augustus, dessen Villa einmal an dieser Stelle gestanden hatte, nicht ganz unähnlich sah.
»Sir«, ließ Groanin nicht locker, »wir werden zugrunde gehen, wenn wir hierbleiben! Die ganze verflixte Terrasse kann jeden Moment einstürzen und uns ins Meer befördern. Die Vorsicht gebietet es, dass wir den anderen Gästen in den Garten folgen.«
Nimrod machte eine Handbewegung in Richtung des Hotels. »Schon gut«, sagte er. »Die unmittelbare Gefahr ist vorbei.«
Und das stimmte. Im Gegensatz zu Groanins Knien hatte das Hotel aufgehört zu beben. Und nicht nur das. Das Gebäude schien mehr oder weniger unbeschädigt zu sein, abgesehen von einem vom Haken gefallenen Porträt der Schauspielerin Sophia Loren und ein bisschen Staub, der an den unzugänglicheren Stellen der älteren Aufenthaltsräume aufgewirbelt worden war.
Auf dem Parkplatz im Hafen, den Nimrod überblickte, plärrten ein paar Autoalarmanlagen, und in der Ferne hörte man das Heulen einer näher kommenden Sirene.
»Weder beuge ich mich dem Gesang der Sirenen«, sagte Nimrod, »noch der Stimme der Hyäne, den Tränen des Krokodils oder dem Heulen des Wolfes.«
»Hä?« Groanin sah die Zwillinge an. »Was redet der Mann da? Hier gibt es keine Wölfe. Und auch keine Krokodile, wie ich hoffen will.«
»Der Legende nach ist das hier der Ort, wo die Sirenen dem Odysseus sangen«, erklärte Philippa. »In Homers Odyssee. Sorrento bedeutet ›Ort der Sirenen‹. Eine Stelle, die man besser meiden sollte.«
»Na, das leuchtet mir ein«, sagte Groanin. »Wo es hier Erdbeben gibt und so was. Trotzdem scheinen wir noch mal davongekommen zu sein. Nichts passiert, oder?«
»Ich fürchte, das stimmt nicht, Groanin«, sagte Nimrod.
»Was? Wie das?« Groanin sah sich um. »Das Hotel sieht ganz in Ordnung aus. Und wir sind auch noch da. Also, wo liegt das Problem?«
John deutete über die Bucht von Neapel zum Vesuv hinüber. »Sehen Sie mal da«, sagte er ruhig. »Da ist das Problem.«
Groanin starrte aufs Meer hinaus. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, was die anderen meinten; dann sah er, dass vom Gipfel des mehr als zwölfhundert Meter hohen Vesuvs, der am Vortag noch so ruhig und unauffällig gewirkt hatte, eine dünne graue Rauchsäule in den lilablauen Himmel aufstieg, wie ein Rauchzeichen der Indianer in einem alten Western.
»Gütiger Himmel«, sagte er. »Bedeutet das wirklich das, was ich glaube?«
»Ich fürchte schon«, sagte Philippa. »Oder, Onkel?«
»Seit Urzeiten ruht er und ruhet hinfort / Nährt sich im Schlaf von Meeresgewürm / Bis das Feuer des Jüngsten Gerichts dereinst die Tiefe erwärmt / Dann steigt er brüllend herauf zu Menschen und Engeln / Um sich ein einzig Mal zu zeigen und oben zu sterben.«
»Was soll das denn heißen?«, erkundigte sich John.
»Der Krake erwacht«, murmelte Nimrod.
Das Gebiet rund um den Vesuv ist die am dichtesten bevölkerte vulkanische Region der Erde. Für die drei Millionen Italiener, die in der Nähe des Vulkans leben, war die Tatsache, dass dieser angefangen hatte, Rauch zu spucken, schon unangenehm genug. Doch der Vesuv ist weder der einzige noch der größte Vulkan Italiens. Der Ätna in Sizilien ist mehr als doppelt so groß und erlebte, den Nachrichtenmeldungen zufolge, nur Minuten nachdem das Erdbeben Süditalien erschüttert hatte, eine gewaltige Eruption. Und auch auf dem Stromboli, dem dritten der drei aktiven Vulkane Italiens, der sich auf einer Insel vor Sizilien befindet, kam es zum ersten Ausbruch seit 2003.
»Faszinierend«, sagte Nimrod, während sie in seiner nobel ausgestatteten Suite fernsahen. »Es ist höchst ungewöhnlich, dass alle drei Vulkane gleichzeitig aktiv wurden. Anscheinend sind wir zu einem ausgesprochen interessanten Zeitpunkt in Italien eingetroffen.«
»Und ich habe Italien immer für ein ruhiges, nettes Land gehalten«, meinte John.
»Aber das ist es«, beteuerte Nimrod. »Trotzdem sollte ich besser meinen Freund, Professor Stürlüson, in Reykjavík anrufen.«
»Und warum wollen Sie das tun, Sir?«, erkundigte sich Groanin.
»Sie erinnern sich doch sicher an Professor Stürlüson, Groanin?«
»Gewiss, Sir. Einen Mann wie ihn kann man kaum vergessen.«
»Dann fragen Sie nicht so dumm. Er wird mit Sicherheit wissen wollen, was hier vor sich geht.«
Doch als Nimrod den Professor in seinem Labor in Island anrief, erfuhr er, dass sich Stürlüson außer Landes befand, erhielt aber eine Handynummer, unter der er anrufen konnte. Nimrod führte ein weiteres Telefonat und sprach mit Axel Heimskringla, dem Assistenten des Professors, der ihm erklärte, dass er und Professor Stürlüson zufällig bereits in Italien seien, und zwar oben auf dem Vesuv. Der Professor könne leider nicht persönlich ans Telefon kommen, weil er gerade dabei sei, in den Krater hinabzusteigen, um einige Gesteinsproben zu nehmen.
»Bitte richten Sie dem Professor aus, dass ich komme, um ihm zu helfen«, trug Nimrod Axel Heimskringla auf. »Ich bin in zwei Stunden da.«
»Gütiger Himmel!«, stöhnte Groanin. Er setzte sich an ein antikes Tischchen, wo er einen Brief zu schreiben begann.
Als Nimrod das Gespräch mit Axel Heimskringla beendet hatte, erhob sich Groanin steifbeinig und wartete höflich auf einen günstigen Moment, um seinen Dienstherrn zu unterbrechen, der schon dabei war, einen Rucksack zu packen und seine Pläne zu erläutern.
»Wenn wir jetzt aufbrechen«, erklärte Nimrod den Zwillingen, »erreichen wir die Circumvesuviana-Bahn von Sorrent nach Pompeji Scavi um sieben nach sieben. Vorausgesetzt, dass sie nach dem Beben überhaupt fährt. Von dort nehmen wir ein Taxi oder fahren mit dem Bus bis zum obersten Parkplatz und laufen den restlichen Weg zum Gipfel, falls sie ihn wegen der Aschewolke nicht gesperrt haben. Wenn das der Fall sein sollte, müssen wir den ganzen Berg hinaufsteigen. Ihr solltet euch also besser festes Schuhwerk anziehen, einen Wanderstock mitnehmen, falls ihr so etwas habt, und jede Menge Wasserflaschen.«
»Du willst auf den Vesuv?«, fragte John ungläubig. »Ausgerechnet in dem Moment, wo er wieder aktiv wird? Bist du verrückt?«
»Ein bisschen Rauch wird dich schon nicht umbringen, mein Junge«, sagte Nimrod. »Das solltest du eigentlich wissen, schließlich bestehst du selbst zum Großteil aus Rauch.«
»Und wenn er ausbricht, während wir oben sind? Was dann?«, gab Philippa zu bedenken. »Ich habe keine Lust, die gleiche Erfahrung zu machen wie meine Mutter und als fliegender Kartoffelchip zu enden.«
»Genau«, sagte John. »Es ist nicht leicht, einen neuen Körper zu finden. Außerdem hänge ich an dem, den ich habe.«
»Ich verfüge über einige Erfahrung darin, abzuschätzen, ob ein Vulkan ausbricht oder nicht«, sagte Nimrod. »Nach dem Erdbeben im Jahr 62, das den Vesuv wiedererweckt zu haben schien, dauerte es geschlagene siebzehn Jahre, bis er wirklich ausbrach und A.D. 79 Pompeji zerstörte. Siebzehn Jahre. Außerdem würde Snorri Stürlüson wohl kaum in den Krater hinabsteigen, wenn dieser kurz davor wäre zu explodieren. Der Mann ist vielleicht verrückt, aber so verrückt nun auch wieder nicht.«
John sah stumm zu Philippa hinüber, die keineswegs überzeugt aussah.
»Bei meiner Lampe, wollt ihr Kinder denn überhaupt nichts lernen?«, fragte Nimrod. »Das hier ist eine phantastische Gelegenheit, eurer Allgemeinbildung ein bisschen auf die Sprünge zu helfen.«
»Dagegen habe ich überhaupt nichts«, sagte John. »Ich habe bloß Angst, dass womöglich die ganze Bergflanke abspringt.«
»Unsinn«, sagte Nimrod. »Es wird nichts passieren. Groanin, Sie sollten lieber im Supermarkt vorbeischauen und sich ein paar Damennylonstrümpfe oder eine Feinstrumpfhose besorgen. Die müssen Sie sich vielleicht über den Kopf ziehen, um besser atmen zu können, wenn es mit der Asche zu arg wird. In Anbetracht Ihrer früheren Einbrecherkarriere dürften Sie an diese Art Kopfbekleidung ja gewöhnt sein.«
»Bankräuber ziehen sich Nylonstrümpfe über den Kopf«, sagte Groanin kühl. »Einbrecher nicht. Außerdem war ich kein Einbrecher, sondern ein einfacher Dieb. Obwohl das keine Rolle spielt. Bitte grüßen Sie den Professor und Axel von mir, Sir, aber ich habe nicht die Absicht, Sie und die Kinder auf diese blöde Expedition zu begleiten. Weder jetzt noch irgendwann.«
Er übergab seinem Dienstherrn den Brief.
»Was ist das?«, fragte Nimrod.
»Meine Kündigung«, sagte Groanin. »Es tut mir leid, Sir, aber nach unserem letzten sogenannten Abenteuer habe ich mir geschworen, mich auf keine gefährlichen Sachen mehr einzulassen. Ich habe genug von ekligen Krabbelviechern, Tausendfüßlern und indianischen Kopfjägern auf Selbstmordmission oder sonstigen Unannehmlichkeiten, die ich in Ihren Diensten über mich habe ergehen lassen müssen. John hat recht. Es ist verrückt, ausgerechnet in dem Moment einen Vulkan hinaufzuspazieren, wo er anfängt, Mätzchen zu machen. Wenn Sie als Brathähnchen enden wollen, ist das Ihre Sache, Sir. Aber zählen Sie nicht auf mich.«
»Es besteht wirklich keine Gefahr, Groanin«, versicherte Nimrod.
»Ich wünschte, ich bekäme zehn Pfund für jedes Mal, wo Sie mir das erzählt haben.«
Kaum hatte Groanin die Worte ausgesprochen, erschien wie durch Zauberei einfach aus dem Nichts eine kleine Lederbörse auf dem Tischchen, auf dem Groanin seine Kündigung verfasst hatte.
»He, was ist denn das?« Groanin öffnete die Börse und stellte fest, dass sie voller Zehnpfundnoten war.
»Das war ich«, sagte John. »Tut mir leid. War eine Instinktreaktion. Unbewusste Wunscherfüllung. Ich konnte nichts dagegen machen.«
»Na gut, betrachten wir es als Schmerzensgeld«, sagte Groanin. »Besten Dank, mein Junge.«
»Aber Groanin«, sagte Nimrod, der ebenso verwirrt klang, wie er aussah. »Was werden Sie denn tun? Wohin wollen Sie gehen?«
»Zurück nach England«, erwiderte der Butler. »Ich bleibe bei meiner Schwester Dolly in Heaton Park, bis ich was Eigenes gefunden habe.«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie eine Schwester haben, Groanin«, sagte Philippa.
»Wir kommen nicht gut miteinander aus, wir beide. Sind wir noch nie. Aber Blut ist dicker als Wasser. Sie wird mich eine Weile bei sich wohnen lassen. Ich werde euch bestimmt vermissen, dich und John. Aber nicht die Reisen. Und das ganze exotische Zeug erst recht nicht. Oder die haarsträubenden Kalamitäten, die wir erlebt haben. Ich träume sogar schon davon, dass ich wieder in der Tinte sitze. Gestern Nacht habe ich geträumt, ich würde von einem verflixten Grizzlybären verfolgt. Beim Aufwachen habe ich geschnauft, als wäre es wirklich passiert.« Grimmig schüttelte er den Kopf. »Mehr kann ich nicht ertragen. Ich schaffe das einfach nicht mehr.«
»Hören Sie, alter Freund«, sagte Nimrod, »Sie müssen nicht kündigen. Sie können hierbleiben. Es sich gemütlich machen und die Zeitung lesen.«
Groanin wirkte gequält. »Nein danke, Sir. Ich habe mich entschieden. Ich denke schon eine ganze Weile darüber nach, den Dienst zu quittieren, und das hier hat mich gerade davon überzeugt, dass es richtig ist. Ich weiß doch, wie diese Abenteuer anfangen. Sie steigen hoch auf den Vulkan und lassen mich hier im Hotel, und dann passiert etwas, das noch viel schlimmer ist, als wenn ich doch mitgegangen wäre. Schlimmer für mich, meine ich. Bestimmt kommt noch ein Erdbeben oder so etwas, bei dem das ganze Hotel von der Klippe stürzt, und dann stehe ich da wie der letzte Depp, weil ich nicht mit auf den Vesuv gekommen bin.«
»Bitte gehen Sie nicht weg«, sagte Philippa. »Sie gehören doch praktisch zur Familie.«
»Tut mir leid, Miss Philippa. Aber irgendwann endet das für mich noch tödlich oder mit einer schweren Verletzung, höchstwahrscheinlich sogar mit beidem. Im Gegensatz zu euch habe ich keine neun Leben, sondern nur das eine.«
»Dschinn haben keine neun Leben, Groanin«, wandte John ein. »Sie verwechseln das wohl mit Katzen.«
»Das mag sein«, gab der Butler zu. »Aber wenn es euch nichts ausmacht, gehe ich jetzt packen.«
»Werden Sie noch hier sein, wenn wir zurückkommen?«, fragte Philippa.
»Das hängt davon ab, wie schnell ich einen Flug von Neapel nach Manchester erwischen kann, Miss. Möglich wär´s, aber ich weiß es nicht.«
Groanin wischte sich eine Träne aus dem linken Auge und verließ Nimrods Zimmer.
Die drei Dschinn schwiegen eine Weile, während sie über den Weggang ihres treuen alten Freundes nachdachten.
»Er wird mir fehlen«, sagte John.
»Mir auch«, pflichtete Philippa ihm bei.
»Ich werde ihn mit Sicherheit vermissen«, gab Nimrod zu. »Aber er scheint fest entschlossen zu sein, meint ihr nicht auch?«
»Ja«, sagte John.
»Absolut«, sagte Philippa.
»Ihr habt gehört, dass ich versucht habe, es ihm auszureden, nicht wahr?«, fragte Nimrod.
»Ja«, bestätigten die beiden.
»In mancher Hinsicht war er ein schrecklicher Butler«, sagte Nimrod. »Unverschämt und übellaunig. Aber in anderer Hinsicht war er der beste Butler, den ich je hatte.« Nimrod hielt einen Moment inne und fügte dann hinzu: »Vor allen Dingen wird mir sein Tee fehlen. Niemand kann so gut Tee kochen wie Groanin.« Er schüttelte den Kopf. »Und seine gekochten Eier sind einfach perfekt. Ich bin noch nie jemandem begegnet, der mir ein Ei so zubereiten konnte. Genau so, wie ich es mag, weich, aber nicht zu weich. Und zwar ohne Ausnahme. Und erst seine Bügelkünste – die sind wirklich unschlagbar. In ganz London findet man keine Wäscherei, in der man die Hemden so gut bügelt, wie Groanin es tut.« Er seufzte. »Trotzdem, was geschehen ist, ist geschehen. Wir müssen zum Zug.«
Eine Viertelstunde später folgten die Zwillinge ihrem Onkel vom Hotel zum Bahnhof, wo sie in einen Zug stiegen, der über und über mit hässlichen Graffiti bedeckt war. Kurz darauf ratterten sie die gewundene neapolitanische Steilküste entlang nach Norden, in Richtung Pompeji und Vesuv.
Auf der Fahrt in dem stickigen kleinen Zug waren John und Philippa ungewöhnlich still. Groanins Abreise und die entmutigende Aussicht, einen aktiven Vulkan erklimmen zu müssen, nahmen sie völlig in Beschlag. Und diese Stille verhärtete sich zu einer pessimistischen, schwermütigen Grundstimmung, je mehr die Aussicht auf einen Alltag ohne den mürrischen alten Butler in ihren jungen Köpfen zur Gewissheit wurde. Auch die dreiköpfige Band mit Gitarre, Kontrabass und Akkordeon, die den Zug bestieg, um die schwitzenden Passagiere mit einer Auswahl italienischer Schnulzen wie »Volare« oder »Tu vuò fa´ l´americano« zu unterhalten, vermochte die Zwillinge nicht aufzuheitern. Es dauerte nicht lange, bis sich John darüber ärgerte, dass die alberne Combo, die niemand eingeladen hatte und deren fröhliche italienische Melodien in krassem Gegensatz zu seiner melancholischen Stimmung standen, ihn daran hinderte, sich seinem Kummer hinzugeben.
Anfangs war er geneigt, die drei ahnungslosen Musiker mithilfe von Dschinnkraft in streunende Katzen zu verwandeln, was ihm irgendwie passend erschien. Doch die Vernunft und Philippas telepathische Missbilligung überzeugten ihn, dass dies eine Überreaktion gewesen wäre. Stattdessen gab er sich damit zufrieden, die Saiten der Gitarre und des Kontrabasses in trockene Spaghetti zu verwandeln, die alsbald zerbrachen, sodass das Stegreifkonzert an Bord des Zuges in einem Schauer aus Nudelschnipseln ein Ende fand.
»Danke, John«, sagte Nimrod. »Damit hast du uns allen einen großen Gefallen getan.« An der Haltestelle Pompeji Scavi verließen sie den Zug in Gesellschaft einiger Hundert Touristen, die trotz des Erdbebens und der Rauchsäule über dem Vesuv entschlossen waren, dem antiken Pompeji einen Besuch abzustatten. Allerdings war der übliche Busverkehr auf den Berg bis auf Weiteres eingestellt, und während Nimrod mit einem örtlichen Taxifahrer eine »Gefahrenzulage« aushandelte, sahen sich die Zwillinge mit höflichem Desinteresse ein paar Souvenirläden an.
Kurz darauf saßen sie im Taxi und fuhren durch die schmutzigen und vernachlässigten Straßen des neuen Pompeji mit seinen heruntergekommenen Geschäften und schäbigen Apartmenthochhäusern.
»Mann, ich weiß wirklich nicht, welche Ruine schlimmer ist«, stellte John fest, »das antike Pompeji oder das neue.«
»Das hier ist eine sehr arme Gegend Italiens«, erklärte Nimrod. »Hier hat die öffentliche Hand für nichts Geld. Und natürlich sind die Häuser hier die billigsten im ganzen Land.«
»Warum denn das?«, fragte Philippa.
»Würdest du am Fuß eines aktiven Vulkans ein Haus kaufen?«
»Hm«, sagte Philippa, »wohl eher nicht.«
Trotz alledem war Carmine, der Taxifahrer, ein fröhlicher Kerl und trällerte ununterbrochen vor sich hin, während sie den Vulkan durch einen wunderschönen duftenden Wald bis zum obersten Parkplatz hinauffuhren, wo sie auf eine Gruppe reizbarer italienischer Polizisten stießen – die Carabinieri, die erst vom Taxifahrer und dann von Nimrod wissen wollten, was sie und die Kinder in diesem gefährlichen und inzwischen gesperrten Gebiet zu suchen hatten.
In perfektem Italienisch und mit starkem neapolitanischem Akzent erklärte Nimrod, dass er ein bedeutender Vulkanologe sei, ein Professore, der oben auf dem Vesuv den berühmten Arlecchino unterstützen wolle. Da er seine eigenen Patenkinder mitgebracht habe, könnten die Herren sicher sein, dass die Lage nicht annähernd so bedenklich sei, wie man ansonsten hätte vermuten können.
Nach einer zehn bis fünfzehn Minuten langen lebhaften Debatte – die Nimrod für die Zwillinge simultan übersetzt hatte – erlaubten die Carabinieri den drei Dschinn, ihre Reise fortzusetzen und die restlichen gut achthundert Meter bis zum Gipfel zu Fuß aufzusteigen.
Der Weg führte einen staubigen und sich steil nach oben windenden Pfad hinauf, der mit Vulkangestein bedeckt war.
»Warum hast du Professor Stürlüson Arlecchino genannt?«, fragte Philippa ihren Onkel. »Das war doch das Wort, oder?«
»Ja«, bestätigte Nimrod. »So wird er in diesem Teil der Welt von allen genannt. Es ist sein hiesiger Spitzname. Die Italiener können ganz schön grausam sein, was das angeht. Aber ich glaube nicht, dass der Professor sich daran stört. Am Namen, meine ich.«
»Was bedeutet er?«, fragte John.
»Harlekin«, sagte Nimrod.
»Und warum nennen sie ihn so?«
Nimrod verzog das Gesicht. »Vielleicht sollte ich dir ein paar Dinge über den Professor erklären, bevor du ihm begegnest und uns beide blamierst, indem du ihn anstarrst. Sein echter isländischer Name ist natürlich Snorri Stürlüson. Aber du solltest ihn lieber Professor nennen. Es sei denn, er bietet dir etwas anderes an. Alles, außer Arlecchino. Das wäre wirklich zu dreist.«
Nimrod blieb kurz stehen, um zu verschnaufen und den Blick auf die Bucht von Neapel zu genießen und um seine Erklärung fortzuführen.
»Hat einer von euch schon mal von Montserrat gehört?«
»So heißt ein berühmter Schriftsteller«, sagte Philippa. »Und eine Insel in der Karibik. Neben Antigua.«
Nimrod war beeindruckt. »Eine Karibikinsel mit einem Vulkan. Den Soufrière Hills. Der letzte Ausbruch, der am 18. Juli 1995 begann, war der erste seit zweihundert Jahren. Zwei Jahre später gab es einen noch stärkeren Ausbruch, bei dem neunzehn Menschen ums Leben kamen. Der Professor beobachtete damals mit seiner Frau Björk die seismischen Aktivitäten und geriet in einen pyroklastischen Strom, was ihm schreckliche Verbrennungen einbrachte. Dabei wurde eine Hälfte seines Gesichts komplett verbrannt. Das ist der Grund dafür, dass er eine Harlekinmaske trägt. Und offensichtlich auch dafür, dass seine Frau ihn verlassen hat: Sie konnte seinen Anblick nicht mehr ertragen.«
»Klingt ein bisschen nach dem Typ aus Das Phantom der Oper«, stellte John fest.
»Ja«, stimmte Nimrod ihm zu, »in gewisser Weise. Nur dass der Professor sich nicht versteckt. Er mag schrecklich entstellt sein, aber er ist kein Einsiedler. Dafür ist ihm seine Arbeit viel zu wichtig.«
»Dann kann es also doch gefährlich werden«, sagte John. »Auf unserer kleinen Exkursion, meine ich. Wenn der Professor schon einmal schwer danebengelegen hat, kann es ihm doch wieder passieren. Und dir auch. Nach allem, was wir wissen, kann der ganze Berg in die Luft fliegen. Und dann ist es aus mit uns, ob wir Dschinn sind oder nicht.«
Nimrod schüttelte den Kopf. »Glaub mir, John, es gibt nichts zu befürchten. Aber wenn du dir Sorgen machst, kannst du zum Parkplatz hinunterlaufen und dort im Taxi auf uns warten.«
Philippa nahm die Brille ab und begann, die Gläser zu putzen, was bei ihr immer ein Zeichen von Nervosität war.
»Gute Idee«, sagte sie. »Vielleicht ist es besser, wenn du unten auf uns wartest. Es ist keine Schande, Angst zu haben. Kein Grund, sich zu schämen, Bruderherz.« Sie lächelte ein wenig ironisch, was ihr half, ihre eigenen Ängste zu verstecken. »Wenn ich genauer darüber nachdenken würde, hätte ich auch Angst.«
»Wer sagt, dass ich Angst habe?«, meinte John.
Er schulterte seinen Rucksack und machte sich wieder auf den Weg, wobei er Nimrod überholte und auf dem steinigen Pfad die Führung übernahm.
»Ich habe nur gesagt, dass es gefährlich werden kann. Und so ist es ja auch. Aber ein bisschen Gefahr macht mir nichts aus. Hat es noch nie.«
»Ach, übrigens«, sagte Philippa. »Weiß der Professor eigentlich, dass du ein Dschinn bist?«
»Nein«, erwiderte Nimrod. »Er hält mich einfach für sehr begabt auf dem Gebiet der Vulkanologie. Mehr nicht.«
Sie erreichten die Spitze des Vulkankegels, nachdem sie die Wolken hinter sich gelassen hatten, und starrten in eine Art Steinbruch. Der größte Teil erinnerte an eine gewaltige staubige Schüssel. Allerdings stieg am Fuß der gegenüberliegenden Kraterwand aus einem glühenden Loch eine riesige graue Rauchsäule auf. Sie sah aus wie die größte Zypresse der Welt. John verfolgte den Rauch bis in schwindelerregende Höhe.
»Heiliges Kanonenrohr«, rief er aus, »das ist unglaublich! Einfach unglaublich!«
Philippa erging es wie ihrem Bruder. Die Rauchsäule und ihr kleiner glühender Ausgangspunkt faszinierten sie sehr und erinnerten sie an die Zeit, kurz nachdem sie und John ihre Weisheitszähne verloren hatten. Damals hatte der Rauch von Mrs Trumps Zigarette sie völlig verzaubert.
»Ist das nicht das Außergewöhnlichste, was ihr je gesehen habt?«, fragte Nimrod.
»Ja«, erwiderte Philippa, ohne zu zögern, »das ist es.«
»Ich glaube, es ist diese Wolke aus Rauch und Asche, die eine so starke Wirkung auf uns Dschinn ausübt«, sagte Nimrod. »Sie berührt etwas tief Vergrabenes und Ursprüngliches in uns, das kein Irdischer jemals nachvollziehen wird. Deshalb wollte ich euch beide hierherbringen. Damit ihr verstehen lernt, warum Vulkane für uns etwas ganz Besonderes sind. Und warum das Schicksal unseres Dschinnstammes, der Marid, untrennbar mit Vulkanen verbunden ist. Denn es steht geschrieben: Wenn wogender Rauch aus dem Schoß der Erde steigt, um die Brust der Menschen in Stein und den Weizen auf den Feldern in Asche zu verwandeln, werden die Marid die Welt vor flammender Dunkelheit erretten.«
»Wo steht das geschrieben?«, fragte Philippa.
Sie fand, das sei eine vernünftige Frage, doch Nimrod gab keine Antwort. Ihr Onkel hatte Professor Stürlüson entdeckt, der an einem langen Seil aus dem Inneren des Vesuvs hinaufkletterte, und lief bereits über einen verlassenen Pfad in den Krater hinab, um ihn zu begrüßen. Philippa und John folgten ihm zu einem Felsvorsprung, dessen Form an das Matterhorn erinnerte. Dort war die Abseilleine des Professors fachmännisch befestigt, und ein großer blonder Mann verfolgte aufmerksam Stürlüsons mühsamen Aufstieg.
Philippa fand den hochgewachsenen Mann ausgesprochen attraktiv.
»Mein lieber Axel«, sagte Nimrod, »wie geht es Ihnen? Gestatten Sie mir, Ihnen meinen Neffen und meine Nichte, John und Philippa, vorzustellen. Kinder, dieser wackere Bursche ist Axel Heimskringla.«
Der junge Mann begrüßte Nimrod und die Zwillinge sehr herzlich auf Isländisch, wandte die blauen Augen jedoch keine Sekunde von dem straff gespannten Kletterseil ab. Schließlich tauchte mit einem lauten Ächzen ein drahtig wirkender Mann zu ihren Füßen auf; er war staubig und verschwitzt und trug eine schwarze Harlekinmaske. Er zog sich in den roten Staub des Kraterpfades und setzte sich schwerfällig auf den Hintern.
John beugte sich ein wenig vor, weil er neugierig war und das ganze Ausmaß der schrecklichen Verbrennungen sehen wollte, die hinter der Maske versteckt sein mochten, und entdeckte ein Ohr, das nicht größer war als das eines Kindes.
»Snorri, mein lieber Freund«, sagte Nimrod. »Ich habe mit meiner Nichte und meinem Neffen in Sorrent Urlaub gemacht und die Aschewolke entdeckt. Also dachte ich, ich komme rauf und sehe mir die Sache näher an. Wenn auch nicht ganz so nah wie Sie gerade. Was glauben Sie? Ist die Lage sicher?«
Der Professor antwortete erst, als er ein wenig verschnauft und zweieinhalb Liter Wasser getrunken hatte. Wegen der Maske war es schwer zu sagen, ob er Nimrods Gegenwart überhaupt zur Kenntnis genommen hatte oder nicht. Doch schließlich nickte er erschöpft und sagte: »Im Augenblick ist es einigermaßen sicher, denke ich. Ich habe eine Lavaprobe genommen. Von einer Stelle, die so dicht an der Spalte lag, wie ich mich herangewagt habe. Eigentlich ist es unerlässlich, noch mehr davon einzusammeln, ehe ich eine langfristige Prognose erstellen kann, aber die Hitze und die Erschöpfung waren einfach zu viel. Ich bin nicht mehr der Kletterer, der ich früher einmal war.«
Sowohl der Professor als auch Axel hatten einen starken isländischen Akzent, was sich ein bisschen wie ein skandinavischer Akzent anhörte, nur kälter.
Der Professor hob die Arme und gestattete Axel, das Seil aufzuknoten, das er sich um den Bauch gebunden hatte. In diesem Moment fiel John auf, dass der Wissenschaftler an einer Hand einen Handschuh trug. Als dieser in der Sonne aufleuchtete, glaubte John zunächst, er sei mit Glitzersteinen besetzt, und es dauerte einen Augenblick, ehe ihm klar wurde, dass er aus Kettengewebe bestand.
»Wir werden alle nicht jünger«, erwiderte Nimrod. »Ich fürchte, die Zeit, als ich wie ein Affe an Seilen hoch- und runtergeklettert bin, ist ebenfalls lange vorbei.«
»Ich gehe runter«, sagte Axel und schlang sich das Seil selbst um die Taille.
Der Professor schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Du bist zu schwer.«
»Aber es ist ein gutes Seil«, ließ Axel nicht locker. »Da dürfte nichts passieren. Außerdem hast du selbst gesagt, dass du unbedingt noch ein paar Lavaproben brauchst.«
»Um das Seil mache ich mir keine Gedanken«, erwiderte der Professor, »sondern um den Kraterboden. Ich wiege nur halb so viel wie du, trotzdem hat sich der Boden unter dem Staub sehr spröde angefühlt. Wie eine Honigwabe. Du könntest mit Leichtigkeit einbrechen.«
John sah über den Rand des Pfades und fand, dass das Kraterinnere eigentlich ganz vertrauenerweckend aussah. Der Vulkan war komplett anders, als er ihn sich vorgestellt hatte. Wäre die dicke Rauchwolke nicht gewesen, die aus dem Spalt in der Kraterwand drang, hätte er ihn direkt langweilig gefunden. Da Philippas Unterstellung, er sei nicht mutig genug, einen aktiven Vulkan zu besteigen, immer noch an ihm nagte, wollte er seinem Onkel unbedingt beweisen, dass er nicht nur die Außenseite des Vesuvs erklimmen, sondern auch in sein Inneres absteigen konnte.
»Warum lassen Sie es mich nicht versuchen?«, schlug er daher vor. »Es müssen noch weitere Lavaproben gesammelt werden, sagen Sie? Also, das kann ich. Und die Hitze macht mir nichts aus. Schließlich bin ich …«
Nimrod hielt John den Mund zu. »Vorlauter Bengel«, sagte er. »Professor Stürlüson? Das ist mein Neffe John. Und meine Nichte Philippa, seine Schwester. Wie die meisten Kinder halten sie sich für unsterblich. Vor allem John. Man könnte meinen, er hätte Superkräfte, so wie er sich aufführt. Er hat noch nicht gelernt, dass er auch nur ein Mensch ist wie wir alle. Hab ich recht, John?«
»Wenn du das sagst, Onkel«, murmelte John, der beinahe vergessen hatte, dass diese beiden Menschen nichts von ihrer Herkunft wussten.
Doch Professor Stürlüson ließ sich davon nicht beirren. Er stand auf, klopfte sich den Staub aus den Kleidern, die denen eines altmodischen Bergsteigers entsprachen – Gamaschen, Kniebundhose und Flanellhemd –, packte mit seinem Kettenhandschuh Johns Rechte und schüttelte sie heftig. »Unsinn, Nimrod«, sagte er und schlug John auf die Schulter. »Er ist ein wackerer Bursche. Und Sie sollten stolz auf ihn sein. Sehr stolz. Natürlich kann man einem Jungen nicht erlauben, hinunterzusteigen und echte Männerarbeit zu erledigen …«
»Bei allem gebührenden Respekt, Sir«, sagte John, »aber jetzt sind Sie es, der Unsinn redet. Sie haben selbst gesagt, dass es unerlässlich ist, weitere Proben zu sammeln, und dass Dr. Kreimhingla für den Kraterboden zu schwer ist.«
»Heimskringla«, sagte Axel und gab sich Mühe, seine Verärgerung zu verbergen. »Ich heiße Heimskringla.«
»Also, wenn er nicht runterkann und Sie und Nimrod auch nicht, bleiben nur noch meine Schwester und ich übrig«, argumentierte John. »Und ich lasse kein Mädchen runtersteigen, wenn ich es selbst erledigen kann.«
»Sexist«, sagte Philippa.
»Hast du dich denn schon einmal mit einem Seil abgelassen, Junge?«, fragte Axel. »Das ist extrem gefährlich. Beim Abseilen verunglücken die meisten Bergsteiger, weil es viel einfacher aussieht, als es ist.«
»Trotzdem ist das Abseilen immer noch leichter, als wieder hinaufzuklettern«, fügte der Professor hinzu.
»Und ob ich an einem Seil hochklettern kann«, sagte John. »Ich bin schließlich ein Junge, und es gibt nichts, was Jungs besser können. Natürlich wünschte ich mir, ich wäre ein noch besserer Kletterer.«
Und indem er leise sein Fokuswort, ABECEDERISCH, murmelte, wurde er es. Die Macht der Dschinn besteht nämlich darin, sich im Handumdrehen neue Fähigkeiten und neues Wissen anzueignen.
»Ich weiß, was ich tue.«
Was jetzt tatsächlich der Fall war.
John nahm ein freies Stück Seil und fing an, Knoten zu knüpfen. »Hier«, sagte er. »Das ist ein doppelt geschlagener Prusik.« Er löste den Knoten so schnell, wie er ihn geknüpft hatte, und fertigte einen neuen an. »Ein französischer Prusik.« Und dann noch einen: »Ein Halbmastwurf.«
»Beeindruckend«, sagte Axel.
»Und hier ein Stopperstek«, prahlte John. »Kann einer von euch einen Stopperstek legen?«
Axel wirkte verblüfft. »Äh, nein«, sagte er.
»Außerdem gibt es einfachere Möglichkeiten, an einem Seil aufzusteigen, als die Art, die ich gerade bei Ihnen gesehen habe, Professor«, sagte John. »Da Sie wissen, wie man sich abseilt, hätte ich vermutet, dass Sie auch ein paar Steigklemmen im Gepäck haben.«
Es war schwer zu sagen, ob der Professor hinter seiner Maske verlegen aussah oder nicht, auf jeden Fall hörte sich sein »Nein« danach an.
»Dann ist es ja gut, dass ich meine eigene Ausrüstung mitgebracht habe.« John ließ seinen Rucksack zu Boden fallen und holte einen Klettergurt, mehrere Karabiner, eine Handvoll Steigklemmen, fingerlose Kletterhandschuhe, einen Eispickel und einen Helm heraus.
»Ich sehe, du bist gut vorbereitet, Bruderherz«, sagte Philippa.
»Mit einem Mann, der seinen eigenen Klettergurt dabeihat, lässt sich schlecht streiten«, sagte der Professor. »Sie haben uns nicht gesagt, dass der Junge so gut ist, Nimrod.«
»Er hat so viele Fähigkeiten, dass mir diese ganz entfallen ist«, sagte Nimrod.
»Solange es das Einzige ist, was fällt«, meinte Philippa, »kann nicht viel passieren.«
Während John seinen Klettergurt anlegte, warf sie ihm einen skeptischen Blick zu. »Weißt du wirklich, was du da tust?«, fragte sie.
»Das weiß niemand besser als du«, erwiderte er.
Philippa nickte. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass ihr Bruder recht hatte, denn Zwillinge besitzen von Natur aus seltsame Gaben und wissen oft von Dingen, die sie nur durch Telepathie erfahren können.
»Also gut«, sagte sie. »Dann gehe ich mal davon aus, dass du wirklich weißt, was du tust.«
Erst als John angeseilt bereitstand, um sich auf den Grund des Kraters hinabzulassen, der sich dreißig Meter unter ihm befand, wurde er ein wenig nervös. Durch den Wunsch, den er geäußert hatte, wusste er zwar, was er tat, aber etwas zu wissen oder es zu empfinden, sind zwei grundverschiedene Dinge. Und John zog seine Zuversicht nun einmal fast gänzlich aus seinem Kopf statt aus seinen Händen und Füßen. Das war nicht überraschend und spielte vermutlich auch keine große Rolle. Denn wie der verstorbene Mr Rakshasas einmal gesagt hatte: »Wer keine Angst vor dem Meer hat, wird bald ertrinken.«
Axel befestigte einen hitzefesten Probenbeutel und eine Teleskopkelle an Johns Gurt, während ihm der Professor einschärfte, was er tun sollte, wenn er unten ankam.
»Bleib so dicht wie möglich an der Kraterwand«, sagte er. »Der Staub ist trügerisch und gibt unter den Füßen nach wie eine Sanddüne. Du musst dich an der Wand bis zum Spalt vorarbeiten. Je näher du ihm kommst, desto wärmer wird das Gestein. Wenn es richtig heiß wird oder du so dicht an der Rauchsäule bist, dass du es nicht mehr ertragen kannst, schlag einen Haken in die Wand und seil dich ein Stück ab. Unterhalb der Rauchsäule befindet sich ein frischer kleiner Lavastrom. Es ist wichtig, dass du Gestein und Lava auseinanderhältst, John, weil uns nur frische Pāhoehoe-Lava einen genauen Eindruck davon vermitteln kann, was unter der Erde vor sich geht. Pāhoehoe-Lava ist glatt und wulstig und wellt sich ähnlich wie ein Vorhangstoff. Aber in Wirklichkeit ist es geschmolzenes Gestein und um die zwölfhundert Grad heiß, also fass es um Himmels willen nicht mit bloßen Händen an. Benutz die Probenkelle. Such dir einen Zacken oder einen Ausläufer am Rand des Hauptstroms und schütte etwas Wasser darauf. Das müsste ihn vom Strom lösen, und du kannst ihn mit der Kelle aufheben.
Und jetzt noch ein paar Verhaltensregeln: Sei mit allen Sinnen wachsam. Solltest du in der Kraterwand eine Erschütterung spüren, dann geh vom Schlimmsten aus und komm sofort wieder nach oben. Das Gleiche gilt, wenn du eine Explosion hören solltest. Versuche, möglichst leicht aufzutreten. Womöglich ist der Boden dünn, und du könntest in die Tiefe stürzen. Und selbst wenn du nicht einbrichst, entsteht durch ein Loch genug Sauerstoff, um eine Stichflamme zu verursachen, die dich mit Sicherheit verbrennt, mein Junge. Und pass auf, dass das Seil nirgendwo herumliegt, damit es nicht schmilzt. Es ist aus Nylon, verstehst du? Nylon schmilzt, wenn es heiß wird. Wie das Hemd deines Papas, wenn deine Mama mit dem Bügeleisen nicht aufpasst.«
John nickte mit ernstem Gesicht. Sein Vater hatte in seinem ganzen Leben noch nie ein Nylonhemd getragen, aber das tat jetzt nichts zur Sache.
»Wovor du dich am meisten in Acht nehmen musst, ist Gas. Das kann dich am ehesten umbringen, mein Junge. Ich rede hier nicht von Gas, das nach Schwefel und faulen Eiern stinkt und diesem ganzen kjaftæði. Ich rede von etwas viel Schlimmerem: von Kohlendioxid. CO2 kann man weder riechen noch schmecken. Aber es hat eine größere Dichte als Luft, und du siehst es vielleicht wie Rauchschwaden über den Boden ziehen. Also halte die Augen offen. Wenn du das Gefühl hast, müde zu werden, ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass dir CO2 zusetzt. Wenn das passiert, machst du dich so schnell wie möglich in die entgegengesetzte Richtung davon.«
Professor Stürlüson zuckte die Achseln. »Ich könnte dir noch jede Menge andere Gefahren beschreiben, aber mit diesen müsstest du zurechtkommen.«
»Bei meiner Lampe«, sagte Nimrod, »noch eine weitere lebensbedrohliche Gefahr und ich lasse den Jungen auf keinen Fall hinuntersteigen. Das schwöre ich Ihnen.«
»Ist schon gut«, sagte John. »Ich nehme mich in Acht. Verlass dich drauf.«
Über die Kante zu gehen, war das Schlimmste, weil dies der Moment war, in dem John sein Leben der Ausrüstung anvertraute, die er aus dem Nichts geschaffen hatte. John überprüfte seinen Karabiner und den Abseilachter, der daran befestigt war, dann gab er Gewicht auf das Seil, lehnte sich nach hinten und begann, über den Kraterrand die glatte Wand hinabzumarschieren.
Groanin packte seinen ramponierten Lederkoffer zu Ende und fuhr mit dem Taxi zum Flughafen von Neapel. Wie an den meisten Flughäfen im Sommer wimmelte es auch hier von verschwitzten Touristen mit billigen Gepäckstücken, die ziellos umherirrten, als hätten sie ihren Kopf auf dem Hackblock einer Hühnerfarm zurückgelassen. So weit war also alles normal. Doch als Groanin sich dem Check-in-Schalter der British Airways näherte, begann er zu ahnen, dass nicht alles zum Besten stand. In Windeseile verbreitete sich unter den streng riechenden Reisenden, die in der Warteschlange auf das Einchecken warteten, die Nachricht, dass das Kabinenpersonal der britischen Fluggesellschaft in Streik getreten sei. Alle stöhnten laut auf. Groanin war der Lauteste von allen und eilte schnurstracks zu den Ticketschaltern der anderen Fluggesellschaften.
Eine halbe Stunde später gelang es ihm, ein EasyJet-Ticket nach Manchester zu erwerben, und er gratulierte sich gerade zu seinem Einfallsreichtum, als eine Lautsprecherdurchsage bekannt gab, dass der süditalienische Luftraum aufgrund der vom Vesuv aufsteigenden Aschewolke für den Flugverkehr bis auf Weiteres geschlossen sei.
»Und wie lange wird das dauern?«, fragte Groanin die entnervte junge Frau am Check-in-Schalter von EasyJet. »Bis wann sitzen wir hier fest?«
»Bis jemand beschließt, dass es wieder sicher ist«, sagte sie. »Bis morgen auf jeden Fall.«
»Wenn das hier Süditalien ist«, sagte Groanin, »wo fängt dann Norditalien an? Von dort fliegen sie doch noch. Wo muss ich hin, um ein Flugzeug nach Hause zu erwischen?«
»Fahren Sie nach Rom«, riet ihm die junge Frau. »Von dort gehen noch Flüge. Jedenfalls würde ich es so machen.«
»Und wie weit ist das?«
»Von hier sind es zweihundertzwanzig Kilometer«, sagte sie, schaltete ihren Computer aus und verließ dann eilig den Schalter, ehe Groanin oder sonst jemand ihr weitere unangenehme Fragen stellen konnte.
Groanin biss sich auf die Unterlippe, zog seinen großen Rollkoffer hinter sich her und ging hinaus, um sich nach einer Fahrgelegenheit umzusehen. Er musste jedoch feststellen, dass die Schlange an den Taxiständen fast hundert Meter lang war, ohne dass irgendwelche Taxis in Sicht gewesen wären. Die Warteschlange für Busse nach Neapel war sogar noch länger und einen an den Flughafen angeschlossenen Bahnhof schien es nicht zu geben.
»Teufel auch«, murmelte er. »Das ist ein Albtraum. Und zwar ein echter. Schlimmer, als von einem Grizzlybären verfolgt zu werden.«
Als er ein Schild entdeckte, das den Weg ins Stadtzentrum von Neapel wies, folgte er ihm in der Hoffnung, unterwegs ein Taxi herbeiwinken zu können. Doch so schlimm die Warteschlangen der Touristen am Flughafen auch gewesen sein mochten, die Autoschlangen auf der Autostrada waren sogar noch schlimmer. Auf den Straßen zwischen dem Flughafen und der Innenstadt wälzte sich ein einziger großer Verkehrsstau dahin, sodass Groanin bei zweiunddreißig Grad im Schatten nichts anderes übrig blieb, als sein Jackett auszuziehen und zu Fuß nach Neapel zu marschieren – denn Sorrent lag viel zu weit weg, um dorthin zurückzukehren.
Außerdem wäre Groanin sowieso niemals ins Excelsior Vittoria zurückgekehrt, um dort Nimrod gegenüberzutreten wie ein Hund mit eingezogenem Schwanz. Das wäre einfach zu beschämend gewesen. Noch schlimmer aber war, dass Nimrod ihm wahrscheinlich seine alte Stelle wieder anbieten würde und er, geschwächt von Hitze und Erschöpfung und dem Grauen darüber, die Kosten seiner Reise selbst bestreiten zu müssen, dieses Angebot unversehens annehmen würde. Groanin wusste, dass jetzt die beste Gelegenheit war, ein für alle Mal aus Nimrods Diensten zu entkommen. Es war nicht so, dass er Nimrod nicht mochte. Und natürlich liebte er die Kinder. Doch er hielt die mit dem Dienst bei einem Dschinn verbundenen Gefahren tatsächlich nicht mehr aus.
Sechseinhalb Kilometer und zwei Stunden später gelangte Groanin zu einem Hotel, das seinen kleinkarierten, fremdenfeindlichen Ansprüchen zu genügen schien: das Hotel First Grand Imperial Britannia. Eine britische Flagge hing wie ein Geschirrtuch draußen am Eingang neben dem einem Fahnenmast.
Schweißtriefend und halb ohnmächtig vor Durst, schleppte sich Groanin in die schmuddelige Eingangshalle und näherte sich dem uralten Empfangstresen.
An der Wand hinter dem Tresen hing ein großes Porträt der Königin. Ein weiteres gutes Zeichen, wie Groanin fand.
Ein kleiner rothaariger Mann übersah ihn eine Weile geflissentlich und ließ sich dann dazu herab, ihm ein wenig Aufmerksamkeit zu schenken.
»Guten Tag, der Herr, willkommen im First Grand Imperial Britannia«, sagte der Mann, der Engländer zu sein schien. »Womit kann ich Ihnen dienen?«
»Dem Himmel sei Dank für einen englischen Akzent«, sagte Groanin. »Falls es wirklich einer ist.« Er sackte gegen den Tresen und sah sich den Mann genauer an. »Ich weiß nicht. Ist es einer?«
Unglücklicherweise gehörte Groanin zu den Leuten, die, zum Ärger von Schotten, Iren und Walisern, das Wort englisch benutzen, wenn sie eigentlich britisch meinen. In Groanins Fall war es damit zu erklären, dass er so viel Zeit mit John und Philippa verbracht hatte, die als Amerikaner wenig bis gar kein Gefühl für die Unterschiede zwischen grundverschiedenen Dingen hatten.
Stirnrunzelnd musterte Groanin den Empfangschef. Der Mann hatte grüne Augen und seine Haut war so bleich wie ein Bettlaken. »Moment mal, Sie sind gar kein Engländer. Sie sind ein Schotte, hab ich recht?«
»Das bin ich«, sagte der Empfangschef mit leichtem Zögern. »Und ich bin stolz darauf.«
»Und was machen Sie dann hier, Freundchen?«
Das Gesicht des Mannes wurde knallrot vor Zorn. »Ihr Engländer mögt uns für Bauern halten, die in der Welt nicht weit herumkommen, aber das stimmt nicht.«
»Ach nein?«, erwiderte Groanin. »Na, egal. Ein Brite tut´s auch. Unter diesen extremen Umständen ist mir was Britisches gut genug. Und jetzt hören Sie zu, Angus. Ich will ein Zimmer mit Bad, und dann brauche ich ein Abendessen. Aber ein anständiges. Kein exotisches Zeug. Und kommen Sie mir bloß nicht mit diesem italienischen Mist. Ich will englisches Essen: Roastbeef, geröstete Kartoffeln und Gemüse, das wie Gemüse aussieht. Kriegen Sie das hin, Herr Wirt?«
Dem Empfangschef, der aus Edinburgh stammte und durch einen merkwürdigen Zufall tatsächlich Angus hieß, war das englische Vorurteil, alle Schotten würden Angus heißen, fast ebenso zuwider wie die Engländer selbst. Und diese Abneigung war seit seiner Ankunft in Italien noch stärker geworden, weil die Leute in Neapel ihn regelmäßig für einen Engländer hielten. Er konnte gar nicht mehr zählen, wie oft er die schartigen Zähne gefletscht, ein geduldiges Lächeln aufgesetzt und ihren Fehler korrigiert hatte. Kurz und gut, er war ein unfreundlicher kleiner Mann, der im Umgang mit Menschen nicht mehr Talent besaß als ein scharfer Wachhund. Als Hotelbesitzer in Schottland wäre das kein Problem gewesen, aber in einem so freundlichen Land wie Italien ließ ihn das für seinen eingeschlagenen Berufsweg denkbar ungeeignet erscheinen.
»Da muss ich mal sehen«, sagte Angus daher wenig hilfsbereit. »Haben Sie reserviert?«
Angus wusste sehr wohl, dass Groanin nicht reserviert hatte. Dennoch war ihm daran gelegen, dass sein Gast sich klein und dumm vorkam und spürte, welch gewaltige Zumutung es für das Personal bedeutete, dass er sich nach einem Zimmer erkundigte.
»Hätte ich das tun sollen?«, fragte Groanin zurück.
»Wir haben Hochsaison«, sagte Angus. »Normalerweise ist es um diese Zeit brechend voll.«
Groanin musterte die vielen Schlüssel, die hinter dem Empfangstresen an der Wand hingen. Allem Anschein nach war das Hotel komplett leer, was er als schlechtes Zeichen hätte deuten sollen, doch das tat er nicht.
»Das glaube ich Ihnen aufs Wort.«
»Sie können Zimmer zweiundzwanzig haben«, sagte Angus. »Bezahlt wird im Voraus, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Und wenn es Ihnen was ausmacht, auch.«
»Wirklich sehr gastfreundlich.«
Groanin öffnete seine Geldtasche, holte den Beutel heraus und schob ein paar Scheine über den Empfangstisch. Angus achtete kaum auf das Geld, das auf ihn zukam; er interessierte sich wesentlich mehr für die große Summe Bargeld, die Groanin in seiner Tasche bei sich trug. Die zigtausend Pfund, die John mit Dschinnkraft dorthinein befördert hatte.
»Morgen früh brauche ich eine Ausgabe des Daily Telegraph, ein englisches Frühstück und dann ein Transportmittel«, sagte Groanin. »Ein Taxi zum Flughafen, falls er wieder offen ist. Oder zum Bahnhof, falls nicht.«
»Es gibt ein schottisches Frühstück, wenn Ihnen das gut genug ist«, sagte Angus. »Und wir kriegen nur den Daily Express.«
»Damit würde ich nicht mal einen Hamsterkäfig auslegen«, meinte Groanin. Er nahm dem Schotten entnervt den Schlüssel aus der Hand und ging hinauf in sein Zimmer.
Angus sah ihm nach und griff dann zum Telefon, um von der interessanten Geldtasche eines Engländers Bericht zu erstatten.
Anfangs ging Johns Abstieg in den riesigen Krater langsam und gleichmäßig vonstatten. Es dauerte ein paar Minuten, bis er genug Zuversicht gewonnen hatte und sich imstande fühlte, sich von der Felswand abzustoßen und wie ein Angehöriger eines Sondereinsatzkommandos nach unten zu sausen. Während ihm das Adrenalin durch die Adern rauschte und er immer wieder wie ein Squashball mit den Füßen von der Wand abprallte, stieß er einen lauten Jubelschrei aus.
»Das macht Spaß!«, schrie er.
»Er scheint zu wissen, was er tut«, stellte Axel fest.
»Das wollen wir hoffen«, erwiderte Nimrod.
Als er den Wandfuß erreichte, schlug John einen Haken ein, an dem er sich sicherte, und winkte dann zu Nimrod und den anderen hinauf. Starker Schwefelgeruch erfüllte die verbrannte Luft um ihn herum, und von Zeit zu Zeit wurde die unheimliche Stille im Krater vom Poltern eines Lavabrockens unterbrochen, der auf das tiefer liegende Basaltgestein stürzte.
Der rote Staub unter Johns Stiefeln, der die Senke des Kraterbodens bedeckte, bewegte sich verräterisch. Selbst durch die dicke Gummisohle konnte John die Hitze spüren. Fels- und Schieferbrocken rollten die Senke hinab wie winzige Skifahrer, die in eine Lawine geraten waren, und ohne das Seil als Sicherung hätte John ihnen leicht nachfolgen können. Stattdessen begann er am Wandfuß entlang auf den rauchenden Spalt zuzuklettern. Ohne die Hilfe der Schwerkraft kam er nur langsam und mühsam voran. Von Zeit zu Zeit blickte er sich um und sah hinter dem Rauch für einen kurzen Moment einen sanften rötlichen Schimmer und mitunter orangefarbene Funken aufleuchten, als füttere die schuppige Hand eines unsichtbaren Dämons aus den schrecklichsten Tiefen der Erde einen versteckten Hochofen. Für jemanden, der irgendwo in einem stillen Park auf dem Rasen lag, dachte John, musste es unvorstellbar sein, dass der Erdboden eine derartige Gewalt in sich barg.
»Da fragt man sich wirklich, was wir so unter den Füßen haben«, sagte er zu sich selbst.
Das Atmen wurde immer schwieriger. Mehrmals musste John innehalten, weil er einen Hustenanfall bekam. Beim dritten Mal tränkte er ein Taschentuch mit Wasser und band es sich um Mund und Nase. Eigentlich hätte er stehen bleiben und seine Lavaproben an Ort und Stelle einsammeln können, doch dichter am Spalt gab es noch wesentlich bessere. Er setzte den Weg fort. Als er den Schatten erreichte, den der östliche Kraterrand in die Senke warf, hielt er einen Moment inne, damit seine Augen sich an die plötzliche Düsternis gewöhnen konnten. Als er nach oben sah, bemerkte er, dass die anderen vom aufsteigenden Rauch fast gänzlich verhüllt wurden.
»Mann«, schrie er, »das ist eine ganz schöne Plackerei!«
Doch er hatte nur noch ein kurzes Stück vor sich, ehe er anfangen konnte, die Lavaproben einzusammeln. Und was für Proben das waren! Diese Lava war ganz anders, als er sie sich vorgestellt hatte. Lag es am Licht, dass sie so glänzend aussah und so kostbar? Doch wie konnte das sein? Er befand sich inzwischen im Schatten, und das helle Sonnenlicht auf der anderen Seite des Kraters konnte nichts damit zu tun haben.
Diese Lava hatte die Farbe von Gold.