Die Kinder des Dschinn: Gefangen im Palast von Babylon - P. B. Kerr - E-Book

Die Kinder des Dschinn: Gefangen im Palast von Babylon E-Book

P. B. Kerr

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Beschreibung

Das wichtigste Zauberbuch aller Dschinn, das Salomon-Buch, ist verschwunden. Und John und Philippa sollen verhindern, dass es in falsche Hände gerät. Doch für die Zwillinge nimmt dieser Auftrag kein gutes Ende, denn Philippa wird entführt. John ist fest entschlossen, seine Schwester zu befreien, auch wenn er dabei ohne seine Dschinnkräfte auskommen muss. Eine abenteuerliche Reise in das alte Babylon beginnt – und zugleich ein Wettlauf mit der Zeit. Denn während John auf der Suche nach einem geheimen Palast gefährlichen Prüfungen ausgesetzt ist, gewinnt der Blaue Dschinn von Babylon immer mehr Macht über Philippa ... Der zweite Band der »Kinder des Dschinn«, in dem die Zwillinge John und Philippa ein neues spannendes Abenteuer zu bestehen haben.

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Seitenzahl: 427

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P. B. Kerr

Die Kinder des Dschinn. Gefangen im Palast von Babylon

 

Aus dem Englischen von Ulli Günther und Herbert Günther

 

Illustriert von Volker Fredrich

Über dieses Buch

 

 

Das wichtigste Zauberbuch aller Dschinn, das Salomon-Buch, ist verschwunden. Und John und Philippa sollen verhindern, dass es in falsche Hände gerät. Doch für die Zwillinge nimmt dieser Auftrag kein gutes Ende, denn Philippa wird entführt. John ist fest entschlossen, seine Schwester zu befreien, auch wenn er dabei ohne seine Dschinnkräfte auskommen muss. Eine abenteuerliche Reise in das alte Babylon beginnt – und zugleich ein Wettlauf mit der Zeit. Denn während John auf der Suche nach einem geheimen Palast gefährlichen Prüfungen ausgesetzt ist, gewinnt der Blaue Dschinn von Babylon immer mehr Macht über Philippa ...

 

Der zweite Band der «Kinder des Dschinn», in dem die Zwillinge John und Philippa ein neues spannendes Abenteuer zu bestehen haben.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

P. B. Kerr wurde 1956 in Edinburgh/Schottland geboren. Er studierte Jura an der Universität Birmingham und arbeitete zunächst als Werbetexter, bis er sich einen Namen als Autor, u. a. von Krimis und Thrillern für Erwachsene, machte. Viele seiner Bücher wurden internationale Bestseller, etliche mit großem Erfolg verfilmt. Für seine Arbeit wurde er u. a. zweimal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Als freier Schriftsteller lebte der Vater von drei Kindern bis zu seinem Tod in einem Vorort von London. «Das Akhenaten-Abenteuer» war sein erstes Kinderbuch und der Start der Reihe «Die Kinder des Dschinn». Die Filmrechte daran hat sich Hollywoods Star-Regisseur Steven Spielberg gesichert.

Dieses Buch ist Freddi, Clemmie und Natalie Clough gewidmet

Die Dschinn, die aus der Kälte kamen

»Ich will als Hexe gehen«, sagte Philippa. »Mit vielen Warzen.«

»Und ich als Vampir«, sagte John. »Mit richtigem Blut an den Zähnen.«

»Ihr wisst beide, dass das nicht in Frage kommt«, sagte ihre Mutter kurz.

»Jedes Jahr der gleiche Streit«, seufzte John. »Ich verstehe nicht, Mum, was du dagegen hast. Halloween ist doch ein harmloser Spaß.«

John und Philippa Gaunt wohnten in der East 77th Street Nummer 7 in New York. Sie waren Zwillinge, und wie alle anderen Kinder liebten sie den Brauch, an Halloween von Tür zu Tür zu gehen und um Geld oder Süßigkeiten zu bitten. Aber gleichzeitig waren sie auch Dschinn, die mit außergewöhnlichen Kräften Außergewöhnliches tun konnten – zum Beispiel, jemandem drei Wünsche gewähren. Zumindest konnten sie das, solange das Wetter warm war. Dschinn sind aus Feuer gemacht, deshalb können sie Kälte nicht ausstehen, und junge, unerfahrene Dschinn wie John und Philippa sind bei kaltem Wetter so gut wie machtlos. Deshalb sind Dschinn eher in heißen Wüstenländern anzutreffen. Im Sommer ist es in New York zwar heiß, die Winter aber sind sehr kalt und schon Ende Oktober wird es ziemlich frisch. In diesem Jahr jedoch war es an Halloween ungewöhnlich warm für die Jahreszeit. Nachdem Mrs Gaunt – selbst ein Dschinn – ihren Kindern verboten hatte, mit ihren Freunden von Haus zu Haus zu ziehen, machte sie ein Versöhnungsangebot.

»Hört mal«, sagte sie, »wollen wir nicht das warme Wetter nutzen und in den Central Park gehen? Ihr könntet euch jeder in ein Tier verwandeln – damit ihr in Übung bleibt. Es ist leicht möglich, dass ihr heute zum letzten Mal Gelegenheit habt, eure Kräfte zu erproben, bevor der Winter kommt.«

»Ich will aber kein Tier sein«, sagte Philippa. »Ich will eine Hexe sein. Mit Warzen.«

»Und ich Dracula«, beharrte John. »Mit Blut an den Zähnen.«

»Und ich sage Nein«, erklärte Mrs Gaunt unnachgiebig. Als sie vor vielen Jahren Mr Gaunt kennen lernte, hatte sie bald gelobt, ihre eigenen Dschinnkräfte nie mehr anzuwenden, wenn auch aus Gründen, die den Zwillingen noch nicht ganz einleuchteten. John glaubte, es hinge wohl damit zusammen, dass ihr Vater Edward ein Mensch war. Ihn beunruhigte die Vorstellung, dass seine beiden Kinder die Macht besaßen, ihn – zumindest während der Sommermonate – in einen Hund zu verwandeln. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb Mrs Gaunt mit John und Philippa vereinbart hatte, ihre Dschinnkräfte nur nach Absprache mit ihr anzuwenden – damit sie nicht übereilt etwas taten, was sie später vielleicht bereuten. Die Kräfte eines Dschinn, auch eines jungen Dschinn, sind nämlich sehr stark. Aber sie wusste auch, dass ein junger Dschinn ab und zu seine Kräfte üben muss, schon allein, um seine Gesundheit und sein allgemeines Wohlbefinden zu stärken.

Aber die Zwillinge waren noch kein bisschen überzeugt, dass die Verwandlung in ein Tier verlockender sein sollte als eine Halloween-Verkleidung.

»Ich versteh’s einfach nicht«, rief John. »Warum dürfen wir denn nicht Halloween feiern? Du hast uns noch nie erklärt, was du eigentlich dagegen hast.«

»Nein?«

»Nein!«, riefen die beiden wie aus einem Mund.

Mrs Gaunt schüttelte den Kopf. »Vielleicht habt ihr Recht«, räumte sie ein.

»Also, erklär«, sagte John. Er klang skeptisch, denn seiner Meinung nach nahm seine Mutter Halloween viel zu ernst.

»Es ist wirklich ganz einfach«, sagte sie. »An Halloween wird etwas in den Mittelpunkt gerückt, von dem die meisten Menschen nichts wissen. Für gute Dschinnstämme wie den unseren ist diese Zeit immer sehr schwierig. Es waren nämlich böse Dschinnstämme wie die Ghul, die Shaitan und die Ifrit, die vor vielen Jahrhunderten leichtgläubige Menschen dazu überredeten, sie in dieser Zeit des Jahres anzubeten und zu verehren. Im Gegenzug versprachen sie, ihnen kein Leid zuzufügen. Während dieser Zeit der Verehrung verkleideten sich die Menschen so, wie sie sich diese bösen Dschinn vorstellten. Sie brachten ihnen Wein und Leckereien, um von Unglück verschont zu bleiben. Und das ist der Grund, weshalb unser Stamm, die Marid, mit diesem Treiben nie etwas zu tun haben wollte. Versteht ihr jetzt? Ich muss sagen, nach allem, was ihr in diesem Sommer von Nimrod erfahren habt, überrascht es mich eigentlich, dass ihr die Sache so leicht nehmen könnt.«

Die Zwillinge schwiegen eine Weile und dachten über Mrs Gaunts Erklärung nach. Nicht im Traum wären sie darauf gekommen, dass ausgerechnet das Dschinnvolk der wahre Ursprung all des Bösen sein sollte, das an Halloween dargestellt wurde. Anders als die meisten Kinder wussten sie nur zu gut, dass ein böser Dschinn einen Menschen, aber auch einen anderen Dschinn an sich binden und zu seinem Sklaven machen konnte. Schon in ihrem ersten Sommer als Dschinn hatten sie das Böse ganz aus der Nähe gesehen, einmal in Gestalt von Akhenatens Geist und dann in der Person von Iblis aus dem Stamm der Ifrit. Sie hatten aus erster Hand miterlebt, wozu Böses fähig war. In Kairo hatten die Ifrit sogar einen Mann namens Hussein Hussaout ermordet. Mrs Gaunt hatte Recht: Das Böse war immer in der Welt.

Philippa zog die Schultern hoch. »Jetzt, wo du’s erklärt hast, verstehe ich den Zusammenhang ganz gut.«

»Das freut mich, mein Liebling«, sagte Mrs Gaunt.

»Klar«, sagte John. »Du willst verhindern, dass uns was passiert, nicht?«

Mrs Gaunt nickte. »Ich bin eine Mutter«, sagte sie. »Das ist meine Aufgabe.«

 

Also gingen sie in den Zoo. Aber schnell kamen sie zu dem Schluss, dass es eigentlich nicht viel Spaß machen konnte, als Tier in einem Käfig zu leben – der Eisbär wirkte besonders unglücklich. Sie verließen also den Zoo wieder und machten sich lieber auf die Suche nach frei lebenden Tieren im Park, deren Körper sie sich für ein, zwei Stunden leihen konnten.

Philippa entschied sich für ein Eichhörnchen: Mit großem Vergnügen turnte sie die Bäume rauf und runter, und einmal erschreckte sie ein paar Touristen, die nicht schnell genug Nüsse herausrückten. Sie hatte aber nicht mit Flöhen im Pelz gerechnet und auch nicht mit einem zänkischen Backenhörnchen, auf dessen Baum sie dummerweise geraten war. Als sich schließlich auch noch eine Katze an sie heranpirschte, war sie ganz froh, sich wieder in ein Mädchen verwandeln zu können.

John tat sich schwerer mit seiner Entscheidung. Eichhörnchen und Backenhörnchen fand er zu niedlich und mädchenhaft. Er war schon drauf und dran, in den Zoo zurückzukehren und sich doch in einen Eisbären oder einen der Seelöwen zu verwandeln, als er etwas entdeckte, das ihm noch reizvoller erschien. In der Nähe der Eisbahn führte ein Mann Falken vor. Kaum hatte John den schönen blaubraunen Wanderfalken auf der behandschuhten Hand des Mannes gesehen, nahm er die Gestalt des Falken Malty an. Wanderfalken gehören zu den schnellsten Vögeln der Welt, und John fand es herrlich, hoch über den Bäumen dahinzusegeln, dann plötzlich wie eine Bombe zwischen ein paar dumme Tauben zu fahren und dazu noch einen Typen zu erschrecken, der gerade Tai-Chi-Übungen machte. Am Ende stürzte er sich auf die Beute, die ihm von seinem Falkner angeboten wurde – alles in einer Geschwindigkeit von mehr als zweihundert Stundenkilometern.

Aber Johns Dasein als Falke hatte auch seine unangenehme Seite: Noch Stunden danach musste er sich übergeben, wenn er an den widerlichen Geschmack der toten Maus dachte, die ihm der Falkner als Belohnung gereicht hatte.

Trotzdem erklärte John, sein größter Wunsch zu Weihnachten sei ein Wanderfalke. Und nachdem er sich im Internet gründlich darüber informiert hatte, breitete er das Thema vor seinem Vater aus.

Edward Gaunt war ein Mensch – oder ein »Irdischer«, wie es der Onkel der Zwillinge (selbst ein großer, mächtiger Dschinn) bezeichnete. Das hieß, dass er nicht aus Feuer, sondern aus Erde bestand und deshalb ganz gewöhnlich war. Das hieß jedoch nicht, dass Mr Gaunt keine Autorität über seine fantastisch begabten Kinder hatte. Besonders groß war diese natürlich im Winter, wenn er die beiden mehr oder weniger machtlos wusste. Dann neigte er viel eher dazu, sie wie normale Kinder zu behandeln und ihnen Dinge zu verbieten, von denen er nichts hielt. Zum Beispiel, einen Wanderfalken zu halten.

»Ich könnte verstehen, wenn du dir einen Kanarienvogel wünschst«, sagte Mr Gaunt hinter seiner Zeitung hervor, als John eines Tages beim Frühstück von seiner Idee gesprochen hatte. »Meinetwegen auch einen Papagei. Aber einen Falken? Ein Falke ist etwas ganz anderes, John. Falken sind Raubvögel. Stell dir vor, er greift einen Hund im Park an. Oder einen alten Menschen! Am Ende stehe ich vor Gericht und werde zu Schadenersatz in Millionenhöhe verurteilt. Was dann?«

»Dad«, sagte John. »Wir reden von einem Falken, nicht von einem Pterodaktylus.«

Doch Mr Gaunt war nicht zu überzeugen.

»Wenn du ein Tier haben willst, warum wünschst du dir dann nicht eine Wüstenspringmaus oder einen Hamster wie …« Er hatte sagen wollen »wie jeder normale Junge«, aber da fiel ihm ein, dass sein Sohn wohl kaum ein gewöhnlicher Junge war, sowenig wie seine Tochter ein gewöhnliches Mädchen. Manchmal fiel es Edward Gaunt leicht, das Besondere an den Zwillingen zu vergessen. Immerhin sahen sie wie ganz normale Kinder aus. Sie sahen sich nicht einmal ähnlich. John war groß und dunkelhaarig, Philippa war kleiner, hatte rotes Haar und trug eine Brille. Aber er wusste nur zu gut, dass er im Sommer, wenn es heiß wurde in New York, wieder mit viel mehr Bedacht mit ihnen sprechen müsste. Damit nicht einer der beiden sich über ihn ärgern und ihn kurzerhand in einen Hund verwandeln würde. Es wäre nicht das erste Mal, dass so etwas in der Familie vorkam. Als seine Brüder Alan und Neil vor vielen Jahren versucht hatten, ihn wegen seines nicht unbeträchtlichen Vermögens umzubringen, hatte seine Frau sie in Rottweiler verwandelt. Jetzt lebten sie als Hunde mit in der Familie.

Natürlich waren John und Philippa als Dschinn nicht so geartet, dass sie jemals mit dem Gedanken gespielt hätten, ihren Vater in einen Hund zu verwandeln. Auch wenn sie sich manchmal ziemlich über ihn ärgerten. Sie waren immerhin Marid, und das hieß, sie gehörten einem der drei guten Dschinnstämme an, die ständig bestrebt waren, das Glück auf der Welt zu vermehren. Ihre Gegenspieler waren die drei bösen Dschinnstämme, die danach trachteten, mehr Unglück über die Menschheit zu bringen. Trotzdem war John ziemlich wütend, dass sein Vater nicht einmal darüber nachdenken wollte, ihm zu Weihnachten einen Wanderfalken zu schenken. Eine Enttäuschung, die sich zu einer Reihe anderer Probleme gesellte, mit denen er sich zurzeit herumschlug.

 

Es war ein kalter Dezembermorgen in New York und zum ersten Mal in diesem Winter fiel Schnee. Aus seinem Zimmerfenster im siebten Stock ihres Hauses sah John Gaunt gemeinsam mit seiner Schwester zu, wie es schneite. Er fröstelte. Jede Flocke erinnerte ihn daran, wie lange es noch dauern würde, bis sie ihre Kräfte wieder einsetzen konnten. Weil er viel empfindlicher gegen die Kälte war als ein gewöhnlicher Mensch, zog sich John einen zweiten Pulli über und schlang die Arme um den Körper. Der Blick aus dem Fenster entmutigte ihn. Er und seine Schwester waren erst zwölf Jahre alt, aber das war alt genug, um sich an New Yorker Winter zu erinnern, die bis weit in den April gedauert hatten.

»Wieso leben wir als Dschinn bloß in einer Stadt, in der die Winter vier Monate dauern können?«, stöhnte er.

»Mir war schon ewig lang nicht mehr richtig warm«, sagte Philippa. Sie trat vom Fenster zurück, setzte sich auf den gebohnerten Holzfußboden und lehnte sich an einen großen Heizkörper. »Eigentlich nicht mehr seit diesem Nachmittag im Park. Als ich ein Eichhörnchen war und du ein Falke.«

»Red bloß nicht von Falken«, grummelte John, der neben ihr hockte. Er fühlte sich ohnehin schon niedergeschlagen, doch der erste Schnee an diesem kalten Dezembermorgen ließ seine Stimmung noch tiefer sinken.

Als es aber gegen Mittag zu schneien aufhörte, kam ihre Mutter herein und fragte die beiden, ob sie mit ihr Weihnachtseinkäufe machen wollten. Sofort verließen John und Philippa ihr warmes Fleckchen an der Heizung und stürmten zum Kleiderschrank, denn anders als Menschenkinder gehen junge Dschinn immer gern einkaufen.

Sie zogen ihre dicksten Stiefel und wärmsten Mäntel an, dann bummelten sie mit ihrer Mutter durch die Madison Avenue. Mrs Gaunt trug ihren dicken Mantel aus Zobelfell, einen eleganten Pelzhut, ihre mit Kaninchenfell gefütterten Tommy Tinder-Stiefel und eine blaue Max-Skibrille. Doch selbst in dieser Schneewetter-Kleidung brachte sie es fertig, bezaubernder auszusehen als jede andere Frau im Gala-Kleid bei der Oscar-Preisverleihung.

Eine Weile ging alles gut. Die Zwillinge kauften für ihren Vater ein Buch und für ihren Onkel Nimrod eine feine rote Krawatte. Da er überhaupt nur rote Krawatten trug, waren sie überzeugt, dass sie ihm gefallen würde. Plötzlich, auf dem Rockefeller-Platz, während sie den Eisläufern zusahen und einen Chor »We wish you a Merry Christmas« singen hörten, wurde den Zwillingen sonderbar zumute. Erst war es nicht mehr als eine unbestimmte Nervosität, doch nach ein paar Minuten begannen sie schneller zu atmen, Schweiß brach ihnen aus und schließlich wurde ihnen sogar übel. Sie hatten das Gefühl, als müssten sie sich übergeben oder gleich ohnmächtig werden. Mrs Gaunt ahnte sofort den Zusammenhang.

»Hier liegen zu viele Wünsche in der Luft, das ist es«, erklärte sie und rief schnell ein Taxi, um die beiden nach Hause zu bringen. »Menschen wünschen sich dieses und jenes, sie wünschen einander frohe Weihnachten und werfen mit guten Wünschen nur so um sich. Weihnachten ist ein einziger großer Wunsch. Für Irdische ist das in Ordnung. Aber als junge Dschinn in einem kalten Klima könnt ihr euch nicht gegen diese Wünsche wehren, auch nicht, wenn ihr wolltet. Und es wirkt sich nur negativ für euch aus.«

»Mir ist wirklich komisch«, gab John zu, als sie im Taxi saßen. »Irgendwie dumpf im Kopf und ganz durcheinander.«

»Das ist ja nichts Neues«, sagte Philippa schwach, aber John war zu müde, um mit einer passenden Antwort zu kontern.

»Ich hätte es wissen müssen«, warf sich Mrs Gaunt vor. »WG kommt zu dieser Jahreszeit sehr häufig vor. Als Kind, in London, habe ich selbst darunter gelitten.«

»WG?«, flüsterte Philippa. »Was ist das?«

»Wunsch-Gewimmel«, sagte ihre Mutter.

Philippa nickte. Sie kannte das so genannte unbewusste Wunsch-Erfüllen, was bedeutete, dass ein Dschinn einem Menschen einen Wunsch erfüllte, ohne es selbst zu merken. Wie zum Beispiel damals, als sie unbewusst dafür gesorgt hatte, dass ihre Haushälterin Mrs Trump in der Staatslotterie von New York gewann. Doch der Begriff WG war ihr neu.

»Gleich wird’s euch besser gehen«, sagte Mrs Gaunt. »Sobald wir euch wieder im Warmen haben. Trotzdem denke ich, dass vielleicht mal eine Dschinnärztin nach euch sehen sollte. Einfach, damit ihr besser durch die Winterträgheit kommt.«

»Winter … was?«, stöhnte John.

»So nennt man den Stillstand der normalen Dschinnfähigkeiten«, erklärte seine Mutter.

In wenigen Minuten hielt das Taxi vor ihrem Haus und Mrs Gaunt scheuchte die Kinder durch die gewölbte Ebenholztür ins Wohnzimmer, wo ein Feuer im Kamin ruhig vor sich hin brannte.

»Setzt euch ans Feuer, Kinder«, sagte sie. »Wir werden euch schnell wieder warm bekommen.«

Da der Holzkorb leer war und der Kohleneimer nur noch wenige Stücke Kohle enthielt, rief Mrs Gaunt nach der Haushälterin. Mrs Trump arbeitete trotz ihres Lotteriegewinns weiterhin für die Gaunts, denn sie hatte die Familie lieb gewonnen, besonders die Kinder. Dass diese Dschinn waren und dass sie ihr Vermögen von 33 Millionen Dollar nur gewonnen hatte, weil Philippa damals ihren Wunsch erfüllt hatte, davon ahnte sie allerdings nichts.

Mrs Trump erschien in der Tür, lächelnd, um ihr teures neues Gebiss vorzuführen. Unter ihrem Kittel trug sie ein Christian Ribbentrop-Kleid und eine fünffache Perlenkette. Mit ihrem Haar, das sie bei Pierre Petomane in der Fifth Avenue hatte schneiden und färben lassen, sah sie besser aus denn je.

»Die Zwillinge haben sich eine Erkältung eingefangen, Mrs Trump«, sagte Mrs Gaunt. »Wir müssen ein bisschen nachlegen, damit den beiden ordentlich warm wird. Wenn Sie bitte noch Kohlen bringen, dann hole ich inzwischen Holz.«

»Ja, Mrs Gaunt.«

Während die beiden Frauen Holz und Kohle heranschafften, kauerten die Zwillinge vor dem Feuer. Nicht lange, und zwei große Hunde kamen ins Zimmer. Kaum hatten sie das Problem erkannt, verschwanden sie noch einmal und kehrten kurz darauf jeder mit einem ordentlichen Holzscheit im Maul zurück. Sie ließen die Stücke auf die Kohlen fallen, dann bezogen sie zu beiden Seiten des Kamins Stellung, wie um die Kinder zu bewachen.

John lächelte, obwohl seine Zähne vor Kälte klapperten wie Kastagnetten. Dass Alan und Neil früher Menschen gewesen waren, fiel ihm leichter zu glauben als der Umstand, dass sie einmal versucht hatten, seinen Vater umzubringen. Solange die Zwillinge auf der Welt waren, hatten die Hunde immer auf sie aufgepasst – man durfte mit Sicherheit behaupten, dass ihre Treue keine Grenzen kannte. Einmal hatten John und Philippa ihre Mutter gefragt, ob sie es nicht für richtig halte, Alan und Neil nach so langer Zeit treuer Dienste in Menschen zurückzuverwandeln. Aber Mrs Gaunt hatte bedauert und erklärt, das sei unmöglich, da diese Verwandlung lebenslang gelte. Außerdem hatte sie geschworen, ihre Dschinnkräfte nie mehr anzuwenden.

Ob dann vielleicht er die beiden zurückverwandeln könne, hatte John gefragt, natürlich im Sommer, wenn die Temperaturen steigen und seine Dschinnkräfte wieder wirksam sein würden. Aber leider war auch das nicht möglich, wie er von seiner Mutter erfuhr, weil eine Verwandlung in ein Tier nur vom selben Dschinn rückgängig gemacht werden konnte, der sie ausgesprochen hatte. Damals hatte Philippa ihre Mutter gefragt, ob es denn überhaupt eine Situation geben könnte, in der sie ihre Dschinnkräfte wieder einsetzen würde.

»Nur eine«, hatte sie gesagt. »Wenn euer Leben oder das eures Vaters bedroht wäre.«

Mrs Trump kam ins Wohnzimmer zurück und legte Kohlen nach. Mrs Gaunt folgte unmittelbar mit einer Ladung Holz und bald loderte das Feuer hell auf. Die Zwillinge gähnten zufrieden wie zwei Katzen, als die Hitze ihre Körper durchdrang und das innere Feuer anfachte, das in allen Dschinn brannte, ob in jungen oder alten.

Mrs Gaunt griff nach dem Telefon und wählte.

»Wen rufst du an?«, fragte Philippa.

»Eine Dschinnärztin.«

»Ist doch wirklich nicht nötig«, wehrte John ab, der weder Ärzte noch Zahnärzte ausstehen konnte.

Aber Mrs Gaunt sprach bereits mit der Person am anderen Ende der Leitung.

»Wir haben Glück«, sagte sie nach Beendigung des Gesprächs. »Zufällig ist Jenny Sacstroker mit ihrem Sohn Dybbuk in New York.«

»Wer ist Jenny Sacstroker?«, fragte John.

»Mrs Sacstroker ist Dschinnärztin. Sie betreibt eine auf ganzheitliche Medizin ausgerichtete Kurklinik in Palm Springs, die viel von Leuten aus Hollywood aufgesucht wird, wenn auch die meisten von Jennys Anwendungen speziell für Dschinn entwickelt wurden. Sie sagt, sie will eine neue Klinik hier in New York eröffnen. Deshalb sind die beiden hier. Außerdem soll Dybbuk die Feiertage bei seinem Vater verbringen, Mrs Sacstroker lebt nicht mehr mit ihrem Mann zusammen. Seid also nett zu ihm. Ich denke, die ganze Sache hat ihn doch ein bisschen mitgenommen. Sie können übrigens jede Minute hier sein.«

Noch während sie sprach, klingelte es.

»Das war schnell«, sagte John.

»Mrs Sacstroker hält nichts von menschlichen Transportmitteln«, erklärte Mrs Gaunt. »Sie reist noch auf die traditionelle Dschinnart.«

»Und die wäre?«, sagte Philippa, aber Mrs Gaunt war schon in den Flur gegangen und hörte die Frage nicht mehr.

»Wahrscheinlich per Zauberteppich«, meinte John und streifte seinen Mantel ab, weil ihm jetzt etwas wärmer war.

Zwei Fremde kamen zur Tür herein. Dicht hinter ihnen folgte Mrs Gaunt, die bereits zu erklären begonnen hatte, dass die Zwillinge außer mit der Winterträgheit auch noch mit dem Versprechen fertig werden mussten, ihre Dschinnkräfte nicht ohne Erlaubnis anzuwenden. Mrs Sacstroker nickte ernst, während sich ihr Sohn Dybbuk vergeblich bemühte, ein Kichern zu unterdrücken.

»Kinder, das ist Mrs Sacstroker, die Dschinnärztin, von der ich euch erzählt habe. Jenny, das sind John und Philippa.«

Mrs Sacstroker streifte ihre große schwarze Sonnenbrille ab und schenkte den Zwillingen ein herzliches Lächeln. Ihr langes welliges Haar war schwarz und glänzend, als sei es aus dem gleichen Kunststoff wie die Sonnenbrille. Sie trug einen von blauen Rheinkieseln übersäten blauen Hosenanzug und blaue hochhackige Schuhe. Ihre glanzvolle Erscheinung war viel aufdringlicher als die von Layla Gaunt: Jenny Sacstroker, med. Dj., sah aus, als käme sie geradewegs von einer Bühne in Las Vegas.

»Schön, euch kennen zu lernen«, sagte sie. »Das ist mein Sohn Dybbuk. Er ist genauso alt wie ihr, lasst euch also nicht von ihm einreden, er sei älter. Dybbuk, sag John und Philippa Guten Tag.«

Dybbuk gab einen Laut wie ein Fagott von sich und rollte die Augen bis fast unter den Ansatz seiner langhaarigen Frisur. Er trug ein Rocker-Shirt, Jeans, eine Lederjacke und Motorradstiefel, die aussahen, als wären sie schon auf der Daytona-Rennbahn dabei gewesen. Philippa fand, dass er älter aussah als zwölf. Aber sie hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Mrs Sacstroker hatte nämlich schon ihr Handgelenk ergriffen und hielt ein kleines Pendel über ihren Puls. Das Gleiche tat sie bei John, wobei sie sorgfältig auf die Richtung achtete, in der sich das Pendel bewegte. Dann nickte sie.

»Dschinn sind ein wenig wie Eidechsen«, sagte sie ruhig. »Sie brauchen die Einwirkung von Hitze. Ich gebe euch etwas zur Nahrungsergänzung, damit wir das Problem in den Griff bekommen. Eine Langzeitbehandlung. Aber erst mal müssen wir so viel Hitze wie möglich in euch hineinpumpen. Ich habe das Nötige dazu mitgebracht. Hol doch bitte meine Tasche, Dybbuk, ja?«

Wieder rollte Dybbuk mit den Augen, dann schleppte er eine dunkelblaue Ledertasche heran. Aus dem geräumigen Inneren brachte Mrs Sacstroker drei Tonflaschen zum Vorschein.

»Ich nenne das mein Dschinn-Tonikum«, sagte sie. »Ein Lätator. Es ist vulkanisches Wasser aus der heißen Quelle bei ›Nobody’s Perfect‹, meiner Kurklinik in Palm Springs.« Sie reichte eine Flasche John, eine Philippa und die dritte Mrs Gaunt. »Du auch, Layla«, sagte sie streng. »Ich denke, du kannst einen Lätator ganz gut brauchen.« Dann zwinkerte sie den Zwillingen zu. »›Lätator‹ ist ein Begriff, den Dschinnärzte gern für Muntermacher verwenden.«

»Es fühlt sich heiß an«, sagte Philippa. »Und irgendwie lebendig. Als ob sich dadrin was bewegt.« Sie presste die Hände an die harte Tonflasche. »Oder wie etwas Kochendes. Wie Wasser im Kessel.«

»Nun trinkt es aus, bevor es kalt wird«, sagte Mrs Sacstroker.

Als sie sahen, wie ihre Mutter den Lätator ohne zu zögern trank, taten die Zwillinge das Gleiche und stellten fest, dass es sogar gut schmeckte und – was noch besser war – dass sie sich sofort wohler fühlten. Doch Mrs Sacstroker war noch nicht mit ihnen fertig. Wieder griff sie in ihre Tasche, kramte zwei glatte flache Steine in Größe und Form von Untertassen heraus und gab jedem Zwilling einen.

»Wow«, rief John. »Der ist ja auch heiß.«

»Das ist ein Salamanderstein«, erklärte Mrs Sacstroker. »Er kommt vom Mittelpunkt der Erde und verliert seine Hitze nie. Jedenfalls nicht vor sechzig, siebzig Jahren. Ihr könnt sie immer in der Manteltasche dabeihaben, wenn ihr in der Stadt rumlauft. Oder legt sie nachts ins Bett. Wie eine heiße Wärmflasche. Der Stein wird euch helfen, in Schwung zu bleiben und das Trägheitsgefühl zu überwinden.«

»Danke, Jenny«, sagte Mrs Gaunt und umarmte die andere Frau liebevoll.

»Keine Ursache, Layla. Ich freue mich, wenn ich euch helfen konnte.«

Mrs Gaunt sah die Zwillinge an. »Hört mal, Kinder«, sagte sie. »Mrs Sacstroker und ich haben eine Menge zu besprechen. Nehmt doch Dybbuk mit in die Küche und lasst euch von Mrs Trump ein Sandwich machen.«

Mit einem Blick auf Philippa fügte Mrs Sacstroker hinzu: »Aber sagt Mrs Trump, sie möchte dafür sorgen, dass Dybbuk kein Salz bekommt, ja? Salz verträgt er nicht gut. Habe ich Recht, Dybbuk?«

Dybbuk rollte wieder mit den Augen, dann folgte er den Zwillingen in die Küche.

Mrs Trump hatte schlechte Laune. In letzter Zeit war sie oft bedrückt und mürrisch, und die Zwillinge wussten auch warum. Nach ihrem Lotteriegewinn hatte Mrs Trump einen Teil ihres Vermögens für eine Wohnung im berühmten Dakotagebäude in der 72nd Street ausgegeben. Sie beschäftigte dort eine Putzfrau, eine gewisse Miss Pickings, die für sehr viel Geld sehr wenig arbeitete. Weil aber Mrs Trump tagsüber nicht zu Hause, sondern bei den Gaunts war, konnte Miss Pickings ungestört den ganzen Tag herumsitzen, fernsehen und Kaffee trinken. Längst schon hätte Mrs Trump ihre faule Reinemachefrau entlassen, wäre da nicht der Umstand gewesen, dass Miss Pickings schon gegen ihre ehemaligen Arbeitgeber erfolgreich prozessiert hatte – wegen ungerechter Kündigung. Nun befürchtete die arme Mrs Trump, dass sie am Ende vor Gericht stehen würde, wenn sie die Frau vor die Tür setzte.

Der Fall Trump/Pickings war eines der beiden Probleme, die John sofort angehen wollte, sobald seine Kräfte durch wärmeres Wetter wiederhergestellt wären. Sein zweites Problem war Gordon Wartenswin, ein Junge, von dem er zurzeit in der Schule tyrannisiert wurde. John hatte sich schon viele Gedanken darüber gemacht, was er gegen Gordon Wartenswin unternehmen wollte. Sein Nachname schien förmlich danach zu schreien, den Typ in ein Warzenschwein zu verwandeln, aber John konnte sich nicht ganz vorstellen, dass Mrs Gaunt dieses Vorhaben billigen würde. Es gab durchaus Zeiten, da fand John es eher lästig, in einen Stamm guter Dschinn hineingeboren zu sein. Wäre er ein Angehöriger der Ifrit gewesen, des mit Abstand gemeinsten Dschinnstamms, würde sich Wartenswin längst in einem Schlammloch in der afrikanischen Savanne suhlen und Termiten fressen, wie sich das für ein Warzenschwein gehörte.

»Imagine«

Nach dem Essen nahmen John und Philippa Dybbuk mit hinauf und zeigten ihm ihre Zimmer. Er war der erste Dschinn in ihrem Alter, den sie kennen lernten, und offenbar fanden die beiden ihn interessanter als er sie. Es wurde ihnen schnell klar, dass Dybbuk sie mit Verachtung musterte.

»Hat eure Mutter das etwa ernst gemeint?«, sagte er. »Ihr habt Dschinnkräfte und wendet sie nicht an? Wegen eines dämlichen Versprechens?«

John ärgerte sich. »So kann man das nicht sagen.«

»Aber ein Versprechen haben wir ihr gegeben, das stimmt«, ergänzte Philippa.

Dybbuk lachte laut heraus. »Ihr seid ja unglaublich!«

»Aber auch wenn wir unsere Kräfte anwenden wollten, wir könnten es gar nicht«, sagte John. »Sieh doch mal raus. Viel zu kalt.«

»Trottel«, sagte Dybbuk. »Das wollen sie euch doch nur weismachen. Aber wie für alles im Leben gibt es auch hier eine Möglichkeit, das Hindernis Kälte zu umgehen. Wenn man weiß wie.« Er fläzte sich in Johns Sessel.

»Du meinst, du kannst deine Dschinnkräfte anwenden?«, fragte Philippa. »Auch wenn es kalt ist?«

»Nicht direkt«, antwortete Dybbuk. »Meine Mutter hat mir so was wie eine Fessel angelegt, damit ich meine Kräfte nicht einsetzen kann. So lange, bis sie meint, dass ich eine ›verantwortungsvolle Haltung‹ dazu gefunden habe, wie sie das nennt.«

»Warum hat sie das gemacht, Dybbuk?«, fragte John.

Er zuckte zusammen. »Buck«, sagte er. »Nur Buck, okay? Ich kann meinen Namen nicht ausstehen. In der Schule hat mich ein Typ ständig damit aufgezogen. Hat behauptet, ich sei böse und gehässig und alles Mögliche. Da habe ich ihn in eine Küchenschabe verwandelt. Für eine Weile nur. Aber meine Mum ist richtig wütend geworden deshalb. Über das mit der Küchenschabe und dann noch über eine Sache mit meinem Mathelehrer.«

»Wow«, sagte John, dessen Bewunderung für Dybbuk nun grenzenlos war. Er träumte schon lange davon, seinem Mathelehrer einmal etwas Gemeines anzutun. »Was hast du gemacht?«

Dybbuk grinste. Er sonnte sich in der Heldenverehrung, die ihm der andere Junge entgegenbrachte. »Mr Strickneen, dieser Lehrer, hat mich schon immer genervt. Weil ich Quadratgleichungen und so was nicht kapiere. Deshalb wollte ich ihn mal so richtig fühlen lassen, wie das ist. Wenn man in Mathe eine Null ist. Zwei Tage lang konnte der Idiot nicht mal zwei und zwei zusammenzählen, geschweige denn eine Quadratgleichung lösen. Hat nur noch Bahnhof verstanden.«

»Toll«, sagte John.

»Aber dann wollte meine Mum wissen, warum ich keine Mathehausaufgaben mehr machen muss, und da habe ich es ihr erzählt. War aber dumm von mir, denn sie hat die Sache dann in Ordnung gebracht und dafür gesorgt, dass ich meine Dschinnkräfte eine Zeit lang nicht mehr anwenden kann. Mit einer Fessel.«

»Wie funktioniert das eigentlich?«, fragte Philippa. »So eine Fessel?«

»Sie hat dafür gesorgt, dass ich mein Fokuswort vergesse.«

(Ein Fokuswort ist ein Geheimwort, mit dem ein Dschinn seine Kräfte bündeln kann, um Wünsche zu erfüllen – wie man beispielsweise mit einer Lupe die Sonnenenergie bündelt und auf einen bestimmten Punkt auf einem Papier richtet, sodass es brennt.)

»Kannst du dir denn nicht einfach ein neues ausdenken?«, schlug John vor.

Dybbuk schüttelte den Kopf und schob sich das Haar aus den Augen. »So einfach ist das nicht, du Anfänger«, sagte er. »Ein Fokuswort ist wie das Codewort bei einem Computer. Man muss das alte kennen, wenn man es durch ein neues ersetzen will.«

»Und wie lange will dich deine Mutter aus dem Verkehr ziehen?«, fragte Philippa.

»Bis wir wieder zu Hause sind. Ich soll in der Zeit, die wir hier sind, bei meinem Vater wohnen, und Mum will nicht, dass ich seiner neuen Frau einen Streich spiele. Nadia, meine Stiefmutter, ist kein Dschinn. Sie ist Innenarchitektin.«

»Und würdest du ihr gern einen Streich spielen?«, fragte Philippa. »Wenn du könntest?«

Dybbuk grinste. »Klar. Du etwa nicht, wenn dein Dad wegziehen und sich eine andere Frau anlachen würde?«

Philippa dachte einen Augenblick nach, dann sagte sie: »Ich glaube, ich würde sie in eine Fledermaus verwandeln. Was Schlimmeres kann ich mir gar nicht vorstellen. Ich hasse Fledermäuse.«

Dybbuk zog die Schultern hoch. »Ja. Nicht schlecht. Aber wenn es um jemanden geht, den ich wirklich nicht ausstehen kann, dann würde ich eher einen Elementon auf ihn loslassen. Das ist was viel Gemeineres als eine harmlose Fledermaus.«

Philippa sah John an, aber der schüttelte den Kopf.

»Sagt bloß, ihr wisst nicht, was ein Elementon ist?«, prustete Dybbuk. »Was haben sie euch zwei Anfängern eigentlich beigebracht? Gar nichts? Elementone sind Mini-Dämonen, die im Inneren der acht Elemente hausen. Erde, Feuer, Luft und Wasser, versteht ihr? Und die edlen Elemente Geist, Raum, Zeit und Glück. Nadia ist zurzeit voll damit beschäftigt, ihre neue Wohnung einzurichten, also würde ich sie wahrscheinlich mit einem Wasser-Elementon beglücken. Die Wohnung überfluten. Nur so zum Spaß.« Er legte jedem der beiden eine Hand auf die Schultern. »Vielleicht könntet ihr mir da sogar helfen. Ich meine, ihr könntet einen Elementon für mich in Bewegung setzen.«

»Ich wüsste nicht wie«, sagte John. »Ich habe dir doch schon erklärt, es ist zu kalt für uns, um Dschinnkräfte anzuwenden.«

»Und ich habe dir schon erklärt, das machen sie euch nur weis, damit ihr genau das glaubt. Damit ihr euch nicht in knifflige Situationen bringt. Also, ich könnte euch ja zeigen, wie man seine Kräfte wiederbekommt. Dafür müsstet ihr mir aber versprechen, einen Elementon auf meine Stiefmutter loszulassen.«

Entschieden schüttelte Philippa den Kopf. »So was können wir leider nicht machen«, sagte sie. »Und außerdem, selbst wenn wir wollten, wüssten wir gar nicht, wie das gehen soll. Stimmt’s, John?«

»Ja«, sagte John mit weniger Überzeugung als seine Schwester. Er dachte nicht so sehr an Dybbuks Stiefmutter, sondern mehr an Gordon Wartenswin, den Jungen, der ihn in der Schule ständig schikanierte. Was könnte er mit dem alles anstellen, wenn er seine Dschinnkräfte wiederhätte! Ganz zu schweigen von Miss Pickings, der faulen Haushälterin von Mrs Trump. Er könnte sich um beide Fälle kümmern. »Nein, so was können wir nicht machen.«

»Hey, es ist doch keine große Sache«, sagte Dybbuk, stand aus dem Sessel auf und blickte auf die Straße hinunter. Es hatte wieder zu schneien angefangen und Schnee wehte über den Bürgersteig. »Ich kann euer Problem schon verstehen. Ich hatte ganz vergessen, wie kalt es in New York ist. In Kalifornien, wo wir wohnen, ist Wüste. Und das macht die Dinge einfacher. Für einen Dschinn, meine ich. Ich denke, das wird der Grund sein, warum ich euch ein Stück voraus bin, was Kräfte und Dschinn-Geistesblitze angeht.«

»Wahrscheinlich«, sagte John. Er fand, dass sich Palm Springs viel attraktiver anhörte als New York City.

»Wisst ihr was?«, sagte Dybbuk. »Ihr seid mir sympathisch. Ich will’s euch also verraten, so oder so. Ich meine, wie ihr wieder zu euren Dschinnkräften kommt, solange ihr in diesem Eiskasten steckt. Ist vielleicht einer von euch in einem Sportverein? Und wenn ja, gibt es da so was wie eine Sauna?«

»Wir haben einen Saunaraum im Keller«, sagte John.

Dybbuk grinste. »Dann ist euer Problem schon gelöst. Ihr müsst weiter nichts tun als euch da reinsetzen und bei voller Hitze rösten lassen. Danach könnt ihr für eine Weile leben wie jeder normale Dschinn.« Er lachte spöttisch. »Kaum zu glauben, dass ihr da nicht selber draufgekommen seid.«

»Weil wir nie reingehen. Deshalb!«, sagte Philippa. »Wir leiden unter Klaustrophobie.«

»Dann nehmt eine Kohletablette, bevor ihr euch in die Sauna setzt, ihr Anfänger. Nichts einfacher als das.«

Mit Kohletabletten bekämpfen Dschinn das Gefühl von Platzangst, das sie in geschlossenen Räumen befällt, ganz besonders in einer Dschinnlampe oder in einer Flasche.

»Jetzt, wo du es sagst, Buck, klingt das sehr einleuchtend«, sagte John. »Im Winter stellt sich die Heizung in der Sauna am Nachmittag automatisch an, damit Dad sofort reingehen kann, wenn er heimkommt.«

»Du meinst, jetzt ist geheizt?«, sagte Dybbuk.

John sah kurz auf die Uhr. »Ich denke schon«, sagte er.

»Worauf warten wir dann?«, sagte Dybbuk. »Leiht mir eine Badehose, dann probieren wir’s gleich.«

Sie zogen sich also um, versorgten sich mit Kohletabletten und gingen in den Keller.

Mr Gaunts Sauna glich einer kleinen Blockhütte. Im Inneren waren mehrere Bänke um einen Ofen herumgebaut, der zuoberst von heißen Steinen bedeckt war. Laut Wandthermometer betrug die Temperatur fast 100 Grad Celsius – doppelt so heiß wie jede Wüste, die die Zwillinge je kennen gelernt hatten. Und schon wenige Minuten nachdem sie die Sauna betreten hatten und anfingen zu schwitzen, spürten sie ihre Kräfte zurückkehren. John merkte es zuerst an einem intensiven Wärmegefühl, das sich in seinem Inneren ausbreitete, und dann an einer zunehmenden Klarheit im Kopf, wie man es nach der Genesung von einer schweren Erkältung kennt. Philippa hatte das Gefühl, als ob ihr Körper aufwache, wie erfrischt nach einem langen, erholsamen Schlaf.

Damals in Ägypten, als Onkel Nimrod angefangen hatte, den beiden alles über die Dschinn zu erklären, hatte er von der Macht des Geistes über die Materie gesprochen. Inzwischen waren die Zwillinge etwas aus der Übung, aber lange dauerte es nicht, bis John mit Hilfe seiner erneuerten Kräfte etliche CDs herbeiwünschen konnte, nach denen er schon eine ganze Zeit gesucht hatte. Philippa dagegen wünschte sich einen dicken Bademantel, in den sie sich nach dem Saunabesuch kuscheln wollte. Die Anwendung ihrer Dschinnkräfte für solche alltäglichen Sachen schien ihnen nicht wichtig genug, um deshalb ihre Mutter mit Fragen zu belästigen.

»Wir sollten Buck etwas schenken, weil er uns so auf die Sprünge geholfen hat«, sagte John zu Philippa.

»Es gibt ein neues Computerspiel. Also, das hätte ich ganz gern«, gab Dybbuk zu. »Wenn ihr wirklich wollt.« Er sagte ihnen den Namen des Spiels, aber John kannte es nur vom Hörensagen. »Wisst ihr was?«, schlug Dybbuk vor. »Wir fassen uns an den Händen, dann kann ich mich mit Hilfe eurer Kräfte auf das Spiel konzentrieren.«

»Gute Idee«, sagte Philippa. »Das haben wir schon mal gemacht, John, weißt du noch? Damals mit Mr Rakshasas. Als wir in Kairo diesen rosa Ferrari zustande gebracht haben.«

»Wie könnte ich das vergessen?«

John nahm seine Schwester an der Hand, dann Dybbuk.

Beim ersten Mal, als sie Dybbuks Spiel herbeizuwünschen versuchten, geschah nichts – oder scheinbar nichts. Philippa fand das eigentlich merkwürdig, denn sie spürte deutlich, dass ein Teil ihrer Kraft von ihr gewichen war. Beim zweiten Mal aber erschien das Spiel wie auf Kommando, und Dybbuk sah sie so dankbar an, dass Philippa den ersten Versuch ganz vergaß.

Bald ging Mrs Sacstroker mit Dybbuk nach Hause. In seinem Zimmer experimentierte John danach weiter mit seiner Dschinnkraft. Er stellte fest, dass er bis zu drei Stunden nach dem Saunabesuch noch eine Transsubstantiation bewirken konnte – so nennen die Dschinn den Vorgang, wenn sie sich auflösen und in eine Lampe oder Flasche verschwinden oder daraus erscheinen. Plötzlich kam John die Idee, wie er und Philippa Mrs Trump helfen könnten. Er setzte seiner Schwester den Plan auseinander, aber Philippa war nicht so leicht zu überzeugen.

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich bin nicht sicher, ob wir das wirklich machen sollten, John.«

»Es geht doch nur um Transsubstantiation«, sagte John beharrlich. »Wir wollen Miss Pickings ja nicht in eine Küchenschabe verwandeln.«

»Trotzdem bin ich nicht sicher, ob Mutter da einwilligen würde.«

»Mrs Trump braucht unsere Hilfe, oder?«

»Ja«, sagte Philippa, immer noch unsicher.

»Pass mal auf, die eigentliche Transsubstantiation mache ich. Also trage ich dafür die Verantwortung, nicht du.« John wartete darauf, dass Philippa etwas sagte, und als sie stumm blieb, setzte er noch eins drauf: »Oder fällt dir ein besserer Plan ein?«

Nein, Philippa musste zugeben, dass ihr auch nichts Besseres einfiel.

 

Am nächsten Tag hockte John in der Sauna und heizte sich gründlich auf, während Philippa darauf wartete, dass Mrs Trump in ihrer Limousine zur Arbeit erschien. Dann nahm sie aus deren Handtasche die Wohnungsschlüssel an sich. Sie holte John aus der Sauna, er löste sich in Rauch auf und glitt in eine flache, silberne Reiseflasche, die er sich vom Schreibtisch seines Vaters geborgt hatte. Nun verstaute Philippa Schlüssel und Flasche in ihrem Rucksack, zog ihren dicksten, wärmsten Wintermantel an und schlüpfte aus der Haustür.

Weil bei dem zentimetertiefen Schnee nicht viele Taxis unterwegs waren, musste Philippa zu Fuß durch den Central Park zur 72nd Street gehen, wo Mrs Trump in ihrem luxuriösen Dakota-Apartmenthaus wohnte. Mit seinen Sperrgittern, dem Graben und der Wachdienst-Station kam ihr das Gebäude eher wie eine gruselige mittelalterliche Burg vor, was nicht gerade zu ihrer Beruhigung beitrug. Aber der Portier winkte sie durch und sie machte sich auf den Weg in den siebten Stock.

Die Zwillinge waren schon öfter bei Mrs Trump gewesen. Ihre Wohnung lag neben der des ehemaligen Beatle John Lennon, der 1980 vor dem Dakotagebäude erschossen worden war. John wusste das, und außerdem wusste er, dass sich Mrs Trump einen weißen Flügel gekauft hatte – diese beiden Punkte hatten ihn auf seine Idee gebracht. Er wollte sich als John Lennon ausgeben. Besser gesagt, als John Lennons Geist.

Philippa betrat die Wohnung, ging schnurstracks zum Flügel, stellte die Flasche auf die daneben stehende Heizung und drehte die Verschlusskappe ab. Es war keine Zeit zu verlieren: Miss Pickings würde jeden Moment eintreffen.

»Jetzt lass ich dich allein, Bruderherz«, sagte Philippa in den Flaschenhals hinein. »Bis bald, hoffentlich. Und sei vorsichtig.«

»Vergiss bloß nicht, mich abzuholen«, rief John ihr nach.

Philippa fuhr mit dem Aufzug zum Eingangsbereich hinunter. In Gedanken war sie bei Isabel Getty, einer ihrer besten Freundinnen, die im Dakotagebäude wohnte, wenn sie nicht gerade in Hongkong war. Plötzlich öffnete sich die Aufzugtür und gab den Blick frei auf eine große dünne Frau mit kurz geschnittenem dunkelblondem Haar und gelblichen Zähnen. Es war Miss Pickings. Als sie Philippa erkannte, kniff sie die Augen zusammen. Philippa war Miss Pickings vorher nur ein einziges Mal begegnet, und zwar wenige Tage nachdem Mrs Trump sie eingestellt hatte. Damals war Miss Pickings noch freundlich gewesen und hatte sich tatsächlich die Mühe gemacht, die Wohnung zu reinigen.

»Was machst du hier?«, schnauzte sie und packte Philippa am Revers ihres Mantels.

»Ich besuche eine Freundin«, sagte Philippa.

»Wie heißt diese Freundin?«, wollte Miss Pickings wissen.

»Isabel Getty. Lassen Sie mich los. Ich will gehen.«

Miss Pickings trat einen Schritt zurück. Mit ihren blauen Augen, den hohen Wangenknochen und dem langen Hals sah sie aus wie eine burmesische Katze, und zwar eine hässliche. »Du bist ein ungezogenes, freches kleines Mädchen und ich konnte dich noch nie leiden. Weißt du das?«

Philippa drängte sich an Miss Pickings vorbei und ging schnell zur Tür. Dieser Vorfall nahm ihr den letzten Zweifel an Johns Plan, ob er nun besonders klug war oder nicht.

John in seiner Flasche, die auf der Heizung in Mrs Trumps Wohnung stand, hatte es so warm wie in der Sauna. Nach Miss Pickings’ Arbeitsbeginn wartete er noch eine gute Viertelstunde, dann schwebte er aus der Flasche und nahm wieder seine normale Gestalt an. Er war ein ganzes Stück von der Küche entfernt, wo Miss Pickings sich bereits mit der Zeitung und einer Tasse Kaffee im Sessel niedergelassen hatte, Fernsehen schaute und dabei ein langes Ferngespräch führte.

John duckte sich einen Moment hinter den Flügel, dann schlich er zur Küchentür, um sein Opfer genauer zu betrachten. Miss Pickings schien es sich für den Tag bequem gemacht zu haben. Es dauerte nicht lange, da stellte sie ihre Kaffeetasse beiseite, schloss die Augen und fing laut zu schnarchen an. Schlecht für Mrs Trump, aber gut für John. Er ging leise wieder ins Wohnzimmer und setzte sich an den Flügel.

Imagine war John Lennons populärster Solo-Song gewesen, und er gehörte zu den wenigen Stücken, die John auf dem Klavier spielen konnte. Außerdem hatte er eine schöne Stimme. Es gelang ihm, die ganze erste Strophe zu singen, bevor er Schritte aus der Küche näher kommen hörte. Hastig murmelte er das Wort, mit dem er seine Dschinnkräfte bündelte: »ABECEDERISCH!« Und schon hatte er die Gestalt einer Zierfigur auf dem Flügel angenommen – die kitschige Porzellanfigur eines Cembalo spielenden Jungen in der Kleidung des achtzehnten Jahrhunderts.

Es war ein komisches Gefühl, aus Porzellan zu sein und kein Glied regen zu können, aber hier oben hatte er einen freien Blick auf Miss Pickings, die sich mit unruhiger Miene dem Flügel näherte.

»Ist da vielleicht jemand?«, sagte sie und schlug zaghaft ein paar Töne an.

Könnten Porzellanfiguren lachen, wäre John nun fast von seinem kleinen Porzellanschemel gefallen; nur gut also, dass er im Augenblick unbeweglich war.

Nach einer Weile ging Miss Pickings in die Küche zurück, und das war für John das Zeichen, wieder seine menschliche Gestalt anzunehmen und noch ein paar Takte von Lennons Song zu spielen. Danach verwandelte er sich von neuem und tauchte in die saunaähnlichen Verhältnisse ein, die in der silbernen Flasche auf der Heizung inzwischen herrschten. Um nicht etwa doch noch entdeckt zu werden, beschloss er, an diesem Vormittag nichts mehr zu riskieren und sich bis zu Philippas Rückkehr häuslich in der Flasche einzurichten. Bevor sie mit Mrs Trump zurückkommen konnte, würden mindestens noch zehn Stunden vergehen.

Zum Glück würde er trotzdem nicht lange warten müssen, denn er wusste, dass ihm diese zehn Stunden nicht wie zehn Stunden vorkommen würden. Da er nämlich im Uhrzeigersinn in die Flasche geglitten war, also entgegengesetzt zur Drehung der nördlichen Halbkugel, verging die Zeit im Inneren der Flasche – außerhalb des dreidimensionalen Raumes – sehr viel schneller. Und so erschien es John nicht viel länger als eine Stunde, bis er wieder zu Hause in seinem Zimmer war und Philippa alles erzählen konnte.

»Mrs Trump hat wirklich Recht«, sagte er. »Die Pickings ist einfach unmöglich. Sie war auf dem Sofa eingeschlafen, als ich zu spielen anfing. So faul ist die.«

»Sie ist nicht nur faul«, sagte Philippa. »Mrs Trump hat den Verdacht, dass sie vielleicht auch eine Diebin ist. Sie vermisst nämlich einen Teil ihres Schmucks.«

Am Tag darauf brachte Philippa die Flasche mit ihrem Bruder wieder ins Dakotagebäude. Diesmal war John im Umgang mit seiner Dschinnkraft schon selbstbewusster. Kaum war er aus der Flasche gestiegen, versteckte er sich im Wäscheschrank, wo er seinen Körper vorübergehend zurückließ und sich in unsichtbarem Zustand ans Klavier setzte. Er spielte Imagine vom Anfang bis zum Ende und imitierte beim Singen John Lennons Liverpooler Akzent – sehr treffend, wie er fand. In Wirklichkeit war er weit entfernt davon, aber das merkten weder er noch Miss Pickings, und das war schließlich das Wichtigste. Sie rannte kreischend aus dem Wohnzimmer, schloss sich im Bad ein und telefonierte mit Mrs Trump. Kurz darauf flüchtete sie aus der Wohnung und warf die Schlüssel und die Diamantohrringe, die sie aus Mrs Trumps Nachttisch gestohlen hatte, in weitem Bogen hinter sich auf den Boden.

John stieß ein solches Triumphgeheul aus, dass es Miss Pickings geraten schien, die Treppe zu nehmen, statt auf den Aufzug zu warten.

Nachdem John seinen Körper aus dem Wäscheschrank befreit hatte, rief er Philippa auf ihrem Handy an und erfuhr, dass Miss Pickings Mrs Trump erklärt hatte, in ihrer Wohnung spuke es und sie würde nie mehr dort arbeiten. Mrs Trump sehe so glücklich aus wie schon lange nicht mehr. Nur die Sache mit dem Spuk in ihrer Wohnung mache ihr Kopfzerbrechen. Philippa habe sie aber schließlich überzeugen können, dass es weder Spuk noch Geister gäbe.

»Soll ich dich abholen?«, fragte sie ihren Bruder.

»Diesmal haben wir die Geheimniskrämerei nicht mehr nötig. Miss Pickings ist weg, also kann ich ganz normal nach Hause gehen.« John warf einen Blick aus dem Fenster. »Außerdem fängt es schon wieder an zu schneien.«

Er legte auf. Bevor er die Wohnung verließ, sah er sich noch einmal um. Er war immer noch in Hochstimmung und gratulierte sich zu dem gelungenen Streich. Plötzlich aber durchfuhr ihn ein Riesenschreck: Er stellte fest, dass er nicht mehr allein war! In einer Zimmerecke stand ein Mann mit buschigem roten Bart und Adlernase. Er trug einen blauen Nadelstreifenanzug und einen Fingerring mit einem großen Mondstein von der Größe und Farbe eines Alligatorauges. Mit diesem Ring, den er in Augenhöhe vor sein Gesicht hielt, konnte er John offenbar zur Reglosigkeit zwingen. Wütend kam der Rotbärtige auf ihn zu.

»Was unterstehst du dich, einer wehrlosen Frau einen so gemeinen Streich zu spielen?«, sagte der Mann. »Das erklär mir mal!«

John gab sich alle Mühe, aber immer, wenn er den Mund öffnete, fiel etwas Scheußliches heraus: erst ein Schwall Erbsensuppe, dann ein Stück Brokkoli, etliche Salatblätter und Artischockenherzen, schließlich eine Rübe und zuletzt eine ganze Portion Rahmspinat. John verabscheute so ziemlich jede Sorte Gemüse und der plötzliche, überwältigende Geschmack nach all dem Grünzeug war zu viel für ihn. Zum ersten Mal in seinem jungen Dschinnleben fiel er in Ohnmacht.

Das neue Buch

Als John zu sich kam, fand er sich in einer anderen Wohnung wieder. Es musste aber immer noch das Dakotagebäude sein, denn er lag auf einem Sofa am Fenster, das dieselbe Aussicht bot wie bei Mrs Trump. Die Wohnung selbst jedoch unterschied sich sehr von ihrer. Anders als Mrs Trumps Möbel, die frisch aus dem Kaufhaus stammten, war in dieser Wohnung alles alt. Es gab sogar einen großen ägyptischen Schreibtisch und mehrere Skulpturen, die John an Onkel Nimrods Londoner Haus erinnerten. Kein Laut drang durch die dicken Wände dieser Wohnung, und als ihr unheimlicher Besitzer zu sprechen anfing, schien sogar die Großvateruhr zu verstummen.

»Es tut mir leid, dass ich dich so erschreckt habe«, sagte der Mann, zog einen Stuhl heran und setzte sich neben John. »Aber ich will mich erst vorstellen: Mein Name ist Frank Vodyannoy und ich bin ein Dschinn wie du. Ich wohne seit fast fünfzig Jahren in diesem Haus und bin – neben meinem Dasein als Dschinn – auch so etwas wie ein Geschäftsberater für viele der Irdischen, die hier leben. Tatsächlich habe ich schon fast jedem der Bewohner auf die eine oder andere Art beruflich geholfen. Bei einigen kann ich mir tatsächlich nicht vorstellen, wie sie ohne meine Hilfe zurechtgekommen wären. Seit fünfzig Jahren bin ich der einzige Dschinn in diesem Haus. Deshalb war ich gestern, als ich plötzlich fremde Dschinnkräfte spürte, ziemlich beunruhigt. Ich wollte herausfinden, wer dahinter steckte, konnte dich aber nicht finden.

Und heute nun, als ich wieder deine Anwesenheit spürte, wurde ich langsam ärgerlich. Dass du ein so junger Dschinn bist, konnte ich nicht wissen. Tut mir leid, wenn ich etwas grob mit dir umgesprungen bin. Aber wie gesagt, die Leute hier sind auf mich angewiesen. Einen bösen Dschinn im Dakotahaus können wir nicht gebrauchen.«

»Ich bin kein böser Dschinn«, sagte John. »Ich bin ein guter.«

»Mich geht es nichts an, was du mit deiner Zeit treibst, aber Unfug dulde ich nicht. Nicht im Dakotahaus.«

»Es war aber kein Unfug«, rief John. »Wirklich nicht!«

Frank Vodyannoy lächelte geduldig. »Nun, es sah aber ganz danach aus«, sagte er. »Mir schien, du wolltest jemandem Angst einjagen. Ich finde es unmöglich, wenn sich Dschinn den Menschen gegenüber so aufführen.«

»Sie verstehen mich falsch, Sir. Ich wollte nur jemandem helfen. Einer Frau. Sie heißt Mrs Trump.«

»Das wirst du mir wohl erklären müssen«, sagte Mr Vodyannoy.

Inzwischen fühlte sich John etwas besser. Er setzte sich auf und erzählte, was passiert war. Als er zu Ende war, lachte Mr Vodyannoy laut auf.

»Deine Art gefällt mir, Junge«, sagte er. »Ich habe John Lennon gekannt, ich mochte ihn sehr. Ich glaube fast, ihm hätte dein Streich Spaß gemacht.«

John rieb sich die Stirn, dann schwang er die Beine vom Sofa. »Was war eigentlich mit mir los?«

»Du hast unter der Wirkung einer Dschinnfessel gestanden«, erklärte Mr Vodyannoy. »Eines so genannten Quäsitors. Dieser Quäsitor kann aufspüren, was jemand ganz besonders unangenehm findet, und genau das platziert er dann in dessen Mund. Dein Glück, dass es sich bei dir nur um Gemüse handelt. Ich habe nämlich schon alle möglichen Scheußlichkeiten aus den Mündern von Leuten stürzen sehen: Schlangen, Taranteln, auch schon eine Ratte. Du musst Gemüse tatsächlich sehr hassen.«

»Ich kann’s nicht ausstehen, Sir.«

»Aber mach dir keine Gedanken«, sagte Mr Vodyannoy. »Ich habe die Schweinerei schon beseitigt. Ich meine, das Gemüse vom Teppich deiner Mrs Trump.« Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich dachte ich, ich kenne alle Dschinn, die in New York leben. Warum bin ich dir noch nie begegnet? Zu welchem Stamm gehörst du? Zu welcher Familie? Und sag nicht ›Sir‹ zu mir. Nenne mich Frank. Oder Mr Vodyannoy.«

»Ich heiße John Gaunt, Sir, ich meine, Mr Vodyannoy. Mein Vater ist ein Mensch … ich meine, ein Irdischer. Meine Mutter ist Layla Gaunt.«

»Ah, das erklärt alles. Layla hat ihre Kinder nie in der Dschinngesellschaft bekannt gemacht. Und es heißt sogar, sie wendet ihre Kräfte nicht mehr an.«

»Das stimmt.«

»Dann musst du Nimrods Neffe sein. Natürlich! Ich habe von dir und deiner Schwester gehört. Wie ihr diesen abscheulichen Iblis überwältigt habt. Eine boshafte Kreatur wie alle Ifrit. Doch, doch, junger Mann, das war eine beachtliche Leistung. Wenn es je einen Dschinn gegeben hat, der in die Flasche gehört, dann Iblis.«

»Danke, Frank«, sagte John.

»Du musst natürlich auf der Hut sein vor seinen Söhnen. Sie sind unbeherrscht und reizbar. Denk nur an all die Hurrikans, die wir in Florida erleben mussten. Rudyard Teer, Iblis’ jüngster Sohn, war mindestens bei zweien die Ursache dafür.«

John legte die Stirn in Falten. Soweit er sich erinnerte, hatte Nimrod zu ihm und Philippa nie etwas von Iblis’ Verwandten gesagt. Möglich, dass er zu ihrer Mutter davon gesprochen hatte, aber was nützte das, wenn sie ihre Kräfte nicht mehr anwendete?

»Ich bin vom Stamm der Jann«, sagte Mr Vodyannoy. »Manche von uns sind grundanständig, manche nicht so ganz, aber der Stamm der Jann steht wie die Marid auf der Seite des Glücks. Wir sind vielleicht nicht so mächtig und einflussreich wie ihr Marid. Aber wir handeln gut.«

»Ganz bestimmt.« Wie bescheiden Frank Vodyannoy sich gibt, dachte John. Gemessen daran fand er die Wirkung der Quäsitor-Fessel jedenfalls ziemlich heftig.