Die Kinder des Nordlichts - Linda Winterberg - E-Book
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Die Kinder des Nordlichts E-Book

Linda Winterberg

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Beschreibung

Nimmt man einer Familie ihre Geschichte …

Endlich hat Marie herausgefunden, warum sie ohne ihre Großmutter Betty aufwachsen musste. Als Norwegerin, die während des Krieges schwanger von einem Deutschen war, wurde Betty von ihrer Familie getrennt. Nun will Marie auch ihrer Freundin Elin helfen, mehr über ihre deutschen Wurzeln zu erfahren. Doch ihre Suche gestaltet sich schwierig. Allein im Rezeptbuch von Elins Großmutter finden die jungen Frauen Trost – bis sich beim Backen von Zimtschnecken und Lussekattern auf einmal ein Neuanfang abzeichnet ... 

Mit köstlichen norwegischen Weihnachtsrezepten.

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Seitenzahl: 213

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Linda Winterberg

Die Kinder des Nordlichts

Roman

FISCHER E-Books

Über Linda Winterberg

Hinter Linda Winterberg verbirgt sich Nicole Steyer, eine erfolgreiche Autorin historischer Romane. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern im Taunus und begann schon im Kindesalter erste Geschichten zu schreiben, ganz besonders zu Weihnachten, was sie schon immer liebte. Bei atb liegen von ihr die Romane „Das Haus der verlorenen Kinder“, „Solange die Hoffnung uns gehört“ und „Unsere Tage am Ende des Sees“ vor.

Informationen zum Buch

Loshavn, Norwegen, 2010: Endlich hat es die junge Marie geschafft, ihre Großmutter Betty zu finden. Als Norwegerin, die während des Zweiten Weltkriegs die Geliebte eines Deutschen war, wurde Betty damals ihr Kind weggenommen. Noch während sie und Marie dabei sind, die Geschichte ihrer Familie zu ergründen, stirbt Betty. An der Seite ihrer norwegischen Freundin Elin, die ebenfalls mehr über ihre deutschen Wurzeln erfahren will, kehrt Marie nach Wiesbaden zurück. Mit im Gepäck haben die beiden jungen Frauen das alte Rezeptbuch von Elins Großmutter, und als ihre Suche zu scheitern droht, finden sie Trost in den traditionellen Backwaren aus Norwegen. Und auf einmal bietet sich über den Aromen von Zimt und Kardamom die Gelegenheit für einen Neuanfang – denn sie beschließen, ein norwegisches Café zu eröffnen. Doch um das Rätsel von Elins Herkunft zu lösen, bedarf es noch eines kleinen Weihnachtswunders …

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Inhalt

Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Aus der norwegischen BackstubeKanelsnurrer (Norwegische Zimtschnecken)Boller (Norwegische Milchbrötchen)Lussekatter (Luciakatzen)Pepperkaker (Norwegische Pfefferkuchen)TotenkringlerKvæfjordkake oder – Der beste Kuchen der WeltJulegløgg (Norwegischer Glühwein)Leseprobe: Die verlorene SchwesterPrologKapitel 1

Kapitel 1

Loshavn, Norwegen, Oktober 2010

Maries Blick wanderte über das Wasser auf die weißen Holzhäuser Loshavns, die im warmen Licht der Abendsonne vor ihr lagen. In einem von ihnen, im Haus am Odde Berg, hatte sie in den letzten Monaten ein Gefühl dafür bekommen, wie es war, eine Familie zu sein und zu jemandem zu gehören. Mit Betty, ihrer Großmutter, die letzten Sonntag im Sessel am Fenster für immer eingeschlafen war.

Dort hatte sie so gern gesessen, den Blick aufs Meer gerichtet, das sie so viele Jahre ihres Lebens vermisst hatte, genau wie auf die kleine Insel mit dem roten Haus, auf der Marie jetzt stand. Es war Joakims Insel, obwohl er schon viele Jahre nicht mehr hier gewesen war. Einige Sommer lang war er gekommen, um in dem winzigen roten Holzhaus zu wohnen und die Schönheiten des Schärengartens zu genießen. Doch irgendwann kam er nicht mehr, niemand wusste, warum. Sein Name war geblieben. Joakims Insel. Marie schaute den Hügel hinauf zu Bettys Lieblingsplatz, der zu ihrer letzten Ruhestätte geworden war. Von dort oben aus konnte man über Loshavn und den Schärengarten blicken. Dort lag sie nun neben Oda, ihrer besten Freundin aus einer anderen Zeit. Endlich waren die beiden wieder vereint. Oda und Lisbet, aufgewachsen im Dorf der weißen Häuser, hatte die Liebe kein Glück gebracht. Die Vergangenheit wog schwer – bis heute.

Marie sah zur anderen Seite der Bucht hinüber. Dort befanden sich die Reste der deutschen Verteidigungsanlage aus dem Zweiten Weltkrieg. Betty hatte ihr von dem Tag erzählt, der damals alles veränderte. Von dem Nationalfeiertag, als die Deutschen über ihren Hügel gekommen waren und Erich in ihr Leben getreten war. Die Liebe ihres Lebens, die sie verloren hatte, ebenso wie ihr gemeinsames Kind. Damals, als sie von einem deutschen Wehrmachtssoldaten schwanger war und beim Feind vermeintliche Hilfe fand. Marie dachte an Hurdal Verk. Heute war in dem Haus ein Internat untergebracht, damals war es ein Lebensbornheim gewesen. Ein Ort, der Frauen wie Lisbet und Oda Sicherheit zu versprechen schien. Doch wie trügerisch war diese gewesen. Am Ende sollte Oda ihr Leben verlieren und Lisbet ihre Tochter. Und auch Erich sollte sie niemals wiedersehen. Als er als einer der letzten Kriegsheimkehrer aus dem Osten zurückkam, hatte Betty die Suche nach ihm bereits aufgegeben und wieder geheiratet, so dass sich ihre Spur für Erich verlor. Aber Lieselotte, seine Tochter, fand er wieder. Sie lebte damals in einem Heim in der Nähe von Berlin. Marie hatte kaum Erinnerungen an Lieselotte Bauer, ihre Mutter, die bei einem Verkehrsunfall an einem sonnigen Tag im Herbst ums Leben gekommen war. Pflegefamilien und Heime waren die Folge für Marie gewesen. Ein rastloses Leben, das sie zu einer Getriebenen hatte werden lassen. Und dann war da plötzlich Betty, Lisbet, ihre Großmutter, der sie so ähnlich sah. Endlich ähnelte sie jemandem. Marie hielt an dem Gedanken fest, dass ihr Aufeinandertreffen mit Betty kein Zufall gewesen war. Das Schicksal fand manchmal sonderbare Wege, um Menschen zueinanderzubringen. Bei ihnen war der Umweg nur etwas größer gewesen. Und mochte der Schatten der Vergangenheit noch so düster sein und ihnen so viele Jahre gestohlen haben – wenigstens hatten sie und ihre Großmutter noch Zeit miteinander gehabt, und es war die Gewissheit, eine Familie zu haben, zurückgekehrt.

Marie kletterte in das kleine Boot, mit dem sie zu Joakims Insel gefahren war, und warf den Heckmotor an. Sein tuckerndes Geräusch im Ohr, ging es zurück zum Haus am Odde Berg. Während der Überfahrt zog es sich zu, und ein böiger Wind ließ das Boot schlingern. Marie fröstelte. Der erste Schnee lag in der Luft. Die alte Malin vom Haus nebenan hatte ihnen schon letzte Woche, als es noch außergewöhnlich mild gewesen war, den Wetterumschwung prophezeit. Sie spüre es in den Knochen, hatte sie gesagt. Dieses Jahr gäbe es einen harten Winter. Doch wie der Winter in Loshavn werden würde, war für Marie nicht mehr relevant, denn schon bald würde sie dem Dorf der weißen Häuser den Rücken kehren. Ohne Betty wollte sie hier nicht mehr sein. Auch gehörte ihr das Haus nicht. Betty hatte es einer gemeinnützigen Organisation überlassen, die sich um Kinder aus schwierigen Verhältnissen kümmerte. Der Gedanke, dass hier bald Kinder Geborgenheit finden würden, gefiel Marie. Sie machte das Boot am Steg fest, lief die wenigen Stufen zur Veranda hinauf und wollte die Tür öffnen. Da erklang eine vertraute Stimme. Sie wandte sich um. Ihre Freundin Elin stand vor ihr.

»Grüß dich, Marie«, sagte sie auf Deutsch, das Elin genauso fließend sprach wie Norwegisch. Ihre Großmutter, bei der sie aufgewachsen war, hatte oft Deutsch mit ihr gesprochen. Sie und Elin führten ein kleines Café in Farsund direkt am Hafen. Marie half dort von Zeit zu Zeit aus. Das Café war trotz seiner Einfachheit ein wunderbarer Ort. Weißgestrichene Stühle und Tische, ein warmer Ofen, der die winterliche Kälte vertrieb, dazu Zimtschnecken, Glögg und Unmengen alter Fotografien an den Wänden, die die Geschichten der Gegend erzählten. Vor einigen Wochen war Elins Großmutter Jane jedoch ebenfalls gestorben, und seitdem mochte Elin das kleine Lokal nicht mehr öffnen. »Mit Oma hat das Café seine Seele verloren«, hatte sie erst neulich zu Marie gesagt.

»Hast du einen Moment?«, fragte Elin und trat näher.

»Sicher. Kaffee?«, fragte Marie.

Elin nickte. Die beiden gingen ins Haus, und Marie füllte Wasser in den altmodischen Teekessel mit dem Blumenmuster, der auf dem Holzofen stand. Das Haus war größtenteils noch so wie vor sechzig Jahren eingerichtet. Eine Heizung gab es nicht. In der Küche war es der Holzofen, der für Wärme sorgte, in der Stube der Kamin. Für die oberen Räume, die früher gar nicht beheizt wurden, hatte Marie Heizlüfter angeschafft, sonst hätte sie die beiden Winter nicht überstanden. Gefroren hatte sie dennoch unentwegt. Für ein Mädchen aus Deutschland war der norwegische Winter in einem alten Holzhäuschen durchaus als Herausforderung zu betrachten. Aber eine Sache hatte sie trotz aller Kälte geliebt. Die Nordlichter. Das grünlich schimmernde Licht, das über den Himmel zu tanzen schien, war so unbeschreiblich schön, stundenlang konnte sie es betrachten. Sie würde es in Wiesbaden vermissen, ebenso wie den Schnee. Plötzlich dachte sie an Bettys Worte, die sie kurz nach ihrer ersten Begegnung in Wiesbaden gesagt hatte: »Das sind die beiden Dinge, die ich am meisten an Norwegen vermisse – das Meer und den Schnee. Richtigen Schnee, nicht die Matschbrühe, die hier alle drei heilige Zeiten vom Himmel fällt und gleich wieder davonschwimmt. Echten Schnee, der wie Watte aussieht, monatelang liegen bleibt und ganz anders riecht als dieses von Streusalz zerfressene Zeug.«

Heute verstand Marie, was Betty damals gemeint hatte. Hier war der Winter leiser, in das sanfte Weiß gehüllt, brachte er einen zur Ruhe. Oft hatte sie warm eingepackt mit einem Teebecher in der Hand auf der Veranda gesessen, über den verschneiten Schärengarten geblickt und die frostig klare Luft eingeatmet. Diesen Winter wäre es wohl vorbei mit diesen stillen Momenten des Glücks. In Wiesbaden waren die Winter nasskalt und grau, zumeist ohne Schnee und natürlich ohne Nordlichter zum Bewundern.

Marie löffelte Instantkaffeepulver in zwei Becher, füllte sie mit Wasser, und die beiden setzten sich an den Küchentisch.

»Wann genau reist du ab?«, fragte Elin.

»Montag«, erwiderte Marie. »Ich kann fürs Erste bei Gertrud unterschlüpfen, bis ich was Eigenes gefunden habe. Für einige Monate wird das Geld von Betty reichen. So bleibt mir Zeit, zu überlegen, was ich nun machen will. Und du? Wirst du das Café wiedereröffnen?«

»Nein«, erwiderte Elin. »Ich habe darüber nachgedacht, denn Oma hätte es bestimmt gewollt. Aber das Haus war nur gemietet, und Björn hat mir gekündigt. Gerade eben habe ich das Schreiben aus dem Briefkasten gefischt. Er war zu feige, es mir ins Gesicht zu sagen. Seit über sechzig Jahren lebte meine Großmutter in dem Haus. Eine Kündigung stand niemals zur Diskussion.«

»Und wieso jetzt?«, hakte Marie nach.

»Weil er es verkaufen will. Irgendein Investor kauft gerade haufenweise Immobilien in der Region auf. Was genau er vorhat, weiß ich nicht. Björn war schon immer aufs Geld aus.«

»Und was nun?«, fragte Marie mit betroffener Miene.

»Ehrlich gesagt – keine Ahnung. Das Café war alles, was ich hatte. Bald werde ich nicht einmal mehr eine Wohnung haben. Oma hat immer gesagt, sie hätte das Haus Einar, Björns Vater, längst abkaufen sollen. Aber immer fehlte das nötige Geld. Und dann musste sie sich ja auch noch um mich kümmern, nachdem meine Mutter …« Elin sprach nicht weiter.

»… abgehauen ist«, vollendete Marie ihren Satz.

Elin nickte. »Und später gestorben, irgendwo in Kalifornien, wie wir erst ein halbes Jahr nach ihrem Tod erfahren haben.«

»Wir wissen beide, wovor sie weggelaufen ist«, kam Marie auf das zu sprechen, worüber Elin nicht reden mochte – den Lebensborn, den Krieg. Auch Elins Großmutter war eine der jungen Norwegerinnen gewesen, die sich in einen Deutschen verliebt hatten. Sie war jedoch trotz aller Anfeindungen in Farsund geblieben und nicht wie Betty in einem der Lebensbornheime der Deutschen gelandet. Vielleicht wäre dieser Weg auch für Betty der bessere gewesen. Dann hätte sie ihre Tochter Lieselotte behalten können, und ihr Geliebter Erich hätte sie nach Kriegsende wiedergefunden. Denn er hatte in Loshavn nach der jungen Norwegerin gesucht. Das hatte ihnen die alte Hedda erzählt, die inzwischen über neunzig Jahre zählte und sich noch gut daran erinnern konnte, wie der Deutsche aufgetaucht war und Fragen gestellt hatte, die ihm niemand beantwortete. Deutsche wollte hier keiner mehr haben. Für Betty war es viele Jahre später ein harter Schlag gewesen, zu erfahren, dass er nach Kriegsende in ihrem alten Heimatort gewesen war und nach ihr gesucht hatte. Zu diesem Zeitpunkt war Betty bereits verheiratet. Doch zeit ihres Lebens hatte sie sich vergebens bemüht, ihre erste große Liebe zu vergessen, ihr Kind, das die Deutschen ihr weggenommen hatten, und alles, was mit dem Krieg, dem Lebensborn und Norwegen zu tun hatte.

Elin nickte. »Sie ist vor der Vergangenheit und dem dummen Gerede der Leute davongelaufen. Mama hat nie verstanden, weshalb Oma mit mir noch Deutsch sprach. Sie hasste und verurteilte sie dafür. Aber Oma hat diesen Mann ihr Leben lang geliebt, obwohl er sie so betrogen und alleingelassen hat. Die deutsche Sprache verbindet mich mit ihm, hat sie mir einmal gesagt.«

»Vielleicht wollte er sie ja gar nicht alleinlassen«, sagte Marie. »Es könnte doch sein, dass es die Umstände waren, die dazu führten. Der Krieg hat so viele Menschen getrennt. Vielleicht stimmt es nicht, was deine Oma erzählte, oder es gab einen triftigen Grund, weshalb er sich nie wieder bei ihr gemeldet hat.«

»Wieso wohl sollte man eine Verlobung lösen, wenn nicht wegen einer anderen Frau?«

»Wir werden es nur erfahren, wenn wir ihn fragen.«

»Ich weiß nicht, ob ich das will«, entgegnete Elin. »Vermutlich ist er ohnehin nicht mehr am Leben.«

»Und wenn er es noch ist? Wir könnten Nachforschungen anstellen. Du weißt doch, dass meine Freundin Gertrud in Wiesbaden …«

Weiter kam Marie nicht.

»Nein«, unterbrach Elin sie ruppig. »Ich hasse ihn. Er hat Oma und Mama damals im Stich gelassen. Wieso sollte ich nach all den Jahren Kontakt zu einem Mann aufnehmen, der uns nicht haben wollte? Der in all den Jahren nicht ein einziges Mal nach seinem Kind gefragt hat?«

»Vielleicht, weil es manchmal Gutes bringen kann, die Vergangenheit nicht ruhen zu lassen? Sieh mich an. Ich hätte Betty niemals gefunden, wenn ich nicht zu suchen begonnen hätte.«

»Dir kam der Zufall zu Hilfe«, antwortete Elin, zog eine Grimasse und nippte an ihrem Kaffee.

Marie lächelte und erwiderte: »Vielleicht. Manchmal sind es aber auch gute Freunde, die einem zu Hilfe kommen.« Sie machte eine kurze Pause und fügte hinzu: »Oder die Dinge tun, die sie lieber bleibenlassen sollten.«

»Die da wären?«, hakte Elin nach.

»Ich habe Gertrud gebeten, in Deutschland nach deinem Großvater zu suchen«, gestand Marie.

»Du hast was?« Elin stellte ihren Kaffeebecher auf den Tisch und sah Marie entgeistert an. »Wieso tust du so etwas?« Sie stand auf, und ihre Stimme wurde laut. »Wieso gräbst du ohne Erlaubnis in der Vergangenheit anderer herum? Ist dir deine nicht schon schrecklich genug?«

»Sie hat ihn gefunden«, sagte Marie, ohne auf Elins Worte einzugehen.

»Es ist mir egal, was sie hat«, schleuderte Elin ihr entgegen. »Er hat meine Großmutter damals mit dem Kind im Stich gelassen. Und sie hat niemals aufgehört, an ihn zu denken. In der Schublade ihres Nachttisches liegt diese gottverdammte Fotografie von ihm, auf der er meine Mutter im Arm hält. Er hat ihr so weh getan, hat uns weh getan. Ich will ihn nicht sehen. Und ich dachte, du wärst eine Freundin.«

Ohne ein weiteres Wort verließ Elin das Haus und schlug laut die Tür hinter sich zu. Marie beobachtete, wie sie die Stufen der Veranda hinuntereilte. Sie wusste, dass Elin wiederkommen würde. Ihr Großvater war ein Teil ihrer selbst, und Jane hatte ihn geliebt. Einmal hatte sie Marie davon erzählt, wie sie ihn, sein Name war Wilhelm, damals kennengelernt hatte. Bei einer Tanzveranstaltung in Farsund. Er war so nett und höflich gewesen, verstand etwas von Lyrik, rückte ihr den Stuhl zurecht, lachte mit ihr und erzählte von seiner Heimat. Er stammte aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Aschaffenburg. Es lag in einem Waldgebiet namens Spessart, das Jane so gern einmal gesehen hätte. Doch sie sollte dort niemals hinkommen. Die Verlobung hatte er nach seiner Rückkehr aus Russland per Brief gelöst. Danach hatte sie nie wieder von ihm gehört. Wilhelms und Janes Liebesgeschichte hörte sich an wie eine von vielen aus jener Zeit. Janes Augen hatten stets einen ganz eigenen Glanz gezeigt, wenn sie von Wilhelm gesprochen hatte. Die Zeit mit ihm sei die schönste ihres Lebens gewesen. Sie hatte niemals geheiratet. Niemand hätte seinen Platz einnehmen können.

Marie bemerkte, dass erste Schneeflocken vom Himmel fielen. Sie lächelte. Auf die Knochen der alten Malin war Verlass. Sie trat vom Fenster zurück und stellte die beiden Tassen in die Spüle. Dann setzte sie sich mit ihrem Laptop in der Stube auf die Ofenbank und begann im Internet nach Stellenangeboten in Wiesbaden zu suchen. Wonach sie Ausschau halten sollte, wusste sie nicht so recht. Es gab viele Anzeigen aus dem Gastgewerbe, hauptsächlich für Bedienungen. Eine Firma suchte eine Bürohilfe. Und wenn sie doch eine Ausbildung begänne? Bloß als was?

Irgendwann klappte sie den Laptop zu und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Der alte Ofen, die Bilder an den Wänden, der Tisch und die Eckbank am Fenster, auf der schon ihre Urgroßeltern gesessen hatten. Bald würde sie das alles hinter sich lassen. Vielleicht hätte sie Betty doch bitten sollen, ihr das Haus zu überlassen. Doch wie sollte es hier für sie weitergehen? Die letzten Monate hatte sie mit Betty in den Tag hineingelebt, Norwegen und ihre Wurzeln in sich aufgesaugt und den Rest der Welt ausgeblendet. Viele Stunden des Tages hatten sie Schach gespielt, weil Betty es so liebte. Auf der Terrasse ihren Geschichten aus einer anderen Zeit gelauscht. Zwar war ihre Großmutter nun fort, doch ihre Gegenwart blieb stets allgegenwärtig, so dass Marie erst gestern den ganzen Tag in ihrem Zimmer auf dem Bett gelegen und geweint hatte. Loshavn mit seinen weißen Häusern und der Schärengarten erinnerten sie so sehr an Betty. Nun galt es, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und neu anzufangen. Herauszufinden, was sie aus ihrem Leben machen, wer sie sein wollte.

Draußen sprang die Lampe der Veranda an. Sie hatte einen Bewegungsmelder. Es klopfte an der Tür. Elin. Sie war schneller zurückgekommen als gedacht. Marie ging zur Tür und öffnete ihr.

»Könntest du dir vorstellen, dass ich mit nach Deutschland komme?«, fragte Elin ohne ein Wort der Begrüßung und betrat den Raum. Sie machte einen recht eingeschneiten Eindruck, was Marie an ihre erste Begegnung mit Elin erinnerte. Es war kurz vor Weihnachten, als sie vor einem starken Schneeschauer Schutz suchend in dem Café von Elin und ihrer Großmutter gestrandet war. Elin hatte sofort bemerkt, dass sie Deutsche war, und sie waren ins Gespräch gekommen. Marie erinnerte sich gern an diesen Nachmittag in dem gemütlich warmen kleinen Gastraum mit seinen wenigen, mit Tannenzweigen und Kerzen schlicht dekorierten Tischen, den alten Schwarzweißbildern an den Wänden und dem Kaminofen, auf dem sich allerlei bunte Trolle tummelten. Sie hatten viel geredet, Janes leckere Zimtschnecken gegessen und Glögg getrunken. Schnell waren sie auf ihre gemeinsame Vergangenheit gekommen, und als Marie das Schild Aushilfe gesucht im Schaufenster entdeckte, hatte sie damals spontan gefragt, ob sie die Stelle haben könne.

»Und wie ich mir das vorstellen kann«, antwortete Marie nun lächelnd und bot Elin einen warmen Tee an.

Kapitel 2

Frankfurt

Jetzt bin ich also wieder hier, dachte Marie. Am Frankfurter Flughafen. Alles auf Anfang. Deutschland empfing sie mit kühlem Herbstwetter. Zehn Grad und Nieselregen. So ähnlich fühlte sich auch ihre Stimmung an.

Der Abschied von Loshavn war ihr schwergefallen. Dort hatte heute Morgen die Sonne geschienen, und von dem gefallenen Schnee waren nur noch wenige Reste übrig geblieben. Zum letzten Mal war sie zu dem Felsen auf dem Hügel gelaufen, neben dem Betty und Oda beerdigt waren. Sie hatte ihren Blick über den Schärengarten schweifen lassen, der im goldenen Licht des Herbstmorgens vor ihr gelegen hatte. Betty war wieder zu Hause, sie war an ihrem Lieblingsplatz, mit Oda vereint. Ein letztes Mal hatte sie geweint, leise, nur für sich. Um Betty, die verlorene Zeit, um ihre Mama, die ihre richtige Mutter niemals hatte kennenlernen dürfen. Irgendwann war Marie aufgestanden und zurück ins Haus am Odde Berg gegangen. Den Schlüssel übergab sie einer Nachbarin. Das Taxi kam und brachte sie in die Welt hinter dem Hügel. Nach Farsund, wo Elin wartete, die ebenso bedrückt wie sie selbst dreinblickte. Gemeinsam waren sie mit dem Bus nach Kristiansand zum Flughafen gefahren. Die Reise hatte sich in die Länge gezogen, denn Direktflüge nach Frankfurt gab es nicht. Drei Stunden hatten sie auf dem Amsterdamer Flughafen die Zeit totgeschlagen, bis es endlich weiterging.

Und nun waren sie wieder hier. Maries Blick wanderte über das Rollfeld, das im Dämmerlicht des nahenden Abends versank. Ein Flugzeug rollte gerade Richtung Startbahn, ein weiteres kam an. Ein Kommen und Gehen, Menschen, die abreisten, sich verabschiedeten, wiederkamen. Sie mochte Flughäfen und Bahnhöfe. An solchen Orten herrschte eine besondere Art von Betriebsamkeit, sie kamen nie zur Ruhe.

»Zur Gepäckausgabe müssen wir hier entlang«, sagte Elin, die neben ihr lief. »Ganz schön groß, dieser Flughafen, und so voller Menschen. Daran muss ich mich erst noch gewöhnen.« Ihre Stimme klang unbekümmert, doch ihr Gesicht verriet ihre Anspannung. Vermutlich wäre ich es an ihrer Stelle auch, dachte Marie. Elin hatte die meiste Zeit ihres Lebens in Farsund verbracht, nur wenige Male war sie bis Kristiansand gekommen. Der Trubel des internationalen Knotenpunktes schien sie zu erschlagen.

Sie erreichten das Gepäckband und warteten auf ihre Koffer.

»Und du denkst, dass es die richtige Entscheidung war?«, fragte Elin, während sie eine Mutter bedauernd dabei beobachtete, wie sie, ein schreiendes Baby auf dem Arm, ihren Koffer vom Gepäckband hievte.

»Ja, das war es. Es wird dir guttun, Antworten zu finden. Und vielleicht kannst du dann mit dem Thema ohne Groll abschließen. Es ist nicht gut, solche Dinge aus der Vergangenheit mit sich herumzuschleppen.«

»Obwohl es mich eigentlich gar nicht betrifft«, erwiderte Elin.

»Wenn das so wäre, wärst du jetzt nicht hier«, entgegnete Marie und deutete nach vorn. »Da kommt einer meiner Koffer. Wenn wir alles haben, müssen wir zur S-Bahn. Gertrud wartet bestimmt schon auf uns. Du wirst sie mögen.«

Es dauerte nicht lange, bis das restliche Gepäck kam. Die beiden machten sich auf den Weg zur S-Bahn. Als diese den Flughafenbahnhof verließ, war es endgültig dunkel.

»Du wirst Wiesbaden also bei Nacht kennenlernen«, sagte Marie.

»Wie ist die Stadt?«

»Ganz okay, auf jeden Fall deutlich ruhiger und übersichtlicher als Berlin. Allerdings wird sie dir vermutlich riesig vorkommen. Sie ist die Landeshauptstadt von Hessen. Es gibt schöne alte Stadthäuser, ein Staatstheater und großzügige Parkanlagen. In einer von ihnen habe ich mit Betty immer Schach gespielt. Im sogenannten Warmen Damm. Sie hat es geliebt, wenn wir dort waren. Das Altenheim mochte sie gar nicht.«

»Wer mag schon Altenheime«, erwiderte Elin. »Oma hat immer gesagt, keine zehn Pferde würden sie in einen solchen Schuppen bringen. So war es am Ende ja auch. Sie starb in ihrer geliebten Küche vor dem Backofen. Noch immer habe ich ihre letzten Worte im Ohr. Elin, hat sie gesagt. Mir geht es gerade nicht so gut. Dann lag sie auch schon tot auf dem Fußboden. Und das Letzte, was sie von mir hörte, war: Was hast du gesagt?« In Elins Augen traten Tränen.

Marie nahm ihre Hand und drückte sie.

»Sie wusste genau, wie viel sie dir bedeutet hat. Und ich bin sicher, auf irgendeine Weise wird sie für immer mit dir verbunden bleiben.«

»Ja, das glaube ich auch.« Elin bemühte sich um ein Lächeln. »Es ist nur …« Sie stockte. »Sie fehlt mir so sehr. Ihre Stimme, ihr Lachen, der Duft ihrer Zimtschnecken. Sogar ihr Gemecker vermisse ich. Ich weiß, sie war schon siebenundachtzig. Und wir wussten um das Schlaganfallrisiko. Aber ein paar Jahre länger hätte sie ruhig noch bei mir sein können.« Elin seufzte.

Den Rest der Fahrt sprachen sie kaum noch. In Wiesbaden angekommen, verließen sie den Bahnhof durch den Haupteingang und stiegen in einen Stadtbus, der sie in die Taunusstraße beförderte. Von dort aus war es nicht mehr weit bis zu Gertruds Wohnung, die in einem Altbau in einer schmalen Nebenstraße lag.

Marie las den Namen auf der Klingel, bevor sie sie drückte. G. Kugler stand darauf. Plötzlich hatte sie ihre erste Begegnung mit Gertrud vor Augen. Es war im Schwesternzimmer des Altenheims gewesen, in dem sie ihr Freiwilliges Soziales Jahr gemacht hatte. Im Haus Sonnenschein, das ihr Leben verändert hatte, denn dort war sie Betty begegnet. Gertrud hatte sie nur knapp gegrüßt und schnell ihren Kaffee geleert. Schüchtern und zurückhaltend hatte sie gewirkt, eine unscheinbare Frau. Dass sie einmal so eng mit ihr befreundet sein würde, hätte Marie damals nicht gedacht. Neben Betty war Gertrud eine ihrer wichtigsten Bezugspersonen und nun ihre Zwischenstation auf dem Weg in ein neues Leben. Der Türsummer ging, und sie betraten das Treppenhaus, in dem ihnen eine Mischung aus Essengerüchen, Bohnerwachs und Zigarettenrauch entgegenschlug. Gertrud wohnte parterre, was ihnen das Kofferschleppen in eines der oberen Stockwerke ersparte. Sie stand lächelnd in der Tür. Bei ihrem Anblick erfasste Marie ein warmes Glücksgefühl. Sie stellte ihren Koffer ab und ließ sich von der rundlichen Frau umarmen, die nach gebratenem Fett duftete, was ihr vollkommen gleichgültig war.

»Marie, Liebes«, sagte Gertrud. »Es ist so schön, dich wieder hier zu haben.«

Sie löste sich aus der Umarmung, und ihr Blick blieb an Elin hängen.

»Sie müssen Elin sein. Ich bin Gertrud. Schön, Sie kennenzulernen. Oder wollen wir du sagen? Ist einfacher. Kommt rein, ihr beiden. Ich habe gekocht. Nach der langen Reise müsst ihr doch hungrig sein. Es gibt Spaghetti bolognese und zum Nachtisch ein Tiramisu, das mir Sofia von der Pizzeria gegenüber gebracht hat. Sie meinte, zur Begrüßung meiner Marie müsste ich etwas Besonderes auftischen. Carlos hat uns sogar noch eine Flasche Rotwein geschenkt. Ich soll dich unbekannterweise von den beiden grüßen. Sie sind sehr nett, du wirst sie mögen.«

»Danke«, antwortete Marie lächelnd.

»Ich habe schon euer Zimmer hergerichtet. Marie, du kannst auf dem Sofa schlafen. Leider lässt es sich nicht ausklappen. Aber von einer Nachbarin konnte ich noch ein Gästebett für dich organisieren, Elin. So ein aufblasbares Ding.« Sie ging den langen Flur hinunter, der nur dürftig von einer Lampe erhellt wurde, die auf einer Kommode stand.