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Die fünf Klagelieder Jeremias sind dichte und sehr poetische Texte, die über die Zerstörung Jerusalems im 6. Jh. v. Chr. klagen. Sie zeigen einen Weg, wie die Sprachlosigkeit gegenüber Gott überwunden werden kann, wie aus Bitterkeit wieder Vertrauen erwachsen kann. Auf der Grundlage des Textes der revidierten Einheitsübersetzung legt der Kommentar die fünf Klagelieder im Zusammenhang des ganzen Buches aus. Er deutet die Texte vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung, entfaltet ihre poetische Schönheit und erschließt die theologische Tiefe ihrer Grundgedanken. Ein wissenschaftlich fundierter Kommentar in einer für Laien verständlichen Sprache.
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Neuer Stuttgarter Kommentar– Altes Testament 20/1 –
Neuer Stuttgarter Kommentar– Altes Testament 20/1 –
Herausgegeben von Christoph Dohmen
Christian Frevel
In memoriam
Erich Zenger (5.7.1939–4.4.2010)
Frank-Lothar Hossfeld (19.6.1942–2.11.2015)
www.bibelwerk.de
ISBN 978-3-460-07201-5
eISBN 978-3-460-51011-1
© Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2017
Alle Rechte vorbehalten
Gestaltung: Rund ums Buch – Rudi Kern, Kirchheim/Teck
Druck: finidr s.r.o., Český Těšín
Printed in the Czech Republic
VORWORT
ERSTER TEIL: EINLEITUNG
I.Bezeichnungen des Buches
II.Stellung im Kanon
III.Jeremia als Autor der Klagelieder
1.Infragestellung der Autorschaft Jeremias
2.Autoren und Tradenten der Klagelieder
3.Jeremia als auktorialer Fluchtpunkt der Klagelieder
IV.Zur poetischen Form der Klagelieder
1.Sprecherrollen und Sprechrichtungen
2.Die Personifizierung Jerusalems und die Stilisierung als Stadtklage
3.Ein ABC der Klage
V.Entstehung
1.Zum Profil der einzelnen Lieder und Reihenfolge der Entstehung
2.Zur Komposition der Klagelieder
3.Besonderheiten
VI.Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund der Klagelieder
1.Juda im Kräftespiel der Mächte
2.Lokal – National – International – Zur Rolle YHWHs als Stadtgott in der Gottesstadt
3.Die paradoxen Folgen der Errettung Jerusalems
4.Die Stadt wird belagert und Jojachin kapituliert
5.Die Deportation der Bevölkerung nach Babylon
6.Zidkija als letzter König Judas
7.Die Zerstörung des Tempels 587 v. Chr
8.Die Zerstörung Jerusalems und des Umlandes
9.Kein leeres Land
10.Gab es Klagefeiern am zerstörten Heiligtum?
11.Die Stadt steht im Zentrum der Klagelieder
12.Wiederaufbau des Tempels und der Stadtmauern
13.Das verarmte nachexilische Jerusalem
14.Der historische Hintergrund und die Klagelieder
VII.Theologische Aspekte
1.Paradoxe Spannungen im Gottesbild – Liebe und Gewalt
2.Gott als Herr der Geschichte
3.Der anstößige Zorn Gottes und die Notwendigkeit der Klage
4.Das Problem der Gottesgewalt
5.Gott hat sein Volk nicht verworfen
6.Wege aus der Gotteskrise durch eine Spiritualität der Klage
7.Die Klagelieder als Katastrophenliteratur
ZWEITER TEIL: KOMMENTAR
I.Jerusalem hat keinen Tröster – Klgl 1
II.Gotteskrise – Klgl 2
III.Die Erfindung der Theologie – Klgl 3
IV.Verblasster Glanz und ein unglaublicher Zusammenbruch – Klgl 4
V.Anhaltende Bedrängnis und ein ewig thronender Gott – Klgl 5
DRITTER TEIL: ANHANG
I.Rezeption der Klagelieder
1.Altes Testament
2.Neues Testament
3.Antikes Judentum
4.Kirchenväter
5.In der Liturgie
6.In der Musik
7.In der Kunst
8.Aktualität
II.Literatur
1.Kommentare
2.Sonstige Literatur
III.Glossar
IV.Abbildungsverzeichnis
Was beschäftigst du dich mit so dunklen Texten voller Depression, in denen Gott brutal und gewalttätig geschildert wird? Diese Frage habe ich mir öfters anhören müssen, wenn ich meine Begeisterung über die fünf Lieder nicht zurückhalten konnte. Die Klagelieder Jeremias sind mir in den vergangenen zwei Dekaden, in denen ich immer wieder in unterschiedlicher Intensität an diesen Texten gearbeitet habe, sehr lieb geworden. Die Wucht, mit der ihre Gewaltschilderung auf die Leserinnen und Leser trifft, wirft mich nicht mehr aus der Bahn. Im Gegenteil, ich lese in ihnen neben der Herausforderung auch Ansätze zur Bewältigung der Gewalt. Ich höre und lese in ihnen leise Stimmen des Widerstands und eine außergewöhnliche poetische Kraft. Immer neu gehen mir Perspektiven und Sichtweisen in diesen Texten auf, die nicht an der Oberfläche liegen. Es sind Texte, die ein Gewebe der Zuversicht wie ein Sprungtuch tragen, auch wenn der tiefste Aufschrei der Klage bis zum Ende nicht verhallt. Es sind Texte, deren Aktualität sich immer wieder dann erweist, wenn Katastrophen kollektiv zu bewältigen sind. Die Klagelieder sind eine theologische Herausforderung, die es wert ist, sich ihr zu stellen.
Die Kommentierung war mir ein Anliegen und ich bedaure, dass sie so lange hat auf sich warten lassen. Da die Beschäftigung immer wieder unterbrochen wurde, weil sich andere Projekte in den Vordergrund geschoben haben, ist der Eindruck, den ich von diesen Texten gewonnen habe, einem Wandel unterzogen gewesen. Das betrifft sowohl die Theologie als auch die Entstehungsgeschichte. Der Kommentar bezieht sich auf die revidierte Fassung der Einheitsübersetzung von 2016, sofern das nicht anders vermerkt wird.
Ich danke dem Herausgeber Christoph Dohmen für die Geduld und die Beharrlichkeit, mit der er das Manuskript eingefordert hat. Was als Last empfunden wurde, hat vielleicht letzten Endes doch dazu geführt, dass der Kommentar neben vielen anderen Aufgaben abgeschlossen wurde. Wäre ich dabei nicht von den jeweiligen Teams in Bonn, Köln und Bochum und vor allem von meiner Frau Sabine so nachhaltig, entlastend und verständnisvoll unterstützt worden, wäre der Kommentar sicher nicht fertig geworden. Dankbar bin ich auch vielen Kolleginnen und Kollegen für vielfältigen und bereichernden Austausch über die Klagelieder und ihre Auslegung, besonders Klaus Koenen, Katharina Pyschny und Dirk Human. Erich Zenger und Frank-Lothar Hossfeld haben seinerzeit die Beschäftigung mit den Klageliedern angeregt und mich als Mentoren und Freunde begleitet. Beiden sei der Band in memoriam dankbar gewidmet.
Bochum, am 9. Av 5776
Christian Frevel
In der Einheitsübersetzung1 ist das Buch „Die Klagelieder“ überschrieben. Das ist die Übersetzung der altgriechischen Bezeichnung für Klagegesänge threnoi, das in dem lateinischen lamentationes „Jammern, Wehklagen“ aufgenommen ist.
So wie der lateinische Titel in der Vulgata oft zu „Lamentationes Jeremiae (Prophetae)“ erweitert ist, findet er sich auch bei Luther „Die Klaglieder Jeremia“ und entsprechend in der revidierten Lutherübersetzung (2016) als „Die Klagelieder Jeremias“. Das rührt letztlich von der griechischen Fassung der Septuaginta her, in der vor dem ersten Vers ein Incipit steht. Das lautet in Übersetzung:
Und es geschah, nach der Wegführung Israels und als Jerusalem verwüstet war, da saß Jeremia weinend da und sang klagend diesen Klagegesang über Jerusalem und sprach:
Die Klagelieder werden hier zeitgeschichtlich verortet und in die unmittelbare Nähe der Eroberung Jerusalems 587 v. Chr. gestellt. Zugleich werden sie dem Propheten Jeremia als Autor zugeschrieben, was im hebräischen Text nicht der Fall ist. Der Klagegesang wird als threnos bezeichnet, wovon sich die latinisierte Bezeichnung Threni ableitet. In der jüdischen Tradition werden die Klagelieder nach dem Anfangswort der Klgl 1, 2 und 4 ’Echa benannt, was mit „Wehe!“ oder „Ach!“ zu übersetzen ist. Daneben wird schon früh, etwa im Talmud, der Titel qinôt benutzt, was eine Gattungsbezeichung für Klagen, insbesondere Totenklagen im Alten Testament ist. Das Wort qînāh „Leichenklage“ kommt im AT nur in 2 Chr 35,25 im (regulären) Plural vor, wo von Liedern der Totenklage Jeremias auf König Joschija die Rede ist.
Da die Klagelieder schon früh mit dem Propheten Jeremia verbunden waren, finden sie sich in der Einheitsübersetzung unmittelbar nach dem Buch Jeremia. Das lehnt sich an die lateinische Fassung der Vulgata an. Jeremia wird so zum Sprecher der Klagelieder. Bei den Kirchenvätern und vielleicht auch schon in der jüdischen Tradition, für die sich bei dem jüdischen Schriftsteller Josephus und bei Hieronymus Hinweise finden, wird das Buch oft mit Jeremia als ein Buch gezählt. In den griechischen Codizes steht das Buch jedoch meist nach Baruch, das sich in seiner Überschrift auf den fünften Jahrestag der Eroberung Jerusalems bezieht. In der jüdischen Tradition hingegen wird das Buch nicht unter die Propheten gerechnet, sondern zählt als eine der fünf Megillôt genannten Rollen, die an den Festen gelesen werden, zum dritten Kanonteil Ketûbîm „Schriften“. Dabei finden sich ab dem 11. Jh. zwei Anordnungsprinzipien: Entweder sind die fünf Bücher dem Festkalender entsprechend geordnet, beginnend im Frühjahr mit dem Hohelied (Pessach), Rut (Wochenfest), Klagelieder (Gedenktag der Tempelzerstörung am 9. Av), Kohelet (Laubhüttenfest) und Ester (Purim). Die alternative etwas spätere Anordnung orientiert sich an der vermeintlichen Entstehungszeit und den zugeschriebenen Verfassern der Bücher. Rut steht dann voran, weil es von den Vorfahren Davids handelt und in der Tradition Samuel zugeschrieben wird. Nach den „salomonischen“ Büchern Hohelied und Kohelet folgen dann die Jeremia zugeschriebenen Klagelieder und am Schluss steht das Buch Ester, das am persischen Hof spielt und Mordechai zugeschrieben wurde.
Wie das oben zitierte Incipit der Septuaginta-Übersetzung belegt, sind die Klagelieder schon sehr früh mit Jeremia verbunden worden. Auch im aramäischen Targum und im Babylonischen Talmud (Baba Batra 15a) ist diese Autoren-Zuschreibung schon früh belegt. Von der Antike bis in die Neuzeit war Jeremia als Autor unhinterfragt. Gelegentlich griff man dabei zur Begründung auf 2 Chr 35,25 zurück, wo Jeremia über den Tod Joschijas klagt und ein threnoi genanntes Buch von Klageliedern erwähnt wird. Jene Stelle eignet sich aber kaum zur Begründung der Autorschaft der Klagelieder, da die Threni nicht über den Tod Joschijas klagen, auch nicht 4,20, das vor allem jüdische Kommentare auf Joschija bezogen haben.
Daher wurde in der kritischen Bibelwissenschaft durchgehend bestritten, dass Jeremia der Autor der Klagelieder sein kann. Die ersten Versuche dazu gehen auf das 18. Jh. zurück und wurden klassisch im 20. Jh. ausgebaut. So wurden Spannungen zwischen Klageliedern und Jeremia ausgemacht, etwa dass der Autor nach 4,19 am Fluchtversuch Zidkijas doch offenbar beteiligt war, was für Jeremia nicht zutreffe, und Jeremia doch Zidkija außerdem harsch kritisiert habe (Jer 21,4–5; 37,18). Oder dass der Verfasser in 2,9 klage, die Propheten würden keine Offenbarungen mehr empfangen, was für Jeremia doch nicht gelte. Oder dass in den Klageliedern der 14-mal vorkommende Gottestitel Adonai „Herr“ anders als immer in Jeremia nie mit dem Tetragramm YHWH „HERR“ verbunden sei etc. In der jüngeren kritischen Bibelwissenschaft wurde zudem bald die einheitliche Verfasserschaft der fünf Lieder bestritten, da die einzelnen Lieder zum Teil in poetischer und theologischer Hinsicht sehr weit auseinanderliegen. Während Jerusalem im ersten Lied selbstreflexiv ist, dominieren im zweiten Lied Schock und Enttäuschung über das Verhalten Gottes. Das dritte Lied ist hoch reflexiv durch das Auftreten des Einzelnen. Sein Rückgriff auf die Tradition und das darin erinnerte Vertrauen hebt sich deutlich von dem einzelnen Sprecher in Lied 1 ab. In Lied 4 steht neben der Unfassbarkeit des Leids die Heilszusage. Während in Lied 1 das Sündenbekenntnis auch die Schuld Jerusalems einschließt, behaupten die Sprecher von 5,7, nur die Väter hätten gesündigt. Insbesondere Klgl 3 und Klgl 5 unterscheiden sich untereinander, aber auch stark von Klgl 1, 2 und 4. Die Rede von Sünde und Schuld in den Liedern ist sehr unterschiedlich (z. B. 1,8.14; 2,6; 3,39.42; 4,6.13.22) und lässt sich nur schwer mit der Annahme einheitlicher Autorschaft zusammenbringen. Die explizite Personifikation Zions tritt in Lied 3–5 stark zurück – Stadtfrau ist Jerusalem nur in den ersten beiden Liedern. Während der Zorn Gottes im zweiten Lied destruktiv, exzessiv und endlos scheint, ist er im ersten Lied gerecht, aber andauernd, im vierten Lied durchgreifend, aber begrenzt, im fünften hingegen gerecht, aber überzogen. Während Gott im ersten Lied der einzige ist, der als Tröster in Frage kommt, scheint diese Seite Gottes in den folgenden Liedern ausgeschlossen. Das Vertrauensbekenntnis und die Rettungserfahrungen des Einzelnen in Klgl 3 scheinen keine Auswirkungen auf die Klage in den folgenden Liedern zu haben. Während in 1,4.19; 2,6.20 Priester als Teil der Führungselite positiv gesehen werden, werden sie in 4,13 harsch kritisiert (vgl. aber 4,16). Die Propheten wurden in 2,20 im Heiligtum erschlagen, während sie in 4,13 selbst Blut vergossen haben. Die Beispiele ließen sich vermehren und durch Beobachtungen zur Dichtung ergänzen. Insgesamt ist das theologische und poetische Profil der Lieder sehr unterschiedlich (s. ausführlicher in der Einzelauslegung), was eindeutig gegen eine einheitliche Verfasserschaft der fünf Lieder spricht.
Während die Bestreitung der einheitlichen jeremianischen Verfasserschaft in literarhistorischer Perspektive als Konsens der Bibelwissenschaft gelten kann, gibt es nur wenig belastbare Hinweise auf die Autorschaft der einzelnen Lieder. Für das fünfte Lied ist auf die Nähe zu den anderen Volksklagen, insbesondere auf die Asafpsalmen zu verweisen. Das fünfte Lied dürfte in einem ähnlichen Milieu überliefert worden sein, bis es an die übrigen vier Klagelieder angehängt wurde. Während jedoch das fünfte Lied nicht auf die übrigen Lieder bezogen ist, sind diese bei aller Unterschiedlichkeit doch untereinander durch Aufnahmen und Bezüge vernetzt (z. B. 1,20 auf 2,10; 3,32–33 auf 1,4.5.12; 3,41 auf 2,19). Sie dürften daher einem Trägerkreis zuzuordnen sein, der über einen längeren Zeitraum existiert haben muss, sich aber nur annäherungsweise bestimmen lässt: Er ist gekennzeichnet durch den engen Bezug auf die Stadt Jerusalem und die Stadttheologie, wobei die Autoren sich sehr kritisch mit der überkommenen Zionstheologie auseinandersetzen. Insbesondere in Klgl 4 ist eine große Nähe zur bürgerlichen Elite der Stadt zu erkennen, die aber keinen direkten Bezug zum Tempel und seinem Umfeld hat. Unverkennbar ist in Klgl 1 und 2 eine Nähe in Bildern, Metaphern und Formulierungen zur Prophetie Jeremias, Jesajas und dem Zwölfprophetenbuch, wobei z. T. Aussagen aufgenommen, andere kontrastiert werden. Klgl 3 hat eine besondere Nähe zur weisheitlichen Theologie etwa bei Ijob und dem weisheitlichen Denken gewisser Psalmen. Daneben werden traditionelle Vertrauensbekenntnisse, wie sie in den Psalmen oder den Konfessionen Jeremias verarbeitet sind, ein- und angespielt. Demgegenüber fehlt eine erkennbare Nähe zu priesterlicher Theologie ebenso wie zu frühen deuteronomistischen theologischen Denkmustern von Schuld und Strafe. Lediglich die Umkehrthematik lässt eine Nähe zur spätdeuteronomistischen Theologie erkennen. Die Perspektive der Exilierten fehlt, deshalb scheint es wahrscheinlich, die Kreise der Autoren in Jerusalem zu suchen. Die Trägerkreise gestalten die Klagelieder als theologische Auseinandersetzungsliteratur, nicht als liturgische Texte für den Gottesdienst. Nachdem Klgl 2 als früheste Komposition Gott in unglaublicher Härte angegangen ist, ummanteln die Lieder 1 und 4 diese erste Komposition bereits in nachexilischer Zeit. Klgl 3 ist als theologische Reflexion deutlich danach entstanden und macht die Klagelieder zu einem Lehrstück des Vertrauens auf Gott, womit die theologischen Härten von Klgl 2 weiter abgefedert werden.
Mit diesen Überlegungen zu den Autoren und Trägerkreisen ist die besondere Nähe und die Zuschreibung der Klagelieder zu Jeremia noch nicht wirklich zureichend erklärt. So scheint es zwar nach wie vor richtig, Jeremia in literarhistorischer Sicht nicht als den Verfasser (den historischen Autor) der Klagelieder zu sehen, zugleich muss überlegt werden, ob nicht die Bezüge zu Jeremia mehr als nur zufällig sind und die Komposition gezielt Jeremia zugerechnet wurde. Diese implizite Zuschreibung zu Jeremia als paradigmatischen „Autor“ hätte dann die Rezeption (im Zuge der generellen Tendenz, die Traditionsliteratur des Alten Testamentes Autoren zuzuordnen) schon früh explizit gemacht. Dafür lassen sich eine ganze Reihe von Gründen anführen: Jeremia ist der einzige Prophet, der nach biblischer Auffassung die Zerstörung Jerusalems erlebt hat. Zugleich gibt es kaum einen Propheten, der eine größere Bedeutung in der biblischen Rezeption entfaltet hat. Jeremia ist nicht nur der Prophet mit dem größten Textumfang, vielleicht wurden ihm sogar einmal Jes 40–55 zugeschrieben, worauf das in 2 Chr 36,21–22; Esra 1,1 erwähnte Zitat Jeremias hindeuten könnte. Unabhängig davon sind die im Jeremiabuch (Jer 25,11–12; 29,10) genannten siebzig Jahre des Exils ausgesprochen wichtig für den Geschichtsaufriss des AT geworden, was ebenfalls die Bedeutung Jeremias als Prophet unterstreicht (Dan 9,2.24; Sach 1,12; 7,5; 2 Chr 36,21). Das Jeremiabuch weist einige Strukturparallelen zu den Klageliedern auf. So fallen im Vergleich Passagen ins Auge, in denen sich Jerusalem als Sprecherin nahelegt bzw. ein Sprecherwechsel stattzufinden scheint (Jer 4,19–22; 10,19–21). So wie in Klgl 3 der einzelne Mann in die Katastrophe hineingezogen und Teil des „Wir“ wird, so ähnlich wird Jeremia immer tiefer in den Sog des Untergangs Jerusalems hineingezogen. Jer 1,18 „ich mache dich heute zur befestigten Stadt“ scheint Jeremia und die Stadt zu identifizieren, so wie sich in Klgl 3,48 die Tränen des Sprechers den Tränen Jerusalems Klgl 1,16; 2,18 angleichen. Jeremias klagende Konfessionen haben enge Bezüge zu den Klageliedern. Jeremia ist der einzige Prophet, der ausführlich über die Stadt klagt und dabei ähnlich wie Jerusalem körperlich leidet (Jer 4,19; 8,18). Sieht man von der Chronik ab, kommt die Stadt Jerusalem rein statistisch am häufigsten in Jeremia vor. Außerdem fällt Jeremia auf, weil die Stadt oft direkt angeredet wird. Die in 3,53 erwähnte Grube, in die der Sprecher sich gestürzt sieht, erinnert an die Grube/Zisterne (im Hebräischen ein Wort: bôr), in die Jeremia geworfen wurde (Jer 18,20.22; 38,6–13). Die Klage in Jer 8,23 erinnert in Vielem an die Klagelieder (2,11.18; 3,48). Die Rede von „der Tochter meines Volkes“ findet sich außer in Jes 22,4 nur in Jeremia (9-mal) und den Klageliedern (5-mal). Jeremias Herz ist krank (Jer 8,18) und dieselbe (seltene) Wendung wird für Jerusalem 1,22 gebraucht. Jer 14,17 unterstreicht das Mitleid Gottes über das Schicksal Jerusalems und genau diese Wendung wird in Klgl 2,10 und 3,48 aufgenommen. Die Bezüge ließen sich nicht beliebig, aber doch noch erheblich vermehren (z. B. Klgl 2,9//Jer 14,2; Klgl 2,14//Jer 5,31; Klgl 2,22//Jer 6,25; Klgl 3,14//Jer 20,7; Klgl 4,17//Jer 2,36). Zwar sind vor allem in Klgl 1 auch enge Bezüge zu Wendungen in Jesaja zu erkennen, doch überwiegt insgesamt eindeutig die Nähe zu Jeremia, die sich zudem über die ersten vier Klagelieder erstreckt.
Akzeptiert man Jeremia als impliziten Autor der Klagelieder, dann legt sich die Klage des Propheten wie eine zweite Identität über die Klagelieder, sodass bei den Lesenden ein wechselseitiger Verweis- und Verstehensprozess in Gang gesetzt wird. Jeremia ist derjenige, der seine eigenen Erfahrungen in der Klage reflektiert und Jeremia empfiehlt die Klage über Jerusalem. Er klagt stellvertretend über und für Jerusalem. Die Konfessionen Jeremias (Jer 11,18–12,6; 15,10–21; 17,14–18; 18,18–23 und 20,7–18) werden so zu paradigmatischen Texten für Jerusalem. Durch die Zuschreibung der Klage an Jeremia werden zudem die Lieder raumzeitlich fixiert und mit der historischen Situation der Katastrophe von 587 v. Chr. verbunden, was im Text nicht ausdrücklich der Fall ist.
Kurzum: Es scheint weiterführend, zumindest in einer kanonischen Perspektive Jeremia nicht als Verfasser, aber dennoch als Autor der Klagelieder zu verstehen. Zumindest aber ist in den Beispielen deutlich geworden, wie nahe es lag, die Klagelieder mit der Verfasserschaft Jeremias zu verbinden.
Die Klagelieder bilden eine Komposition aus fünf Liedern, die je für sich ein eigenes Profil haben und verglichen miteinander sehr unterschiedlich sind. Als erstes fällt auf, dass die Lieder nicht gleich lang sind. Während die ersten drei Lieder annähernd die gleiche Wort- und Zeichenzahl aufweisen, sind das vierte und besonders das fünfte Lied deutlich kürzer. Auf die ersten drei Lieder verteilen sich je knapp ein viertel der Gesamtanzahl der Zeichen, auf das fünfte Lied hingegen entfallen nur etwa 10 %. Die ersten zwei Lieder bestehen meist pro Vers aus je drei Stichoi, von denen die erste Zeile mit dem entsprechenden Buchstaben des Alphabets anfängt ( Akrostichon, s.u. IV.3). Das dritte Lied ist ähnlich, nur dass dort je drei Verse mit einem Buchstaben anfangen. Im vierten Lied hingegen sind die Verse nur aus je zwei Stichoi gebildet und schließlich im fünften Lied nur aus je einer Zeile. Meist sind die einzelnen Stichoi deutlich zweigeteilt und die beiden – im Druck der EÜ durch einen Schrägstrich getrennten – Hemi-Stichoi (Halbzeilen) aufeinander bezogen. Die Zeilen bilden nahezu immer einen Satz (z. B. 2,5c: „Auf die Tochter Juda hat er gehäuft / Jammer über Jammer“), zum Teil bilden sie aber auch zwei parallele Sätze (z. B. 3,22: „Die Huld des Herrn ist nicht erschöpft, / sein Erbarmen ist nicht zu Ende“ oder 5,17: „Darum ist krank unser Herz, / darum sind trüb unsere Augen“). Schon diese wenigen Beobachtungen zeigen: Die Klagelieder sind nicht einheitlich gedichtet, auch wenn die einzelnen Lieder Gemeinsamkeiten aufweisen. Die allermeisten Verse sind im Parallelismus membrorum formuliert, d. h. dass zwei Vershälften aufeinander bezogen sind und sich entweder in ihren Aussagen entsprechen oder aufeinander beziehen. Ein besonderes Metrum, das die Klagelieder zu Leichenliedern oder Totenklagen machen würde, lässt sich nicht durchgängig nachweisen. An manchen Stellen zeigt aber auch die Übersetzung ein Ungleichgewicht der beiden Vershälften, das als Qina-Metrum beschrieben worden ist. Die zweite Hälfte der Zeile ist dann kürzer als die erste, sodass die Wirkung ein „Hinken“ ist, so als ob am Ende eine Leere entstünde. Dieses „Hinken“ wird in Bezug auf die Komposition durch die drei gleichlangen ersten Lieder und die beiden kürzeren hinteren Lieder geradezu kopiert.
Die Klagelieder sind, was vielleicht wichtiger ist, voll von Vergleichen, Metaphern, Bildern. Das Profil der einzelnen Lieder lässt sich auch mit Blick auf die Motive und Bilder erkennen, wie die folgenden Beispiele zeigen. Die Erwähnung der Feinde konzentriert sich auf die ersten beiden Kapitel. Die Belege von ’ôyēb „Feind“ (1,2.5.9.16.21; 2,3.4.5.7.16.17.22; 3,46.52; 4,12) und ṣār „Bedränger, Gegner“ (1,5.7.10.17.20; 2,4.17; 4,12) treten in Klgl 3–4 stark zurück, im fünften fehlen sie ganz. Von den Freunden, Nachbarn und Liebhabern (1,2.17.19) und von dem fehlenden Tröster Jerusalems (1,2.9.16.17.21, vgl. nur noch 2,13) ist nur im ersten Lied die Rede. Die vielen Vergleiche sind meist durch eine Vergleichspartikel („wie“ o. ä.) sprachlich markiert: Jerusalem sitzt „wie eine Witwe“ (1,1), die Obersten sind „wie Hirsche“ (1,6), „was drinnen ist, gleicht dem Tod“ (1,20), die Kinder sind „wie tödlich verwundet“ (2,12), die Bevölkerung Jerusalems „wie Strauße in der Wüste“ (4,3), die Mütter „wie Witwen“ (5,3), die Feinde lärmen „wie am Festtag“ (2,7.22), jagen den Beter „wie einen Vogel“ (3,52). Gott brennt „wie flammendes Feuer“ (2,3), zertritt „wie einen Garten“ (2,6) und agiert „wie ein Feind“ (2,4.5) und stellt den Beter „wie eine Zielscheibe“ (3,12) auf. Die Tränen fließen nicht als Bach, sondern „wie ein Bach“ (2,18) oder „wie Wasser“ (2,19) und die Haut vom Hunger ist dürr „wie Holz“ (4,8) und „wie ein Ofen“ (5,10). Nur das vierte Lied arbeitet zusätzlich häufiger mit Steigerungen in den Vergleichen: Jerusalems Schuld ist „größer als die Sünde Sodoms“ (4,6), die Vornehmen waren „reiner als Schnee, weißer als Milch, rosiger als Korallen“ (4,7), sind aber jetzt „schwärzer als Ruß“ (4,8). Die „vom Schwert Getöteten“ hatten es „besser als die vom Hunger Getöteten“ (4,9) und die Verfolger sind „schneller als Adler“ (4,19). Metaphern als verkürzte Vergleiche sind selten (und in der Übersetzung noch seltener als im Hebräischen Text). YHWH (zur Schreibweise s. Tetragramm) ist „ein lauernder Bär, ein Löwe im Versteck“ (3,10). Die kostbaren Kinder Zions sind „Krüge aus Ton, Werk von Töpferhand“ (4,2), die Vornehmen sind Saphir.
Nicht nur Jerusalem und Juda werden personifiziert, sondern auch das Schwert (1,20), das mordet, „Wall und Mauern“ (2,8), die trauern. Viele der Bilder sind unmittelbar verständlich, wie etwa das Kleben der Zunge am Gaumen (4,4), das schmerzende Auge (3,51), das Beißen auf Kiesel (3,16) oder der gesenkte Kopf der Trauernden (2,11). Andere sind heutiger Lebenswelt fremd wie der Zornesbecher (4,21), die milchige Haut der Vornehmen (4,7), der bittere Wermut (3,15.19) oder das Klatschen als Ausdruck der Verachtung (3,15).
Die Fülle der Bilder beschreibt nicht eine Realität, sondern drückt sehr unterschiedliche Aspekte aus und ruft Assoziationen wach. So etwa das „Joch meiner Verfehlungen“ (1,14) für die Sündenlast, das „Treten der Kelter“ (1,15) für die blutige Vernichtung der Bevölkerung, das Sehen „der entblößten Scham“ (1,8) für die Erniedrigung der Eroberung oder das „Abhauen jedes Horns“ (2,3) für das Brechen aller Widerstände, das sich „Klammern an Unrat“ (4,5) für die zugespitzte Not.
Besonders auffallend sind die Körperbilder, die vom umgedrehten (1,20), kranken (1,22; 5,17), schreienden (1,18), ausgeschütteten (1,19), erhobenen (3,41) Herz, der zu Boden geschütteten Leber (2,11) oder dem glühenden Inneren (2,11), den von Pfeilen durchdrungenen Nieren (3,13), der bloßgestellten Scham (1,8) reden. Neben dem Herz spielen die Augen eine besondere Rolle in allen Liedern (1,16; 2,4.11.18; 3,48.49.51; 4,17; 5,17). Dabei werden durch die Körperbilder nicht nur Akzente bei der personifizierten Stadtfrau Zions gelegt, sondern auch bei den übrigen Personen der Klagelieder. Dadurch werden Innen und Außen miteinander verknüpft und so das emotionale Erleben in besonderer Weise herausgehoben. Zugleich erzeugt die Eindringlichkeit der Bilder ein hohes Maß an Betroffenheit und führt die Betrachter (und damit letztlich auch die Leserinnen und Leser) in eine empathische Bindung an die Stadtfrau Jerusalem und ihr Leid. Der Schmerz wird so mit-teilbar. Dem gleichen Ziel dient die Betonung, die auf dem Sehen, Schauen, Wahrnehmen etc. liegt (1,7–12.18.20; 2,16.20; 3,1.36.50.59–60.63; 4,16; 5,1), wodurch der Rezipient auch zum Betrachter werden soll. Das zeigt sich besonders im ersten Lied, wo erst YHWH aufgefordert wird, genau hinzuschauen (1,9.11.20) und diese Aufforderung dann auf die am Weg Stehenden (1,12) und alle Völker (1,18) übertragen wird. Das „Hört all ihr Völker und seht meinen Schmerz“ richtet sich implizit auch an die Rezipienten der Klagelieder. Ein letztes Beispiel für die absichtsvolle poetische Kraft der Bilder zeigt sich, wenn man auf die Emotionen achtet, die besonders das erste Lied auszeichnen: Jerusalem ist verachtet (1,8.11), ausgelacht (1,7), zum Abscheu geworden (1,8), entblößt (1,8), wurde betrübt (1,12), wurde krank (1,14). Die ehemaligen Verehrer Jerusalems verachten sie jetzt, weil sie ihre Scham entblößt gesehen haben (1,8) und ihre Befleckung erleben (1,9). Die Feinde verabscheuen sie als Erniedrigte und Entehrte. Dem stehen die Emotionen Zions gegenüber: Jerusalem weint bitterlich (1,2), sie stöhnt auf (1,8), seufzt (1,21.22), spricht von „meinem Elend“ (1,9), „meinem Schmerz“ (1,12.18), ist trostlos (1,2.9.16.17.21), leidet (1,12), ist bedrängt (1,20). Jerusalem beschreibt ihr Befinden in sprechenden Bildern: „mir ist angst“, „mein Inneres glüht“, „mir dreht sich das Herz im Leibe“ (1,20), „mein Herz ist krank“ (1,22). Emotionalität und Körperlichkeit gehören eng zusammen. Es ist eine traumatisierte Körperlichkeit, die Jerusalem im ersten Lied adressiert. Nirgendwo außerhalb des ersten Liedes wird Jerusalems Körper vergleichbar Gegenstand der Metaphorik und das hat seinen Grund: Die Zerstörung soll buchstäblich „unter die Haut gehen“ und die „Bloßstellung“, die die Eroberung bedeutet, soll den Rezipienten im wahrsten Sinne vor Augen geführt werden. In der Auslegung werden weitere Beispiele dieser meisterhaften poetischen Gestaltung erläutert.
Dass es den Klageliedern nicht auf eine Beschreibung der Ereignisse oder einen Bericht ankommt, macht auch die Verteilung der Sprecherrollen deutlich, die als Besonderheit der poetischen Gestaltung der Lieder gekennzeichnet ist.
Ein unmittelbar auffallendes Merkmal der Klagelieder sind die unterschiedlichen Stimmen in den Klageliedern. Einmal spricht Jerusalem selbst, dann wird über Jerusalem gesprochen und dann spricht ein „Wir“ ohne Bezug zu Jerusalem. Jerusalem spricht sowohl Gott als auch die Völker an. Der Hauptteil der Klagelieder fällt jedoch nicht auf die Rede Jerusalems, sondern auf einen Sprecher, der Jerusalem gegenübersteht, aber auch einen persönlichen Bezug zur Stadt hat und der die Vergangenheit und Gegenwart Zions kennt. Der Sprecher richtet sich in seinen Redepassagen sowohl an YHWH als auch vor allem in den ersten Liedern an Jerusalem. Daneben finden sich Kurzzitate Zions, seiner Bewohner, der triumphierenden Gegner und auch des einzelnen Sprechers.
Die Zuordnung der Sprecherrollen ist nicht immer ganz einfach, denn es ist keinesfalls klar, ob das „Wir“ immer die gleiche Gruppe ist oder es nicht mehrere singularische Sprecher gibt. Auch wenn das Subjekt wechselt, kann manchmal derselbe Sprecher reden. Die Sprecherrollen sind nicht durch Einführungsformeln oder Redeeinleitungen markiert, was die Identifikation erleichtern würde. So schwankt die Anzahl der angenommenen Sprecherpersonen in den Kommentaren von drei bis zu sechs. Neben dem Wechsel der Sprecherrollen ist noch ein Sprechrichtungswechsel zu verzeichnen. Das meint, dass eine Rede über Zion zu einer Anrede Zions wechselt oder eine Rede zu YHWH unvermittelt die Anrede verlässt und über YHWH spricht. Wie viele Stimmen es in den Klageliedern gibt, soll zunächst ein Durchgang zeigen (s. dazu die graphische Übersicht zu den Sprecherrollen S. 23).
Relativ leicht kann man die Rede Jerusalems identifizieren, auch wenn die Abgrenzung der einzelnen Redeteile schon Schwierigkeiten bereitet. Erstmalig ist die Stimme Zions in 1,9 zu finden, wo sie die Rede eines Sprechers über Jerusalem, mit der die Klagelieder begonnen haben, durchbricht. Die Sprechrichtung wechselt eindeutig in das Du und ist an YHWH gerichtet. Diese Rede wiederum wird durch die erneute Beschreibung Jerusalems in V.10–11a gebrochen, wo aber ebenfalls Gott angeredet wird. In V.11b beginnt die zweite Rede der Stadtfrau Jerusalem, jedoch ist das Ende in V.15a oder 16 unscharf, da V.15b auch aus dem Mund des Sprechers stammen kann, der in V.17 Zion beschreibt. Ab V.18 spricht dann eindeutig wieder Jerusalem. Weit stummer ist Zion im zweiten Lied. In den V.1–10 beschreibt ein Sprecher (der gleiche wie in Kap. 1?) die Lage Jerusalems. In V.11 spricht dann (ein anderer?) in der Ich-Form. Da V.12 sich grammatisch auf V.11 zurückbezieht, läuft die Rede weiter, obwohl sie in die Beschreibung wechselt. Ab V.13 wird Jerusalem direkt angeredet und wahrscheinlich wird die Rede trotz des schwierigen Textes in V.18 (s. Auslegung) durchgehalten. Erst am Ende des zweiten Liedes in V.20–22 erhebt Jerusalem noch einmal selbst die Stimme und spricht dabei Gott direkt an.
Mit 3,1 findet sich dann der markanteste Bruch in den Klageliedern. Jerusalem scheint die Bühne verlassen zu haben und ein Einzelner erhebt die Stimme. Der Sprecher wird nicht eingeführt, aber es wird auch kein Textsignal gegeben, dass er mit dem individuellen Sprecher der beiden vorhergehenden Lieder identisch ist. Die Stadt Jerusalem spielt in der Rede jedoch keine erkennbare Rolle. Erst in V.48 spricht der Sprecher von der „Tochter meines Volkes“ und in V.51 von „meiner Stadt“. Auch Gott wird erst in V.17.23 direkt angeredet. Ob die Rede des Einzelnen in V.25–39 weiterläuft und weisheitliche Sentenzen zitiert werden oder hier eine Einschaltung ohne klaren Sprecher erfolgt, lässt sich kaum entscheiden. Sicher aber wechselt Klgl 3 zu einem zuvor stummen „Wir“, das mit einer Selbstaufforderung beginnt, dann aber in V.42 die Sprechrichtung zu Gott hin wechselt und ihn als „Du“ anklagt. In V.48 jedoch wechselt das Lied wieder zu der Stimme eines Einzelnen, die dann bis zum Ende des Liedes ihr Schicksal beschreibt. Da es keine Textsignale gibt, die diese Einzelperson von dem Mann in 3,1 unterscheiden, dürfte der Sprecher derselbe sein. Ob das auch in Klgl 4 der Fall ist, lässt sich nur schwer entscheiden. Die Perspektive und der Sprachduktus wechseln, aber es spricht ein Einzelner, der jetzt eindeutig Jerusalem in den Blick nimmt und die Katastrophe aus einer Beobachterperspektive beschreibt. Dass der Sprecher einen Bezug zu der Stadt hat, wird in V.3.6.10 in dem Gebrauch des „Tochter meines Volkes“ deutlich, womit Jerusalem bzw. Zion gemeint ist. Jerusalem erhebt an keiner Stelle selbst die Stimme. V.17 setzt in der ersten Person Plural die Rede fort, wobei nicht klar ist, ob der Sprecher als Bewohner Jerusalems mit dem „Wir“ auf die Situation vor der Eroberung der Stadt Bezug nimmt. Wer schließlich der Sprecher der beiden Schlussverse ist, in denen Edom und Zion direkt angeredet werden, offenbart der Text nicht. Es spricht allerdings textpragmatisch nichts dagegen, auch diese Passage dem Sprecher, der in V.1 begonnen hat, zuzuweisen und nur von einem Sprechrichtungswechsel auszugehen. Das fünfte Klagelied beginnt mit einer imperativischen Anrede an YHWH, die wieder ein Kollektiv formuliert. Nichts lässt erkennen, dass dies das Kollektiv aus Kap. 3 ist, es spricht aber auch nichts dagegen, beide zu identifizieren. Erst ab V.11 wird das „Wir“ verlassen und eine Schilderung angeschlossen, die ihren Sprecher nicht offenbart, also grundsätzlich auch von dem „Wir“ sein könnte, das in V.15 wieder die Stimme erhebt und bis V.18 ohne Anrede die Situation beschreibt. V.19–22 kehren zu der Anrede YHWHs aus V.1 zurück. Sie beziehen nach der Doxologie in V.19 auch wieder das „Wir“ sprachlich ein, ohne die Anrede zu verlassen, die in einer Frage in V.22 „Oder hast du uns denn ganz verworfen, zürnst du uns über alle Maßen?“ endet.
Insgesamt bleibt der Eindruck von vielen Sprechrichtungswechseln, mal wird das Volk, mal Jerusalem, mal Gott angeredet. Sieht man von den inhaltlichen Differenzen einmal ab, ließen sich die kollektiven „Wir“-Passagen als ein Perspektivwechsel in die Stimme des Einzelnen, der Jerusalem in 1,1 gegenübersteht und die Stadt beschreibt, integrieren. Ein Grund, warum der Sprecher dann aber in Klgl 3 in eine kollektive „Wir“-Perspektive übergeht und dann wieder zurückfällt, lässt sich kaum angeben. Nur mit großer Mühe sind schließlich die Passagen, in denen die Stadtfrau Jerusalem in 1,9.11b–16.18–22; 2,20–22 spricht, als Zitate in die Stimme des Einzelnen zu integrieren, der über Jerusalem spricht. Man kommt also ohne Sprecherwechsel nicht aus, will man die vielen Stimmen der Klagelieder erklären.
Auch die „Vielstimmigkeit“ dient dazu, das Leid als umfassend und alle betreffend zu markieren. Die Stimmen lassen die Lieder nicht als Poesie, sondern als Drama erscheinen, allerdings findet ein wirklicher Dialog auf der „Bühne“ nicht statt. Aber die Situation Jerusalems hat etwas Tragisches, ihr Auftritt in 1,1 (ihr Sitzen wie in der Mitte der Bühne) und ihr Klagen lassen sie wie eine Tragödin erscheinen. Der Sprecher des Chores scheint in die Klage mit einbezogen, Chor und „Schauspieler“ wirken wie beim griechischen Kommos zusammen. Der Vorsänger bringt Emotionen zum Ausdruck, die Stimmen bleiben sehr begrenzt, der Chorführer kommuniziert mit dem Chor im Hintergrund. Natürlich soll damit nicht gesagt werden, dass es sich bei der Komposition der Klagelieder bzw. bei Klgl 1–2 um ein Theaterstück gehandelt hat oder die sich im 6./5. Jh. v. Chr. herausbildende Tragödie mit ihrer Ausdifferenzierung der Rollen Pate gestanden hat. Es soll vielmehr damit deutlich gemacht werden, dass die Assoziationen von Inszenierung und Drama den Klageliedern angemessener sind als die gottesdienstliche Verwendung. Dafür, dass die Klagelieder aufgeführt und mit unterschiedlichen Stimmen vorgetragen wurden, gibt es keine Hinweise. Sprecherwechsel sind aus den Psalmen, aber auch aus der viel älteren altorientalischen Klageliteratur und auch aus der zeitlich näheren griechischen Klage bekannt und somit nichts Besonderes. Besonders ist lediglich die Vielzahl der unterschiedlichen Stimmen in den Klageliedern. Von vielen Psalmen heben sich die Klagelieder dadurch ab, dass die Stimme Gottes (außer in der Rückschau 3,56) nicht repräsentiert ist. Die Sprach- und Fassungslosigkeit angesichts der Katastrophe ist das Thema der Lieder. Gott scheint in der Katastrophe in eine unhörbare Ferne gerückt.
Mit Blick auf die gesamte Komposition der fünf Lieder, lassen sich einige übergreifende Beobachtungen machen: 1. Die Stimme Zions verstummt bzw. wird überblendet. Während sie in den ersten beiden Liedern besonders am Ende präsent ist, fehlt ab dem dritten Lied jede Rede der personifizierten Stadt. Das deckt sich mit der Beobachtung, dass die Bezeichnungen Jerusalem/Zion/Tochter meines Volkes etc. in Klgl 3–5 fast ganz zurücktreten (nur noch 3,48.51; 4,1.3.6.10.22; 5.11.18 gegenüber 18 Bezeichnungen in Klgl 1–2). 2. Zugleich tritt die Stimme des „Wir“ deutlicher hervor, zunächst in 3,40–47, dann in 4,17–20 und schließlich im ganzen fünften Lied. 3. Der Sprecher, der über Jerusalem zunächst beschreibend spricht, tritt zwar nicht zurück, denn er ist in Kap. 4 erneut präsent, doch schwindet seine emotionale Betroffenheit, die ihn in 2,11–13 und 3,48–51 fast zerrissen hätte. Auch sein anklagender Ton tritt in Klgl 4 und 5 zurück. Sein lehrhafter, zum Teil belehrender, aber auch tröstender Ton in Kap. 3 löst sich nicht ganz aus der Betroffenheit der ersten beiden Lieder, jedoch tritt das Schicksal Jerusalems in Klgl 3 deutlich zurück. Das steht im Zusammenhang mit seiner von Jerusalem vollständig abgelösten Vertrauensaussage in 3,20–24 und 3,55–66. Versucht man das zusammenzubringen, so ergibt sich für die Komposition ein „Spiel“, das durchaus eine Richtung hat und dem Kollektiv wie dem Einzelnen dieselbe Aufforderung mitgibt: Nicht bei der Klage stehenbleiben, sondern das Zeugnis daneben stellen. Die Gottverlassenheit ist nicht alles und sie kann nur durch neues Vertrauen überwunden werden. Das „Wir“ soll zu dem Vertrauensbekenntnis, von dem der Einzelne Zeugnis gibt, zurückfinden, und findet am Ende auch dazu zurück, wenn Gott eindringlich um sein Eingreifen gebeten wird. Dabei wird zugleich das Leid der Stadtfrau weder gemindert noch geleugnet. Ihr Elend bricht sich Bahn in den kurzen Einwürfen in den ersten beiden Klageliedern, aber ihre Stimme verstummt. Jerusalem ist eine gebrochene Person. Jerusalem ist so schwer beschädigt, dass es nicht von alleine zurückfinden kann zu seinem Gott. Die Institutionen, denen das zugetraut werden könnte, Tempel und Palast, sind zerstört. Auch dass die Bewohner in der Stadt leiden, ist unverkennbar. Damit das nicht in totaler Resignation endet, führt der Einzelne in Klgl 3 sein Vertrauensbekenntnis offen vor. Das soll das „Wir“ motivieren, das Klagen nicht zu lassen, aber auch nicht dabei stehen zu bleiben. Die kollektiven Passagen in Klgl 3–5 sind zwar nicht völlig gleich oder als Text komponiert, jedoch scheint es eine gemeinsame Perspektive zu geben. Der „Gedankengang“ beginnt und endet mit dem Thema Umkehr (3,40; 5,21)
Das „Wie lange noch?“, das am Ende des fünften Liedes steht, hofft erneut auf ein Eingreifen Gottes, was in Klgl 4 noch undenkbar war und erst durch die Neubegründung des Gottesverhältnisses in der Aufhebung der Schuld in 4,21–22 ermöglicht wurde. Der Einzelne, der in Klgl 1 die Beschreibung Jerusalems begonnen hat, wird vom Leid affiziert (2,11) und klagt stellvertretend an der Seite Jerusalems. Identifiziert man diesen Einzelnen mit dem Beter aus dem dritten Lied, dann führt seine Reflexion paradigmatisch zur Überwindung der Klage Jerusalems. In einer synchronen Perspektive kann man den Stimmenwechsel trotz der sehr unterschiedlichen Perspektiven in den einzelnen Liedern in einen sinnvollen Zusammenhang bringen.
Im ersten Lied ist die Stadt so prominent personifiziert wie kaum an anderer Stelle im Alten Testament: Jerusalem sitzt (1,1), weint (1,2.16), seufzt (1,8), stöhnt (1,21), empfindet Schmerzen (1,12.18), hat Angst (1,20) und denkt (1,7). Sie hat einen Körper, Füße, Arme, Hände, Scham, Hals, Wangen Herz, und Leber (1,2.13–14.16–17.20). Sie hatte Kinder (1,5), Freunde (1,2), Liebhaber (1,2.19), Verehrer (1,8), trug den Titel „Fürstin über die Länder“ (1,1), ist aber jetzt einer Witwe gleich (1,1). Die Dichte an Körperbegriffen und Emotionen ist ungewöhnlich und zeichnet die Personifizierung der Klagelieder aus.
Jerusalem wird als Stadtfrau vorgestellt. Dass eine Stadt durch eine Frau symbolisiert wird, ist in alttestamentlichen Texten nicht ungewöhnlich (Jes 10,30; 47; Ez 16; 23; Sach 2,11; Ps 45,3; 137,8 u. ö.). Da Städte vom grammatischen Geschlecht im Hebräischen immer weiblich sind, werden sie weiblich personifiziert und mit weiblichen Rollen verknüpft. Das gilt schon in Assyrien und setzt sich in alttestamentlichen Texten fort. Zwar werden auch andere Städte personifiziert (z. B. Samaria Ez 23; Tyrus Ez 27; Babylon Ps 137,8; Jes 47,1; Ninive Nah 2), jedoch ist es insbesondere Jerusalem, die in alttestamentlichen Texten als personifizierte Frau auftaucht. Dabei werden ihr verschiedene Rollen zugewiesen: Jungfrau, Tochter, Mutter, Ehefrau, Fürstin, Dirne etc. Besonders prominent ist die Rede als Tochter, die sich für die Tochter Babel (Jes 47,1), die Tochter Sidon (Jes 23,12), die Tochter Dibon (Jes 15,2), vor allem die Tochter Zion (Jes 1,8; Jes 52,2; Jer 4,31; 6,2; Mi 4,10.13; Sach 9,9 u. ö.) findet. Es handelt sich dabei durchgehend um Synonymbezeichnungen, d. h. die „Tochter Zion“ ist nichts anderes als Zion. Wird die Bezeichnung „Tochter Zion“, die insgesamt 25-mal vor allem bei Jesaja, Jeremia, Micha und Sacharja vorkommt, verwendet, ist der Kontext oft die Eroberung, Verschleppung oder auch Restaurierung der Stadt Jerusalem. Wenn von der Tochter Zion die Rede ist, spielen die Eltern im Bild keine Rolle. Weder von der Mutter noch dem Vater Zions ist je die Rede, es geht um die besondere Schutzbedürftigkeit der bedrohten Stadt.
Die Rede von der „Tochter Zion“ leitet sich ab von der geographischen Bezeichnung „Zion“, womit ursprünglich der Südosthügel bzw. dessen Akropolis bezeichnet wurde (vgl. die Stadt Davids in 2 Sam 5,7; 8,1; 2 Chr 5,2, s. Abb. 3). Schon früh wird mit dem Begriff Zion der Tempelberg verbunden, sodass der Zion als Ort, wo der Tempel steht, zum Mittelpunkt der Stadt avanciert (Ps 2,6; 48,3; 78,68–69). Die Bezeichnung Zion wird zudem synonym zu Jerusalem als Bezeichnung für die ganze Stadt gebraucht (Ps 69,36; Jes 40,9; 52,1; Jer 3,14; Sach 8,3; Klgl 5,11). Dass die Bezeichnung „Zion“ wie heute den Westhügel bezeichnet, ist eine nachbiblische Entwicklung. Während die Bezeichnung Zion schon vorexilisch existierte, wurde die Rede von der „Tochter Zion“ vor allem in exilisch-nachexilischen Texten entwickelt. Auch sie wird synonym zu Jerusalem gebraucht, doch kommt in ihr durch den Familienbegriff noch ein emotionaler Aspekt zum Tragen. Die Tochter ist im patriarchalen Haushalt vom pater familias, der der Familie vorsteht, besonders zu schützen. Vor der Heirat darf sie nicht in den Verfügungsbereich eines fremden Mannes außerhalb der Familie gegeben werden. Wenn Städte als „Tochter“ bezeichnet werden, steht der Aspekt der Verwundbarkeit und Wehrlosigkeit im Vordergrund. Das zeigt sich bei Babel, Sidon, Tarschisch, Dibon oder Edom, wo es immer um die Eroberung oder Zerstörung geht. Die verwandtschaftliche Verbindung zu dem Vater der Tochter spielt dabei keine Rolle.
In den Klageliedern häufen sich die Verbindungen, in denen der Begriff „Tochter“ mit einer geographischen oder politischen Bezeichnung verbunden ist. Weder von der Tochter Juda noch der Tochter Edom ist außerhalb der Klagelieder die Rede. Wenn in den Klageliedern von der „Tochter Jerusalem“ (2,13.15) oder der „Tochter Zion“ (1,6; 2,1.4.8.10.13.18; 4,22) die Rede ist, steht ebenso wenig wie bei der „Tochter meines Volkes“ (2,11; 3,48; 4,3.6.10) oder der „Tochter Juda“ (1,15; 2,2.5) oder der „Tochter Edom“ (4,21.22) die verwandtschaftliche Verbindung im Hintergrund. Vielmehr wird bei Jerusalem die Verletzlichkeit und Schutzlosigkeit zum Ausdruck gebracht, ohne dass auch nur ein einziges Mal der im Hintergrund des Bildes stehende Vater ausdrücklich nach vorne treten würde. Das ermöglicht eine gewisse Flexibilität in der Aussage. Mal kann die Bevölkerung die Schutz Gewährende sein, meist aber steht die Erwartung im Hintergrund, dass YHWH der Stadt den Schutz hätte gewähren müssen. Gerade in den ersten beiden Liedern wird ja Jerusalem gezeichnet als die verletzte, bloßgestellte und schutzlos ausgelieferte Stadt. Während Jerusalem früher stark und geachtet war, ist sie jetzt zerstört und schutzlos. Das Motiv des fehlenden Trösters in Kap. 1 verstärkt diese stark emotionale Betonung der Schutzlosigkeit.
Neben der Personifizierung der Stadt als Tochter, die für die Klagelieder von großer Bedeutung ist, kommt vor allem in der prophetischen Literatur die Personifizierung Jerusalems herausgehoben in der sog. Ehe- oder Ehebruchmetaphorik vor. Dabei geht es um den Anspruch der ausschließlichen Verehrung YHWHs, kurz, um den Sachverhalt des ersten Gebotes. Die in der Erwählungstheologie exklusive Bindung YHWHs an Israel wird durch das Bild einer Ehe symbolisiert (Jer 2,1–4,4; anschaulich auch in der Transformation Jes 62,1–5). Der göttliche Eheherr (hebr. Baal) beansprucht die exklusive Bindung seiner Frau Israel (Hos 1,2; 2,4.14; 3,1–5; 4,13–14 u. ö.) und ist eifersüchtig auf andere Götter (Ex 20,5; 34,14; Dtn 4,24; 5,9; Jos 24,19–20 u. ö.). In diesem Bildkontext wird die Verehrung fremder Gottheiten durch den menschlichen weiblichen Partner als „Unzucht“ und „Ehebruch“ metaphorisiert (Jer 3,9; Ez 16,26; Hos 9,1; Mi 1,7 u. ö.). Die fremden Götter sind entsprechend „Liebhaber“ (Jer 4,30; Ez 16,33.36–37; 23,5.20; Hos 2,7.15 u. ö.). Auch außenpolitische Bündnisse können als Ehebruch stilisiert werden, insofern in den Bundesschlüssen fremde Götter als Landesgötter einbezogen sind und YHWH als exklusiver Landesgott Israels verlassen wird. In der Ehemetapher können das Land, Israel, Juda oder Jerusalem als Partnerinnen stilisiert werden (Jer 3,8–9; 5,7–9; 11,10; 22,9; 23,14; Ez 23,37; Jes 1,21–31 u. ö.). Die Ehemetaphorik ist breiter und nicht auf die Stadt Jerusalem beschränkt, für die Stadt indes durch das Jeremiabuch (Jer 13,27) und die großen Bildreden im Ezechielbuch (Ez 16; 23) sehr prominent. Dabei fällt aber auf, dass in den Propheten die Ehemetapher nicht auf die „Tochter Zion“ bezogen ist bzw. in ehemetaphorischen Aussagen die Bezeichnung „Zion“ keine prominente Rolle spielt.
Abb. 1: Fragment einer Stele aus Assur. Zu sehen ist Assurscharrat (der Name bedeutet „Die Stadt Assur ist Königin“), die Gemahlin des Königs Assurbanipal (669–631 v. Chr.)
Für die Klagelieder ist bemerkenswert, dass die prophetischen Bilder von Unzucht oder Ehebruch gar keine Rolle spielen. Vor allem in Klgl 1 ist zwar von Liebhabern mehrfach die Rede (1,2.8.19), doch wird an keiner Stelle das Verhältnis zwischen Jerusalem und YHWH als (gebrochene) Ehe stilisiert. Jerusalem sitzt – und da ist der kleine sprachliche Unterschied von Bedeutung – eben nicht als Witwe in 1,1, sondern wie eine Witwe, was auf den Sozialstatus der Frau, nicht auf den verstorbenen Ehemann abhebt (s. Auslegung). Die Verehrung anderer Götter spielt in den Klageliedern keine Rolle, fremde Götter kommen nicht einmal vor. Das Verlassen YHWHs wird auch nicht als Grund für die Katastrophe genannt. Das ist im Vergleich zu den Propheten auffallend. Die Personifizierung Jerusalems kann sich daher für die Klagelieder (wie an anderen Stellen auch) nicht aus der Ehemetapher ableiten.
Als Hintergrund der Personifizierung hat man vielfach auf Stadtgöttinnen verwiesen, die seit dem 3. Jt. v. Chr. im Alten Orient wie auch in Griechenland belegt sind. Dabei muss die Stadtgöttin nicht exklusiv mit einer Stadt verbunden sein, vielmehr können Hauptgöttinnen als Lokalvarianten (Ischtar von Arbela, Ischtar von Ninive) eine besondere Verbindung zur Stadt eingehen. In den sumerischen balag-Klagen bezeichnet die Stadtgöttin die Stadt als ihre Mutter und unterstreicht damit das feste Band zwischen Stadt und Göttin. Neben Stadtgöttinnen sind auch Stadtgötter (vor allem der Gott Assur für die Stadt Assur) belegt. Schon im 7. Jh. v. Chr. wird Assurscharrat, die Gattin Assurbanipals, auf dem Fragment eines neuassyrischen Reliefs als Personifikation der Stadt mit einem Mauerkronendiadem dargestellt (Abb. 1). Die Beispiele aus Mesopotamien lassen das Mauerkronendiadem jedoch zunächst als Ausdruck der königlichen Stärke und Macht erscheinen. So taucht ein Mauerkronendiadem auch noch bei den persischen Königen auf. So ist nicht jede Frau, die ein Mauerkronendiadem trägt, eine Stadtgöttin oder eine personifizierte Stadt. Vielfach angeführt für die Darstellung von Städten werden die frühestens ab dem 4. Jh. v. Chr. belegten griechischen Beispiele der Darstellungen der Stadtgöttin Tyche mit der Mauerkrone, von denen das Beispiel aus Makmisch (Abb. 2) eines der kleinsten und frühesten Beispiele ist.
Abb. 2: Frauenkopf mit Zinnenkrone (Makmisch, Ende 5. Jh. v. Chr.)
Ob die Personifizierung der Stadt als Frau aber auf einen Zusammenhang mit der Stadtgöttin verweist, bleibt religionsgeschichtlich unklar. Dafür spricht, dass auch dort, wo das grammatische Geschlecht der Städte nicht wie im Westsemitischen feminin ist, die Städte weiblich personifiziert werden. Dagegen spricht aber z. B., dass auch Länder wie z. B. Israel oder Juda durchgehend weiblich personifiziert werden, obwohl sie nicht primär mit einer weiblichen Gottheit verbunden waren. Für die Klagelieder ist die Klärung der Herleitung aber nicht zentral, sodass sie hier nicht abschließend entschieden werden muss. Jedenfalls ist zutreffend, dass die Klage Jerusalems über den erlittenen Verlust vor allem in Klgl 1 und 2 der Klage der Stadtgöttin in der mesopotamischen Literatur durchaus ähnlich ist. Doch kann dies auch der Nähe zwischen den beiden Literaturen geschuldet sein, sodass auch daraus nicht abzuleiten ist, dass im Hintergrund der personifizierten Stadt der Klagelieder eine Stadtgöttin steht.
In den sumerischen Stadtklagen aus dem ausgehenden 3. Jt. v. Chr., von denen fünf über den Untergang von Sumer, Ur, Uruk, Eridu und Nippur überliefert sind, werden die Stadtzerstörungen in ihren katastrophalen Auswirkungen beschrieben: Feuer, Hunger, Pest, Verwüstung, das Eindringen der Feinde, das Einbrechen des Chaos und der Zusammenbruch jeder Ordnung. Stadtgöttinnen sind ebenfalls von den Folgen betroffen und klagen bitterlich. Auch die Stadt kann wie in der Klage über die Zerstörung der Stadt Nippur personifiziert auftreten und über die Verwüstung sowie das Schicksal der Bevölkerung, an dem sie teilhat, klagen. Die Zerstörung ist meist nicht unabhängig von dem Zorn eines Gottes, vorwiegend des übergeordneten Hauptgottes Enlil und wird auf Beschluss der Götterversammlung durchgeführt. Daneben und davon wohl auch nicht unabhängig existieren die etwas späteren balag- und eršemma-Klagen, die im 2. Jt. v. Chr. standardisiert wurden. Allen Stadtklagen ist gemeinsam, dass sie auf die Zerstörung einer Stadt oder eines Stadtstaates zurückschauen und das ergangene Leid eindringlich in Metaphern und Bildern schildern, die bis in die Perspektive und Einzelmotive hinein eine Ähnlichkeit mit den Klageliedern aufweisen. So z. B. die Personifizierung der Stadt, der Einst-Jetzt-Gegensatz, die verschiedenen Sprecher, die von Tränen überfließenden Augen, die Unvergleichbarkeit des Leids, der Verlust der Kinder, die Leichen in den Straßen, die Gottverlassenheit und die Verantwortung des Stadtgottes etc. So klagt z. B. die Göttin Inanna gegenüber Enlil in einer balag-Klage: „Was mich, die Herrin betrifft, wer wurde je so behandelt wie ich? Wer hat jemals solche Bitterkeit erfahren, wie ich sie erfahren habe?“ (Vgl. Klgl 1,11–12)
Die balag-Klagen sind liturgisch-rituelle Dichtungen, die bei Abriss und Wiederaufbau von Heiligtümern vorgetragen wurden, um die damit verbundenen Gefahren abzuwehren. Man kann und sollte nicht die Möglichkeit ausschließen, dass die alttestamentlichen Verfasser der Klagelieder solche altbabylonischen Kompositionen gekannt haben. Zumindest ist deren Überlieferung bis in das späte 2. Jh. v. Chr. belegt. Eine direkte literarische Abhängigkeit ist jedoch nahezu auszuschließen. Das Eigenprofil der Klagelieder (keine in die Klage einstimmende Stadtgöttin, Reflexionen über die Verantwortung der Stadt für die Zerstörung, die positive und auf eine Heilszusage gerichtete Anrufung der Gottheit fehlt weitestgehend und ein Wiederaufbau ist nicht im Blick) ist dann doch zu deutlich. Außerdem lassen sich vergleichbare Motive der balag-Klagen auch außerhalb der Threni in Psalmen und Propheten finden (ohne dass daraus eine Gattung Stadtklage zu rekonstruieren wäre). So scheint die Annahme eines gemeinsamen Kulturraums, in dem auch vergleichbare Sprach- und Ausdrucksformen für die Schilderung von Katastrophen gefunden wurden, wahrscheinlicher als eine literarische Abhängigkeit.
Von den mesopotamischen Stadtklagen her wird man weder auf eine Stadtgöttin im Hintergrund der Klagelieder noch auf den Grund für die Personifizierung der Stadt als Frau schließen dürfen, dafür ist die Stadtmetaphorik im Alten Testament als Topos insgesamt zu verbreitet. Der vergleichende Blick auf die mesopotamischen Stadtklagen ist hilfreich, aber nicht zureichend für das Verständnis der Klagelieder. Bei genauerem Hinsehen ist auch trotz der unverkennbaren Parallelen festzustellen, dass Zion in den Klageliedern nicht als Stadtgöttin stilisiert ist. Mindestens ebenso bedeutsam für das Verständnis der Klagelieder ist, dass Jerusalem de facto als Mutter auftritt, was die Rede von den Kindern nahelegt (1,5.16.18; 2,19.22; 4,2), sie jedoch wie in anderen zionstheologischen Texten nicht entsprechend als Mutter bezeichnet wird (Jes 49,21; 50,1; 54,1; 66,7–14; Ps 87,5). Durch die Vorstellung der Stadt als Mutter wird auf den Schutz der Bewohner besonders abgehoben. Die Stadt ist mehr als nur eine Ansammlung von Mauern und Gebäuden, sondern sie steht für Geborgenheit, Sicherheit und Zukunft. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Rede von der „Tochter“ mit diesem „Muttersein“ Zions nicht in Verbindung steht und beides nebeneinander stehen kann. Es ist jeweils eine Frage der Perspektive bzw. es kommen jeweils unterschiedliche Aspekte zum Ausdruck. Während über die Metaphorisierung der Stadt als Mutter der Schutz ausgedrückt wird, den die Stadt geben soll, kommuniziert die Metapher der Tochter die Verletzlichkeit und intime Bedrohtheit der Stadt ebenso wie den Schutz, der der Stadt hätte zuteilwerden sollen.
Die Klagelieder sind in einer besonderen Form gedichtet, die man akrostichisch (gr. akron „Spitze“ und stichos „Vers“) nennt. Dabei wird in der Regel aus den Anfangsbuchstaben einer Zeile ein neues Wort oder ein Satz. Ein sehr berühmtes Akrostichon ist das griechische Wort ΙΧΘΥΣ (ichtus), das „Fisch“ bedeutet und aus den Anfangsbuchstaben „Jesus Christus Gottes Sohn Erlöser“ gebildet ist bzw. werden kann und damit den Fisch zu einem im wahrsten Sinn erlesenen christlichen Symbol macht. Eine besondere Form solcher akrostichischer Gedichte ist das Dichten am Alphabet entlang. Das hebräische „Alefbet“ hat 22 Buchstaben, die dann in Akrosticha jeweils den Anfang z. T. mehrerer Zeilen bilden. Das umfangreichste Akrostichon im Alten Testament ist Ps 119, wo jeweils acht Zeilen mit je dem gleichen Buchstaben anfangen. Andere Beispiele, die vollständige Akrosticha darstellen, sind Ps 37; 111 und 112, aber auch Spr 31,10–31. Daneben treten mehr oder minder vollständige Akrosticha in Ps 9/10; 25; 34; 145 oder Nah 1,2–8. Zum Teil fehlen einzelne Zeilen oder die Buchstabenfolgen sind abgewandelt.
Die ersten vier Klagelieder sind alphabetische Akrosticha, wobei das dritte Klagelied je drei Verse mit dem gleichen Anfangsbuchstaben beginnen lässt. Das Dichten am Alphabet entlang bewirkt eine starke Stilisierung, ist aber auch eine große Herausforderung für die poetische Gestaltung, die manches Mal Kompromisse in der Grammatik erfordert. Unter den Liedern entstehen so subtile Bezüge, wenn dieselben Worte den Buchstaben repräsentieren (z. B. das Auge in den Ayin-Strophen). Die Klgl 1, 2 und 4 beginnen jeweils mit dem hebräischen Wort ’êkāh, was dem Buch in der jüdischen Überlieferung den Namen gegeben hat. Auffallend ist, dass die Anordnung der Buchstaben nicht völlig gleich ist. In Klgl 2, 3 und 4 ist die sonst übliche Reihenfolge von Ayin und Pe vertauscht. In den Alphabet-Inschriften sind bereits in der Königszeit beide Varianten belegt, sodass man daraus keine allzu weit gehenden Schlüsse ziehen kann. Es scheint so zu sein, dass Klgl 2 und Klgl 4 kompositorisch auch sonst zusammengehören und Klgl 3 sich vielleicht gezielt an die vorgegebene Reihenfolge anlehnt, die in Klgl 1, das auf Klgl 2 reagiert, aus welchen Gründen auch immer nicht übernommen wurde. Das fünfte Lied hingegen ist kein Akrostichon, sondern nur ein alphabetisierendes Lied, d. h. es hat 22 Verse, die aber nicht am Alphabet entlang dichten. Da das fünfte Lied als Volksklagelied auch sonst ganz anders ist und wenige Bezüge zu den übrigen Liedern hat, scheint die These vertretbar, dass Klgl 5 unabhängig von den Klageliedern als Psalm entstanden ist und erst später zu den vier Liedern gestellt wurde, um in Anlehnung an den Pentateuch die Fünfzahl (ein „Pentathrenos“ Fünfklage) zu bilden.
Darüber, ob das Dichten in alphabetischen Akrosticha außer der ästhetischen noch eine andere Bedeutung hat, ist viel gerätselt worden. Magische Deutungen sind am unwahrscheinlichsten und auch die Annahme, dass man sich am Alphabet entlang die Gedichte besser einprägen konnte, kann nicht gänzlich überzeugen. Das Entlanggehen am Alphabet ist eher für das Auge im geschriebenen Text als beim Hören wahrnehmbar, es sei denn, der Buchstabe wird wie im Vortrag der spätmittelalterlichen Klageliederkompositionen besonders musikalisch herausgehoben, was für die alttestamentlichen Texte eher nicht anzunehmen ist. Jene Praxis lehnt sich an Handschriften der Septuaginta die lateinische Vulgata an, in der die Namen der jeweiligen Buchstaben in griechischer bzw. lateinischer Transkription den jeweiligen Versen vorangestellt sind. Ohne das ist im Hören kaum wahrzunehmen, dass die Dichtung am Alphabet entlangdichtet. Am ehesten kommt die Vollständigkeit des Alphabetes als Hintergrund in Frage. Mit der alphabetischen Dichtung hat man dann entweder die Totalität der Weisheit wie in Ps 119 ausdrücken wollen oder aber, was für die Klagelieder besser passt, der Klage einen Rahmen geben wollen. Dem Überfließen der Klage ist durch die Begrenzung auf die Buchstaben des Alphabets eine Grenze gesetzt und ein Ende gegeben. Der Dichter wird so „in Form“ gehalten. Aber auch diese Deutung bleibt Spekulation.
Ein wichtiger Aspekt ist die Frage der Datierung. Zwar sind Alphabete bereits in der Königszeit vielfach inschriftlich belegt und Akrosticha auch außerbiblisch schon aus früher Zeit bekannt, doch finden sich alphabetische Dichtungen in der hebräischen Poesie erst relativ spät. Die übrigen akrostichischen Gedichte im Psalter sind nahezu alle nachexilisch und besonders in hellenistischer Zeit scheint diese Form der Poesie sehr beliebt gewesen zu sein. Das kann sicher nicht allein ausschlaggebend für die Datierung der Klagelieder sein, führt aber doch mit anderen Argumenten zu einer nachexilischen Datierung zumindest von Klgl 1 und 4. Für Klgl 2 ist eine nachexilische Datierung nicht so naheliegend, zumindest gibt es dort nichts Zwingendes. Damit dürfte Klgl 2 zu den frühesten Belegen für die akrostichische Dichtung in Israel gehören, wenn es nicht sogar das früheste Beispiel dafür ist.
Lange herrschte die Ansicht vor, die Klagelieder seien in einer Unmittelbarkeit zur Katastrophe von 587 v. Chr. gedichtet worden. Die Lieder seien gezeichnet von der Schockstarre angesichts der Trümmer und getragen von der vollkommen verbitterten Anklage Gottes. Solche Einschätzungen waren nicht unbeeinflusst von der Zuschreibung der Klagelieder an Jeremia und dem Incipit der Septuaginta, das die Klagelieder mit der Zerstörung der Stadt in eine direkte Verbindung bringt. Als diese Zusammenhänge in der kritischen Bibelwissenschaft in Frage gestellt wurden und umgekehrt erkannt wurde, dass es sich in den Klageliedern vielfach um standardisierte Formulierungen handelt, wurden nahezu alle denkbaren Datierungen von 597 v. Chr. bis in die Makkabäerzeit vorgeschlagen.
Die lange vorausgesetzte Augenzeugenschaft sollte nicht als Argument herangezogen werden, da nicht nur einschlägige Details fehlen, sondern auch vergleichbare Klageliteratur zeigt, dass ein Erleben zwar die Schilderung der Katastrophe authentischer macht, dafür aber nicht notwendig vorausgesetzt werden muss. Es gibt durchaus Indizien, dass Klagen über die Zerstörung in Phasen des Wiederaufbaus gehören und der Selbstvergewisserung und Auseinandersetzung dienen. Meist wird für eine Begrenzung der Möglichkeiten der Datierung ins Feld geführt, dass vom Wiederaufbau des Tempels oder einer Restitution Jerusalems noch keine Spur zu finden ist. Die Unsicherheit dabei ist, dass nicht nur die Annahme, ein Bezug auf die Restitution müsse sich finden lassen, wie gerade angedeutet zweifelhaft ist, sondern, was noch schwerer wiegt, über diese Restauration des Tempels und der Stadt keinesfalls eine die Datierung betreffende Sicherheit zu erlangen ist (s. u. VI.12).
Eine Datierung steht grundsätzlich vor dem Problem, dass sich poetische Literatur generell schwer datieren lässt. Eine Möglichkeit ist die Sprachentwicklung und der Gebrauch von bestimmten Wörtern. So benutzt z. B. Klgl 1,1 den Terminus medînāh „Provinz“, der sonst nur in nachexilischer Zeit belegt ist. Das Zitat in 2,15–16 verwendet wie 4,9; 5,18 eine Relativpartikel, die überwiegend nachexilisch gebraucht wird. Diese Beispiele helfen nur bedingt, weil sie immer eine bestimmte Entwicklung voraussetzen und mit der Singularität des Anfangs nicht wirklich rechnen. Eindeutige sprachliche Hinweise für die Datierung der Klagelieder gibt es jedenfalls nicht.
Eine zweite Möglichkeit ist die Frage nach Traditionen, die im Text der Klagelieder vorausgesetzt werden. So scheint 3,37–38 die priesterliche Schöpfungserzählung zu kennen, die frühestens spätexilisch, eher frühnachexilisch entstanden ist. 1,10 setzt das Gemeindegesetz in Dtn 23,4 sicher voraus, wenn es sich sogar ausdrücklich darauf bezieht. Hier schwanken die Datierungen jedoch in der Forschung und es bleibt unklar, wie eng die Verbindung zwischen beiden Texten ist. Gleiches gilt für den Bezug auf die Sünde Sodoms in 4,6. Die meisten Belege für die Zerstörung Sodoms sind zwar nachexilisch und es gibt Stimmen, die auch die Erzählung in Gen 18–19 dazu rechnen, doch dass ein Topos der Sünde Sodoms zuvor bereits existierte, lässt sich kaum sicher ausschließen. Ähnliches gilt für 4,13–16, wo priesterliche Reinheitsvorstellungen im Hintergrund stehen, die erst im nachexilischen Buch Levitikus in Lev 13,44–45 entfaltet werden. Besonders nah scheint Jes 52,11, das mit Klgl 4,15 das doppelte „geht weg!“ und die Unreinheit teilt, und wenn Klgl 4 sich darauf bezöge, wäre es frühestens im ausgehenden 6. Jh. v. Chr., eher später zu datieren. Doch ist der Kontext verschieden und zudem eine mögliche Abhängigkeitsrichtung unklar. Vielleicht sind auch die Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit deutlich älter, sodass eine Datierung darin kaum einen sicheren Anker findet.
Schließlich können sachliche Argumente ins Feld geführt werden. Wenn in Klgl 1 so stark betont wird, dass Jerusalem keinen Tröster hat, scheint die Heilszeit noch nicht angebrochen. 4,22 kann vielleicht so verstanden werden, dass Juda noch im Exil ist, aber auch das bleibt unsicher. Dass der Gesalbte in ihren Gruben gefangen ist (4,20), ist noch nicht messianisch gefärbt und scheint von der Begnadigung Jojachins 562 v. Chr. noch nichts zu wissen. Auch scheint 4,21 noch vor 553/52 v. Chr. entstanden zu sein, weil es keinen Bezug auf das Ende Edoms durch den babylonischen König Nabonid nimmt. Doch auch solche Argumente lassen sich in die Schwebe bringen, weil z. B. Traditionen über die Bestrafung Edoms wie im Obadjabuch, auf die Klgl 4 über den Zornesbecher und andere Verweise ebenfalls Bezug nimmt, inzwischen mehrheitlich nachexilisch datiert werden, ist man wieder am Anfang. Kurz: Wirklich belastbare Einzelargumente für die Datierung der Klagelieder gibt es nicht.
Das Profil der einzelnen Klagelieder lässt auf eine unterschiedliche Entstehung schließen, die in der Zusammenschau der Argumente lediglich für das zweite und vielleicht das vierte Lied eine Datierung in die Exilszeit erlaubt und selbst die ist nicht wirklich sicher (s. zum Folgenden das Schema zur Entstehung der Komposition S. 39).
Das zweite Lied klagt Gott in unvergleichlicher Weise an, es hämmert die Verantwortung Gottes geradezu ein. Härter kann man Gott kaum anklagen. YHWH hat die Erwählung Zions zurückgenommen (2,1), ist zum Feind geworden (2,5), hat erbarmungslos (2,2) gemordet (2,4–6.21), vernichtet (2,5.6) und verworfen (2,7), ist fern und unerreichbar. Zion bleibt zurück in tiefster Verlassenheit – ist Gott-los geworden, einsam ohne Halt – ein Zusammenbruch groß wie das Meer (2,13). Gott wird dabei nicht entlastet durch den Hinweis auf die Vergehen Jerusalems, sondern er agiert maßlos in seinem Zorn, was ihm die Klage Jerusalems (2,20–22) vor Augen führt, ohne aber um eine Wende ausdrücklich zu bitten. Das Gottesverhältnis ist gestört, es gibt keine einzige Bitte – nur das verzweifelte „sieh doch!“ (1,9.11.20). Gott ist ein in der Anklage beschädigter Gott. Die heilvolle Seite seiner Macht muss sich in der Zuwendung gegenüber Jerusalem erst wieder erweisen. In letzter Verzweiflung schreit Zion zu ihrem Gott. Schuld gibt es nur im Zusammenhang außenpolitischer Fehleinschätzungen (2,14), nicht als theologische Reflexionskategorie. Lediglich der Verweis auf die Gerichtsprophetie ordnet das Geschehen ein (2,17.22). In geradezu ungeheuerlicher Weise werden zionstheologische Aussagen negiert: Jerusalem ist durch die Zerstörung weder Wohn- noch Heilsort. Das ist nachexilisch schwer denkbar. Eine Transformation, die Gott in den Himmel versetzt, sodass er durch die Zerstörung Jerusalems nicht beschädigt werden kann (Ps 103,19; 113,6; 115,3; 123,1; Klgl 4,1) hat noch nicht stattgefunden. So scheint eine Datierung in die erste Hälfte des 6. Jhs. v. Chr. für das zweite Lied durchaus vertretbar, zumal für eine Spätdatierung ausreichende Indizien fehlen. Wie weit man in der Exilszeit herabgehen will, hängt von der Einschätzung ab, wie viel Innovation man den Klageliedern beimessen will. Sieht man z. B. die Rede von der „Tochter Zion“ und die akrostichische Dichtform als fast ausschließlich nachexilische Entwicklungen, wird man sich eher an das Ende als an den Anfang des Exils bewegen.