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Ein eindringlicher Roman über das Heranwachsen im hohen Norden Kanadas
Yammie lässt das Stadtleben und ihren Freund Nicolas hinter sich, um im First-Nation-Reservat Uashat als Lehrerin zu arbeiten. Ist sie noch eine Innu, wie die indigene Bevölkerung im Norden des Staates Québec genannt wird, oder ist sie durch Erziehung und Studium der französischen Sprache schon „zu weiß“ geworden? Kann sie als junge Lehrerin den Heranwachsenden, deren Zukunft von Alkohol und Depressionen überschattet ist, Perspektiven bieten? Nach einem ereignisreichen Jahr sind die Schüler Yammie ans Herz gewachsen. Und sie erkennt, dass nicht nur die Jugendlichen gereift sind, sondern dass auch sie sehr viel von ihnen gelernt hat.
Gefühlvoll und authentisch – dieser Roman erzählt vom Leben der kanadischen Ureinwohner, von ihren Sorgen, Ängsten, Sehnsüchten und Hoffnungen.
Der C. Bertelsmann Verlag dankt dem Canada Council for the Arts für die Förderung der Übersetzung. We acknowledge the support of the Canada Council for the Arts. Nous remercions le Conseil des arts du Canada de son soutien.
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Seitenzahl: 150
Zum Buch:
Yammie lässt das Stadtleben und ihren Freund Nicolas hinter sich, um im First-Nation-Reservat Uashat als Lehrerin zu arbeiten. Ist sie noch eine Innu, wie die indigene Bevölkerung im Norden der kanadischen Provinz Québec genannt wird, oder ist sie durch Erziehung und Studium der französischen Sprache schon »zu weiß« geworden? Kann sie als junge Lehrerin den Heranwachsenden, deren Zukunft von Alkohol und Depressionen überschattet ist, Perspektiven bieten? In einem ereignisreichen Jahr wachsen die Schülerinnen und Schüler Yammie ans Herz. Und sie erkennt, dass nicht nur die Jugendlichen reifen, sondern dass auch sie sehr viel von ihnen lernt.
Gefühlvoll und authentisch – dieser ergreifende Roman erzählt vom Leben der Innu, von ihren Sorgen, Ängsten, Sehnsüchten und Hoffnungen.
Zur Autorin:
Naomi Fontaine, geboren 1987 in Uashat, ist in Kanada eine der bekanntesten autochtonen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Sie schreibt auf Französisch. Als Kind verließ sie mit ihrer Mutter das Reservat, um in Québec-Stadt zu leben, wo sie Französisch auf Lehramt studierte. Ihr Debüt Kuessipan erschien 2011 und wurde verfilmt. Die kleine Schule der großen Hoffnung, ihr zweiter Roman, stand 2018 auf der Shortlist des renommiertesten kanadischen Literaturpreises, des Governor General’s Award, und war auch in Frankreich ein großer Erfolg. Der Roman wird derzeit als TV-Serie verfilmt. 2019 veröffentlichte sie mit Shuni ihr drittes Buch, für das sie 2020 mit dem Prix littéraire des collégiens ausgezeichnet wurde.
Naomi Fontaine
DIE KLEINE SCHULE DER GROSSENHOFFNUNG
Roman
Aus dem Französischen von Sonja Finck
C. Bertelsmann
Dieses Buch ist meinen Schülerinnen und Schülern gewidmet, in Freundschaft und Dankbarkeit, tshinashkumitinau.
Katshi minumamitunenitaman kie tiapuetatishuian e innu-
ishkueuian tshetshi mashinaitsheian, eukuan nitishi-
nishtuteti: kassinu auen ka itenitak tshekuannu tshetshi tutak
tshika takuannu tshetshi ut animiut muk eiapit apu nita
tshikut ui patshitenimut. Uemut eiapit nanitam peikutau
tshikaui ishimamitunenitam kie apu tshikut takuannit
tshekuannu tshetshi ui nanikanikut. Kie nete tshek tshika
peikussu, apu tshikut tant uitsheuakan. Eiapit namienu nenu
tsheut patshitenimut. Uemut eiapit anu tshikaui tutam nenu
thekuannu ka itenitak tshetshi tutak.
Nach langem Nachdenken und nachdem ich, eine Indianerin, endgültig die Entscheidung getroffen hatte, mit dem Schreiben zu beginnen, begriff ich eins: Jeder Mensch, der etwas vollbringen will, stößt auf Hindernisse, aber man darf nie aufgeben. Man muss seine Idee weiterverfolgen. Nichts kann einen davon abbringen, bis zu dem Tag, an dem man allein dasteht. Aber selbst wenn man keine Freunde mehr hat, darf man nicht aufgeben. Dann ist es wichtiger denn je, das Ziel, das man sich gesetzt hat, zu erreichen.
An-Antane Kapesh, 1975
Rückkehr ist Schicksal. Eine Rückkehr in das kleine Dorf und die sandige, stachelige Natur, zusammengeträumt anhand von unveränderlichen Kindheitserinnerungen.
In meiner Straße am Saum der Bucht ging ich in der Menge unter. Ich, das stille kleine Mädchen. Als Baby weinte ich so selten, dass meine Mutter mich anstieß, um sich zu vergewissern, dass ich noch atme. Als Kind weinte ich so selten, dass meine Mutter mich einmal draußen auf den Stufen vergaß. Später ließ mich die sonderbare Gerechtigkeit des Lebens jede einzelne Träne nachholen.
Mein beiges Haus zu verlassen, bedeutete, alles zu verlassen. Auch wenn »alles« nicht viel ist, weil man fast nichts hat. Ein weißes Metallbett, eine gemusterte Wolldecke. Ein Puppenhaus, ein Spielzimmer mit blauem Betonboden im Keller. Den ganzen Winter über rote Wangen von der Kälte, im Sommer braun gebrannt wie die Kinder im Süden. Vielleicht werde ich irgendwann ans Ufer dieser Bucht zurückkehren, meine Tante umarmen, in meinem alten Zimmer spielen.
Das Exil ist acht Autostunden entfernt, und es hat weiße Haut. Meine Mutter brauchte zwei Tage für die Strecke, für die unfassbare Entfernung, die ich mir nur vorstellen konnte, indem ich die Dörfer zählte, die wir durchquerten. Heute kenne ich sie in- und auswendig. Jeden Kilometer, jeden Ort. Dem Rhythmus der Kurven und Steigungen am Nordufer des Sankt-Lorenz-Stroms folgen. Immer knapp über dem Tempolimit.
Ich war sieben Jahre alt. Ein kleines braunes Mädchen zwischen all den weißen Gesichtern, den blauen oder grünen Augen, dem blonden oder gelockten Haar. Eine Fremde. Die Neue. Anders. Meine dunkle Haut bemerken. Mich nicht dazugehörig fühlen.
Ob sich die Welt woanders verändert hat, weiß ich nicht. Aber ich weiß um die gefährliche Kurve bei Saint-Siméon, die viel zu spät begradigt wurde. Ich weiß, dass es zwischen Baie-Sainte-Catherine und Tadoussac nie eine Brücke geben wird, weil das Flussbett des Saguenay an dieser Stelle so tief ist wie das Meer. Und ich weiß, dass das kleine Dorf, dessen Namen mir entfallen ist, bald ein Geisterdorf sein wird, weil die Route 138 seit dem Bau der Umgehungsstraße nicht mehr hindurchführt.
Man sagt, die Rückkehr sei der Weg der Exilanten. Wegzugehen war nicht meine Entscheidung gewesen. Fünfzehn Jahre später komme ich zurück und stelle fest, dass sich die Dinge verändert haben.
Ich hatte sie mir oft vorgestellt. Unzählige Male. Noch bevor ich ihre Namen, ihre Familien, ihre Geschichte kannte. Noch bevor ich ihre Sehnsüchte kannte. Gut zwanzig Jugendliche, alle unterschiedlich, Jungen und Mädchen, schüchtern, witzig. Werdende Erwachsene. Eine Generation Kinder, verbunden durch ruhige Straßen ohne Ampeln. Nächtliches Händchenhalten am Strand. Nostalgie.
Ich sah die Wände meines Klassenzimmers vor mir, dunkelgelb gestrichen, und den wuchtigen alten Holzschreibtisch, an den ich mich lehnen würde. Die billigen weißen Regale, auf denen sich französische Wörterbücher, Konjugationstabellen und nutzlose Synonymlexika stapeln würden, die die Schulbehörde lange Zeit für unentbehrlich hielt.
Ich stellte mir vor, wie ich die nackten Wände schmücken würde. Mit Fragmenten der Literaturgeschichte, mit Zitaten aus Romanen, Fotos von Schriftstellern, Postern von berühmten Gemälden. Mit Werken, die in fremden Köpfen entstanden waren und dabei helfen, seinen eigenen Weg zu finden. Ich würde mich auf keinen Fall darauf beschränken, französische Grammatik zu unterrichten, die vielen absurden Rechtschreibregeln und das Cedille, das das C weicher macht. Ich würde meinen Schülern von der Welt erzählen. Davon, wie man die Welt sehen kann. Wie man sie lieben kann. Und davon, wie man die unsichtbare, längst überholte Grenze überwinden kann, die um das Reservat verläuft, das wir selbst lieber als »Gemeinschaft« bezeichnen, um unsere Herzen zu besänftigen.
Nachdem ich den Arbeitsvertrag unterschrieben hatte, probte ich wochenlang meinen ersten Auftritt vor der Klasse. Ich würde den Schülern mit fester Stimme von meinem Studium erzählen und davon, warum ich Lehrerin geworden war. Von meiner Rückkehr hierher, nach Uashat. Ich würde ihnen nicht erzählen, was ich alles aufgegeben hatte. Und auch nicht, dass ich fürchtete, hier bei mir zu Hause nicht anerkannt zu werden. Ich würde ihnen meine Zweifel verheimlichen, meine Unsicherheit als Berufsanfängerin, mein mangelndes Selbstvertrauen. Und ich würde nicht auf Innu zu ihnen sprechen. Weil ich Schwierigkeiten mit der Grammatik hatte und den Akzent einer Weißen.
Ich wollte einen guten ersten Eindruck hinterlassen, und obwohl ich den Schülern anfangs trotz meiner Hautfarbe und meiner dunklen Augen wie eine Fremde vorkommen musste, war ich fest entschlossen, ein freundschaftliches Verhältnis zu ihnen aufzubauen. Ich würde ihnen nicht nur Französisch beibringen. Sondern auch, wie man sich selbst findet.
Das war vorher. Bevor Marc nicht mehr zum Unterricht erschien. Bevor Myriam den Kopf hängen ließ. Bevor ich Mélinas verstecktes Talent entdeckte. Vor Rodrigos Rebellion. Vor Mikuans schüchternem Lächeln. Bevor mir der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Bevor es kein Zurück mehr gab.
Bevor ich mich selbst fand.
Nicolas sah mir beim Weggehen zu. Als ich anfing, meine Kartons zu packen, beobachtete er mich wortlos. Ich wollte die Sache nicht in die Länge ziehen. Die Aussicht, den Sommer in Uashat am Meer zu verbringen, beruhigte mich. Hier lastete sein Blick schwer auf mir. So schwer wie die Kartons, die ich über die Route 138 transportieren würde, in meinem weißen Honda Civic, der nach einem Unfall auf verschneiter Straße völlig verbeult war. In unserer kleinen Wohnung war die räumliche Enge zu einer geistigen Enge geworden. Alltagstrott und ein perfekt vorgezeichneter Weg.
Nicolas sah mich an, und ich schwieg. Ich hatte Schuldgefühle, weil ich ihn verließ. Dabei hatte ich ihm schon im Winter erzählt, dass der Direktor der Sekundarschule von Uashat mir eine Stelle angeboten hatte. Nach meinem Bachelorabschluss befürchtete ich, hier in der Stadt nichts Vergleichbares zu finden. Ich hatte so viele Geschichten von Absolventinnen gehört, die in Luxusboutiquen an der Kasse standen, in denen sie sich nicht einmal ein Oberteil leisten konnten. Außerdem gefiel mir die Idee, in mein Dorf zurückzukehren. Dort arbeiten. Meinen Leuten etwas zurückgeben. Der Job entsprach genau meinen Vorstellungen.
Wenig später, immer noch im Winter, fuhr ich für ein paar Tage nach Uashat, um den Direktor zu treffen, und er versicherte mir, dass er ab Mitte August eine Vollzeitstelle für mich habe.
Dann überraschte uns der Frühling.
»Du willst, dass ich mitkomme? Wie stellst du dir das vor? Ich kann dir doch nicht überallhin folgen? Was soll ich in Uashat?«
Ich hatte mich bei einem von Nicolas’ Konzerten in seinen Akzent vom Südufer des Sankt-Lorenz-Stroms verliebt. Er trat solo mit der Gitarre auf. Drei Jahre war das jetzt her. Schnell waren mir seine breiten Holzfällerschultern vertraut geworden. Die Karohemden, die er samstags trug. Seine starken Hände. Auf der Gitarre. Auf dem Griff seiner Motorsense, deren Klinge genauso schnell stumpf wurde wie unsere gemeinsamen Wochenenden in seiner kleinen, unaufgeräumten Mansardenwohnung. War er nicht genau mein Typ? Ein Künstler, der Worte liebte, der aber genauso gern in der Julihitze durch die Natur streifte. Fehlten nur noch der Vollbart und die buschigen Augenbrauen, dann hätte man ihn für einen seiner Vorfahren halten können. Aber in seinen blauen Augen lag eine große Zärtlichkeit, und auch wenn mir das in diesem Moment überhaupt nicht passte, war sein Blick gnadenlos offen. Er verbarg nichts. Nicht mal seinen Schmerz, seine Hilflosigkeit.
»Du könntest einen gut bezahlten Job in der Fortwirtschaft finden. Im Norden gibt es überall Wald. Wald, Wald, nichts als Wald.«
Seine Wut. Seine Vorwürfe, sein Flehen schlugen mich früher in die Flucht, als es nötig gewesen wäre. Wir stritten uns ständig, ich brachte immer wieder dieselben Argumente auf den Tisch. Als ich merkte, dass ich ihn nicht überreden konnte, prägte ich mir seine Antworten für später ein. Sie würden mir im Norden das Herz erwärmen.
Er hatte sich eine andere Zukunft für uns ausgemalt. Am Südufer des Sankt-Lorenz-Stroms. Glückliche Tage, ein Gemüsegarten. Ein weißes Haus auf einem weitläufigen Grundstück. Der Geruch der Felder im Juli, lauer Abendwind. Ahornsirup, der im Frühjahr eingekocht wird, aufgekratzte Kinder, die Holzstiele hineintauchen und den Sirup zu Lutschern drehen. Natürlich hätte es mir gefallen, auf einer Holzveranda zu sitzen und alte Romane zu lesen, von der Welt abgeschnitten, friedlich. Natürlich hätten die Fichten dafür gesorgt, dass ich mich zu Hause fühle. Gedüngte Felder, das Gegenteil der Wildnis. Natürlich waren wir verliebt. Vielleicht hätte unsere Liebe uns getragen. Vielleicht wären wir sorglos miteinander alt geworden. Aber das war nicht mein Leben. Ich dachte, das könnte er verstehen.
An der Tür, in T-Shirt und Leggins, bequemen Klamotten für die achtstündige Fahrt, sah ich, wie er mich ansah. Ich war zu stolz, um zu weinen. Ich hatte mich für mich selbst entschieden. Aber jede Entscheidung ist gleichzeitig auch ein Verzicht. Ich hatte keine Lust, noch etwas zu sagen, die immer gleichen Worte zu wiederholen, mich in eine weitere Diskussion zu verstricken. Ich wollte zur Tür hinaus und atmen. Ich drehte mich um und ging.
Dann sein Satz, der mich trifft. Mitten ins Herz.
»Ich werde auf dich warten, okay.«
Vor zwanzig Jahren war an der Hauptstraße des Reservats eine Schule gebaut worden. Auf der Brachfläche neben der Eislaufbahn und dem Baseballplatz. Das erste Gebäude aus Stein. Die Schule bekam den Namen Manikanetish, kleine Margerite, zum Gedenken an eine Frau, die wenige Jahre vor Baubeginn gestorben war. Die kleine Margerite hatte selbst nie ein Kind zur Welt gebracht, aber das hatte sie nicht davon abgehalten, Dutzende großzuziehen. Elternlose Kinder, welche, die man bei ihr abgeliefert hatte, weil es bei ihnen zu Hause schon zu viele Geschwister gab, schwierige Kinder, die, statt in die Obhut des Staats zu kommen, bei ihr Unterschlupf fanden. Sie war klein, mit einem mädchenhaften Körper. Doch ihr Herz war unendlich groß. Manchmal amüsiert sich der Schöpfer, indem er seinem Geschöpf widerspricht.
Der Direktor hatte beschlossen, vor der Schule Rasen säen zu lassen. Leider hatten die Männer, die ihn pflegen sollten, nicht die Spur eines grünen Daumens, selbst zu fünft nicht. Sie unterschieden nicht zwischen Gras und Unkraut, und so war das Areal im Sommer eine akkurat gemähte braune Fläche, und nur wenn der Löwenzahn blühte, färbte es sich für einen Monat grün.
Anfangs waren in dem Gebäude die Grundschule und die Sekundarschule untergebracht. Bis es aus allen Nähten platzte. Zwei weitere Schulen wurden gebaut. Auch sie füllten sich schnell. Jedes Jahr begrüßten die Lehrerinnen und Lehrer, einige Innu, hauptsächlich Weiße, sechs neue erste Klassen. Über hundert Erstklässler. Kinder, die sich auf Lesen, Rechnen und Sport freuten. Die meisten sprachen Französisch. Sehr wenige konnten nur Innu. Manche hatten beide Sprachen gelernt. Ihre Muttersprache benutzten sie zur Begrüßung, um die Jahreszeiten zu benennen und um zu sagen, dass sie mal aufs Klo mussten.
Ich hatte mich für die Sekundarschule entschieden. Geduld, Ordnung, Konsequenz, Froschgeschichten, Buchstaben lernen, Lieder singen und dazu in die Hände klatschen, »Madame, der hat mir die Zunge rausgestreckt«, das alles war nichts für mich. Ich fühlte mich nicht imstande, mit diesen kleinen Menschen umzugehen.
Ich liebte Diskussionen, kreatives Schreiben, Allgemeinbildung, Korrigieren, Romaninterpretationen, Power-Point-Präsentationen und Fragen wie »Madame, haben Sie Aliss von Patrick Sénécal gelesen?«
In den ersten Wochen in Uashat hörte ich jede Menge Geschichten über diese Schule, die ich selbst nie besucht hatte. Nicht immer lustige. Zum Teil erschreckende. Schwer verständliche. Woher sollte ich wissen, was wahr und was nur ein Gerücht war? Ein Bekannter erzählte mir, er hätte im Unterricht immer mit beiden Händen unter dem Tisch Joints gedreht. Ein anderer, die älteren Schüler würden penetrant mit den jungen Lehrerinnen flirten und sich nicht abwimmeln lassen. Auf dem Schulhof gebe es ständig Prügeleien. Mädchen und Jungs würden aufeinander losgehen, wegen Eifersüchteleien oder weil jemand sie als Schlampe beschimpft hatte. Manche Schüler würden mitten im Unterricht aufstehen und rausgehen, um auf dem Klo eine Linie Speed zu ziehen. Das waren die Geschichten, die kursierten. Wobei ja bekannt ist, dass Jugendliche zum Übertreiben neigen.
Man erzählte mir auch, die Dinge hätten sich geändert, seit es einen neuen Direktor gab. Einen älteren, in sich ruhenden Mann aus Montréal. Mit weißem, akkurat gekämmtem Haar. Ernst, aber immer eine ausgestreckte Hand. Er hatte Naturwissenschaften auf Lehramt studiert und wurde allseits geschätzt, gefürchtet, respektiert. Bei meinem Vorstellungsgespräch hatte ich auf Anhieb begriffen, warum. Obwohl er eher klein war, war er jemand, dem man zuhört. Er arbeitete schon seit zehn Jahren an der Schule und hatte ein gutes Gespür für den Umgang mit den Innu. Selbstironie, Entschlossenheit und die Fähigkeit, nicht in die Mitleidsfalle zu tappen, das braucht man, um mit Menschen zu arbeiten, die ununterbrochen rassistischen Vorurteilen ausgesetzt sind. Ob wir Lehrer auch von seiner Ausstrahlung profitierten, würde sich noch zeigen.
»Madame, was machen wir heute?«
»Französisch.«
»Bäh! Ich hasse Französisch.«
*
Sie nannten mich von Anfang an »Madame«. Noch bevor sie meinen Namen kannten. Aber auch später, als sie mich längst duzten und mit mir herumalberten, sagten sie weiter »Madame« zu mir. Die Regel war ein paar Jahren zuvor an der Schule eingeführt worden und wurde konsequent durchgesetzt. Anfangs tat mir das »Madame« in den Ohren weh, ich kam selbst frisch von der Uni und fühlte mich noch nicht richtig erwachsen, noch nicht bereit für eine so förmliche Anrede. Aber ich sah schnell ein, dass es nötig war. Wenn ältere Schüler mich mit tiefer Stimme fragten, ob sie heute eher gehen durften. Wenn ich abends unter der Woche ein paar Schüler im Billardsalon traf, wo ich vergeblich versuchte, mich hinter meinem Glas Wein zu verstecken. Wenn in der Klasse wieder einmal lautes Gelächter ausbrach, und ich kurz davor war, die Kontrolle zu verlieren. Die Schüler nannten mich »Madame«, und dadurch schaffte ich es, meine Stimme gerade so weit zu erheben, dass ich für Ruhe sorgen konnte.
Ich war kaum älter als meine Schüler, und manchmal war ich die ganze Unterrichtsstunde lang damit beschäftigt, mich selbst zu beobachten. Ich war unzufrieden mit meinen Bewegungen. Mit meinen Händen, die ununterbrochen und viel zu schnell redeten. Nervöse, unsichere Hände. Hände, die ich irgendwann immer in die Hüften stemmte wie ein bockiges Kind. Wie ein kleines Mädchen, das mit seinen Puppen schimpft. Hände, die es leid waren, um Aufmerksamkeit zu betteln. Um die sporadische Aufmerksamkeit von Schülern, deren Hände lässig auf den Tischen lagen.
Mit hohen Absätzen und fast immer in Jeans spielte ich die Rolle der jungen, idealistischen Lehrerin. Die immer ein wenig zu sehr die Augenbrauen hebt, wenn sie mit den Schülern redet, und sich jedes Mal entschuldigt, wenn sie sich verspricht. Es klang aufgesetzt. Ich versuchte mich vergeblich daran zu erinnern, was ich an der Uni über Motivation, Disziplin und schulischen Erfolg gelernt hatte. Ich improvisierte. Pausenlos.