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Die bekannte Yoga-Lehrerin Anna Trökes führt in diesem Buch in den weiten Kosmos der yogischen Philosophie ein. Sie bietet ein leicht zugängliches und übersichtliches Werk für alle Interessierten und fasst die wichtigsten Kernaussagen der ursprünglichen Quellen und deren Bedeutungen zusammen, die bis heute noch ihre Gültigkeit behalten. Von den alten Veden über die Bhagavadgita bis hin zu den Upanishaden, werden die alten Texte, die dem Yoga zugrunde liegen, und deren mystische Einsichten dargestellt. Wer seiner Praxis noch mehr Tiefe und Hintergrund geben möchte, bekommt in der "Yoga-Philosophie" sowohl geschichtliches Wissen als auch die essenziellen Grundideen der großen Weisheitslehre in einem Guss. Denn Yoga umfasst vielmehr als nur die bekannten Körperstellungen. Es ist ein Weg, der jeden zu seinem wahren seelischen Selbst führen kann. Ein spannender und philosophischer Begleiter für das ganze Yoga-Leben zum immer wieder Nachlesen!
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Seitenzahl: 448
Anna Trökes
Die kleine Yoga-Philosophie
Grundlagen und Übungspraxis verstehen
Knaur e-books
Anna Trökes führt in den Kosmos yogischer Philosophie ein und bietet erstmalig ein leicht zugängliches und übersichtliches Werk für alle Interessierten. Wer seiner Praxis mehr Hintergrund geben möchte, bekommt hier Geschichte und Grundideen der großen Weisheitslehre in einem Guss. Denn Yoga umfasst vielmehr als nur die bekannten Körperstellungen. Es ist ein Weg, der jeden zu seinem wahren seelischen Selbst führen kann.
Ein spannender philosophischer Begleiter für das ganze Yoga-Leben!
»Der wirkliche Yoga ist eine sich selbst korrigierende und ewig schöpferische Disziplin voller unendlicher Möglichkeiten.« Patañjali[1]
Ich unterrichte seit fast vierzig Jahren und durfte in dieser Zeit Zeugin sein, wie sich die Art, den Yoga zu praktizieren und in das eigene Leben zu integrieren, in kaum vorstellbarer Weise veränderte.
Als ich im Jahr 1972 mein Yoga-Studium begann, waren wir Yogis in Deutschland eine überschaubare, fast familiäre Bewegung. Heute ist es eine Massenbewegung, die sich weltweit auf ca. 250 Millionen (!) Anhänger beläuft[2] und inzwischen alle Kontinente erreicht hat (die letzte »Besiedlung« geschieht gerade in Afrika).
Die Entwicklung des Yoga nahm sowohl in Indien wie auch in allen Ländern, in denen er sich zu etablieren vermochte, unterschiedliche Entwicklungen, die sich – je nach Zeitgeist – etwas mehr seiner Spiritualität zuwandten oder sich von ihr abwandten. Nun, im Jahr 2012, nachdem die Staaten der Welt wieder einmal durch eine Reihe schwerer Krisen und Kriege gegangen sind, wird immer deutlicher, dass die Menschheit den Yoga nicht nur braucht, damit er ihr auf der körperlichen Ebene erprobte Konzepte der Gesunderhaltung, der Stressbewältigung und der Körperertüchtigung (im Sinne von Fitness) liefert, sondern dass wir uns nun vom Wissen des Yoga auch erhoffen, dass es uns darin unterstützt, uns klarzuwerden, was der Sinn unseres Lebens hier auf dieser Erde ist.
Die Körperübungen und die Philosophie des Yoga gehörten und gehören immer zusammen. Ziele des Yoga waren seit frühester Zeit Selbsterkenntnis und Bewusstseinsentwicklung. Sowohl die Selbsterkenntnis als auch jede Form der Bewusstseinsentwicklung können nur im Körper geschehen, und nur vermittels dieses Körpers – der im Yoga als ein allumfassendes und alldurchdringendes Feedbacksystem angesehen wird – können wir wissen, was sich in uns entwickelt und ob sich etwas entwickelt. Unser Körper ist nämlich das einzige »Instrument«, über das wir zu erkennen vermögen, ob der Prozess, in dem wir uns befinden, stimmig verläuft oder nicht.
Das alle Körpersysteme durchdringende Nervensystem (westlicher Ansatz) und Prana als Bewusstseins-Energie, die jede Zelle durchdringt und damit aus jeder Zelle eine autonome, in sich bewusst agierende Einheit macht (Yoga-Ansatz), verorten auf jeweils ihre Weise den Geist (besser eigentlich das Mental) im Körper. Das führte in der indischen Kultur dazu, dass alle philosophischen Konzepte, auch die, in denen es darum geht, seine eigene Körperlichkeit zu überwinden, den Körper beachten. Da der Yoga eine reine Erfahrungswissenschaft ist, könnte man auch sagen, dass seine Theoriebildung ausschließlich auf körperlichen Erfahrungen beruht.[3] Und deshalb ist indische Philosophie – und darin insbesondere die Yoga-Philosophie – nichts, was man fernab der Welt in seinem Elfenbeinturm studiert, sondern immer etwas, was über die aktive Gestaltung der inneren Einstellungen und Sichtweisen direkt Eingang finden kann in eine bewusste Gestaltung des täglichen Lebens.
Ich habe selber als junge Frau etliche Semester Philosophie studiert, und zwar in der ganzen Bandbreite von der griechischen Philosophie bis zu den Autoren der Frankfurter Schule. Die Philosophie zog mich an, weil ich hoffte, in ihr Lösungsansätze zu finden, wie ich mit dem Dilemma umgehen lernen könnte, das die Welt jeden Tag in Form von Grausamkeit, Brutalität, Krieg, Armut, Hunger, Gier und Macht aufs Neue in mir entfachte. Hinzu kam, dass ich als Kind zweier schwer vom Krieg traumatisierter Eltern äußerste Mühe hatte, für mich einen Sinn in diesem Dasein zu entdecken, und merkte, dass mein Leben ohne etwas, wodurch ich ihm einen Sinn verleihen könnte, im wahrsten Sinne des Wortes sinnlos war. Meine Suche geschah zu einer Zeit, da die westliche Wissenschaft gerade begann, den Menschen als eine reine Reiz-Reaktion-Maschine zu sehen, in der jedes Gefühl auf eine rein chemisch-elektrische Reaktion reduziert wurde und die Seele vor allem etwas war, was es zu analysieren galt. Mein Gemüt hatte große Mühe, sich mit der (von mir so empfundenen) Kälte der westlichen Ansätze anzufreunden, da ich sie zu dieser Zeit als viel zu verkopft und »herzarm« empfand. Aber offensichtlich war ich nicht die Einzige, der die Luft in der philosophischen Kultur Nordeuropas zu dünn und zu kalt war, sondern eine ganze Generation entdeckte allmählich, dass Geist und Körper eine untrennbare Entität sind.
So kam es, dass sich in den siebziger Jahren eine Vielzahl von körperbasierten Selbstentdeckungsmethoden zu entwickeln begann. Bald wurde klar, dass viele von ihnen große Überlappungsbereiche mit der Weltsicht des Yoga aufwiesen. Es war auch zu dieser Zeit, als man im Westen begann, die Lehren und Schriften des Yoga und des Buddhismus wirklich zu studieren (und nicht nur einer indologischen/tibetologischen Sprachanalyse zu unterziehen).
Es konnte nicht ausbleiben, dass wir damals die westlichen Philosophen mit den indischen und tibetischen (Yoga-)Meistern verglichen, die zunehmend begannen, den Westen zu bereisen und hier zu lehren. Dabei zeigte sich eine sehr offenkundige Diskrepanz: Während sich viele der westlichen Gelehrten und Philosophen in einer meist sehr abstrakten Weise der Erforschung der Phänomenologie des Geistes widmeten und dabei eine Vielzahl komplexer intellektueller Konzepte vorstellten, saßen die indischen Meister da und äußerten sich zu den alltäglichen Problemen, mit denen sich ihre Studenten herumschlugen. Sie wagten es, konkrete Denkanstöße zu geben und direkt für jeden umsetzbare Übungsprogramme zu entwickeln (z.B. im Kriya-Yoga). Sie interessierten sich weniger dafür, dem Geist immer neues »Denkfutter« zu geben, als ihm vielmehr zu helfen, in die Ruhe und Klarheit zu finden, in der tiefes inneres Verstehen aufleuchten kann.
Und genau darin zeigte sich nun ein entscheidendes Manko der westlichen Ansätze: Den meisten fehlte es an einem Übungsweg! Das bedeutete, dass diese Lehren keine oder kaum Werkzeuge entwickelt hatten, um den Menschen zu helfen, die Philosophien umzusetzen und im Alltag anzuwenden. Und damit blieben sie auch zwangläufig »im Kopf«, während Herz und Seele weiter auf der Suche waren.
»Ein wesentliches Merkmal indischer Philosophie ist, dass für sie Wissen als Selbstzweck nichts zählt. Der Erwerb von Wissen wird einzig als Mittel der Selbsterkenntnis und der Selbstvervollkommnung geschätzt. Aus diesem Grund werden philosophische Systeme in Indien nicht nur als darshana, sondern auch als moksha-shashtra bezeichnet. Moksha bedeutet ›Befreiung‹, ›Erlösung‹, ›Loslösung‹, mit shashtra ist die ›Lehre‹ oder das ›System‹ angesprochen, das dieses Ziel möglich macht.«[4]
Die Yoga-Philosophie versteht sich somit als ein Mittel, um das zu erkennen und zu beseitigen, was wirklich zwischen mir und meinem Glück steht.
In der Regel meinen wir, dass das, was zwischen mir und meinem Glück steht, eine ganze Reihe mehr oder weniger gravierender äußerer Probleme sei. Wie oft sagen wir uns schließlich: »Wenn nur dieses oder jenes anders wäre, dann wäre ich glücklich!« Ändern sich diese äußeren Bedingungen, dann finden wir flugs etwas Neues, was uns daran hindert, glücklich zu sein. Und so weiter und so fort.
Deswegen sagen alle Meister des Yoga einmütig, dass wir nur in unserem Inneren finden können, womit wir uns behindern, Glück zu erfahren. Die Yoga-Philosophie interessiert sich nicht im Geringsten für die Argumente, die wir vorbringen, um unsere Probleme und Leiden zu rechtfertigen. Sie hilft uns vielmehr zu verstehen, dass sie auf falschen Annahmen beruhen. Es kommt daher, dass sich in uns Denk- und Verhaltensmuster verfestigt haben, die auf unseren Vorstellungen gründen, was im Leben wesentlich ist. Und in dieser Beziehung, sagen die Yoga-Meister aller Zeiten, setzen wir häufig genug Prioritäten, die ungünstig sind, wie z.B., wenn wir äußeren Umständen die Macht geben, uns glücklich oder unglücklich zu machen.
Die Yoga-Philosophie ist ein Mittel, das mir helfen soll, das Wissen, das sie anbietet, direkt auf mich anzuwenden. Die Texte sprechen immer nur von mir; sie sind wie Spiegel. Ich allein schau in den Spiegel hinein. Ich betrachte mich und die Welt im Lichte dieses Wissens – und in diesem Licht erscheint alles zunächst einmal anders. Das erzeugt eine Art Gegenströmung zu dem, was ich bis jetzt immer angenommen habe und worauf ich gewohnheitsmäßig und unbewusst reagiert habe. Mein Blick in den Spiegel der Yoga-Philosophie kann mir helfen, aufzuwachen und mich fortan mit Achtsamkeit durch mein Leben zu bewegen.
Ich selber habe die vielen Jahre der Konfrontation mit den verschiedenen Meisterwerken der Yoga-Philosophie zunehmend als eine »Psycho-Analyse« im wirklichen Wortsinn erfahren. Das Besondere dabei ist, dass sich der Yoga nicht für die Inhalte meiner Psyche interessiert und schon gar nicht für irgendeine Form der Schuldzuschreibung. Vielmehr interessiert ihn, wie sich meine Psyche bedingt durch das, was ich erfahren habe, geformt hat. Yoga analysiert also mehr die Struktur meines Gewordenseins und fragt dann, wie es mir damit geht. Geht es mir gut, dann wird niemand hinterfragen, warum es mir gutgeht, oder gar versuchen, mir das zu zerreden – denn ich werde sowieso die Erfahrungen machen, die ich machen muss.
Wenn es mir jedoch nicht gutgeht, und ich meine, Probleme zu haben, dann ist es sehr hilfreich, wenn ich zu erkennen lerne, welche Strukturen, welche Muster in meinem Geist nicht günstig und nicht förderlich sind, sprich: geeignet sind, dass ich mir meine Probleme daraus selbst erschaffe. Wenn wir an diesem Punkt der Erkenntnis angekommen sind, finden wir in den verschiedenen Texten eine Vielzahl von Gegenentwürfen, die uns erkennen lassen, worum es geht. Mit Hilfe der Entfaltung der Unterscheidungsfähigkeit (viveka) schärfen sich unser Blick und unsere Empfindung dafür, was uns wirklich – und nachhaltig – guttut, was uns nährt und stärkt.
Dabei begegnen wir immer wieder der Ansicht, dass jeder Mensch ganz tief drinnen nichts anderes in seinem Leben sucht als diese eine Erkenntnis: »Wer bin ich im tiefsten Wesenskern, und was mache ich hier?« Und genau darauf vermag der Yoga Antworten zu geben. Antworten, die mich überzeugt haben und deren praktische Umsetzung sich jeden Tag aufs Neue in meinem Leben bewährt.
Der Yoga lehrt uns, dass es ist, wie es ist. Wir können die äußeren Situationen in aller Regel nicht ändern und selten genug beeinflussen (z.B. indem wir einen Menschen, mit dem wir viel zu tun haben, ändern). Aber wir können uns sagen: »Okay! Es ist, wie es ist. Und ich ernenne gerade diese Situation zu meinem Lehrer!«
Als wenn die alten Yoga-Meister schon geahnt hätten, dass unser Gehirn ein äußerst plastisches – sprich formbares und veränderbares – Organ ist, empfehlen sie uns durch die Jahrhunderte hindurch, doch endlich einmal unser Denken und damit unsere inneren Einstellungen aktiv zu gestalten. Indem sie mir klarmachen, dass dieses Ich, mit dem ich durch mein Leben laufe, selbstgemacht ist bzw. von mir selbst in den mir bekannten Strukturen erhalten wird, geben sie mir auch gleichzeitig die Ermächtigung, dass ich dieses Ego mit seinem Denken und seinen inneren Haltungen aktiv ändern kann, nämlich so, dass mir daraus weniger Leid erwächst.
Viele der Diskurse der Yoga-Philosophie handeln davon, dass ein Meister seinen Schüler einlädt, seine Sichtweisen und Bewertungen zu überdenken und ggf. bewusst und aktiv zu verwandeln, und zwar dergestalt, dass sie dem Schüler nicht immer weiter Beschwernis verursachen, sondern ihm vielmehr Erleichterung verschaffen.
Yoga in Verbindung mit seiner großartigen und seit Jahrtausenden erprobten Philosophie ist definitiv ein Weg der Selbstermächtigung.
Je umfassender wir die Konzepte des Yoga verstehen lernen und je tiefer wir uns auf sie einlassen, desto intensiver wirken sie im Sinne der Selbst-Ermächtigung, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn wir beginnen, z.B. Patañjalis Konzept des Sehers wirklich im täglichen Leben anzuwenden – also in unserem Alltag zunehmend zum Seher zu werden –, dann gibt es uns Aufschluss über die Art, wie wir »funktionieren«, und eine Perspektive, an der wir unser Denken und Handeln ausrichten können. So kann ein Konzept wie das des unabhängigen, in sich ruhenden Sehers uns Klarheit darüber geben, wie oft wir aus unserem Ego heraus reagieren und wie stark dieses Ego bestimmt, wie wir unsere äußere wie innere Welt erfahren und wie wir in ihr handeln. Aus dieser Klarheit heraus kann die Entscheidung wachsen, die Macht, die wir dem Ego mit all seinen Bedürfnissen und inneren Triebkräften gegeben haben, zu schwächen und stattdessen Macht an die Instanz in uns zu geben, deren Natur gekennzeichnet ist durch Ruhe, Gelassenheit und Friedfertigkeit: unserem Selbst. Dem Selbst im eigenen Leben wieder die Macht zu geben, die ihm zusteht: Das ist Selbst-Ermächtigung! Wenn unser Selbst die Macht in unserem Leben übernimmt, dann müssen wir nichts mehr vorgeben. Vielmehr können wir uns endlich erlauben, die zu sein, die wir sind: Wir können authentisch werden und lernen, aus dieser Authentizität heraus unser Leben bewusst zu gestalten.
Jeder Yoga versteht sich als ein Weg in die geistige Unabhängigkeit, denn jeder seiner Wege möchte uns darin unterstützen, zu erkennen, womit wir uns identifizieren, um dann die Anhaftung an diese Identifizierungen mit dem Vergänglichen und Bedingten zu lösen. Vergänglich und bedingt ist vor allem das, worauf unsere geistige Verfassung gründet, die durch alle Erfahrungen unseres Lebens geformt wurde und auf der wir unsere Persönlichkeit und unseren Charakter aufgebaut haben. Der Yoga sagt uns: Du darfst dich neu erfinden – mach das Beste daraus. Das Beste ist, was uns leicht und weit und frei macht, was uns wachsen lässt und was uns erlaubt, unsere inneren Potenziale so zu entfalten, dass wir auf bestmögliche Weise zum Wohl des Lebens auf der Welt beitragen können.
Dieses Buch möchte informieren und Denkanstöße geben. Die Yoga-Philosophie ist wie eine riesige Kammer, die gefüllt ist mit oft einfachen, klaren und gut anwendbaren »Werkzeugen«. Jedes der Yoga- Konzepte ist solch ein Werkzeug. Es hat keinen Sinn und keine Bedeutung an sich, sondern einzig und allein als Werkzeug, als Mittel und Methode.
Die hier vorliegende Auswahl verschiedener Mittel und Perspektiven ist vielfältig und muss – nach indischer Sichtweise – vielfältig sein, damit jeder Leser etwas finden kann, was ihn gerade dort anspricht und abholt, wo er sich gerade jetzt befindet. Alle philosophischen Konzepte (vielleicht bis auf bestimmte Richtungen des Samkhya) kreisen um das Eine – die Erfahrung der Einheit mit dem Einen. Dieses Eine, das unteilbar ist und von dem wir deshalb auch nie getrennt sein können, außer in der illusionären Welt unseres Geistes.
Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass die Auswahl der Themen subjektiv ist und in keiner Weise alle Aspekte wiederzugeben vermag. Dennoch habe ich versucht, alle zentralen Gesichtspunkte der Yoga-Philosphie zu berühren und auch deren geschichtlichen Kontext zu berücksichtigen.
Jedes der hier vorgestellten »Werkzeuge« hat sich gut als Erkenntnismittel bewährt, sowohl für mich als auch für alle die Menschen, die ich durch mehrjährige Yoga-Lehrausbildungen begleiten durfte. Die Auswahl der Themen orientiert sich sehr an der Anwendbarkeit und praktischen Umsetzbarkeit unter den Bedingungen des modernen Lebens. Das zweite Auswahlkriterium bezieht sich darauf, die Konzepte der Yoga-Philosophie auszuwählen, die sich als hilfreich erwiesen haben, um eine intensive und tiefgreifende Yoga-Praxis zu etablieren.
Wo Sanskrit-Begriffe im Text auftauchen, habe ich sie in aller Regel an Ort und Stelle bzw. in einer Fußnote erklärt. Für die Schreibweise der Sanskrit-Begriffe habe ich mich für die allgemein übliche Transliteration entschieden. Dabei wurde jedoch auf das Setzen der diakritischen Aussprachezeichen verzichtet.
Zur Aussprache der Sanskrit-Begriffe beachten Sie bitte Folgendes:
Die beiden sch-Laute im Sanskrit werden mit sh wiedergegeben. Die Aussprache ist wie im deutschen »Schule«.
Das c im Sanskrit (wie bei cakra) wird immer wie tsch ausgesprochen. Das c wurde teilweise ergänzt durch ein ch ( = chakra), um zu verhindern, dass es wie »kakra« ausgesprochen wird. Dort, wo man im Deutschen sowieso eher tsch sagen würde – wie bei citta (sprich: »tschitta«) –, habe ich das reine c stehen gelassen.
Das s ist im Sanskrit stimmlos und wird scharf gesprochen, also sitkarin – sprich: »ssiitkarin«.
Das y wird im Sanskrit am Wortbeginn immer wie j ausgesprochen, also Yoga – sprich: »Joga«. Innerhalb der Worte dagegen wie i, also Dhyana – sprich: »Diana«.
Das j wird im Sanskrit immer wie dsch ausgesprochen, also Arjuna – sprich: »Ardschuna«.
Das v wird im Sanskrit immer wie w ausgesprochen, also vasana – sprich: »wasana«.
Ich bin überaus dankbar, dass ich dieses Buch schreiben durfte. Die Monate des Schreibens waren eine großartige Begegnung mit dem Wissen und der Weisheit, die über Jahrtausende in Indien herangewachsen sind und bis heute in aller Frische Blüten und Früchte tragen. Das Recherchieren und Schreiben gaben mir die Möglichkeit, mich wirklich tief auf das Wissen einzulassen, und ich merke, dass es nun viel mehr in mir ruht und durch mich hindurch wirksam werden möchte.
Dass dieses Wissen mich überhaupt dermaßen tief und nachhaltig bewegen durfte, verdanke ich dem Kontakt mit einer Reihe wundervoller Lehrer und Lehrerinnen. Ich empfinde jede dieser Begegnungen, die sich teilweise über die Jahre vertieften, als eine große Gnade und als ein großes Geschenk. Meine Lehrerinnen und Lehrer haben mich unermüdlich darin unterstützt, zu mir zu finden, an mich zu glauben und zu vertrauen, dass es einen Sinn hat, dass ich jetzt hier unter genau diesen Umständen auf der Erde wandle.
Von Herzen danke ich auch meinen vielen StudentInnen und SchülerInnen. Sie haben mir immer wieder erlaubt, meine tiefe Begeisterung für die Yoga-Philosophie mit ihnen zu teilen, und haben sich geduldig all die vielen Vorträge angehört, die ich mit Vorliebe vor der Asana-Praxis oder an den Wochenenden als »Wort zum Sonntag« von mir gab. Sie haben mir damit erlaubt, mein Wissen zu teilen, es lebendig zu erhalten, es zu reflektieren und zu vertiefen.
Ich danke meinem Lektor Andreas Klaus, der den Gestaltungsprozess dieses Buches mit Feingefühl und Sachverstand – und mit sehr viel Geduld – begleitet hat.
Und ich danke meinem Mann Rüdiger, der mir wieder einmal selbstverständlich und entspannt den Rücken frei gehalten hat. Ohne seine Unterstützung hätte ich dieses Projekt niemals verwirklichen können.
»Der Yoga muss durch den Yoga erkannt werden. Yoga manifestiert sich durch Yoga.« Vyasa[5]
Yoga ist ein Gattungsname verschiedener Wege der Selbsterforschung und Selbsterfahrung, die in Indien im Laufe von mehr als 3000 Jahren entwickelt worden sind.
Der Begriff Yoga beschreibt in der altindischen Sprache Sanskrit gleichermaßen die Wege, ihre Perspektiven und das Ziel. Das bedeutet, dass der Begriff Yoga äußerst komplex ist und sich der Übersetzung durch ein einziges Wort entzieht. Den Yoga gibt es nicht. Vielmehr wurde der Begriff im Rahmen der vielfältigen Yoga-Traditionen, die sich über die Jahrhunderte hinweg entwickelten, immer wieder anders gedeutet und in anderen Zusammenhängen gesehen.
Übereinstimmung herrscht darüber, dass Yoga sich von der indogermanischen Wortwurzel yuj ableitet, die »zusammenbinden«, »anschirren«, »zusammen in ein Joch binden« bedeutet. In den modernen Sprachen findet sich die Wortwurzel yuj wieder in dem deutschen Wort »Joch«, in dem lateinischen »iugum«, dem englischen »yoke«, dem französischen »youk«, dem spanischen »yugo« oder dem russischen »igo«. Feuerstein zählt noch zahlreiche Nebenbedeutungen auf, darunter »Vereinigung«, »Sternkonjunktion«, »Bemühung«, »Beschäftigung«. Auch weist er darauf hin, dass sich in der Literatur Hinweise finden, dass der Begriff Yoga auch von dem Wort yuja abgeleitete werden könnte, das »Konzentration« bedeutet.[6]
In der Moderne hat sich die Übersetzung »Vereinigung« als besonders hilfreich erwiesen. Sie wird meist in dem Sinne gebraucht, dass Yoga eine Methode ist, in der Körper, Atem und Geist vereint werden, also die Kräfte im Menschen, die in unserer schnelllebigen Zeit sich immer wieder so weit in ihren Rhythmen verschieben, dass eine ganzheitliche Selbsterfahrung unmöglich wird. Wenn wir heutzutage von Yoga sprechen, meinen wir also etwas, das uns wieder in die Erfahrung der Einheit von Körper, Atem und Geist zurückführt.
Dennoch hat auch die ursprüngliche Bedeutung »Joch« viele interessante Aspekte, die es zu betrachten lohnt. Yoga bedeutet hier, dass ein Mensch eine Anstrengung auf sich nimmt, dass er sich selber – und damit ist vor allem der Geist gemeint – »ins Joch spannt«. Im Joch kann der Geist nicht mehr frei wandern, sondern er wird vielmehr diszipliniert und in einer klaren Ausrichtung geführt. Unter dem Joch wird er in seinen Impulsen und Automatismen kontrolliert. Das setzt aber auch voraus, dass es eine Instanz geben muss, die diese Anjochung vornimmt und den Geist ausrichtet und führt.
In einem Joch oder in einer Anschirrung werden in der Regel zwei oder mehrere Tiere zu einem Gespann zusammengeführt. In diesem Bild stehen die Tiere für die Sinne des Menschen, die durch die Reize der Umwelt unaufhörlich in alle Richtungen gezogen werden. In der Anschirrung werden diese Sinnesimpulse gezügelt und die Sinnesenergien gesammelt und gebündelt. Auch in diesem Bild braucht es eine Instanz, die das Geschirr lenkt und die ständig wieder nach außen strebenden Kräfte in der Konzentration zusammenhält.
Beide Bilder, die des Jochs und die des Gespanns, beschreiben den Prozess des Yoga, der dadurch gekennzeichnet ist, dass in ihm die Kräfte zusammengeführt und ausgerichtet werden, die sonst im Menschen auseinanderzustreben pflegen, wodurch der Geist sich zerstreut und seine mentale Energie sich verzettelt und an Kraft verliert.
Durch die Bündelung der geistigen Impulse, der Sinne und der Lebensenergie, die uns durch die Methoden des Yoga möglich werden, wird der Geist gesammelt und beruhigt. Und erst in dieser Ruhe kann der Geist klar werden und erkennen, was ihn bewegt, welchen Impulsen er folgt und wohin er sich ausrichtet. Dadurch werden Selbsterforschung und Selbsterkenntnis möglich, die die Grundlagen aller Yoga-Praxis ausmachen. Deshalb wird in der Tradition des modernen Yoga-Meisters Krishnamacharya der Yoga auch »die Wissenschaft vom menschlichen Geist genannt«.[7]
Yoga wird damit als eine Methode verstanden, die es möglich macht, dass der Geist sich selbst in seinem Gewordensein reflektieren und erkennen kann. Ein Zweck der Selbsterforschung liegt darin, dass der Übende erkennt, dass sein Geist nach ganz bestimmten Strukturen und Mustern funktioniert, die seine Wahrnehmung, sein Fühlen und sein Denken bestimmen. Das Erkennen dieser Prägungen und das bewusste Sich-lösen von ihnen ist Yoga.
Damit möchte Yoga es uns möglich machen, zu erfahren, dass unter all den Mustern unserer Prägungen noch etwas anderes, etwas Substanzielleres liegt, etwas, das sich jeder Prägung entzieht. Es wird »Wesenskern«, »Selbst« oder auch »Seher« genannt. Im Zusammenhang mit dieser prozesshaften Selbsterfahrung bedeutet Yoga, sich selbst als diesen Wesenskern, als dieses Selbst bzw. diesen Seher zu erfahren, also als eine innere Instanz, die formlos und zeitlos als Bewusstseinsenergie bzw. reines Bewusstsein allem Lebendigen innewohnt. Yoga bedeutet hier die Vereinigung des individuellen Selbst mit dem höchsten Selbst und die Transformation der Persönlichkeit – unseres Egos –, über die wir uns bis dahin identifiziert haben.
Wenn der Übende beginnt, sich zu verwandeln und von seinem alten Ego abzurücken, wird auch eine weitere Bedeutung des Begriffs Yoga verständlich: Ekstase. Ekstase heißt wörtlich: außer sich sein, und zwar außerhalb unseres gewöhnlichen und alltäglichen Daseinszustandes. In diesem Alltagszustand sind wird vielen Zwängen und Bedingungen unterworfen, nach denen wir zu funktionieren haben, und diese Zwänge lassen wir im Yoga hinter uns. Deswegen ist Yoga dann auch Enstase, d.h. der Zustand, in dem wir ganz bei uns selbst sind. Enstase bedeutet wörtlich »Stehen im Selbst« (Eliade[8]), und genau dazu – in uns selbst zu stehen – laden die Yoga-Wege uns ein.
Noch eine andere Bedeutung des Begriffs Yoga hat sich etabliert, und zwar die des Yoga als eines Wegs des Verzichts, der Entsagung und sogar der Askese. Feuerstein gibt uns eine Spur, wie diese Bedeutung sich erschaffen hat: »Wenn yuj etymologisch tatsächlich ›binden‹ bedeutet, so muss das ›Band‹, zu welchem die Handlung des Bindens führt, das Zerreißen der Bande bedeuten, welche den Geist mit der Welt vereinigen.«[9] Das weist uns hin auf den Beginn des Yoga vor vermutlich 3500 Jahren, als ganz allgemein jede Askesetechnik als »Yoga« bezeichnet wurde. Die ersten Yogis waren Menschen, die der Gesellschaft und ihren Zwängen entsagten und sich in die Wildnis zurückzogen, um sich dort vielfältigen Techniken »der ekstatischen Ich-Transzendierung«[10] zu widmen. Dazu nutzten sie wahrscheinlich bewusstseinsverändernde Substanzen und Askesetechniken wie das Liegen auf Dornen, extremes Fasten, endloses Verharren in bestimmten Körperhaltungen usw. Durch die Fakire hat sich diese Gleichsetzung von Yoga und Askese bis in die heutige Zeit bewahren können, so dass noch immer viele Menschen denken, dass derjenige, der Yoga übt, sich auch gleichzeitig einem asketischen und enthaltsamen Lebensstil zu verpflichten hat.
Bei der Sichtung der zahllosen Quellentexte finden sich noch viele andere Bedeutungsebenen, die den Begriff Yoga als Synonym für bestimmte Handlungsweisen oder innere Zustände verwenden. So finden wir z.B. in der Bhagavadgita[11], einem der wichtigsten Grundlagen- und Lehrtexte des Yoga, Yoga als Synonym für Versenkung (2.50) bzw. »die Lehre von der Versenkung« (4.1–3). Aus dem Kontext lässt sich außerdem immer wieder die Bedeutung von Yoga als »bewusstes Tun« oder »Geschicklichkeit im Tun« erschließen. Des Weiteren wird der Begriff Yoga mit Gleichmut gegenüber Erfolg und Nichterfolg im Handeln (2.48) und mit einer leidenschaftslosen Betrachtung der Wechselfälle des Lebens gleichgesetzt. Dadurch kommt es zur »Loslösung vom Leidenskomplex, die als Yoga bezeichnet wird, … Diese Übung ist entschlossen zu betreiben, mit unermüdlichem Geist, die wunscherzeugenden Begierden aufgebend sämtlich ohne Rest, mit dem Geist der Sinne Schar allseitig zügelnd – werde man allmählich ruhig.«
In Patañjalis Yoga-Sutra steht der Begriff Yoga als Synonym für Das-zur-Ruhe-Kommen bzw. das Abschalten aller geistigen Aktivitäten, was mit dem Sanskrit-Wort nirodha bezeichnet wird. Wie in der Bhagavadgita wird auch im Yoga-Sutra Yoga als Begriff verwendet, um einerseits den Übungsweg und andererseits auch das Ziel dieses Weges zu beschreiben.
Verglichen mit den meisten hier beschriebenen Bedeutungsebenen lässt sich für die Anwendung des Begriffs Yoga heutzutage eine bemerkenswerte Wandlung feststellen. Wenn man heute sagt »Ich mache Yoga«, dann meint man damit in der Regel das Üben von Yoga-Haltungen (asanas) und Bewegungsabläufen in Verbindung mit der Atmung. Bei einem solchen »Yoga« kann es sich sowohl um einen kraftvollen, schweißtreibenden Workout handeln als auch um ein sanftes Bewegungs- und Entspannungstraining. Wer so »Yoga« übt, kommt eventuell nie oder nur selten in Berührung mit der Yoga-Philosophie, sondern versteht sein Üben entweder als Therapie gegen Rückenschmerzen und Stress oder als Ausdruck seines persönlichen Lifestyles.
Wenn sich der Begriff Yoga so sehr einer klaren oder sogar eindeutigen Übersetzung entzieht, dann lässt er Raum für Interpretationen und Auslegungen jeder Art. Dieses Fehlen von Eindeutigkeit heißt aber auch, dass niemand sagen kann, dass man Yoga nur auf eine einzige Weise definieren kann. Auch kann niemand für sich beanspruchen, als Einziger den »wahren Yoga« zu kennen und zu üben bzw. zu vermitteln. Wenn sich die Frage, wodurch sich der Yoga definiert, nicht genau beantworten lässt, dann bleibt eben auch unklar, wie zu definieren wäre, was nicht Yoga ist.
Wer sich mit Yoga beschäftigt, wird in der Regel von sich behaupten: »Ich mache Yoga.« Es lohnt, darüber zu reflektieren, was sich alles hinter dieser Äußerung verbergen könnte. Zuerst einmal drückt sie aus, dass hier etwas gemacht wird. Und zwar – darüber herrscht allgemeine Einigkeit – bewusst und achtsam. Sehr stark hat sich auch die Vorstellung durchgesetzt, dass man mittels der Yoga-Praxis das in sich wieder in Verbindung bringt, was sich in der Hektik und Anspannung des Alltags auseinanderbewegt hat, nämlich Atem und Bewegung, Körper und Geist und Kopf und Bauch. Menschen, die »Yoga machen«, gehen in aller Regel davon aus, dass die Übungspraxis sie als ganzen Menschen anspricht und erreicht. Das, was sie suchen und was sie erfahren, ist Integration. Und Integration ist Yoga.
Yoga ist ein innerer Raum, um Erfahrungen zu machen.
Yoga schafft einen Raum, in dem man sich erfahren kann.
Yoga ist achtsames und bewusstes Tun.
Yoga ist die Entfaltung der Unterscheidungsfähigkeit (viveka), um zu erkennen, was wesentlich und was unwesentlich, was vergänglich und was unvergänglich ist.
Yoga ist die Entfaltung der Unterscheidungsfähigkeit, um zu erkennen, welche Prioritäten man in seinem Leben setzen will.
Yoga ist Klarheit und innere Ausrichtung.
Yoga ist die Methode, durch die man Einkehr halten und zu sich kommen kann.
Yoga ist Präsenz, d.h. der Zustand, in dem man bei sich ist.
Yoga ist der Prozess der Reinigung, in dem man lernt, ungünstige Muster zu erkennen und loszulassen.
Yoga ist ein Weg der Wandlung und der Transformation.
Yoga ist der Weg vom Ego zum Selbst.
Yoga ist die bewusste Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln, das eigene Wohlbefinden und das eigene Leben.
Yoga ist, das anzuerkennen, was ist.
Yoga ist Da-Sein.
Die Wege des Yoga sind vielfältig und die Traditionen und Schulen im Grunde genommen unüberschaubar. Jeder Versuch einer umfassenden Darstellung muss an der Fülle der Zugänge scheitern, die die Menschen im Laufe der Jahrtausende gefunden haben, um sich das Wissen des Yoga verfügbar zu machen. Deswegen kann eine Aufzählung von Traditionen und Schulen immer nur unvollständig sein.
Dass sich überhaupt ein System von Schulen und Traditionslinien herausbilden konnte, entspricht dem Wesen eines jeden spirituellen Weges, denn da ist immer ein Mensch, der bestimmte transformierende Erfahrungen macht und der dann beginnt, diese mit seinen Mitmenschen zu teilen. Sie werden dann seine Schüler oder Anhänger, wodurch sich eine Traditionslinie begründet. Auf die Form und die Ausrichtung dieser Lehrer-Schüler-Beziehung werde ich weiter unten noch genauer eingehen.
Weil der Mensch, der eine Tradition begründet, immer nur einen ganz subjektiv gefärbten Zugang zum Wissen finden kann, und auch die Art und Weise, wie er seine Erfahrungen bewertet und wie er damit umgeht, individuell äußerst unterschiedlich ist, hat sich eine große Vielfalt von Yoga-Wegen und -Traditionen entwickelt. Sie bieten ein riesiges Feld an Erfahrungen, die es im Grunde genommen jedem Menschen möglich machen, etwas zu finden, was für das eigene Sein stimmt. Salopp gesagt gibt es seit Jahrtausenden unzählig viele »Töpfe« (Lehrer und Traditionslinien), die bereit sind, von den »Deckeln« (Schülern) gefunden zu werden. Wenn der »Deckel« zum »Topf« passt und umgekehrt der »Topf« zum »Deckel«, dann entsteht ein energetisches Feld, in dem die Übertragung des Wissens geschehen kann. Diese Übereinstimmung ist eminent wichtig, da es sich ja nicht um die Übertragung kognitiven Wissens handelt, sondern um die Einladung des Lehrers, einen Erfahrungsraum zu betreten, um dort ganz zu sich zu kommen und zutiefst authentisch zu werden. Entsprechend berücksichtigen die einzelnen Traditionslinien lokale und historische Besonderheiten und spiegeln damit das Geistesleben auf dem indischen Subkontinent von ca. 1500 v.Chr. bis heute wider.
Im Großen und Ganzen bestanden und bestehen alle Traditionslinien in friedlicher Koexistenz miteinander und respektieren und achten sich. So wie im indischen Pantheon unzählig viele Aspekte und Formen des einen Göttlichen entfaltet wurden, damit jeder Mensch den ihm gemäßen und passenden Zugang zum Absoluten finden kann, so mussten auch unzählige Wege erschaffen werden, damit jeder Mensch dem Göttlichen in sich begegnen kann. Viele dieser Wege haben sich über die Jahrtausende erhalten, so dass heute eben eine unüberschaubare Menge von Wegen nebeneinander existiert. Jeder Weg entspringt einer eigenen Quelle, die sich – um im Bild zu bleiben – in größere Ströme bestimmter Geistesrichtungen und Sichtweisen ergießt. Alle Ströme münden irgendwann in den Ozean des Wissens. Die Quellen und die Ströme, die im Kontext des Yoga entstanden sind, lassen sich am besten in einer kurzen Geschichte des Yoga vorstellen. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und dient vor allem als Überblick.
Die ersten Spuren, die der Yoga – nach jetzigem Kenntnisstand – in der Geschichte der Menschheit hinterlassen hat, liegen etwa 3500 Jahre zurück. Zu dieser Zeit, also ca. 1500 vor unserer Zeitrechnung, wird zum ersten Mal in den alten indischen Weisheitstexten, den Veden, die Existenz von weisen, heiligen Männern bezeugt, die »Seher« (rishi) genannt werden und von denen es heißt, dass sie meditieren und die Atemübungen machen, die als Vorformen unserer heutigen Yoga-Praxis angesehen werden können.
Daneben gibt es jedoch inzwischen eine große Anzahl von Wissenschaftlern, die aufgrund von Ausgrabungen und den dabei gemachten archäologischen Funden davon ausgehen, dass der Yoga sogar noch sehr viel älter sein könnte. Sie vermuten in den dabei auf etlichen Specksteinsiegeln gefundenen Darstellungen von Menschen in komplexen Yoga-Positionen (z.B. mulabadhasana), dass Yoga bereits in den Hochkulturen des Indus-Tals geübt wurde. Auch die – wenn auch nur teilweise entzifferten – Schriftzeichen der Induskultur, die eine gewisse Übereinstimmung mit der dravidischen Schrift aufweisen, so wie sie noch heute in Südindien, der »Hochburg« des modernen Yoga, verwendet wird, sind ein Indiz, das in diese Richtung weist. Und obwohl große Kenner der Geschichte des Yoga wie Mircea Eliade und T. K. V. Desikachar Vermutungen äußern, dass der Yoga in Indien selber entstanden sei, mehren sich die Beweise, die die Behauptung stützen, dass der Yoga schon seit ca. 5000 Jahren der Menschheit dienen könnte. [12]
Damit wird die früher unangefochten vertretene These, dass der Yoga von den Indoariern nach Indien gebracht worden sei, zunehmend in Frage gestellt. Lange Zeit vertrat die Forschung die Auffassung, dass die Lehren des Yoga in ihren Grundzügen von den aus Vorderasien eingewanderten nomadischen Völkern – den Aryas – eingeführt wurden, die die Veden erschufen und ab ca. 1500 v.Chr. ihre Religion und Weltsicht in weiten Teilen Indiens etablieren konnten. Es wurde davon ausgegangen, dass die Aryas die dravidische Bevölkerung, die sie auf dem indischen Subkontinent vorfanden, kolonialisierten und die religiösen Anschauungen dieser Gartenbaukultur zunehmend verdrängten und durch ihre eigenen Schöpfungsmythen und Gottesbilder ersetzten.
Gegen diese Einwanderungsthese spricht jedoch auch noch, dass nirgendwo sonst, wo sich die Aryas niederließen, eine ähnlich komplexe Wissenschaft vom Menschen und vom menschlichen Geist entstand, wie sie der Yoga in seiner Gesamtheit darstellt.[13] Was auch immer die Forschung noch über diese Ursprünge herausfinden mag, eines ist gewiss: Die Ausformung der Philosophie und der Übungspraxis des Yoga fand auf jeden Fall in Indien statt.
Abgesehen von diesen Meinungsverschiedenheiten über den Ursprung und das Alter des Yoga herrscht in der Literatur heute Übereinstimmung darüber, dass seine Weltsicht auf der Grundlage der vedischen Kultur entstand. Basis dieser Kultur sind die Veden (veda = »Wissen«). Sie bezeichnen umfängliche Schriften, die das gesamte mythologische, religiöse und kulturelle Wissen der Zeit von ca. 1500 bis ca. 500 v.Chr. zusammenfassen.
Wichtig in unserem Kontext der Yoga-Traditionen ist die Feststellung, dass Yoga damals hauptsächlich von einzelnen Asketen geübt wurde, die sich einer zumeist außerordentlich rigiden und ritualisierten Praxis unterwarfen. Seit dieser Zeit wird Yoga mit allen Formen von Askese gleichgesetzt. Den meisten dieser Askese-Techniken ist gemeinsam, dass sie eine große innere Hitze erzeugen, die Tapas (wörtlich Glut) genannt wird. Das Anfachen der inneren Glut sollte bewirken, dass zum einen alle Unreinheiten, alle Schwächen und Gelüste in Körper und Geist verbrannt würden, und zum anderen, dass mittels dieser Hitze der Körper wie ein Tongefäß gebrannt würde, denn man nahm an, dass er dadurch stark und widerstandsfähig gegen äußere Einflüsse werden könne. Diese Asketen, die damals mit den unterschiedlichsten Askese-, aber auch Atemtechniken experimentierten, um ihre Bewusstseinszustände zu verändern, wurden Rishis = »Seher« genannt. Es heißt, dass sie in Zuständen tiefster Meditation oder sonstiger visionärer Bewusstseinserweiterung das Wissen geoffenbart bekamen, das uns als Veda überliefert worden ist.
Da im Zentrum der vier Veden religiöse Hymnen, Sprüche und Anleitungen für Opferrituale stehen, die das Herzstück der religiösen Praxis dieser Zeit ausmachen, zeigt auch die Yoga-Praxis dieser Zeit starke Tendenzen, sich am Ritual zu orientieren. Um die Rituale, die auf heiligem und damit geheimem Wissen basierten, weiterzugeben und den jeweiligen Gegebenheiten anpassen zu können, sammelten die Rishis Schüler um sich und begründeten damit die Tradition der Weitergabe des Wissens vom Lehrer an den Schüler (guru parampara). Dabei lassen sich zu dieser Zeit schon zwei Stränge der Vermittlung beobachten: zum einen die Vermittlung von Ritualen jeder Art innerhalb der Priesterkaste (Brahmanen), zum anderen die Weitergabe desselben auf den Veden basierenden Gedankenguts in den Waldeinsiedeleien (aranyakas). Im Laufe der Jahrhunderte nahmen Ausmaß und Umfang der Opferrituale in der Gesellschaft wie auch bei den Brahmanen dermaßen zu, dass sie nicht mehr zu bewältigen waren. Dadurch kam es zu einem Rückgang der vedischen Opferkultur und damit zu einer Verschiebung der Wertigkeit religiöser Handlungen von einer ritualisierten Gestaltung äußerer Opfer durch die Opferpriester (Brahmanen) zur Entwicklung des inneren Opfers – vor allem des Atems –, die die nachvedische Zeit kennzeichnet[14]. Außerdem entwickelte sich in den Waldeinsiedeleien aber auch ein weniger institutionalisierter Umgang mit diesem spirituellen Wissen, worauf sich später die mystischen Traditionen des Yoga gegründet haben.
Diese Zeit und kulturelle Epoche, die am Ende der Ära der Veden steht, wird Vedanta = »das Ende der Veden« genannt. Statt einzelner Asketen, die sich in die Einsamkeit der Wälder und Gebirge zurückzogen, fanden sich nun zunehmend spirituelle Gemeinschaften zusammen, die sich um einen Lehrer (guru) sammelten. Ziel dieser Zusammenkünfte war es, gemeinsam über die großen Fragen der menschlichen Existenz zu reflektieren und Erkenntnisprozesse voranzutreiben, die den Menschen halfen, sich in Bezug zum Absoluten zu setzen und neue Formen religiöser Praxis zu entwickeln. Die Schriften, die diesen Prozess bezeugen, entstanden ab dem 6. Jh. v.Chr. und werden Upanishaden genannt. Im Laufe der nächsten Jahrhunderte entwickelten sich in den vedantischen Lehrzirkeln wesentliche Leitgedanken und bedeutende Teile der Übungspraxis, die bis heute Gültigkeit besitzen. Die Upanishaden, die über die Jahrhunderte bis ins 15. Jh. n.Chr. hinweg entstanden, werden als die eigentlichen Grundlagentexte des Yoga angesehen, und viele Lehrtraditionen und Schulen beziehen sich ausdrücklich auf das Wissen, das sie vermitteln.
Obwohl es sich bei den Lehren des Vedanta erklärtermaßen um ein Geheimwissen handelte, das der unmittelbaren Vermittlung durch einen Guru bedurfte, öffnete sich die Yoga-Lehre in dem Sinne, dass in den Lehrdialogen der Guru zu seiner Frau oder zu einer Gruppe von Schülern bzw. zu einem ausgewählten Schüler sprach. Damit trat der Yoga heraus aus der Sphäre der Askese und fand Eingang in die Erziehung junger Menschen, die oft adliger Herkunft oder Söhne von Priestern waren. Das führte dazu, dass Leitgedanken des Yoga sich in der Gesellschaft etablieren konnten und in gewisser Weise auch zunehmend die Weltanschauung der Menschen zu prägen begannen.
Diese Tendenz, dass bestimmte Lehren des Yoga zu Leitsätzen des gesellschaftlichen Lebens wurden, verstärkt sich noch sehr mit der Verbreitung der großen Epen Ramayana und Mahabharata. Beide Epen, die wahrscheinlich in den Jahrhunderten vor der Zeitenwende entstanden, sind bis heute in Indien außerordentlich populär. Die Charaktere ihrer Helden spiegeln bis heute die Idealbilder von Mann und Frau wider, und besonders in dem in das Mahabharata eingefügten Lehrgedicht Bhagavadgita gründen sich die religiösen Yoga-Wege, die auch jetzt noch der Mehrzahl der Inder Anleitung für rechtes Handeln und einen ethischen Lebenswandel sind. In der Bhagavadgita spricht der Gott Krishna zwar nur zu einem Schüler, aber der steht stellvertretend für jeden Menschen, der Begleitung braucht, um einen existenziellen Konflikt zu lösen und Maximen für das eigene Handeln erkennen und dann auch umsetzen zu können. Die vier Yoga-Wege, die in der Bhagavadgita beschrieben und erklärt werden, sind: Karma-Yoga = »der Weg des Handelns«, Jnana-Yoga = »der Weg der Erkenntnis«, Bhakti-Yoga = »der Weg der Hingabe an den göttlichen Willen« und Dhyana-Yoga = »der Weg der Meditation«.
Die Konzepte dieser Yoga-Wege (marga) finden sich mehr oder weniger ausgeprägt in allen späteren Yoga-Traditionen, auch in denen, die nicht religiös ausgerichtet sind. Aber nicht nur mittels ihrer Inhalte, sondern auch durch die Art der Vermittlung, die in jedem Moment der Verständnisfähigkeit des Schülers angepasst wird, fügt sich die Bhagavadgita ein in die Reihe der zeitlosen Lehrschriften des Yoga, auf die wir bis heute zurückgreifen.
Um die Zeitenwende herum bildete sich der sogenannte klassische Yoga heraus, der im »Leitfaden des Yoga« (Yoga-Sutra) dargelegt wurde. Das Yoga-Sutra, das einem Autor namens Patañjali zugeschrieben wird, sammelt das Wissen seiner Zeit und entfaltet daraus eine Wissenschaft des Yoga, und zwar als eine äußerst genaue und zeitlose Analyse der Funktionsweise des menschlichen Geistes. Ebenso wie die beiden großen Geistesrichtungen der indischen Philosophie und Kultur, der Samkhya und der Buddhismus, versteht sich auch der klassische Yoga als ein nicht-religiöser Weg. Das Wissen, das im Yoga-Sutra dargelegt wird, ist so zeitlos und allgemeingültig für jeden Menschen in (fast) jeder Kultur, das es sich in den meisten späteren Traditionen wiederfindet. Insofern bildet es auch keinen eigenen Traditionsstrang heraus, sondern wird zum Bestandteil vieler anderer Traditionen. Sie übernehmen viele Leitgedanken des Yoga-Sutra, z.B. den des Umgangs mit der Neigung des Geistes, sich zu identifizieren und anzuhaften bzw. immer wieder die Zerstreuung zu suchen, oder den der Voraussetzungen für jede Form von Übungspraxis.
Patañjali entwirft einen »Achtgliedrigen Weg« (Ashtanga-Yoga), der den Übenden Schritt für Schritt darin unterstützt, die einengende und verblendende Kraft seines Gewordenseins und seines Egos zu erkennen und zu transzendieren, um zu dem dahinterliegenden ewigen Wesenskern vorzudringen und sich in ihm zu erkennen.
Ebenso wie die Lehren Buddhas wendet sich Patañjalis Yoga-Sutra an jeden Menschen, also nicht nur an eine kleine Gruppe Suchender, die einer bestimmten Gesellschaftsschicht angehören. Es kann also tatsächlich im Sinne eines »Leitfadens« oder »Ratgebers« benutzt werden, denn es vermittelt kein Geheimwissen und keine mystische Lehre. Deshalb bedarf es auch nicht zwingend der Vermittlung durch einen Lehrer, sondern es wird vielmehr davon ausgegangen, dass der Text selber das Lehrmedium ist, das beginnt, zu dem Übenden zu sprechen, sobald er reif dafür ist, ein solch transformierendes Wissen zu empfangen und in seinem Leben umzusetzen.
Sowohl die Lehren des Vedanta wie auch des Samkhya, des Buddhismus und wie des klassischen Yoga versuchten den Übenden davon zu überzeugen, dass er nur frei werden und seine leidbringenden Verhaltensweisen hinter sich lassen kann, wenn er alle Anhaftungen an die Welt löst und sich ganz von ihr – innerlich und äußerlich – zurückzieht. Als Gegenpol zu diesen weltabgewandten und weltverneinenden Sichtweisen entwickelte sich ab dem 6. Jh. n.Chr. vor allem in Kaschmir die Weltsicht des Tantrismus. Die Lehren des Tantra gelten als Offenbarungen und damit als göttliches Wissen, so dass sich mit dem Tantra nun wieder ein religiös geprägter Übungsweg auszubilden begann. In ihm finden sich viele Einflüsse des älteren Vedanta und auch des Buddhismus, aber in einer völlig neuen Zusammenschau und eingehend in eine revolutionär veränderte Weltsicht. Tantrische Schüler gehen einen Einweihungsweg in enger Beziehung zu ihrem Lehrer, der sie lebenslang in immer feinere Aspekte dieser mystischen Lehre einweiht. Mystik heißt im Tantra, sich mit Gott (hier Shiva) zu vereinigen und mit ihm als dem Urgrund allen Seins zu verschmelzen. Für diese Transformation und Auflösung seiner alten Persönlichkeitsstrukturen braucht der Übende zwingend einen Lehrer (guru) an seiner Seite, der ihm immer gerade so viel von dem Wissen vermittelt, wie er verdauen kann, ohne psychisch Schaden zu erleiden. Da der Lehrer also im Tantrismus als Begleiter und Wegweiser unverzichtbar ist, haben sich in ihm viele unterschiedliche Schulen und Traditionen gebildet, die jeweils stark geprägt sind von der spirituellen Vita und dem Charisma ihres Begründers. Einige dieser Schulen sind bis heute aktiv und lebendig. Sie begegnen uns vor allem in den Lehrschriften des Tantra, den Tantras (Schriften) und Samhitas (Sammlungen), zu denen auch die wichtigsten Quellentexte der Yoga-Meditation und des Hatha-Yoga zählen.
Der Hatha-Yoga ist ein tantrischer Übungsweg, der ganz bewusst die Erfahrung des eigenen Körpers und den Umgang mit den ihm innewohnenden Kräften an den Beginn der Übungspraxis stellt. Wie alle Lehren des Tantra gilt auch der Übungsweg des Hatha-Yoga als geoffenbart. Es heißt, dass Matsyendranath ihn empfing, als er ein Lehrgespräch Shivas mit Parvati belauschte, die als seine Gemahlin seinen dynamischen, in die Welt wirkenden Aspekt darstellt. Die Ausformung dieses Weges, der ab dem 10. Jh. n.Chr. in Schriften nachzuweisen ist, erfolgt seitdem in der Weitergabe der Lehre von Generation zu Generation vom Meister an den Schüler. Die mündliche Belehrung, die Einweihung und spirituelle Begleitung gelten ganz besonders für die fortgeschrittenen Techniken des Hatha-Yoga wie Pranayama, Mudra und die vielfältigen Methoden, mit denen der Schüler sein Ego auflösen soll. Mehr als in allen anderen Übungswegen, in denen die Lehrer-Schüler-Beziehung eine wichtige Rolle spielt, wird sie im Hatha-Yoga als unverzichtbar angesehen, wie die Quellentexte immer wieder betonen.
Heute wird der Hatha-Yoga in seiner Bedeutung weitgehend unterschätzt bzw. falsch eingeschätzt, wenn er auf das bloße Ausüben von Yoga-Haltungen (asanas) reduziert wird. Nach dem Verständnis der Meister des Hatha-Yoga wird er jedoch immer ausdrücklich als ein vollständiger Erlösungsweg beschrieben, in dem die Transformation des Übenden ganz im Mittelpunkt steht. Auch wenn der eigentliche Sinn und die Ausrichtung dieses Weges im Laufe der Jahrhunderte starken Wandlungen unterworfen waren, hat sich dennoch die Vorstellung bis in die heutige Zeit herübergerettet, dass man Yoga bei einem Lehrer, einem Guru oder Meister lernt – und nicht im Selbststudium oder aus Büchern.
Schauen wir uns deshalb die Lehrer-Schüler-Beziehung etwas genauer an, die so im Zentrum der Yoga-Lehre steht.
Im Yoga entwickelte sich das Konzept des persönlichen Lehrers nach dem Vorbild des persönlichen Gottesbildes (Ishvara) im Hinduismus. Im Hinduismus herrscht die Überzeugung vor, dass das Göttliche nicht nur der höchste »Ansprechpartner« in allen spirituellen Belangen ist, sondern dass es ein großes Interesse hegt, dass die Menschen in den göttlichen Urgrund zurückfinden können, der als ihre Quelle angesehen wird. Dafür ist es wichtig, dass jeder einzelne Mensch im Göttlichen das finden kann, was ihn anspricht und was jetzt, in diesem Leben und unter diesen Umständen für ihn günstig und förderlich ist. Im Hinduismus wurden deshalb im Laufe der Zeit fast unüberschaubar viele Gottesbilder entwickelt, von denen jedes einen Aspekt der göttlichen Bewusstseinskraft widerspiegelt. Aus dieser Vielzahl darf der Gläubige sich einen Aspekt auswählen, der für ihn geeignet ist, und ihn zu seinem persönlichen Gottesbild (Ishta-Devata oder Ishvara) machen. Zwischen dem Gläubigen und seinem Ishvara baut sich dann eine Beziehung auf, die sich im Laufe des gesamten Lebens vertieft und auf einem immer umfassenderen Vertrauen gründet. Das führt dazu, dass sich der Gläubige ganz von dieser göttlichen Kraft inspirieren und führen lässt. Sie wird zu seinem inneren Wissen, seiner inneren Stimme und damit zu seinem inneren Lehrer.
Um den Charakter dieser engen Beziehung zwischen Gott und Mensch darzustellen, wurde und wird in der indischen Kultur das Göttliche oft in seiner Funktion als Lehrer gesehen. Dieser Lehrer weiß alles und ist erhaben über all die Irrtümer und Verwechslungen (avidya), in denen sich der menschliche Geist in seinem Gewordensein und seiner Bedingtheit immer wieder verfängt. Das Göttliche als Lehrer kennt auch die große Perspektive, in der sich das Schicksal und Leben jedes einzelnen Menschen einfügt und die seinem Leben Sinn gibt. Der Ishvara ist also der höchste Lehrer eines jeden Menschen, aber nicht alle finden zu ihrem persönlichen, inneren Gott oder sind bereit dafür, auf eine so indirekte und subtile Art unterwiesen zu werden.
Damit auch diese Menschen Zugang zum Wissen bekommen können, stehen die menschlichen Lehrer zur Verfügung. Jeder spirituelle Lehrer auf Erden wird als ein Stellvertreter und das Werkzeug des höchsten Lehrers (Gott z.B. in der Form von Shiva oder Krishna) angesehen, weshalb sie sich in der indischen Kultur seit jeher höchsten Ansehens und äußerster Wertschätzung erfreuen. Oft ist einem Menschen sein Lehrer wichtiger als seine Eltern, denn es heißt, dass er von ihm das eigentliche – nämlich das ihn wandelnde und erlösende – Wissen empfangen hat, während die Eltern ihn »nur« in den Fertigkeiten unterrichteten, die er braucht, um sein Leben in dieser Gesellschaft führen zu können.
Traditionell verließen die Jungen der oberen Kasten bereits im Alter von acht bis neun Jahren ihr Elternhaus und zogen ganz in das Haus des Gurus, den ihr Vater für sie ausgewählt hatte. Sie lebten dort ganz eingebunden in den Alltag des Haushalts, in dem ihr Tag sich aufteilte in Lernen, Arbeiten und die spirituellen Übungen, die ihr Guru ihnen aufgab.
Die Veden gelten als göttliche Offenbarungen (shruti), die von den Sehern (rishis) in der Meditation empfangen wurden. Da sie als direkte Form des göttlichen Wissens angesehen werden, wird den Worten der Veden in Indien bis heute höchste spirituelle Autorität zugestanden. Sie gelten als unanfechtbar und werden als ewig gültig (sanatana) angesehen. Zur Zeit ihrer Entstehung wurden die teilweise äußerst umfangreichen Textsammlungen ausschließlich mündlich überliefert, und zwar hauptsächlich in Form der sogenannten »Vedischen Gesänge«. Ihre schriftliche Fixierung fand größtenteils erst viele Jahrhunderte nach ihrem Entstehen statt.
Die Veden bestehen in der Hauptsache aus vier großen Sammlungen (samhita) von Hymnen an die Götter, von Gedichten, Mythen und Opferformeln:
Der Rig-Veda ist der älteste Teil der Veden und wird vielfach als Herz dieses geoffenbarten Wissens angesehen. Im Rig-Veda finden sich Hymnen auf eine Vielzahl von Göttern, in denen ihr Wirken gepriesen und ihr Schutz herbeigefleht wird, sowie einige Schöpfungsmythen.
Der Sama-Veda ist ein Teil des Rig-Veda und umfasst hauptsächlich rituelle Gesänge, die die vielfältigen und umfänglichen Opferhandlungen begleiteten.
Der Yayur-Veda umfasst die Opfersprüche in Form von Mantras. Sie stellen ein Geheimwissen der Priester dar, denn es wurde angenommen, dass ein Opfer nur dann wirksam ist, wenn es von den richtigen rituellen Formeln begleitet wurde. Außerdem beschreibt der Yayur-Veda die Anordnung und die Form der unterschiedlichen Opferhandlungen.
Der Atharva-Veda