Die kleinen Geheimnisse - Eva Rechlin - E-Book

Die kleinen Geheimnisse E-Book

Eva Rechlin

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Beschreibung

Die kleinen Geheimnisse erzählt von dem Leben einer Familie, bestehend aus Vater, Mutter und den beiden Töchtern July und Sibylle. Die Kinder leben zu der Zeit im Landschulheim, nachdem sich ihre Eltern getrennt haben. Der Alltag mit den dazu gehörigen Problemen und die Familiendynamik wird wunderbar durch den Briefwechsel zwischen den Familienmitgliedern dargestellt und wirkt natürlich und greifbar. Es fällt dem Leser leicht sich in die Geschehnisse hineinzuversetzen und die Handlungen der Charaktere nachzuvollziehen.-

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Eva Rechlin

Die kleinen Geheimnisse

Saga

Die kleinen GeheimnisseCopyright © 1962, 2019 Eva Rechlin und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711754382

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Mama an July

Haleberg

Mein liebes Kleines, Du bist hoffentlich wieder gut im Internat angekommen. Nur Deine Mundharmonika hast Du hier bei mir liegengelassen, und ich fürchte, Du wirst sie in dieser Woche sehr vermissen.

Aber ich wollte Dir heute ja aus einem ganz anderen Grund schreiben. July, Dich quält irgend etwas. Ich habe es Dir schon angemerkt, als Du am Sonnabend hier ankamst, und ich mache mir deshalb Sorgen. Du mußt Dich unbedingt davon befreien. Sieh mal: wenn Dir einer helfen will und vielleicht sogar auch kann, dann ist es Deine Mama. Ich bin auch einmal ein kleines dreizehnjähriges Mädchen gewesen, womöglich habe ich auch einmal so festgesessen wie Du jetzt. Schreibe mir bald darüber, wenn Du kannst oder magst.

Den beiliegenden Brief gib bitte an Sibylle weiter. Vielleicht ist es wichtig, wenn ich daran erinnere, daß Sibylle Deine Schwester ist, die — weil sie immerhin vier Jahre älter ist als Du — in manchen Dingen auch mehr Erfahrung hat, weshalb Du ihr notfalls Dein Vertrauen schenken solltest. Manchmal tut es mir weh, daß ich nicht jeden Tag bei Euch sein kann. —

July an Mama

Landschulheim Brigg

Ich habe sehr lange nachgedacht, Mama, und ich finde, daß Du sehr gescheit bist. Wie hast Du mir das bloß angesehen? Darüber habe ich am längsten nachgedacht.

Ich bin froh, daß ich Dir schreiben kann. Dann brauch’ ich mich nicht so zu schämen. Aber Du darfst nicht böse sein, Mama, wenn ich Dir noch nicht alles erzähle. Es ist nämlich ein Geheimnis, welches noch nicht fertig ist. Und solange es noch nicht fertig ist, kann ich es Dir auch noch nicht erzählen. Du sollst Dir keine Sorgen machen, wenn ich schlecht aussehe. Manche Leute sehen auch ohne Geheimnisse schlecht aus. Ich würde Dir sehr gern schon alles erzählen, aber es geht wirklich noch nicht. Trotzdem kannst Du mir helfen. Du brauchst mir ja nur zu erlauben, daß ich das bestickte Kleid von Tante Agnes auch mal wochentags zum Unterricht anziehen darf. Nur dienstags und donnerstags, Mama! Für sonntags ist es auch viel zu schade, denn gerade sonntags, wenn ich manchmal bei Dir bin und im Garten spiele und so, mache ich mich meistens schmutzig. Jedenfalls viel mehr als in der Schule. Sibylle zieht sich sonntags ja auch nicht hübsch, sondern komisch an und trägt die guten Kleider hier immer zum Unterricht. Ich will ja nicht petzen, aber es ist nun mal so. Du kannst auch nicht von mir verlangen, daß ich mit meinem Geheimnis zu Sibylle gehe. Sie ist gar nicht der richtige Umgang für mich, und wenn sie zehnmal meine Schwester ist! Außerdem wohnt sie auch drüben im Neubau bei ihren Klassenkameradinnen, und wenn ich mal rübergehe zu ihr, damit sie mir bei den Schularbeiten hilft, sagen die Mädchen immer: »Sibylle, da kommt deine Kleine!« Und dann behandeln sie mich, als wären sie meine Tanten. Sibylle am meisten. Muß ich mir das gefallen lassen? Nein, Mama, das sind ganz andere Menschen als ich, und sie haben auch ganz andere Geheimnisse. Das Geheimnis von Sibylle zum Beispiel heißt Pit. Mehr kann ich Dir darüber aber nicht sagen, denn Du kannst ja nicht von mir verlangen, daß ich petze.

Viele Grüße! Deine July

PS Es ist sehr wichtig für meine Sorgen, daß ich das bestickte Kleid im Unterricht anziehen darf! Siehst Du das ein, Mama? Du mußt es einsehen, wenn ich glauben soll, daß Du mir helfen willst.

July

Mama an July

Haleberg

Also gut, mein Liebes: Du darfst das Kleid tragen, wann und wo immer Du willst. Dein innerer Friede soll nicht von einem Kleidchen abhängen. Und wenn das so wichtig ist, daß Du es tragen darfst, wirst Du wohl auch darauf achtgeben, daß es sauber und heil bleibt. Natürlich mache ich mir Gedanken um Dein Geheimnis, seitdem ich weiß, daß es so was in Deinem Leben schon gibt. Ich wünschte, es wäre ein schönes Geheimnis. Aber gib ihm trotzdem nicht so viel Raum, daß Du alle anderen Dinge darüber vergißt. Sonst scheitert das, was schön an ihm ist, vielleicht an Deiner Sorglosigkeit. Alle Dinge, die man lange in sich verschließt, werden mit jedem Tag schwerer, wenn man sie mit zu vielen Gedanken belastet. Du mußt Dir rechtzeitig überlegen, wieviel Schwere Du Dir zumuten kannst. —

Warum bist Du eigentlich so kratzbürstig gegen Sibylle? Weil sie älter ist? Weil ihre Geheimnisse größer sind? Natürlich ist es nicht recht, daß die Mädchen Dich wie Tanten behandeln. Daran kannst Du aber am besten erkennen, daß man auch mit siebzehn Jahren das Maß aller Dinge noch nicht beherrscht. Sie sind anders als Du, Julykind, weil sie fühlen, daß sie bald erwachsen sein werden. Das ist ein verwirrender Zustand, dessen Bekanntschaft Du ja auch einmal machen wirst, nach dem Du Dich jetzt aber wahrhaftig noch nicht zu sehnen brauchst und um den Du die Mädchen nicht beneiden solltest. Man muß warten können. Ich weiß nicht,wie oft ich Dir das noch sagen werde.

Übrigens: Pit ist mir kein fremder Begriff. Er ist ein netter großer Junge, der Sibylle gern mag und den sie gern mag. Wenn ich mich nicht irre, ist er sogar Sibylles Klassenkamerad, geht manchmal mit ihr segeln und will — ebenso wie sie — Kunstmaler werden. Stimmt es? Und da hast Du auch gleich die Auffassung Deiner Mama zu solcherart Geheimnissen: Manche Dinge sind viel zu selbstverständlich schön, um durch Geheimniskrämerei getrübt werden zu dürfen. Doch gibt die Scheu, vor aller Welt darüber zu sprechen, den Dingen ihre liebenswerte Farbe. Schreib fleißig weiter, mein Liebes, an Deine Mama.

July an Mama

Landschulheim Brigg

Ach Mama — Du kannst ja aus dieser Entfernung nicht sehen, daß ich immer schlechter aussehe. Obwohl nur dreißig Kilometer zwischen uns liegen. Es ist sehr schwer, ein Mädchen zu sein. Manchmal denke ich, wie schön es sein könnte, wenn ich ein Junge wäre. Schon wegen der Hosen. Mit Hosen lebt es sich viel bequemer. Aber ich will nicht klagen, denn Du kannst ja sicher auch nichts dafür.

Übrigens wollte ich Dir noch dafür danken, daß ich das Kleid von Tante Agnes anziehen durfte. Die Mädchen haben alle sehr geguckt, als ich es mitten in der Woche aus dem Schrank nahm, und als ich nachher in die Klasse kam, habe ich meinen Atlas auf die Bank gelegt und mich darauf gesetzt, damit das Kleid nicht schmutzig wurde. Denn manchmal laufen wir ja mit den Füßen über die Bänke. Nur Annalies hat gesagt, daß sie sich schämen würde, in solchem Aufputz zum Unterricht zu erscheinen. Da bin ich aufgestanden und habe so laut, daß alle es hören konnten, geantwortet: »Das ist nichts als purer Neid!« Die Annalies ist ganz rot geworden und hat gelacht, als hätte sie jemand gebissen. Und dann sagte sie: »Wer sonst nichts kann, dem bleibt eben nichts anderes übrig, als anzugeben!«

Wenn in diesem Augenblick nicht gerade die Lehrerin in die Klasse gekommen wäre, hätte die Sache sicher noch ein schlimmes Ende genommen. Dabei stolziert die Annalies selbst immer ’rum wie ein Pfau. Ich bin nur froh, daß sie nicht mit in meinem Zimmer wohnt.

Du siehst: es ist sehr schwer, etwas Besonderes zu tun. Jetzt erst weiß ich, daß Mut dazu gehört, wenn man sich einmal anders als sonst benehmen will.

In der dritten Stunde kam dann das, was mein Geheimnis ist und weshalb ich auch das bestickte Kleid anziehen wollte. Aber weißt Du, Mama — das Geheimnis ist immer noch nicht fertig. Ich muß erst ganz genau herauskriegen, ob es sich lohnt, davon zu sprechen. Vorher würdest Du mich gar nicht begreifen. Daß es mir zuviel wird, brauchst Du aber nicht zu befürchten. Ich denke auch nicht andauernd daran. Es ist nur schwer, es vor den anderen Kindern geheimzuhalten. Wir schwatzen auch immer so viel miteinander — vor allem abends vorm Einschlafen —, und deshalb habe ich ewig Angst, ich könnte mich verraten. Mädchen beobachten sich immer so, Mama. Manchmal wird man ganz blöd angeguckt und weiß nicht, was dieser Blick bedeuten soll.

Was Du mir da über Sibylle geschrieben hast, war ja ganz interessant, aber in Wirklichkeit bildet sich Sibylle ja doch ein, alles besser zu wissen als Du! Ganz bestimmt, Mama! Du weißt ja, wie sie manchmal grinst, wenn Du ihr etwas sagst. Gestern hat sie übrigens Papa besucht. Sie ist die acht Kilometer bis Godow mit Pits Rad gefahren. Das Gemeinste daran war, daß sie mir vorher nichts davon gesagt hat. Sie hätte mich so gut auf dem Gepäckträger mitnehmen können. Als sie zurückkam, habe ich vor Wut geheult. Sie sagte bloß — und guckte dabei in den Himmel —: »Ich begreife nicht, wie Mama sich von diesem netten Papa trennen konnte.«

So ist sie, Mama. Sie hat immer was ganz anderes im Kopf als Du. Aber ich will ja nicht petzen.

Statt dessen erzähle ich Dir lieber noch etwas von Brigg. Bei uns hier hat es nämlich eine Sensation gegeben, und das war so: Gestern kam in meine Klasse ein neues Mädchen. Sie wurde von ihren Eltern mit dem Auto hergebracht und kam uns gleich so wehleidig vor. Obwohl sie doch schon dreizehn Jahre alt ist, ließ sie sich immer von ihrer Mutti an der Hand führen. Wie ein kleines Baby. Und dazu kommt noch, daß ihr Vati ständig »Bäbsilein« zu ihr sagte, obwohl sie in Wirklichkeit Barbara heißt. Hast Du so was schon mal erlebt, Mama? Sie heulte andauernd und machte dabei ein so wehleidiges Gesicht, daß wir sie gleich »Rhabarber« tauften. Und andauernd sagte ihre Mutti zu unseren Lehrern: »Meine Einzige!« Dann fing Rhabarber jedesmal von neuem an zu heulen. Na, wir haben uns gleich vorgenommen, ihr das Leben ordentlich schwerzumachen, und zum Glück wurde sie auch in mein Zimmer eingewiesen. Sie schläft in dem Bett unter meinem. Ihre Mutti stellte ihr auf den Nachttisch eine riesige Schachtel mit Konfekt, und in die Nachttischschublade legte sie eine Menge Taschengeld und zwei Tafeln Schokolade und eine Lutschstange. Weißt Du, Mama, was wir von meinem Zimmer da getan haben? Wir haben ihr nämlich einen Babyschnuller gekauft und den abends auf ihr Kopfkissen gelegt. Und ihre pelzgefütterten Hausschuhe haben wir auch versteckt. Und dann hatte die Bianca noch eine großartige Idee — sie legte der Rhabarber nämlich eine tote Maus, die wir im Keller gefunden hatten, unter die Bettdecke. Ich kann Dir gar nicht beschreiben, wie die Rhabarber sich am Abend, als wir alle ins Bett mußten, benahm. Sie hatte doch schon den ganzen Nachmittag geheult, weil ihre Eltern wieder weggefahren waren. Und jetzt erst! Mama, sie heulte wie eine Sirene und rief dauernd: »Das werde ich aber meinem Vati sagen!«

Bianca antwortete dann immer: »Sag’s doch, Bäbsilein. Los! Unten in der Halle ist ein Telefon. Soll ich das Ferngespräch schon anmelden?«

Jedenfalls hat sich die Rhabarber lange nicht ins Bett legen mögen. Wir haben die Maus auch nicht? rausgenommen. Rhabarber mußte es selbst tun. Sie hat sich nachher nur auf ihr Kopfkissen gehockt und die ganze Schachtel voll Konfekt allein leergegessen. So etwas hat überhaupt noch keiner jemals in Brigg getan, Mama. Wir waren einfach sprachlos.

Heute heult die Rhabarber schon nicht mehr so viel, aber es gibt — außer den Erziehern — keinen in ganz Brigg, der auch nur ein Wort mit ihr spricht. Mit solcher Heulsuse mag man ja auch nichts zu tun haben. — So, Mama, jetzt ist mein Brief aber sehr lang geworden, und fast die ganze Freistunde ist dafür draufgegangen. Ich habe nur noch fünfzehn Minuten Zeit. Vielleicht schreibe ich noch schnell an Papa.

Viele Grüße! Deine July

July an Papa

Landschulheim Brigg

Eben habe ich an Mama geschrieben, und weil ich noch Zeit habe, sollst Du auch schnell einen Brief von mir bekommen, mein lieber Herr Papa. Aber in fünfzehn Minuten ist die Freistunde vorbei. Dann muß ich aufhören zu schreiben, weil wir alle nachher zum Schwimmen gehen wollen. Das ganze Landschulheim will zum Schwimmen gehen. Die Badeanstalt wird schön voll sein.