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Stell Dir mal vor, dir würde das Geld nie ausgehen, du würdest in einem riesigen Schloss wohnen, du könntest dir deine eigene Welt bauen, wie beispielsweise eine künstliche Insel im Meer. Ein beinahe unvorstellbares Leben, doch Tobino hat all diese Sachen und noch viel mehr. Wie kann es also sein, dass dieser Junge nicht glücklich ist? Ihm ist langweilig und immerzu ist er launisch. Alles ändert sich jedoch, als Tobino Herr Spirito als Hausleherer bekommt. Von ihm lernt Tobino, dass es noch so viele andere und wichtigere Dinge als Geld gibt, und er realisiert, wieviel ihm bisher gefehlt hat. -
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Seitenzahl: 173
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Eva Rechlin
SAGA Egmont
Tobinos Insel
Copyright © 1987, 2017 Eva Rechlin og Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711754405
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach
Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Der junge Herr Spirito ging den langen Weg zum Schloß Vivato zu Fuß. Was er besaß, trug er in einem abgewetzten Köfferchen bei sich. Er war lang und dünn, seine Kleider saßen nicht recht ordentlich an ihm, und auf dem rötlichen Haarschopf trug er einen gelben Strohhut. Auch blickte er durch eine Brille in die Welt.
Die Straße, die von der Stadt zum Schloß führte, war die eigenartigste im Land Tunari: glatt und blank wie aus geschliffenen Marmorplatten, links und rechts standen abwechselnd hellgrüne Trauerweiden und steile dunkle Wacholderbüsche. Diese Allee hatte der vielfache Millionär Vivato anlegen lassen, damit seine Gedanken sich an ihrem Anblick beruhigten, wenn er von seinen Geschäften in der Stadt nach Hause in sein Schloß fuhr. Herrn Spirito dagegen beunruhigte diese Straße, die ihn auf blankpolierten Platten dem Schloß entgegenführte. Zwei Tage zuvor hatte er in der Zeitung gelesen, daß der schwerreiche Herr Vivato einen neuen Erzieher für seinen einzigen zehnjährigen Sohn suchte. Über diesen Sohn gingen im ganzen Land Tunari die schlimmsten Gerüchte um. Es hieß, er sei das eingebildetste und unerzogenste Kind der Gegend. Aber Herr Spirito, der gerade eine neue Stelle als Lehrer suchte, hatte sich gesagt: Ich will es versuchen!
Er hatte sich mit Herrn Vivato in Verbindung gesetzt, ihn allerdings nur telefonisch erreicht, das heißt: nicht ihn selbst, sondern einen seiner Sekretäre, und selbst das war schon ein Erfolg. Man hatte ihn sofort angestellt und gebeten, sich schnellstens ins Schloß Vivato zu begeben.
Herrn Spiritos Freude war allerdings durch ein paar Worte seiner Zimmerwirtin erheblich gedämpft worden: »Der Sohn des Millionärs Vivato«, hatte sie gesagt, »ist ein abstoßend launisches Kind. Außer Ihnen hat sich vermutlich niemand um diese Stelle beworben. Zu viele wurden enttäuscht. So was spricht sich herum. Und Sie sind eigentlich zu schade, um sich mit solchem Jungen herumzuärgern, lieber Herr Spirito!«
Aber Spirito war ein hartnäckiger Mann, und weil er nun einmal gesagt hatte: Ich will es versuchen! – blieb er bei seinem Entschluß.
Die lange Allee zum Schloß Vivato, auf der er nun voran marschierte, machte ihn nachdenklich. Gerade kam ihm der Vergleich mit einem Friedhofsgang, da sah er weit vorn ein seltsames Fahrzeug langsam auf sich zukommen. Das Vorderteil glich einem breiten Auto, der hintere Aufbau einer Lokomotive. Links, rechts und unter ihm drehten sich weiche Besenwalzen, über die aus breiten Schlitzen des kesselartigen Aufbaus unablässig Wasser rann. Noch nie hatte Spirito so eine Straßenreinigungsmaschine gesehen. Verwundert trat er zur Seite unter eine der Trauerweiden und ließ das Ungetüm herankommen. Die Motoren summten wie Bienenschwärme, das Wasser plätscherte aus den Schlitzen und die großen Besen schlabberten zischend über das glatte Marmorgestein. Vor Herrn Spirito hielt das Ding an. Aus der Fahrerkabine sprang ein Mann in marmorheller Uniform mit blitzenden Schnallen und Reißverschlüssen. Er trat auf Herrn Spirito zu und sagte streng: »Diese Straße ist nicht für Fußgänger. Wenn Sie sie schmutzig machen, wird man mich entlassen!«
»Entschuldigen Sie«, antwortete Spirito. »Vorn auf dem Schild stand nur: Befahren verboten! Ich werde also ab hier neben der Straße weitergehen, obwohl ich ohne Schmutz und Ungeziefer bin, nicht zu spucken pflege und meine Schuhe erst vorige Woche geputzt habe.«
»Überhaupt«, sagte der Mann, »ist die Straße nur für Bewohner und angemeldete Gäste von Schloß Vivato da!«
Herr Spirito nickte: »Ich will ja zum Schloß. Ich bin der neue Erzieher des Kindes dort.«
Der Straßenreiniger pfiff durch die Zähne. Sein Gesicht bekam einen völlig anderen Ausdruck. Tröstend legte er seine Hand auf Spiritos Schulter und sagte viel freundlicher, »Junger Mann, wenn es so steht, will ich Ihnen nicht auch noch Scherereien machen. Kommen Sie zu mir, wenn Sie entlassen werden. Ich fahre Sie in meiner Maschine zurück zur Stadt, damit Sie nicht so kurz hintereinander zweimal neben der Straße gehen müssen.«
Spirito nickte unsicher und dachte: Ich will es trotzdem versuchen.
Als könnte er nicht schnell genug in sein Unglück rennen, eilte er neben der Straße weiter. Nach der nächsten Biegung lag das Schloß vor ihm. Es war fast ganz aus Glas, mit schmalen Pfeilern zwischen riesigen, vermutlich kugelsicheren Fensterscheiben. Es kam Herrn Spirito vor wie eine gewaltige stufenförmige Käseglocke mit einem gläsernen Ballon als Gipfel. Um das breite flache Erdgeschoß liefen Terrassen mit schwarzweißen Marmorböden. Über dem Erdgeschoß erhob sich etwas kleiner das erste Stockwerk und darauf, wiederum kleiner, das zweite, das dritte und vierte und fünfte. Ganz oben wölbte sich wie bei einer Sternwarte eine gläserne Kuppel, von der Herr Spirito später erfahren sollte, daß sie drehbar war wie ein Karussell und daß in ihr das Spielzimmer des Millionärssohnes lag. Vor dem Schloß blinkte mitten im grünen Rasen ein künstlicher Teich, umsäumt von sprudelnden Springbrunnen. In der Mitte des Teiches stand eine nachgebaute schwere Hansekogge mit geschwellten Segeln, die Herr Vivato sich wohl statt eines Pavillons hatte errichten lassen, denn ein schmaler Steg verband sie mit dem Ufer.
Es gab vieles zu sehen. Aber Spirito beachtete es nicht weiter. Ihn fesselten mannshohe bunte Blumenstauden, die das gesamte Anwesen umzäunten. Er wußte, daß sich darin elektrisch geladene Stacheldrähte versteckten. In den Zeitungen hatte Spirito mehrmals farbige Abbildungen des Schlosses gesehen, doch die Wirklichkeit übertraf sie. Wie betäubt ging er das letzte Stück neben der Allee auf einen hohen Torbogen aus üppigen Rosen zu.
Da wuchs blitzschnell aus einem kaum sichtbaren Schlitz im Boden ein Gittertor hoch und versperrte ihm den Weg. Erschrocken wich Spirito einen Schritt zurück. Rechts von dem Tor, versteckt in den Blumenstauden, bemerkte er ein Panzertürmchen, aus dem ihm ein bewaffneter Pförtner entgegentrat.
»Halt! Bleiben Sie stehen!« rief der ihm zu, »versuchen Sie nicht, die Hecke zu durchdringen! Sie ist von giftigen Stachelranken durchflochten, die jeden Eindringling bewußtlos stechen!«
Er sagte sein Sprüchlein auf wie ein Fremdenführer, während er, in jeder Hand eine Pistole, langsam auf Spirito zukam. »Und überhaupt«, fuhr er fort, »stehen am Anfang der Allee nicht genug Schilder, daß Bittsteller hier unerwünscht sind?«
»Gewiß«, sagte Herr Spirito, »die habe ich gelesen. Stecken Sie bitte Ihre albernen Pistolen ein!«
»Und? Was wollen Sie nun hier? Was haben Sie da in dem verdächtigen Gepäckstück?« Der Pförtner deutete mit einer Pistole auf Spiritos abgewetztes Köfferchen. Sein Blick war mißtrauisch und verächtlich.
Das ärgerte Herrn Spirito, aber zugleich kam ihm ein lustiger Einfall. Er hob den Koffer hoch, in dem außer Wäsche und Büchern auch seine Weckeruhr lag, hielt ihn dem Pförtner entgegen und sagte: »Ich habe eine Höllenmaschine im Gepäck. Hören Sie, wie sie tickt?«
Der Pförtner beugte den Kopf vor und lauschte. Ganz deutlich machte Spiritos altertümlicher Wecker »tick-tack, ticktack«.
Jetzt war es der Pförtner, der erschrocken einen Schritt zurückwich. »Was haben Sie vor?« stammelte er.
Spirito mußte lachen. Aber dann zuckte er zusammen, denn der Pförtner brüllte plötzlich los: »Verdrückt euch! Schnell! Eine Höllenmaschine vor dem Tor!« Da wurde es links und rechts in der Blumenhecke lebendig. Sechs, sieben, acht bewaffnete Männer stürzten aus ihren Verstecken, rannten davon und warfen sich hinter einem Busch in Deckung. Der Pförtner selbst raste in sein Panzertürmchen und schlug die Tür hinter sich zu.
Spirito lehnte sich gegen das Eisengitter und blickte sich um. Das Gitter war wenig höher als er selbst, er hätte es leicht übersteigen können, aber daran lag ihm jetzt nichts. Wie immer, wenn er in Verlegenheit geriet, nahm er seine Brille ab und putzte sie, obwohl kein Staubkörnchen ihre Gläser trübte. Am Schloßtor war es jetzt so still, daß er seinen alten großen Wecker durch die Kofferwände ticken, daß er Bienen und Hummeln in den Blumen summen und eine Amsel singen hörte. Er blickte nachdenklich auf die Allee zurück, die er gekommen war. Hinter einem Wacholderbusch sah er den Kopf eines geflüchteten Wächters. »Armer Herr Vivato«, murmelte er und putzte seine Brille heftiger. Es kam ihm vor, als sähe er den mächtigen, berühmten Vivato ahnungslos, von allen seinen Helfern verlassen, auf einer Höllenmaschine sitzen. »Was hat er nur für Wächter, die schon vor einem alten Wecker reißaus nehmen?«
Schließlich setzte Spirito seine Brille wieder auf, ging zu dem Panzertürmchen und pochte mit der Faust an die Stahltür. »Kommen Sie raus! Die Höllenmaschine ist nur ein alter Wecker. Und ich bin der neue Erzieher für den Sohn!«
»Wenn das stimmt«, antwortete der Pförtner und wagte sich wieder aus seinem Panzertürmchen, »öffnen Sie den Koffer und zeigen Sie mir den Wecker!«
Und als der Pförtner erkennen mußte, vor welchem Gegenstand er sich gefürchtet hatte, packte ihn der Zorn. »Mann!« schrie er Spirito an, »Sie haben sich einen schlechten Scherz erlaubt! Wenn das Vivato erfährt – nicht auszudenken!«
»Wenn Vivato erfährt«, sagte Spirito, »daß seine Wächter vor einem Wecker geflohen sind, was wird er dann wohl mit seinen Wächtern tun?«
Der Pförtner wurde bleich und starrte Spirito an. Er ließ die Arme sinken, die Pistolen fielen aus seinen Händen. Zum zweiten Mal an diesem Vormittag nahm Spirito seine Brille ab, um sie mit fahrigen Fingern zu putzen.
»Aber lassen Sie nur«, sagte er verlegen, »machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Stellen. Von mir aus braucht niemand etwas von der ganzen Geschichte zu erfahren. Und jetzt öffnen Sie endlich das Gitter und lassen Sie mich ein.«
»Sie wollen mich wirklich nicht verraten?« stieß der Pförtner argwöhnisch hervor.
»Mein Wort.«
Der Pförtner atmete auf. Plötzlich nestelte er an seiner Rocktasche und sagte schnell: »Von meinem letzten Lohn ist zwar nicht mehr viel übrig, aber vielleicht genügt Ihnen der Rest für Ihr Schweigen? Hier, es sind hundertachtzig Mark. Nehmen Sie! Bitte!«
Spirito wich zurück. »Was soll ich? Wollen Sie sich meine Verschwiegenheit etwa kaufen?«
»Aber das ist doch nur natürlich, mein Herr! Mit Geld kann man alles. Was glauben Sie denn …«
»Hören Sie auf!« fuhr Spirito ihn an, »und stecken Sie Ihr Geld wieder ein!«
Er wandte sich ab und ging schnellen Schritts zum Schloß.
Als Spirito die Marmorterrasse des Schlosses erreichte, kam ihm ein so auffallend elegant gekleideter Mann entgegen, daß er dachte, von dem berühmten Herrn Vivato persönlich empfangen zu werden. Dieser Irrtum klärte sich allerdings rasch auf: Der Mann im goldfarbenen Seidenanzug war sein Vorgänger Dr. Kasimir, der Spirito in das neue Amt einführen sollte. Kasimir führte den Ankömmling in einen Salon des Schlosses und ließ ihn durch einen Diener mit Tee und Törtchen bewirten.
»Ich habe noch eine Stunde Zeit«, sagte er, während er sich in einen Sessel sinken ließ und eine bleistiftlange Zigarette anzündete. »Ich denke, das genügt, um Sie vorzubereiten. Können Sie sich vorstellen, was Sie hier erwartet?«
»Nun ja«, antwortete Spirito, »die Vivatos sind nicht unbekannt. In den Zeitungen steht genug über sie. Und was ich bisher über den Sohn hörte, klang eher entmutigend. Aber ich bin entschlossen, es mit ihm zu versuchen.«
Kasimir blies mit runden Lippen kleine Qualmringe in die Luft. Dem letzten lächelte er boshaft nach und sagte: »Bester Kollege Spirito, Entschlossenheit nützt Ihnen gar nichts bei der Erziehung dieses verhätschelten Teufels.«
»Ist der Junge denn ein Teufel?«
»In jeder Hinsicht. Werfen Sie ihm Ihren Charakter vor die Füße, daß er darauf herumtrampeln darf – es macht sich bezahlt.«
»Was soll das heißen?« fragte Spirito.
Kasimir blickte ihn höhnisch aus zusammengekniffenen Augen an. Mit vertraulich gesenkter Stimme erklärte er: »Schlagen Sie sich den Unsinn aus dem Kopf, hier den guten Erzieher spielen zu wollen. Das bringt Ihnen nichts. Das einzige, was Sie hier erreichen können, ist, in kurzer Zeit ein gemachter Mann zu werden. Insofern ist Schloß Vivato ein Paradies.«
»Paradies? Ich verstehe kein Wort.«
»Sie werden verstehen lernen. Mir könnte es ja gleichgültig sein, was aus Ihnen wird. Aber wie Sie aussehen«, Kasimir musterte Spirito von Kopf bis Fuß, »können Sie es sicher vertragen, in kürzester Frist eine Menge Geld einzuheimsen. Ich kam vor zwölf Wochen genauso abgewetzt an wie Sie …« Mit seinen Fingern, an denen Brillantringe blitzten, deutete Kasimir auf Spiritos Köfferchen und fuhr fort: »Und heute? Sehen Sie da drüben vor den Garagen die nagelneue Luxuslimousine? Gehört mir. Lohnt es sich etwa nicht, sich dafür ein paar Wochen von einem verzogenen Teufelchen schikanieren zu lassen?«
»Ja … nein … ja«, stammelte Spirito, »aber mit solchen Nebenabsichten kann man doch nicht ein Kind erziehen!«
»Seien Sie nicht schmalzig, Spirito. Was interessiert mich im Grunde der Junge? Man muß die Gelegenheit wahrnehmen! Und hier ist eine Menge herauszuholen!«
Spirito senkte den Kopf. Er mochte nicht länger in die eitlen Augen Dr. Kasimirs blicken. »Aha, so ist das also«, murmelte er, »wollen Sie jetzt bitte meinen künftigen Schützling rufen?«
»Ru-fen?« Kasimir brach in schallendes Gelächter aus. »Rufen? Mann, Sie haben es mit dem einzigen Erben eines schwerreichen Mannes zu tun! Zu dem müssen Sie sich schon selbst bequemen. Aber warten Sie, ich möchte Ihnen noch einen nützlichen Rat geben: Tun Sie stets, was der Bengel will. Geben Sie ihm immer Recht, auch wenn er Blödsinn faselt. Er ist das so gewohnt. Ich habe Ihnen ja gesagt, daß es sich bezahlt macht. Damit haben sich schon zweiundsechzig Erzieher, Damen wie Herren, vor uns gesund gewirtschaftet.« Dr. Kasimir legte grinsend seine geschmückte linke Hand an die Brust, als wollte er auf seine wohlgefüllte Brieftasche hinweisen.
Spirito stand so heftig auf, daß das Teetischchen vor ihm wackelte und klirrte. Er hätte den Kollegen gern saftig beleidigt, aber etwas schnürte ihm die Kehle zu. Mit gesenktem Kopf folgte er Dr. Kasimir ins Schloßinnere.
Sie kamen durch einen langen Gang, dessen Wände mit Matten von verflochtenem Schlangenleder behängt waren.
Mit Kennermiene flüsterte Dr. Kasimir: »Kostet ein Vermögen!«
Spirito nickte angewidert. Gleich darauf drückte Kasimir auf einen von vielen goldenen Knöpfen in der Wand. Erstaunt sah Spirito, wie eine mit Perlmuttmosaik ausgelegte Fläche, die er für einen weiteren Wandschmuck gehalten hatte, zur Seite glitt. Sie traten in ein großes helles Zimmer, das über und über mit verschiedensten Tierfellen ausgekleidet war. Es wirkte wie ein riesiges buntscheckiges Nest.
An der gläsernen Außenwand lag, den Blick nach draußen gerichtet, auf einem Leopardenfell ein weißgekleideter Junge. Er stand nicht auf, er wendete nicht einmal den Kopf, als er seine Erzieher eintreten hörte.
Dr. Kasimir flüsterte Spirito ins Ohr: »Das ist Tobino, einziger Sohn des Hauses. Wir müssen warten, bis er selbst uns anspricht.«
Spirito hielt es nicht länger aus. War er ein Regenwurm an einem Angelhaken? Wütend sah er seinen Vorgänger an und fragte: »Sind wir Erzieher oder Knackwürstchen?«
Dr. Kasimir öffnete entsetzt den Mund und legte sofort seine Hand darüber. Das sollte eine Warnung sein. Aber Spirito, ziemlich erhitzt von den bisherigen Eindrücken, setzte seinen Koffer auf das silberne Persianerfell, auf dem er selbst stand, und rief dem Jungen zu: »Hallo, Tobino! Wollen wir uns nicht begrüßen?«
Der Junge fuhr auf. Er sperrte wie Kasimir den Mund auf, brachte aber kein Wort hervor. In seinen weit geöffneten Augen standen Überraschung, Neugierde.
Spirito musterte ihn finster. Sein Zorn verflog, als er den schokoladenverschmierten Mund und auf dem weißen Anzug einen großen Kakaofleck entdeckte. Langsam zog er sein Taschentuch hervor, ging auf Tobino zu, packte ihn am Kinn und sagte: »Spuck auf das Tuch!«
Tobino starrte zu ihm auf, beugte sich gleich darauf vor und spuckte kräftig auf das Tuch. Pinselig wischte Spirito ihm den Mund ab. Danach nahm er Tobinos Hand und sagte: »Guten Tag.«
Aber Tobino entzog ihm seine Hand, zerrte sein eigenes Taschentuch heraus, spuckte hinein und versuchte, auch den Kakaofleck von seinem Anzug zu entfernen.
Spirito beobachtete ihn. Seit er vor fünf Jahren seine Ausbildung beendet hatte, war er in verschiedenen Häusern Erzieher gewesen. Er stellte fest, daß Tobino sich äußerlich kaum von seinen bisherigen Zöglingen unterschied. Allerdings hatte er noch nie ein Kind so verbissen in sein Taschentuch spucken und an einem Schmutzfleck herumreiben gesehen. »Du wirst kein Glück haben«, meinte er, »Kakaoflecken verschwinden nicht so leicht.«
Tobino blickte ihn an. Jetzt endlich fand er seine Sprache wieder: »Aber ich will ihn rauskriegen, und wenn es drei Stunden dauert! Dann hätte ich drei Stunden lang etwas zu tun. Haben Sie schon mal drei Stunden hintereinander etwas zu tun gehabt?«
»Drei? Lächerlich. Zehn Stunden und noch mehr!«
Tobino vergaß zu reiben. »Was war das? War es interessant?«
»Jedenfalls interessanter als deine Wischerei. Das solltest du besser den Wäschepflegern überlassen.«
»Die haben schon genug zu tun. Alle haben etwas zu tun! Nur ich nicht! Nein, dieser Fleck gehört endlich einmal mir.« Er spuckte noch einmal in sein Tuch.
Von der Tür her erklang ein Räuspern. Herr Dr. Kasimir stand noch immer dort. »Wenn ich es mir erlauben darf«, sagte er schmeichlerisch, »dann möchte ich dir empfehlen, mein Liebling, dich umkleiden zu lassen.«
Tobino starrte ihn ein Weilchen an, als müßte er sich erst besinnen, wer Kasimir war. Plötzlich stampfte er mit dem Fuß und schrie ihn an: »Hören Sie mit Ihrem dämlichen Umkleiden auf, es ist genau so langweilig wie Sie!« Er blinzelte Spirito zu und sagte: »Wissen Sie was? Ich habe eine Idee: Ab heute machen wir uns unsere Sachen selbst sauber. Erst machen wir uns richtig schmutzig, und hinterher machen wir sie sauber. Dann haben wir den ganzen Tag etwas zu tun!« Spirito rümpfte die Nase, kraulte seinen roten Haarschopf und meinte: »Das liegt mir nicht. Dreckig machen – saubermachen? … Ziemlich trostlos. Ich wüßte bessere Beschäftigungen.«
Tobinos Blick wurde mißtrauisch: »Meinen Sie vielleicht lernen? Oder umkleiden? Oder Kino sehen und spazieren fahren?«
»Nein, daran hatte ich jetzt nicht gedacht.«
»Verzeihen Sie meine abermalige Einmischung«, klang es von der Tür her, »ehe Sie sich ganz in Ihr Gespräch vertieft haben, möchte ich bitten, mich empfehlen zu dürfen.« Dr. Kasimir stand mit angelegten Händen und geneigtem Kopf wie ein Spazierstock auf dem Schaffell.
Tobino grinste und rief: »Das war der beste Einfall, den Sie bisher hatten. Also gehen Sie, verschwinden Sie!«
»Möchtest du mir nicht Aufwiedersehen sagen, mein kleiner Liebling?« säuselte Kasimir, als rechnete er mit einem letzten Trinkgeld.
»Aufwiedersehen?« sagte Tobino. »Einen wie Sie möchte ich mein ganzes Leben nicht wiedersehen! Schade um das viele Geld, das Papa Ihnen gegeben hat. Ich hätte es lieber in den Kaugummiautomaten stecken sollen, dann hätten wenigstens meine Zähne vierzehn Tage lang was zu tun gehabt!«
Kasimir richtete sich kerzengerade auf. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, sein Gesicht verzerrte sich. Er sah aus, als hätte er wochenlang Gallebitteres geschluckt, um es in diesem Augenblick wieder loszuwerden. »Mit Vergnügen«, stieß er tückisch hervor, »mit dem größten Vergnügen gehe ich. Und dir mißratenem Teufel wünsche ich allen Schwefel der Hölle in den Hals. Viel Glück, Spirito!«
Spirito antwortete nicht. Er hatte den Wortwechsel mit gesenktem Kopf verfolgt und sich für Kasimir geschämt. Jetzt hörte er die Schiebetür leise zur Seite gleiten, hörte Dr. Kasimir auf den Gang eilen und sich entfernen.
Als er aufblickte, sah er in Tobinos zufrieden lächelndes Gesicht. Ein Weilchen blickte er ihn düster an. Dann wandte er sich schroff ab, trat an die gläserne Außenwand und schaute in den Garten. Er sah einige mit Koffern beladene Diener auf die Garagen zueilen und die Gepäckstücke in Dr. Kasimirs Auto verstauen. Kasimir folgte ihnen, setzte sich ans Steuerrad und fuhr, krampfhaft geradeaus blickend, durch das Rosentor hinaus auf die Allee, die zur Stadt führte.
»Das war der Dreiundsechzigste«, hörte er Tobino hinter sich sagen, »er hat einen Haufen Geld eingeheimst. Sie können froh sein, daß Sie diesen Posten erwischt haben!«
»Ich möchte nie wieder solche Dämlichkeiten von dir hören«, sagte Spirito drohend.
Sekundenlang blieb es hinter ihm still. Schließlich hörte er zwei, drei durch die Felle gedämpfte Schritte auf sich zukommen. Er blickte zur Seite in Tobinos Gesicht. Verwundert sah er darin einen begeisterten Ausdruck.
»Sind Sie streng?« fragte Tobino.
»Ja, ich werde streng mit dir sein.«
»Mit Verprügeln und Schimpfen und Strafarbeiten?«
Spirito schüttelte den Kopf. »War je ein Erzieher derart streng mit dir?«
»Nein, nie. Neulich habe ich einen Film gesehen, da war ein Lehrer streng mit seinen Schülern. Da hatten sie dauernd etwas zu tun.«
»Was hatten sie zu tun?«
»Sie dachten sich alles Mögliche aus, um den Lehrer zu ärgern – und nicht erwischt zu werden. Wenn Sie auch so streng sein wollen, werde ich Papa bitten, daß Sie schnell zu Geld kommen!«
»Aber ich will gar kein Geld dafür«, sagte Spirito kopfschüttelnd, »ich habe mir nämlich vorgenommen zu versuchen …« Er stockte.
Fassungslos fragte Tobino: »Sie wollen kein Geld? Aber alle wollen doch Geld!«
»Du solltest davon nicht so überzeugt sein, Tobino. Es gibt sicher welche, wenn auch nicht viele, die viel weniger Geld haben und doch mit dir nicht tauschen würden. Einer von denen bin ich.«
»Sind Sie etwa nicht hergekommen, um viel Geld zu verdienen?«
»Nein.«
Tobino biß sich auf die Lippen. »Sind Sie«, fragte er mit gedämpfter Stimme wie ein Verschwörer, »sind Sie etwa noch reicher als wir?«