9,99 €
Wie Alleinerziehende ihre eigenen Welten schaffen.
Alleinerziehende sind die am stärksten wachsende Familienform. In jeder fünften Familie gibt es mittlerweile nur einen Elternteil. Und der steht vor ganz besonderen Aufgaben: Wie gelingt es, trotz des enormen Drucks ein zufriedenes Leben zu führen? Wie füllt man die Leerstelle des fehlenden Partners auf? Wie geht Streiten zu zweit, wenn man sich bei niemandem ausheulen kann? Wohin geht man an Weihnachten?
Bernadette Conrad berichtet von den eigenen Herausforderungen als alleinerziehende, berufstätige Mutter. Tauscht sich mit Cornelia Funke und Doris Lessing aus. Besucht acht Minifamilien in Deutschland und im Ausland – und stößt dabei auf eine staunenswert vielfältige und vor allem glückliche Familienform, deren Einfallsreichtum keine Grenzen zu kennen scheint.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 425
Buch
Immer mehr Mütter und Väter erziehen ihre Kinder alleine. Mittlerweile ist dies in jeder fünften Familie der Fall. Die Journalistin und Autorin Bernadette Conrad geht diesem wichtigen gesellschaftlichen Phänomen nach und fragt sich, wie es gelingt, als »kleinste Familie der Welt« glücklich zu werden. Denn das Leben von Alleinerziehenden unterliegt zwar anderen Spielregeln und Herausforderungen; es verlangt jede Menge Einfallsreichtum, Vernetzung und Flexibilität – erweist sich aber auch als Familienform von besonderer Kraft.
»Ich freue mich wirklich sehr, dass Bernadette Conrad mit diesem Buch ein Loblied auf die kleinste Familie dieser Welt singt! Es gibt immer noch so viele Vorurteile über Alleinerziehende und Kinder, die nicht in angeblich ›kompletten‹ Familien aufwachsen, obwohl wir alle wissen, wie oft traditionelle Familiensituationen versagen!Ich hoffe, diese wichtige Veröffentlichung wird daran endlich etwas ändern und der Liebe, Geduld und Eltern-Kunst all der Frauen (und Männer) Anerkennung verschaffen, die ein Kind oder mehrere allein großziehen.«
CORNELIA FUNKE
Autor
Bernadette Conrad, 1963 in Stuttgart geboren, arbeitet als Literatur- und Reisejournalistin für DIE ZEIT, die Neue Zürcher Zeitung, das Schweizer Radio SRF2 Kultur u.a. »Die kleinste Familie der Welt« ist ihr drittes Buch. Zuletzt erschien von Bernadette Conrad »Die vielen Leben der Paula Fox« (C. H. Beck, 2011). Nach vielen Jahren am Bodensee lebt sie mit ihrer 14-jährigen Tochter seit Kurzem in Berlin. Zusammen sind sie schon viel durch die Welt gereist, wenn Bernadette Conrad auf Recherchen für Geschichten war.
Bernadette Conrad
Die kleinsteFamilieder Welt
Vom spannenden Leben allein mit Kind
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
1. Auflage
Deutsche Erstausgabe Mai 2016
Copyright © 2016 by btb Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: semper smile, München
unter Verwendung eines Motivs von © Carla Nagel, Design
Innenteilfoto: © Lars Wortelmann (Bernadette und Noëmi Conrad); Philipp von Recklinghausen (Annett und Friedrich Gröschner);alle anderen © privat.
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-641-17180-3V001www.btb-verlag.de
www.facebook.com/btbverlag
Besuchen Sie auch unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de!
»Ach was, ich fand es wunderbar mit den Kindern. Nein, ich habe die Geschichten geschrieben, weil ich es gewohnt war, wie eine Schriftstellerin zu denken; das heißt, ich war es gewohnt zu schreiben, weil es mir beim Denken half …
Ich mag das ›trotz der Kinder‹ nicht. Das Leben ist, was man daraus macht, und man versucht eben so viel wie möglich zu verwirklichen. Ich hätte auf keins von beidem verzichten wollen, weder auf das Schreiben noch auf die Kinder.«
Grace Paley, »Die kleinen Widrigkeiten des Lebens«
Für Moni und Dschonnie und Martin – ohne Euch, die Ihr die kleinste Familie größer gemacht habt, könnte ich nicht über deren Glück schreiben.
Inhalt
Einleitung
Ein starkes Team: Alltag in der Kleinstfamilie
Leerstellen. Vater und Mutter in einer Person
Wohin an Weihnachten? Familie ist dort, wo Menschen für Kinder da sind
Scheidungsgift. Leben zwischen den Welten
Hineinwachsen ins Eigene. Das komplizierte Ordnen der Dinge
Kein Ausweg, oder: Streiten hat immer mit Reden zu tun
Das Leben ist das Buch, das du selbst schreibst: Halten, ohne festzuhalten
Never Change a Winning Team. Alleine weitergehen, verbunden bleiben
Zur Unruhe geboren: Familie als Netzwerk
Schluss
Danksagung
Anmerkungen
Quellenangaben
Einleitung
Es ist Ostersamstag 2014. Ich radele zum Markt und grübele darüber nach, wo ich morgen die Ostereier verstecken werde.
In dem Moment wird mir klar, dass es in den sieben Jahren, die meine Tochter zur Schule geht, noch nie längere Ferien zu Hause gab. Ich habe schon Ostereier vor Schloss Neuschwanstein im Schnee versteckt und beim Osterbrunch in Brooklyn. Im Garten meiner Mutter in Münster und in der Mittelmeermacchia der Felsen bei Marseille. Aber hier, in unsrer süddeutschen Kleinstadt, ist das ein erstes Mal.
Als freiberufliche Reise- und Kulturreporterin und alleinerziehende Mutter hatte ich keine Wahl: Die größeren Arbeitsreisen fanden in den Schulferien statt, was nie erholsam war und manchmal auch an die Grenzen ging. Was aber immer ein Abenteuer war.
Spannendes Kleinstfamilienleben also. Aber war das wirklich alles? Hatte es nicht auch eine »Angst vor Leere« gegeben? Fragte ich mich an diesem Ostersamstag auf dem Fahrrad. Schützte Unterwegssein mich nicht auch davor, mich als »zu wenig« fühlen zu müssen? Denn wir sind zwar Familie – aber sind wir eine »richtige« Familie?
Rund zwei Drittel der ca. 1,6 Millionen Alleinerziehenden in Deutschland haben nur ein Kind. Zwei Millionen Menschen also, die in einer »Ein-Erwachsener-ein-Kind«-Familie leben – der kleinsten Version der Alleinerziehenden-Familie. Hinzu kommen die Ein-Eltern-Familien mit mehr Kindern. In ihrer neuesten Studie beschreibt die Bertelsmann-Stiftung, dass es für 2,3 Millionen Kinder Normalität ist, mit nur einem Elternteil aufzuwachsen; das sind rund 450000 Kinder mehr als noch Mitte der 90er Jahre.1
Ein klarer Trend – und doch: Obwohl sie eine die Gesellschaft immer stärker prägende Gruppe darstellen, werden Alleinerziehende oft als irgendwie »defizitäre« Familie gesehen; als Familie, der »etwas fehlt«. Als bedauerliche Ausnahme, die bestenfalls den Mitleids-Bonus verdient.
Eine Sichtweise, die im Blick auf die Zahlen längst nicht mehr zeitgemäß erscheint – jede fünfte Familie ist alleinerziehend2 – und die auch völlig an der Lebensrealität vorbeigeht. In meiner eigenen zwölfjährigen Erfahrung – und im Blick auf andere – erlebe ich die Minimal-Familie als kreative, hoch vitale und entgegen allen Zuschreibungen als sehr glücksfähige Gemeinschaft. Nicht immer aber ist es leicht, diesem Erfahrungswert mehr zu trauen als gesellschaftlichen Sichtweisen, die sich nur sehr zögerlich verändern und erweitern.3
Über die Jahre hatte ich, meist im Zusammenhang mit meiner Arbeit, etliche andere Kleinstfamilien-Paare in der ganzen Welt kennengelernt und war fasziniert gewesen. »Nicht ganz normal« zu sein, zwingt dazu, einen eigenen Weg zwischen Individualismus und Anpassung zu »erfinden«. Die Spannung, sich aus eigener Kraft tragen und zugleich dauernd offenhalten zu müssen für Angebote der Gemeinschaft, ist so anstrengend wie fruchtbar; eine Provokation, die enorm viel kreative Energie fordert – und freisetzt.
Anders gesagt: Alleinerziehend zu sein, ist eine Lage, von deren erstaunlichem Wachstumspotenzial man noch nichts ahnt, wenn man sich erst einmal, geschwächt von den Strapazen einer Trennung, in ihr vorfindet: Ich erinnere mich noch gut. Obwohl Trennung der einzige Weg war, der aus einer unglücklichen Situation herausführte, fühlte es sich zunächst ganz und gar nicht konstruktiv an.
Zugespitzt ist all das noch, wenn man den Partner oder die Partnerin an den Tod verliert. An einem wundervollen Aprilmorgen 2015 saß ich mit Cornelia Funke im Garten ihres verwunschenen Hauses in Los Angeles. Ich durfte sie zum gerade erschienenen dritten Band ihrer »Reckless«-Bücher interviewen, in denen es um die Sehnsucht des Jungen Jacob nach seinem verschwundenen Vater geht und seine Entschlossenheit, ihm in die vollständig andere Welt »hinter dem Spiegel« zu folgen.
Zehn Jahre lebte Cornelia Funke nun schon in L.A. Ein Jahr, nachdem die Familie nach Los Angeles ausgewandert war, wurde ihr Mann krank und starb: Ihr Sohn war damals elf und ihre Tochter sechzehn, sie selbst siebenundvierzig. Zwei Jahre später fing »Reckless« in ihr an zu entstehen: »Ich war mit meinem Mann zusammen gewesen, seit ich zwanzig war. Jetzt erinnerte ich mich wieder an die, die ich vorher gewesen war. Ich war jung genug, noch ein neues Leben zu beginnen; so stark und selbstständig zu werden, wie ich nie gewesen war.« Die Kinder, sagt Cornelia Funke nachdenklich inmitten des märchenhaft blühenden Gartens, hätten ihr sehr geholfen: »Man hat sie, und sie sind der Sinn des Lebens.« Aber auch ihre Umgebung sei enorm hilfsbereit gewesen, gerade in den Schulen der Kinder, erinnert sie sich an die schwere Zeit vor und nach dem Tod. Inzwischen ist sie gern allein – nein, nicht allein. »Ich fühle mich in einer Art magischem Ring aus vielen Freundschaften geborgen. Jede Freundschaft bringt einen Teil von einem selbst zum Schwingen. Diese Qualität habe ich erst kennengelernt, als ich allein war. Ich glaube, wir Frauen unterschätzen oft, wie viel Aufmerksamkeit Männer verlangen – und wir überschätzen, was uns der Partner geben kann, oder soll.«
Die Gruppe der Alleinerziehenden wird von Jahr zu Jahr größer. Die Hälfte von ihnen lebt acht oder mehr Jahre ohne neuen Partner an ihrer Seite. Hier wird eine neue Form von Familie gelebt – eine, die vielleicht stärker als jeder andere Trend auf eine sich in ihren Tiefenstrukturen verändernde Gesellschaft hinweist.
Lässt sich angesichts dessen das traditionelle Familienmodell denn überhaupt noch als das »normale« oder gar »ideale« halten? Diese Frage beschäftigt mich seit Jahren. Und zunehmend hat mich die nicht nur von Familieneltern, sondern auch von Expert/inn/en – Mediatoren, Beratungsstellen – postulierte »klassische« Position geärgert, Kinder bräuchten beide Eltern, um gesund groß zu werden. Nichts anderes, keine andere Lebens- und Familienform, käme der »vollständigen« Familie gleich. Vielleicht ist ja die aus Vater, Mutter, Kind(ern) bestehende Familie sogar wirklich die »beste aller denkbaren Welten«? Aber machen wir uns, wenn wir das denken, doch auch klar, welches Bild wir dabei vor uns haben.
Wir denken dann an die gute Familie – eine, in der Eltern sich nicht dauernd erbittert streiten oder einander so leid sind, dass sie gar nicht mehr miteinander reden. Eine, in der nicht eine(r) oder beide heimlich fremdgehen. In der über Konflikte hinaus Mann und Frau zu einer Zufriedenheit für sich selbst und mit dem Partner finden. In der Krisen angegangen und nicht geleugnet werden. In der Offenheit erwünscht und Entwicklung willkommen ist. In der alle Beteiligten Stärkung und Schutz erfahren – ohne dass man sich dabei nur auf die »Familienburg« zurückzieht und die übrige Welt außen vor lässt. In der aus Geborgenheit heraus Neugier und Weltoffenheit möglich werden.
So eine Familie ist toll. Nur – so viele davon kenne ich nicht. Ich kenne mehr, von denen ich denke, vielleicht würde die Familienstimmung wieder besser, wenn sich die Eltern endlich trennten. Und Fakt ist ja: Viele tun es auch. Wir leben schon längst nicht mehr in einer Welt, in der Paare traditionell wegen des einmal gegebenen Ja-Worts – oder wegen der Kinder – zusammenbleiben, wenn sie sich denn auf eine Weise entfremdet haben, dass sie sich keine gemeinsame Zukunft mehr geben. In den meisten Ländern, nicht nur der westlichen Welt, sprangen ab den 1990er Jahren die Zahlen von Alleinerziehenden-Familien in die Höhe.
Wieso also gibt es nicht mehr positive Offenheit für die Bandbreite der neuen Familienformen? Wieso wird am Bild der »vollständigen Familie« als Ideal auch dann noch festgehalten, wenn es von der Realität so vielfach überholt ist?
Es ist ein Festhalten auf Kosten der rund vier Millionen Erwachsenen und Kinder, die in Alleinerziehenden-Familien leben und nicht in den Genuss von jenem »Schutz der Familie« kommen, der in der Verfassung verankert ist. Wer nicht davon betroffen ist, weiß oft nicht, dass Alleinerziehende und Alleinverdienende härter versteuert werden als Doppelverdiener und als Verheiratete generell. Als die Steuerberaterin Reina Becker nach dem Tod ihres Mannes plötzlich deutlich mehr Steuern zahlen musste als vorher, ließ ihr diese Ungeheuerlichkeit keine Ruhe. Auch Heiko Haupt aus Leipzig ging es gleich. Seit 2009 klagen beide durch alle Instanzen gegen die finanzielle Benachteiligung der Alleinerziehenden-Familien.4 Dass eine würdige Altersversorgung eine Seltenheit ist und die Armut unter Alleinerziehenden viermal höher als unter gemeinsam Erziehenden, ist schlicht ein Skandal.5
Für die meisten Alleinerziehenden sind die wirtschaftliche Last, die sie stemmen, und die Benachteiligung, die sie in Kauf nehmen müssen, die bei weitem größten Probleme – die die Freude an der kleinsten Familie auch zunichtemachen können. Alleinerziehen ist eine belastete und anstrengende Lebensform. Nur ein Drittel der Alleinerziehenden lebt in wirtschaftlich entspannten Verhältnissen.
Ich selbst gehöre nicht dazu. Trotz langjähriger freiberuflicher Arbeit für einige der besten deutschsprachigen Zeitungen und Radios sind die Ängste und Angstrituale des Lebens im »Prekariat« mein ständiger Begleiter. Die Honorare im Kulturjournalismus – einer Branche, die laufend an Boden verliert und an der ich noch immer mit Leidenschaft hänge – sind nicht gemacht, um davon zu leben; schon gar nicht zu zweit. Ich erhalte Steuerrechnungen, die ich stunden lassen muss, weil ich sie nicht bezahlen kann. Und so bin ich mit meiner spannenden Arbeit privilegiert und benachteiligt zugleich; ein Bewusstsein, das mich immer vor Bitterkeit bewahrt hat. Vor chronischer Überarbeitung natürlich nicht.
Wovon ich erzähle, ist das gute Leben »trotz«.
Aus der spannenden Welt dieser Familien möchte ich erzählen – ohne zu verschweigen, dass der Preis, der persönlich gezahlt wird, mitunter zu hoch ist: Armut, die für die Erwachsenen in Altersarmut übergehen kann. Armut, an die ein Kind sich in einer Weise gewöhnen kann, dass es glaubt, ihm stehe nichts Besseres zu. Wir leben in einer reichen Gesellschaft, deren wachsender Wohlstand nicht einhergeht mit wachsender Verantwortlichkeit und Gemeinschaftssinn, sondern mit steigender Lust an Privatisierung auf allen Ebenen. Ein paar Länder um uns herum sind uns da entschieden voraus. »Ich bewundere alle, die in Deutschland überleben«, schrieb mir Caroline, der es irgendwann gelang, nach Schweden und später Finnland auszuwandern, wo die höhere Geburtenrate untrennbar verbunden ist mit anderer Familienpolitik. »Die deutsche Gesellschaft hat nicht begriffen, dass sie die schützen und fördern muss, die überhaupt noch Kinder bekommen«, bringt es Christina Bylow auf den Punkt.6
Alleinerziehen ist keine Lebensform, für die man werben würde. Nur in den seltensten Fällen ist es ja überhaupt eine gewählte Form; eine, in die jemand bewusst und freiwillig ginge. Keine, die man idealisieren sollte. Zwölf-Stunden-Arbeitstage über etliche Jahre, sich einen richtigen Urlaub nicht leisten können, eine toughe Mama und Lebenskünstlerin sein – ein Ideal ist das nicht.
Wenn ich trotzdem mit einer gewissen Begeisterung von Freiheiten und Freiräumen erzähle, von kreativen Lösungen und von glücklichen »kleinsten Familien der Welt«, dann, weil mich das Familienleben derer bewegt, die laut gesellschaftlichem Konsens gar keine »Familie« sind. Weil ich das Thema »Defizit« gerne dahin stellen würde, wohin es gehört: Defizitär sind nicht die Familien, sondern sind Verantwortung und Loyalität unserer Gesellschaft und Familienpolitik. Bewegend ist es, dass aus dieser Situation, die wir gesellschaftlich haben, nicht zu knapp Kinder und Eltern-Kind-Beziehungen hervorgehen, die das Gegenteil von »defizitär« sind: vielfältig, interessant, sehr kompetent.
Alleinerziehenden-Familien sind viel mehr als nur eine Übergangslösung auf dem Weg zum neuen Partner und zur wieder »vollständigen« Familie. Deshalb glaube ich, hier gibt es nicht nur etwas Neues anzuerkennen – sondern überhaupt zu erkennen. Mein Suchscheinwerfer richtet sich auf diese unbekannte Welt.
Die Familien, von denen ich erzähle, einschließlich meiner eigenen, wurden früh zu Alleinerziehenden-Familien – manche schon während der Schwangerschaft; andere in den ersten Lebensjahren des Kindes. Kleinstfamilien also, in denen zwei Menschen sehr unterschiedlichen Alters über einen langen Zeitraum gezwungen sind, ihre existenziellen und emotionalen Bedürfnisse aneinander auszurichten. Die Kinder kennen Familienleben nicht anders als mit jenem – meist jener –, die dann zunächst ihr »Ein und Alles« war. In dieser Hinsicht haben sie es »leichter« als jene, bei denen die Trennung später im Leben der Kinder passierte – und die das vermissen, was sie kennen. In anderer Hinsicht haben (oder hatten) es die von mir portraitierten Familien auch schwerer als andere: Es wohnt kein unterstützender Vater um die Ecke, und meist sind auch keine Großeltern da, die dreimal die Woche zum Mittagessen laden.
Dennoch sind die jeweiligen Beziehungen zum abwesenden Elternteil natürlich so unterschiedlich wie die Trennungsgeschichten selbst. Sie reichen von regelmäßigen Besuchen des Vaters bis hin zu dessen völligem Verschwundensein aus dem Leben des Kindes.
Ich habe meinen Fokus vor allem auf jene Familien gehalten, die gezwungen waren, sich auf dem schmalen Grat des »Eins plus Eins« einzurichten; auf dieser Achse, auf der Erwachsener und Kind einander erst einmal recht mutterseelenallein gegenüberstehen. Zum einen ist das »Eins plus Eins« das, was ich am besten kenne und beurteilen kann. Zum anderen ist es natürlich so, dass es mit einem Kind deutlich leichter ist, das Familienleben zu einem Raum für Freiheit, Kreativität und Flexibilität werden zu lassen, als mit mehreren. Das möchte ich ausdrücklich sagen, um den Alleinerziehenden mit zwei, drei und mehr Kindern nicht Unrecht zu tun. Nicht nur, dass mit jedem weiteren Kind die Anforderungen an die Erziehungsperson wachsen. In der Balance verschiebt sich Entscheidendes – die Leichtigkeit, die eine Zweiergruppe haben kann, ist nicht mehr da. An Caroline, die von Anfang an wusste, dass sie allein mit Kind sein würde – aber nicht wusste, dass sie statt eines zwei Kinder zu Welt bringen würde –, habe ich dies verstärkte Gewicht gesehen. »Mit zwei Kindern ist man noch weiter weggetragen von sich selbst«, sagte sie mir. Wobei sie selbst ein erstaunliches Beispiel für die Beweglichkeit ist, die sogar eine »Eins-plus-Zwei«-Familie aufbringen kann; durch ganz Deutschland bis nach Finnland ist sie Schulen hinterhergezogen, die sie für ihre Kinder als die besten ansah. Sie managte das komplexe System der Dreiergruppe.
Glückliche Zufälle während der Recherche ermöglichten mir, die Bandbreite der vorgestellten Familien am Schluss noch um drei weitere Beispiele zu erweitern: drei, die für die unendliche Zahl an kreativ alleinerziehenden Familien stehen: Christine Finke, von deren erfolgreichem Blog »mama-arbeitet.de« ich erfuhr, als ich ihren Artikel »Alleinerziehend: Seit Papa weg ist, sind wir arm«7 in einer »Brigitte Mom« sah, – noch bevor mir klar wurde, dass unsere Kinder denselben Kindergarten besucht hatten. Ihre Geschichte steht für die noch mal ganz andere Herausforderung, die eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern zu bestehen hat. Während eines Literaturfestivals in der Schweiz durfte ich die Schriftstellerin Hanna Johansen moderieren, die in ihrem Buch »Der Herbst, in dem ich Klavier spielen lernte« von ihrer Mutter erzählt, die sich von dem aus dem Krieg heimkehrenden Vater trennte und ihre einzige Tochter in den 1940er Jahren allein erzog. Hanna Johansens Geschichte ermöglichte es mir, einen Blick auf diese Zeit werfen zu können – aus der Sicht einer alleinerzogenen Tochter, die inzwischen selbst ein Enkelkind hat. Schließlich Cornelia Funke, die mit zwei halbwüchsigen Kindern alleinerziehend wurde, als ihr Mann starb. Sie konnte mir davon erzählen, wie es war, so kurz nach dem großen Familienexperiment der Auswanderung nach Amerika als alleinige Verantwortliche dazustehen.
Bernadette (re.) und Noemi
Es gibt unendlich viel – aber wenig Verallgemeinerbares aus der Welt der Kleinstfamilien zu erzählen. Ob dies der Grund ist, warum es so schwierig war, geistigen Geleitschutz für meine Geschichten in der Fachliteratur zu finden? Es ist ein wenig beackertes Terrain, diese vielfältige Welt der kleinsten Familien. Als ich sogar bei dem von mir geschätzten, in viele unkonventionelle Richtungen denkenden Familientherapeuten Jesper Juul – dem ich wertvolle Einsichten zur Pubertät verdanke – den definierenden Satz las: »Mit einem (Elternteil) kann man gut überleben, mit zwei kann man wunderbar leben«,8 wurde mir klar, dass auch in Fachkreisen nicht genug über die sich im großen Stil verändernde Lebensform Familie nachgedacht wird. Denn – soll sich ein Fünftel aller Familien von vornherein damit abfinden, seinen Kindern allenfalls »gutes Überleben«, aber kein »wunderbares Leben« anbieten zu können? Nur »zweitbeste« Wahl zu sein?
Um auch hier ein mögliches Missverständnis gar nicht erst aufkommen zu lassen: Nein, ich will die Bedeutung eines für seine Kinder verfügbaren Elternpaars auf keinen Fall schmälern. Warum sollte ich? Und zweitens auch ganz sicher nicht behaupten, dass der oder die Alleinerziehende »Mama und Papa zugleich« sein und eine zweite Bezugsperson vollumfänglich ersetzen kann. Nein. Was ich aber sehr wohl sagen will: Es entsteht in der Familie mit einem Elternteil eine andere Dynamik – eine, die mit »mehr« oder »weniger« nicht zu messen, sondern nur durch eine Beschreibung des »anders« zu erfassen ist. Der Umgang mit Freiheit und Schutz, Selbstverantwortlichkeit und Selbstbewusstsein ist anders. Der Rhythmus, sich immer aufeinander beziehen zu müssen und nur aufeinander beziehen zu können, schafft besondere Bedingungen – fördert besondere Kräfte, aus denen, mit Glück, Großartiges entstehen kann: etwas, das in keiner Weise hinter der traditionellen Zweieltern-Geschwister-Familie zurückbleibt.
Wie aber machen es, ganz konkret, die »Mini-Familien«, dass aus ihrer Achse ein komplexes System wird? Dass die Straße zwischen Ich und Du sich erweitert zu einem sozialen Netz? Wie entstehen »Wahlfamilien« – und gibt es sie wirklich? Wie gelingt es diesen Müttern – sorry, aber es sind eben meist Mütter –, ihre Kinder nicht zu Lebenspartnern zu machen und ihre erwachsenen Bedürfnisse auch in Zeiten zu leben, in denen sie abends die Wohnung nicht verlassen können?
Wie machen sie ihre potenziell enge kleine Welt weit? Wie feiern sie Weihnachten, das Fest der Familie? Und wie durchleben sie Konflikte, in denen sie nie einen Dritten haben, der mal trösten kann?
Nach diesen und vielen anderen Dingen habe ich »meine« Familien gefragt. Meist habe ich versucht, nach einem gemeinsamen Termin, die Mutter – den Vater – und die älteren Kinder auch einzeln zu treffen. Ich fragte nach Glücksmomenten und Krisen, nach Alltagsritualen und Reisen, nach Vertrauen und Vorbildern, nach Beruf und sozialer Situation, nach Gelingendem und auch nach den größten Schwierigkeiten. Ich fragte die Kinder nach ihre Werten, ihren Träumen – und danach, wie sie sich selbst mal Familie wünschen.
Unter den acht Alleinerziehenden-Familien sind zwei, in denen es ein Geschwisterkind gibt. Diese acht Familien – darunter sieben Mütter und ein Vater; nur elf Prozent der Alleinerziehenden sind männlich – stehen für die enorme Bandbreite an Lebensentwürfen, die es unter Alleinerziehenden-Familien gibt. Mit jeder Familie kamen für mich neue Aspekte ins Bild.
Alle Familien haben mit Deutschland zu tun – aber nicht alle leben noch hier. Caroline ist von der Schweiz nach Deutschland gezogen, dann nach Schweden, und von dort aus weiter nach Finnland. Johanna lebt in Kalifornien. Marion zog ihren in Deutschland geborenen Sohn in Australien auf und lebt nun in England. Annetts Sohn wurde kurz vor dem Ende der DDR geboren und hinein in ein Nach-Wende-Berlin, in dem Alleinerziehen gemeinschaftlicher geschah als vorher und nachher.
Alles in allem – nichts Vollständiges, sondern ein Anreißen vieler brennender Fragen. Ich möchte Auskunft geben über die Vielfalt in Alleinerziehenden-Familien und Türen zu neuen Aspekten aufstoßen.
Schönreden will ich nichts. Ich wäre die Falsche, um die extreme Erschöpfung zu leugnen, aus der man manchmal gar nicht mehr herauszufinden meint. Die einsamen Entscheidungen. Die Sorge, der Verantwortung allein nicht gerecht zu werden – und den Frust, so oft zurückstecken zu müssen. Das grässliche Thema des immer knappen Geldes.
Ich wollte dies Buch schreiben, weil ich trotz dieser und vieler anderer Fallstricke die vergangenen zwölf Jahre, die ich allein mit meiner Tochter lebte, als glückliche Zeit erlebt habe. Als Zeit der Abenteuer und ständigen Lernens. Und weil ich neugierig war, wie leicht oder schwer es sein würde, Kleinstfamilien zu finden, die keineswegs verzweifelt auf der Suche nach dem sie vervollständigenden zweiten Erwachsenen sind, sondern sich unabhängig davon Lebensräume schaffen und sogar Lebensträume verwirklichen.
Es war leichter – und um vieles vielfältiger –, als ich erwartet hatte. Und deshalb möchte ich es wagen, nicht mal nur von »Glücksfähigkeit«, sondern noch weitgehender von einer »Begabung zum Glück« zu sprechen, die diese Familienform trotz allem aufweist.
Ich radelte weiter, an diesem Ostersamstag; kaufte Blumen und Gemüse auf dem Markt; abwechselnd fielen Regentropfen und Blütenblätter von den Apfelbäumen. Zu Hause wartete meine Tochter auf das späte Frühstück – und in mir begann es zu schreiben.
Ein starkes Team: Alltag in der Kleinstfamilie
Der Novemberhimmel liegt schwer über dem Bodensee; eine undurchdringliche Decke, die jemand zu tief über die Erde gehängt hat. Irgendwo darüber muss der richtige Himmel sein – der, den ich heute nur auf Fotos in meiner Küche sehe. Knallblau auf dem kleinformatigen Poster, das Noëmi vor den Hollywood Hills zeigt. Endlos über dem Wüstenort Tucumcari in New Mexico. Aber wer hat an einem normalen Novembertag schon Zeit, an blauen Himmel zu denken?
Unter den Fotos, am runden Esstisch, sitzt Noëmi, 13, und angelt einen Paprikaschnitz nach dem anderen vom Teller, den ich für sie und die ältere Schülerin hingestellt habe. Zeit zum Essen werden die Mädchen kaum haben; heute ist die Mittagspause für Mathe-Nachhilfe reserviert. »Ich bin gleich zurück«, rufe ich, »stell bitte noch Brot und Käse hin.« Und bin schon draußen. Wieder mal ist alles anders als geplant. Bei Noëmi war Unterricht kurzerhand in die Mittagspause verlegt worden, jetzt muss ich in die Schule fahren und das regeln, während Noëmi hier mit ausgebreiteten Heften auf die uns noch unbekannte Schülerin wartet. Ich flitze auf dem Fahrrad durch die Straßen und hadere mit diesem Morgen: Nach Arzttermin, Markteinkäufen und langen Telefonaten mit Redakteuren hatte ich gerade mit einem Artikel angefangen, da stand das Kind vor der Tür: »Mama, was sollen wir machen? Wir können doch die Nachhilfe jetzt nicht mehr absagen!«
Vielleicht, dass ich nachher, wenn Noëmi bei der Theaterprobe wäre, noch zum Schreiben käme? Vor allem müsste ich mich um eine Anfrage kümmern, ob ich übernächste Woche auf Reportagereise gehen könnte. Morgen würde für nichts Zeit bleiben: Nach zwei Gesprächsterminen am Vormittag würde ich für Noëmis Theaterpremiere Kuchen backen müssen, auch für unseren Freund, der dann bei uns übernachtet, wenn ich in Basel zu einer Lesung sein werde. Noëmi würde am Wochenende drei Aufführungen haben – danach die Freunde zum Essen mitbringen. Am Montag stand die Mathearbeit an. Und ich sollte unbedingt noch Termine beim Radio festmachen. Und an diesem Buch weiterschreiben. Oh Gott, ob ich die Lehrerin noch erwische, bevor es klingelt? Keine Zeit mehr, das Rad abzuschließen.
Mütter – egal in welchen Berufen und mit wie vielen Kindern, werden sich in diesem Szenario wiedererkennen. Und jene Väter natürlich, deren Berufsalltag von Kinderbelangen unterbrochen werden darf. Alltagswahnsinn. Höchste Konzentration auf fünf bis zehn Themen gleichzeitig. Dabei ist ja alles bestens! Niemand ist krank. Niemand verzweifelt. Die Kommunikation mit dem Kind hat funktioniert.
Die große Schriftstellerin Alice Munro hat gesagt: Genau so sei sie dazu gekommen, Short Stories zu schreiben. Kinder großzuziehen bedeute ein paar Jahrzehnte kurztaktigen Lebens; ständig unterbrochen, ständig unvorhersehbar: Was für andere Texte könne sie da schreiben als kurztaktige? Doris Lessing hatte es mir in einem Gespräch 2004 ähnlich beschrieben: »Frauen kümmern sich darum, dass der Kühlschrank gefüllt ist, sie versorgen die Katze und gehen zur Tür, wenn die Post kommt. Frauen haben keine regelmäßigen Leben. Ich habe nie eine Schriftstellerin kennengelernt, die regelmäßige Arbeitszeiten hätte …«
Diese beiden bedeutenden Frauen haben mich immer gestärkt. Dass sie dann beide den Literaturnobelpreis erhielten, war großartig. Was für eine Ermutigung – nicht nur für Schriftstellerinnen mit Kindern, sondern viel umfassender für Menschen, die mehr wollen und brauchen und können als nur in einer einzigen, genau definierten Rolle aufzugehen.
Schreibberufe sind spezielle Berufe. In jeder meiner Funktionen – Reisereporterin, Kritikerin, Buchautorin – ist das Verhältnis von künstlerischer Freiheit und Anpassung an die Bedingungen einer Zeitung, einer Sendung anders. Aber jeder Artikel – von Büchern ganz zu schweigen – ist ein kleiner oder größerer Aufbruch in unbekanntes Land mit den Mitteln meiner Sprache. Dass ich für diese Artikel und Bücher oft »in echt« aufbrechen darf, meine Koffer packen und in den Zug steigen, betrachte ich als eines der Geschenke in meinem Leben. Nicht immer leicht vereinbar mit dem größten Geschenk, meinem Kind. Aber dank Noëmis Neugier und Weltoffenheit, dank ihrer und meiner Gesundheit, dank guter Freundinnen und Freunde, eben doch vereinbar.
Alleinerziehen mit einem Kind ist auch speziell. In vielem den anderen Familienformen verwandt, unterscheidet es sich von ihnen durch die Zweisamkeit. Ein großer und ein kleiner Mensch, die völlig aufeinander verwiesen sind. Alles Alltags- und Krisenmanagement lag lange nur bei mir – und findet, je älter Noëmi wird, nun mehr und mehr zwischen uns beiden statt. Es gibt keine anderen Schultern, die mittragen; sei dies nun schlimm oder gut. (Wieso gut? Weil es auch keine Schultern gibt, auf die man sich – möglicherweise vergeblich – verlässt.) Man schultert einfach. Und ist auch ein bisschen stolz auf sich und das Kind: Was für ein gutes Team wir sind.
Ein bisschen atemlos komme ich nach Hause. »Du sollst nachher bei deiner Lehrerin vorbeigehen. Andere Schüler hatten die Mittagspause auch schon verplant, sie erklärt den verpassten Stoff dann euch allen zusammen.« Ich begrüße die nette Schülerin, das Wurzelziehen und Quadrieren ist bereits in vollem Gange, und starre, während ich einen Kaffee koche, noch einmal auf den blauen Foto-Himmel über dem amerikanischen Mittleren Westen.
Ein gutes Team sein, heißt nicht, dass die Dinge immer rundlaufen, sinne ich vor mich hin. Ein Team muss mehr sein als nur »zusammen funktionieren«. Es muss auch jede für sich persönlich etwas gewinnen – auch wenn sich das nicht immer gleich zeigt.
Der Bus saust durch die Nacht, leise, schnell wie der Wind. Noëmi weint. Vorhin im Halbschlaf hat sie vor sich hin geschimpft. »Immer dies Reisen! Warum schleppst du mich überallhin mit?«
Sommer 2014. Noëmi ist nicht mehr klein genug, um sich auf dem engen unbequemen Sitzplatz mit der kaum verstellbaren Rückenlehne zusammenzufalten. Sie ist gerade dreizehn geworden und bräuchte ein Bett. Am Nachmittag waren wir durchs glühend heiße St. Louis gestreift und hatten uns auf einer großen Wiese am Ufer des Mississippi hingelegt, viel zu erhitzt und aufgeregt, um zu schlafen. So cool die Aussicht auf eine Nacht im Greyhound am Tag gewesen war – jetzt sind da nur noch heulendes Elend und Wut. Muss ihre Mutter wirklich auch noch nachts für die Arbeit unterwegs sein? Nein, Noëmi ist nicht bereit, sich trösten zu lassen. Draußen fliegen Schilder vorbei, »Buffalo Wild Wings«, Route 66. Schwarze Nacht. Drinnen teilen sich mindestens fünfzig Reisende die Atemluft. Ich versuche, trotzdem klare Gedanken zu fassen, Sätze für meinen Artikel im Kopf zu formulieren, mit denen ich das nächtliche Reisen im Greyhound beschreiben kann. Erinnere mich an die fröhlich bunte Schlange der Reisenden, die sich vorhin vor dem Bus aufbaute; Kinder mit unzähligen schwarzen Rastazöpfchen auf dem Kopf, die sich schon im Warteraum in ihre Kissen warfen. Verhutzelte Leute mit halb geschlossenen Augen, die schon Stunden vor Abreise im Schlafmodus schienen. Jetzt schlummern sie alle, verkrochen in Kapuzenpullis die einen, die Gesichter unter Basecaps verborgen die anderen. Still ist’s, nur meine Tochter schimpft. Irgendwo zwischen Halbschlaf und Traum festhängend, hadert sie mit ihrem Schicksal. Oh, wie gut ist es, dass hier im Mittleren Westen Amerikas so wenig Deutsch verstanden wird. Und wie schwer, das auszuhalten: ihr Unglück, ihr Stören, und die Aussicht, dass das vielleicht noch Stunden so weitergeht. Ein echter Probelauf für mich, und das, was ich ihr immer gesagt habe: Weine nur, wenn dir nach Weinen ist! So lang, bis alle Tränen raus sind und was anderes Platz hat.
Auch das ist Alltag. Alltag unterwegs. Eines der vielen Gesichter unseres wechselvollen Alltags, der wenig Routinen hat – aber mich, und auch Noëmi, inzwischen gut geübt sein lässt darin, vom einen Alltag möglichst bruchlos in den anderen hinüberzugehen. Von einer aufregenden Reise zurück nach Hause zu kommen. Oder umgekehrt, von den ruhigen, fast unbewegten Tagen, an denen ich von morgens bis nachts am Computer sitze, in den schnellen Rhythmus einer oft sehr kurzfristig geplanten Reise zu wechseln.
Irgendwann müssen wir doch beide eingeschlafen sein. Und dann aufgewacht, als sich draußen leuchtend blauer Himmel über das weite Farmland Oklahomas breitet. Die erste Busetappe ist geschafft. Für einen Tag und eine Nacht würden wir unsere Reise in Elk City unterbrechen, einem kleinen Ort im Mittleren Westen. Die Reiseführerin am Ort ist von überwältigender Herzlichkeit. Sie begleitet uns durch den alten Teil der Stadt, in dem noch die neonglänzende Vergangenheit von Elk City nachvollziehbar ist, als vor vierzig Jahren die vielen auf der Route 66 Reisenden hier ihren Trip unterbrachen. Sie fährt mit uns herum, sodass wir eine Ahnung von den Ausmaßen der Ranches in den endlosen Weiten Oklahomas bekommen. Bald wird hier wieder die Rodeosaison beginnen. Abends streifen wir – endlich zu Fuß – durch den größten der sieben Parks am Ort, wo ein altmodisches Karussell mit hoch und runter schwebenden Pferdchen sich zu blecherner Musik dreht und eine Miniatureisenbahn durch richtige Tunnel fährt, als wäre man in Lummerland. Der reizende Parkwärter besteht darauf, dass wir auch die Minigolfbahn noch probieren müssen. Es ist zehn Uhr abends und immer noch hell, mittlerweile ist seine Teenager-Tochter dazugestoßen und kämpft mit Noëmi um den Sieg. Als es dunkel wird, zaubert das beleuchtete Karussell einen Lichtertanz auf den nächtlichen Himmel, kaum zu trennen von den Lichtern der Öltürme dahinter. »Mama, das ist so schön hier … ich möchte unbedingt wiederkommen, ja?«
Das war im letzten Sommer. Die Fotos hängen in meiner Küche. Das neonfunkelnde Diner an der Route 66, die endlosen Himmel von Missouri und Oklahoma, sie erinnern an beides: die Härten und die Schönheiten des Reisens.
Seltsamerweise begann nicht nur der anstrengendste, sondern auch der anspruchsvollste und erfolgreichste Abschnitt meines Berufslebens erst dann, als ich alleinerziehend war. Aber vielleicht ist das nicht seltsam, sondern nur in jener Weise paradox, wie das Leben eben oft paradox ist. Wer aus irgendeinem Grund viel Energie in etwas hineingibt, bekommt möglicherweise noch mehr Energie obendrauf geschenkt.
Kinder – so berichteten es mir auch andere – verbinden einen mit bestimmten inneren Schaltstellen, auf die man vorher keinen Zugriff hatte. Mit einer bestimmten Kraft. Nie zuvor war ich so entschlossen gewesen, um das »Wichtige« zu kämpfen. Möglicherweise war mir auch nie zuvor so klar gewesen, was das Wichtige war. Wichtig und unwichtig hatten sich neu sortiert.
Alice Munro sagt in ihrer Geschichte »Japan erreichen« über einen jungen Mann, der sich auf einer Zugfahrt viele Stunden lang voller Hingabe mit zwei ihm fremden Kindern beschäftigt: »Er ist einfach ganz da … er spart sich nicht auf.«9 Für mich, die ich nicht mehr sehr jung war, als ich Mutter wurde, löste erst Noëmi das aus: mich definitiv nicht aufzusparen, sondern auszugeben, in vollen Zügen.
Was ich viel weniger romantisch meine, als es sich anhört: Für eine Frau ist, Gleichberechtigung hin oder her, ihr Glück im Beruf meist bedroht, wenn ein Kind kommt. Wem ist schon mit absoluter Sicherheit garantiert, die gleiche gute Stelle danach wiederzubekommen? Garantiert ist meist gar nichts: weder, dass man an der Arbeitsstelle danach genauso willkommen, noch dass man genauso fit ist mit Kind wie vorher. Ganz zu schweigen von der Unsicherheit, ob das Kind gesund sein wird und wer einem wie hilfreich zur Seite stehen wird. Garantiert ist einzig, dass man auf lange Zeit hinaus nicht mehr in der altbekannten Weise verfügbar ist.
Ein Kind – und dies gilt natürlich für alle Eltern und Familienformen – ändert alles. Es spitzt die Verhältnisse zu. Es klärt Prioritäten. Es ist eine echte Nagelprobe. Und so kann es auch sein, dass sich – wie bei mir – die Dringlichkeit, mit der man seine Arbeit mag und braucht und mit ihr vielleicht sogar identifiziert ist, in verschärft deutlichem Licht zeigt: »Wenn du mich willst, dann musst du dich jetzt auf die Hinterbeine stellen« – rief mir meine Arbeit zu, als das Kind kam; und dann noch einmal lauter, als sich knapp zwei Jahre später unsere Familie allmählich auflöste.
Erika ging das – in ihrer gänzlich anderen Lebenssituation – ähnlich wie mir.
Erika (re.) und Lucinda
Der Laden liegt mitten in der mittelalterlichen Häuserzeile der kleinen Stadt in Süddeutschland. Die Decke ist niedrig, der Blick geht hinaus auf eine enge Gasse. Von einem der Drehstühle aus sehe ich, wie draußen Erikas Tochter Lucinda angeradelt kommt und ihr Rad abschließt. Sie lächelt durchs Schaufenster herein, durch Dekoketten aus glänzenden Papierbuchstaben hindurch: »20 Jahre Medusa«. Dann betritt sie den Laden. Lucinda ist fünfzehn, groß und schmal, mit langem rotblonden Haar. Den Geruch nach Haarspray kennt sie, seit sie ganz klein ist. »Ich mag das«, sagt sie und lächelt, noch ein bisschen verlegen. »Immer, wenn ich hier reingekommen bin, hat es so gerochen.«
Erikas Friseursalon »Medusa Hairstyling« hat ein bisschen etwas von einer Zauberwelt – als hätten Feen und Hexen hier ein Wörtchen mitgeredet und selbst die Kelle in die Hand genommen, um unterhalb der drei großen Spiegel eine Art Grottenlandschaft zu mauern. An dem Platz, an dem eine Friseurin ihre Kasse und das große Terminbuch liegen hat, ragt ein unregelmäßig geformter felsblockähnlicher Arbeitstisch auf. Halloween-Kürbisse grinsen von den Fensterbänken, und Sonnenblumenketten hängen in den Fenstern des mittelalterlichen Hauses, das auf eine Gasse im ältesten Teil der Stadt hinausgeht.
ENDE DER LESEPROBE