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Der SPIEGEL Bestseller Platz 1 Fakten gegen Fakes! Die bekannte Wissenschaftsjournalistin Dr. Mai Thi Nguyen-Kim untersucht mit analytischem Scharfsinn und unbestechlicher Logik brennende Streitfragen unserer Gesellschaft. Mit Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen kontert sie Halbwahrheiten, Fakes und Verschwörungsmythen – und zeigt, wo wir uns mangels Beweisen noch zurecht munter streiten dürfen. Themen: Die Legalisierung von Drogen, Videospiele, Gewalt, Gender Pay Gap, systemrelevante Berufe, Care-Arbeit, Lohngerechtigkeit, Big Pharma vs. Alternative Medizin, Homöopathie, klinische Studien, Impfpflicht, die Erblichkeit von Intelligenz, Gene vs. Umwelt, männliche und weibliche Gehirne, Tierversuche und von Corona bis Klimawandel: Wie politisch darf Wissenschaft sein? Fakten, wissenschaftlich fundiert und eindeutig belegt, sind Gold wert. Gerade dann, wenn in Gesellschaft und Politik über Reizthemen hitzig gestritten wird, braucht es einen Faktencheck, um die Dinge klarzustellen und Irrtümer und Fakes aus der Welt schaffen. Leider aber werden Fakten oft verkürzt, missverständlich präsentiert oder gerne auch mit subjektiver Meinung wild gemischt. Ein sachlicher Diskurs? Nicht mehr möglich. Dr. Mai Thi Nguyen-Kim räumt bei den derzeit beliebtesten Streitthemen mit diesem Missstand auf. Bestechend klarsichtig, wunderbar unaufgeregt und herrlich kurzweilig ermittelt sie anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse das, was faktisch niemand in Abrede stellen kann, wenn es beispielsweise um Erblichkeit von Intelligenz, Gender Pay Gap, Klimawandel oder Legalisierung von Drogen geht. Mai Thi Nguyen-Kims Suche nach dem Kern der Wahrheit zeigt dabei nicht nur, was unanfechtbar ist und worauf wir uns alle einigen können. Mehr noch: Sie macht deutlich, wo die Fakten aufhören, wo Zahlen und wissenschaftliche Belege fehlen – wo wir also völlig berechtigt uns gegenseitig persönliche Meinungen an den Kopf werfen dürfen. Ein spannender und informativer Fakten- und Reality-Check, der beste Bullshit-Detektor für unsere angeblich postfaktische Zeit.
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Seitenzahl: 432
Dr. Mai Thi Nguyen-Kim
Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit
Wahr, falsch, plausibel? Die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft
Mit Illustrationen von Ivonne Schulze
Knaur e-books
Noch nie zuvor gab es so viel Wissen – und so viele Meinungen. Überall werden wissenschaftliche Fragen diskutiert, ob über Viren und das Immunsystem, über die biologischen Unterschiede zwischen Frauen und Männern, über die Psychologie von Attentätern und die Erblichkeit von Intelligenz. Dabei geraten Tatsachen und Behauptungen nicht selten genauso durcheinander wie Ursache und Wirkung. Zeit also für den fundamentalen Faktencheck von Dr. Mai Thi Nguyen-Kim. Auf Grundlage neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse widmet sie sich den brennenden Themen unserer Zeit und zeigt, was wahr, was falsch und was plausibel ist. Sie prüft Streitfragen auf Herz und Nieren, mit Daten unterfüttert, leicht zu lesen und garantiert frei von Bullshit. Dieses Buch ist die Grundlage für die kleinste gemeinsame Wirklichkeit, die es in jeder Diskussion braucht. Egal ob am Küchentisch oder im Bundestag.
Für meine Tochter
»Vielleicht macht sie ja später mal so etwas wie Ranga Yogeshwar«, sagte mein Mann zu meinem besorgten Vater, um ihn zu trösten. Es war Anfang 2017, ich hatte gerade ein attraktives Jobangebot als Laborleiterin bei BASF abgelehnt, weil mir Bauch und Kopf in ungewohnt klarer Allianz sagten, dass ich eine Karriere in der Wissenschaftskommunikation versuchen musste. Die zunehmend verschwimmende Grenze zwischen Fakten und Meinungen, die Informations- und Desinformationsüberflutung in sozialen Medien und die scheinbar unerschütterliche Realitätsfeindlichkeit mancher Menschen, die die Erde für flach oder Viren für nicht existent erklärten (ja, das gab es auch schon vor Corona), waren für mich tatenlos kaum auszuhalten. Ich musste etwas tun, mitmischen, mitreden – ich brauchte wenigstens das Gefühl, aktiv etwas für Wissenschaftlichkeit und Wahrhaftigkeit zu tun, und sei es auch nur ein kleines bisschen. Meinem Vater leuchtete das irgendwie ein, er konnte nur nicht ganz begreifen, wie »über Wissenschaft reden« ein echter Beruf sein sollte. »Ranga Yogeshwar? Ja, das wäre natürlich toll«, antwortete er mit einem müden Lächeln, »aber ihr wisst doch selbst, wie unwahrscheinlich das ist.«
Ja, wussten wir. Mehr noch – wenn man mir damals in einer Glaskugel das Jahr 2020 gezeigt hätte, hätte ich wahrscheinlich kalte Füße bekommen. Damals beschwerte ich mich noch bei jeder Gelegenheit darüber, wieso in den Polittalkshows und in Nachrichtensendungen Stimmen aus der Wissenschaft so skandalös unterrepräsentiert waren. 2020 konnte sich keine deutsche Talkshow mehr ohne wissenschaftliche Experten blicken lassen. Die Frage »Wer ist dein Lieblingsvirologe?« gehörte nun zum Small-Talk-Repertoire. Und als sich die BILD mit Christian Drosten anlegte, war das irgendwie auch nur ein Zeichen dafür, wie einflussreich wissenschaftliche Stimmen plötzlich geworden waren. Als Wissenschaftsjournalistin schwirrte mir da manchmal der Kopf. An einem Tag wollte Attila Hildmann mich zu einer Anzeige provozieren, am nächsten kam eine subtil drohende Mail von einem namenhaften Virologen mit Anwalt im CC. Noch bin ich mir nicht sicher, ob die Corona-Pandemie die bisher beste oder die bisher schwierigste Zeit für die öffentliche Wahrnehmung von Wissenschaft ist. Nur eine Sache ist mir klarer als je zuvor: Dass wir uns immer mehr von einem gemeinsamen Verständnis von Wirklichkeit entfernen, das müssen wir dringend ändern.
Dass Tatsachen, Meinungen, Fantasien und Ängste zu einer großen Matschepampe vermischt werden, ist nicht nur schlecht für die Wissenschaft, sondern auch für unsere Debattenkultur. Als Kind hatte ich einen kleinen Metallfrosch, den man hüpfen lassen konnte, indem man ihn mit einer Schraube aufzog. Doch die Schraube klemmte, sodass der Frosch erst nach einem leichten Anstupser lossprang. Einer meiner Lieblingsstreiche war es, den Frosch bis zum Anschlag aufzuziehen, ihn vorsichtig hinzustellen und dann meinen großen Bruder zu bitten, mir den Frosch aufzuziehen. Sobald mein Bruder den Frosch berührte, sprang ihm dieser plötzlich entgegen oder ins Gesicht, und mein lieber Bruder tat jedes Mal so, als würde er sich zu Tode erschrecken, während ich mich lachend und schreiend auf dem Boden wälzte.
Heute kommt es mir so vor, als seien wir überall von aufgezogenen Fröschen umgeben, die beim leichtesten Anstupsen explodieren. Das Internet hat nicht nur dazu geführt, dass jede und jeder eine öffentliche Stimme haben kann, sondern auch dazu, dass Banalitäten über Empörungsspiralen zu Shitstorms aufgeblasen werden, angefeuert von Trollen, die sich über solche Eskalationen freuen wie damals die kleine Mai, wenn dem Bruder der Frosch ins Gesicht sprang. Die aktuelle Debattenkultur scheint hoch strapaziert, es dominiert Schwarz-Weiß, viele Fronten sind verhärtet. Differenzierte Diskussionen sind oft kaum möglich, geschweige denn ein Konsens.
Doch zu einem Konsens zu gelangen, ist leichter gesagt als getan. Selbst Greta Thunbergs Spruch »Unite behind the Science« wirkt nach Corona irgendwie komplizierter als vorher. Für Greta war es das Mindeste, das man verlangen kann – sich hinter den Fakten, hinter der Wissenschaft zu versammeln. Aber gibt es die Wissenschaft überhaupt? Und auf was können wir uns überhaupt einigen?
In diesem Buch will ich mich auf die Suche begeben, auf die Suche nach der kleinsten gemeinsamen Wirklichkeit. Ich will nicht nur herausfinden, worauf wir uns tatsächlich einigen können, sondern auch – und das ist eigentlich viel spannender –, wo die Fakten aufhören, wo Zahlen und wissenschaftliche Erkenntnisse noch fehlen und wir uns also völlig berechtigt gegenseitig persönliche Meinungen an den Kopf werfen dürfen. Nur wenn man bei einem Streit auf dem Fundament einer gemeinsamen Wirklichkeit steht, funktioniert Streit, funktioniert Debatte, ohne dass wir uns wie aufgezogene Frösche ins Gesicht springen müssen. Vielleicht macht Streiten so auch wieder Spaß.
Also – viel Spaß!
Keine Macht den Pauschalisierungen
FANGFRAGE
Sollte die Schädlichkeit von Drogen über ihren legalen Status entscheiden?
○ Ja
○ Nein
»Nur weil Alkohol gefährlich ist, unbestritten, ist Cannabis kein Brokkoli«, antwortete Daniela Ludwig, Drogenbeauftragte der Bundesregierung, auf die Frage, ob sie denn Alkohol für gefährlicher halte als Cannabis. Ach sooo, Cannabis ist gar kein Brokkoli! Gut, dass wir dieses weitverbreitete Missverständnis aus der Welt räumen konnten.
Natürlich wurde der Spott über den Brokkoli-Vergleich, den Ludwig auf einer Bundespressekonferenz im Juli 2020 zog, im Netz leidenschaftlich zelebriert.[1] Vor allem von der jüngeren Generation, die sich tendenziell eher für eine Legalisierung von Cannabis ausspricht[2], wurde der Kein-Brokkoli-Spruch genüsslich verspeist und wieder ausgespuckt, in Form von Memes, Tassen und T-Shirts.
Ich fand den Brokkoli-Vergleich zwar auch ulkig bis unglücklich, nur darf man es sich nicht zu leicht machen und ihn als Beleg dafür nehmen, dass es dann wohl keine vernünftigen Argumente gegen eine Legalisierung von Cannabis gebe – eines lieferte Ludwig tatsächlich selbst noch nach, aber dazu kommen wir gleich. Widmen wir uns zunächst einem anderen schrägen Vergleich.
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Schon mal was von »Equasy« gehört?
Equasy wurde im Januar 2009 von dem britischen Psychopharmakologen David J. Nutt als eine gefährliche, doch bis dahin unbeachtete Droge vorgestellt. In der Fachzeitschrift Journal of Psychopharmacology beschrieb Nutt, wie er auf das übersehene Suchtmittel aufmerksam geworden war: nämlich durch den dramatischen Fall einer Frau, die durch Equasy permanente Hirnschäden erlitten hatte – mit Anfang dreißig. Noch schockierender war, dass unter den Millionen von Equasy-Nutzern in Großbritannien auch viele Jugendliche und sogar Kinder waren. In seinem Artikel[3] rechnete David Nutt erst vor, dass Equasy zu über hundert Verkehrsunfällen und etwa zehn Todesfällen pro Jahr führt – um dann nach der Hälfte seines Textes aufzulösen, wofür Equasy eigentlich steht: Für Equine Addiction Syndrome – »Pferde-Sucht-Syndrom«. Für Spaß am Reiten. Dafür, dass »Pferdesüchtige« für ihr Reitvergnügen alle Konsequenzen des Reitens in Kauf nehmen, sogar die dramatischen Schäden, die Stürze vom Pferd anrichten können. Zum Beispiel permanente Hirnschäden. »Ich nehme an, dass die meisten überrascht sein werden, dass Reiten eine so gefährliche Beschäftigung ist.« Ein waschechter Troll, der Herr Professor Nutt. Doch er wollte auf etwas Bestimmtes hinaus. In Großbritannien werden illegale Drogen nämlich in drei Klassen eingeteilt: Class A, Class B und Class C.[4]
Droge
Besitz
Vertrieb und Produktion
Klasse A
Crack, Kokain, Ecstasy (MDMA), Heroin, LSD, Halluzinogene Pilze, Methadon, Methamphetamin (Crystal Meth)
Bis zu sieben Jahre Haft und/oder unbegrenzte Geldstrafe
Bis zu lebenslängliche Haft und/oder unbegrenzte Geldstrafe
Klasse B
Amphetamine, Barbiturate, Cannabis, Codein, Ketamin, Methylphenidat (Ritalin), synthethische Cannabidoide, synthetische Cathinone (etwa Mephedron, Methoxetamin)
Bis zu fünf Jahre Haft
und/oder unbegrenzte Geldstrafe
Bis zu
14 Jahre Haft und/oder unbegrenzte Geldstrafe
Klasse C
Anabole Steroide, Benzodiazepine (Diazepram), Gamma Hydroxybutyrat (GHB), Gammabutyrolacton (GBL), Piperazine (BZO), Khat
Bis zu zwei Jahre Haft
und/oder unbegrenzte Geldstrafe (ausgenommen sind anabole Steroide, deren Besitz für den persönlichen Gebrauch nicht strafbar ist)
Bis zu fünf Jahre Haft und/oder unbegrenzte Geldstrafe
Drogen der Class A werden am härtesten verfolgt, Nutzer können mit bis zu sieben Jahren Gefängnis, Dealer und Hersteller sogar mit bis zu lebenslänglicher Haft bestraft werden. Neben Heroin und Crack findet man in dieser Klasse auch die Droge MDMA, besser bekannt als Ecstasy. Das sei absurd, fand David Nutt und wollte eben diese Absurdität mit seinem Pferdevergleich zur Schau stellen. Sehen wir mal über den Quatsch hinweg, Reiten mit einer Droge vergleichen zu wollen – spätestens beim Aspekt der Sucht zerfällt der Vergleich. Der eigentliche Punkt, auf den Nutt damit hinauswollte, war, dass Reitunfälle zu mehr Schäden führen als Ecstasy. Eine neue Droge – ob sie nun »Equasy« heißt oder »Crystal Beth« –, die genauso große Schäden verursacht wie Reitunfälle, müsste der Klasse A zugeordnet werden. Da das offenbar völlig unverhältnismäßig wäre, hätte auch Ecstasy in dieser Kategorie nichts zu suchen. Mit anderen Worten: Diesem Klassifizierungssystem fehle eine rationale Entscheidungsbasis, das hatte Nutt auf diese Weise demonstrieren wollen.[5]
Ecstasy aus Class A zu befreien, das hat er allerdings nicht geschafft. Stattdessen wurde Nutt im Herbst desselben Jahres vom britischen Innenminister aus dem Vorsitz des ACMD (Advisory Council on the Misuse of Drugs; ein Beratungskomitee der britischen Regierung) geschmissen. Kurz zuvor hatte Nutt das dreiklassige Drogensystem in einem öffentlichkeitswirksamen Vortrag am Londoner King’s College kritisiert.[6] Darin verwies er unter anderem auch auf Cannabis, das Nutt zu Unrecht in Class B verortet sieht, zumal Tabak als legale Droge deutlich schädlicher sei als Cannabis. Na hör mal! Nutt könne doch nicht die Regierung beraten und gleichzeitig eine Kampagne gegen ihre Politik fahren, rechtfertigte sich Innenminister Alan Johnson, nachdem er Nutt aus dem ACMD geworfen hatte.[7]
Kann er wohl, fanden einige Wissenschaftler, darunter auch wissenschaftliche Regierungsberater – ein paar ACMD-Mitglieder traten aus Protest selbst aus dem Komitee aus. Nutts Rausschmiss veranlasste Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen außerdem dazu, Richtlinien für einen guten Umgang mit unabhängiger wissenschaftlicher Beratung aufzustellen[8], die immerhin in überarbeiteter Form seither auch von der britischen Regierung übernommen wurden.[9]
Doch es war nicht David Nutts letzter Streich. 2010 gründete er das Independent Scientific Committee on Drugs, das später in Drug Science umbenannt wurde. Die Expertengruppe veröffentlichte unter Nutts Federführung im November 2010 einen Artikel in der renommierten Fachzeitschrift The Lancet[10], der wegen der folgenden Grafik für offene Münder weltweit sorgte:
Abbildung 1.1: Schädlichkeitsbewertung unterschiedlicher Drogen nach Nutt et al.[11]
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Ein Drogenranking nach Schädlichkeit. David Nutt hatte übrigens schon 2007 mit einem ähnlichen Drogenranking für Unruhe gesorgt, das bereits damals die scheinbar völlige Willkür der britischen Drogenklassifizierung offenlegte. Alkohol und Tabak waren demnach schädlicher als Cannabis, LSD oder Ecstasy. Nur war das 2007er-Drogenranking, dessen Methodik deutlich gröber war und daher ein Update benötigte, eine nicht ganz so feste Ohrfeige, da immerhin Heroin den ersten Platz einnahm.[12] Das 2010er-Update allerdings platzierte an der Spitze ausgerechnet Everybody’s Darling: Alkohol. Der Balken, der Heroin und Crack ein stolzes Stück übersteigt, sticht da wie ein Dorn ins Auge – vor allem aus deutscher Sicht. Für den Innenminister und Bayernpatrioten Horst Seehofer ist Bier immerhin »nicht nur Genuss, nicht nur Kulturgut, nicht nur Grundnahrungsmittel, sondern auch Ausdruck unserer Lebensart. Das Bier verkörpert unsere Liebe zu Heimat und Brauchtum, unsere Lebenslust und unseren Gemeinschaftssinn.« Nach dieser Liebeserklärung bei der Landesausstellung »Bier in Bayern« 2016[13] hatte Seehofer für Cannabis bei einer Bundespressekonferenz 2019 nur kühle Worte übrig und stellte sich in seiner Grundhaltung auf die Seite seiner CSU-Parteikollegin Ludwig. Die Statistik zeige, dass Cannabis gefährlich sei, deutete Seehofer an, als er gefragt wurde, wieso er gegen eine Legalisierung von Cannabis sei.[14] Fragt sich nur, welche Statistik. Die britischen Experten rund um David Nutt jedenfalls platzierten Cannabis im mittleren Feld und als weniger schädlich als Tabak. Die »Partydrogen« Ecstasy und LSD tummeln sich brav und unauffällig am unteren Ende der Skala, nur noch unterboten von Magic Mushrooms. Auf den ersten Blick scheint dieses wissenschaftliche Drogenranking die Drogenpolitik der meisten Länder als völlig irrational zu entlarven. Doch ein zweiter und auch dritter Blick lohnen sich.
Wissenschaftliche Qualität zeigt sich nicht nur im Sammeln von Daten, sondern ganz besonders in deren Auswertung – dies werden wir im Laufe dieses Buches noch oft sehen. Zahlen sagen meist wenig aus, wenn man nicht weiß, auf welche Weise sie ermittelt wurden. Kneifen wir also kritisch die Augen zusammen und schauen, wie die Zahlen des Drogenrankings zustande kamen. Nachdem Nutts erstes Ranking von 2007 wie gesagt mit recht groben Methoden erstellt wurde, erfolgte die neue Bewertung nach dem MCDA-Prinzip:Multicriteria Decision Analysis. Auf der Suche nach einer guten deutschen Übersetzung bin ich bei Wikipedia auf »etwa multikriterielle Entscheidungsanalyse« gestoßen. Und ja, »etwa« ist Teil des Zitats. Letztendlich ist MCDA eine Methode, um komplexe Entscheidungen zu treffen, bei der mehrere Kriterien gleichzeitig berücksichtigt und gegeneinander abgewogen werden müssen. Man kann die Methode in drei Schritte unterteilen:
Schritt 1: Man identifiziert alle Kriterien, die bei der Bewertung berücksichtigt werden sollen. Möchte man die Schädlichkeit einer Droge bewerten, wären da zunächst vielfältige physische Schäden wie Lungenkrebs durch Zigaretten oder Tod durch eine Alkoholüberdosis. Hinzu kommen unterschiedliche psychische Schäden wie Abhängigkeit, Psychosen oder eine verminderte kognitive Leistungsfähigkeit. Und dann gibt es da noch eine Bandbreite an sozialen Schäden, die vom Zerfall von Beziehungen oder Familien bis zu den Kosten für die Allgemeinheit reichen, die für die medizinische Versorgung oder die rechtliche Verfolgung einer Straftat im Zusammenhang mit dem Konsum oder der Beschaffung von Drogen aufgebracht werden müssen. Manche Schäden hat man gar nicht auf dem Schirm, wie etwa Umweltschäden durch giftige Abfälle, die bei der Produktion von Drogen entstehen.
Bei einer multikriteriellen Entscheidungsanalyse liegt die Betonung also auf »multi«. Nutt und seine Kollegen stellten 16 Schadenskriterien auf, die alle relevanten physischen, psychischen und sozialen Schäden abbilden sollten.
Schritt 2: Man bewertet jedes der Kriterien anhand einer Skala. In unserer Drogenstudie bewerteten die Fachleute Drogen auf einer Skala von 0 bis 100, wobei für jedes Kriterium der schädlichsten Droge die Punktzahl 100 zugewiesen wurde und als maximale Referenz für die restlichen Drogen diente. Dabei sollte eine Verhältnisskala entstehen, sprich, eine Droge, die doppelt so schädlich ist wie eine andere, muss auch die doppelte Punktzahl erhalten.
Schritt 3: Man gewichtet jedes Kriterium, indem man die Punkte mit unterschiedlichen Faktoren multipliziert. Wenn man beispielsweise der Ansicht ist, dass die Suchtgefahr ein doppelt so großes Problem ist wie die Umweltverschmutzung, muss man die Suchtpunkte auch doppelt so stark gewichten, also mit einem doppelt so großen Faktor multiplizieren – auch hier soll also eine Verhältnisskala gelten. Am Ende zählt man für jede Droge ihre gewichteten Punkte aus allen 16 Kriterien zusammen und erhält einen Endstand. Einen Endstand, bei dem Alkohol den höchsten mit nach Hause nimmt.
Joa. Ihr runzelt wahrscheinlich schon die Stirn. (Deswegen ist es so wichtig, sich immer nach den Methoden zu erkundigen!)
Die erste methodische Schwäche dieses Ansatzes springt einem geradezu ins Gesicht: Diese Bewertung ist hoffnungslos subjektiv! Das fängt schon bei Schritt 1 und der Identifizierung der Kriterien an, wird aber besonders unelegant deutlich, wenn es um die quantitative Bewertung und Gewichtung von Schäden geht.
Eine derartige Subjektivität ist man nicht gewohnt von einer »wissenschaftlichen Studie«, allerdings ist sie hier wohl kaum vermeidbar. Toxikologische Daten lassen sich vielleicht noch ganz gut vergleichen, aber wie in aller Welt sollte man die familiäre Belastung durch eine Droge objektiv messen? Oder wie die Relevanz dieser familiären Belastung gegen die wirtschaftlichen Schäden auf einer Verhältnisskala einordnen? Objektiv unmöglich. Somit ist die erste wichtige Einsicht an dieser Stelle: Eine umfassende Schädlichkeitsbewertung von Drogen wird in jedem Fall subjektiv sein, egal ob auf der Bewertung »wissenschaftliche Studie« draufsteht oder nicht.
Es hilft natürlich, dass es keine zufällig befragten Menschen in einer Fußgängerzone sind, sondern Fachmänner und Fachfrauen, die hier ihre subjektiven Bewertungen abgeben. Aber ist die Subjektivität überhaupt das größte methodische Problem dieser Studie? Na, wenn ich schon so frage. In den kommenden Abschnitten wird uns dämmern, dass eine rein wissenschaftliche Sicht eine erstaunlich eingeschränkte Sicht sein kann.
Es mag etwas bis sehr schräg sein, wenn Horst Seehofer so rührselig vom Kulturgut Bier schwärmt, wenn man bedenkt, wie viel Leid, Krankheit und Todesfälle mit Alkohol zusammenhängen. Doch wahrscheinlich wird eine Mehrheit zumindest einen gewissen Realismus teilen: Kein Alkohol ist auch keine Lösung.
Das Lieblingsargument dafür ist die gescheiterte Prohibition in den USA – wobei manche Historiker »gescheitert« wahrscheinlich gerne etwas differenzierter lesen würden. Die Prohibition, das landesweite Verbot von Alkohol (genau genommen war nicht das Trinken verboten, aber Verkauf, Herstellung und Transport), das 1920 eingeführt wurde, scheiterte insofern, als es 1933 wieder aufgehoben wurde.
Aus heutiger Sicht scheint die Prohibition für viele wahrscheinlich eine selten blöde Idee, die natürlich zum Scheitern verurteilt sein musste, was sonst! Doch zunächst darf man nicht vergessen, dass die Prohibition den Amerikanern nicht urplötzlich vor den Latz geknallt wurde. Die Abstinenzbewegung zupfte bereits seit dem 19. Jahrhundert an den Ärmeln der Bürger.[15] So richtig in Fahrt kam sie aber erst mit der Gründung der Anti Saloon League, der ersten modernen »pressure group«. Mit durchaus beachtlichem Druck führte die Lobbygruppe die Abstinenzbewegung an – und vorwärts. Schon Jahre bevor die Prohibition durchgesetzt wurde, hatten sich einige US-Staaten bereits für mehr oder weniger harte Formen der lokalen Prohibition entschieden und damit den Weg für das nationale Gesetz geebnet.[16] Die Taktiken der Anti Saloon League muss man als gewitzt bis manipulativ einordnen – und als radikal in der Hinsicht, dass sie von ihren Anhängern einzig und allein die Unterstützung der Prohibition forderten und weiter nichts. Abgesehen davon war es ihnen radikal gleichgültig, welche politischen Haltungen vertreten wurden, ja, es war ihnen sogar herzlich egal, ob ihre Anhänger selbst Alkohol tranken oder nicht. Ein beeindruckender Pragmatismus. Historiker Daniel Okrent sieht diese »One-Issue-Strategie« der Anti Saloon League als Vorbild für das Vorgehen der amerikanischen Waffenlobby NRA.[17]
Das alles kann man nun unterschiedlich deuten: Entweder sieht man darin eine Bestätigung dafür, dass Alkohol ein fast schon grundmenschliches Verlangen ist, das man nur durch radikale Lobbyarbeit unterdrücken kann. Oder man sieht darin eine Bestätigung für das Gegenteil. Nämlich dafür, dass unser Umgang mit Drogen in erster Linie eine Frage von Moral und Einstellung ist.
Die Anti Saloon League hätte sich aber wohl kaum durchsetzen können, wenn die Schattenseiten von Alkohol und Alkoholismus für einige Menschen nicht auch schmerzhaft spürbar gewesen wären. So konnten die Prohibitionisten etwa Punkte bei der Women’s Suffrage Bewegung sammeln, die in erster Linie für den Kampf für das Frauenwahlrecht bekannt ist. Viele Frauen waren es leid, dass ihre Männer sich in den Saloons betranken, zu Hause ihre Familien misshandelten und ihre Jobs verloren.[18]
Der mehrheitliche Eindruck ist allerdings, dass die Prohibition eklatant versagt hat, dass sie ihr Ziel nicht nur verfehlte, sondern Krankheit, Gewalt und Verbrechen durch Alkoholkonsum, ja, sogar den Alkoholkonsum an sich erst so richtig heraufbeschwor. Aber war das wirklich so? Ja, die Menschen tranken immer noch weiter, nicht mehr in den Saloons, aber dafür in geheimen »Flüsterkneipen« oder zu Hause. Doch sie tranken tatsächlich weniger – verglichen mit dem Level vor der Prohibition fiel der Alkoholkonsum laut Schätzungen anfangs auf 30 Prozent, auch wenn sich dieser Tiefpunkt wohlgemerkt nicht besonders lange hielt. Innerhalb weniger Jahre waren die Amerikaner wieder bei 60 bis 70 Prozent des vorherigen Konsums, und bei dieser Größenordnung pendelte er sich schließlich ein.[19]
Man würde meinen, dass die Amerikaner nach dem Ende der Prohibition bestimmt richtig hart eskaliert sind und nur darauf gewartet haben, sich die Kante zu geben. Doch interessanterweise hielt man sich in den Jahren kurz nach der Aufhebung weiterhin zurück. Es dauerte gut ein Jahrzehnt, bis der Pro-Kopf-Alkoholkonsum wieder dort angekommen war, wo er vor der Prohibition war.[20] Und auch die Todesrate durch Leberzirrhose, die gerne durch chronischen Alkoholkonsum ausgelöst wird und die zu Anfang der Prohibition um rund 50 Prozent zurückgegangen war, erreichte erst in den 1960er-Jahren wieder die gleiche Inzidenz wie vor der Prohibition. Zu behaupten, die Prohibition hätte den Alkoholkonsum und einige gesundheitliche Schäden nicht reduziert, wäre also falsch. Auch ihr Effekt war zumindest nachhaltiger, als viele glauben – auch in Bereichen, bei denen etwas weniger Nachhaltigkeit sicher wünschenswert gewesen wäre. So führte das nationale Alkoholverbot nämlich zu einer landesweiten Vernetzung von Gangster- und Mafiaclans.[21] Ein Netzwerk, das auch nach der Prohibition bestehen blieb und einfach die Branche wechselte, zu Glücksspiel, Prostitution oder eben anderen illegalen Drogen. Der Schwarzmarkt brachte auch minderwertigen Alkohol unter die Leute, und so manchem Alkoholtod, der durch die Prohibition verhindert wurde, stand ein Tod durch Vergiftung an gepanschtem Zeug gegenüber.
Unterm Strich kann man zusammenfassen, dass die Prohibition vielleicht erfolgreicher war als ihr Ruf, doch dass diese Erfolge nicht den Preis wert waren, den die amerikanische Gesellschaft dafür zahlen musste. Vielleicht war es in erster Linie die Härte der Prohibition, die ihr selbst das Genick brach. Manche Unterstützer, die ihren eigenen, mäßigen Alkoholgenuss harmlos fanden, aber durchaus dafür waren, anderen exzessiven Saufnasen auf die Finger zu hauen, schauten wahrscheinlich ein wenig bedröppelt aus der Wäsche, als mit dem Volstead Act alles ab 0,5 % Alkoholgehalt verboten wurde.[22] Noch nicht mal mehr ein Bierchen?? So hatten sich einige Befürworter das Ganze dann wohl doch nicht vorgestellt. Möglicherweise wäre die Prohibition in einer weniger strengen Form, zum Beispiel nur ein Verbot von Hochprozentigem, gar nicht mal so unbeliebt gewesen. Und wer weiß, wie lange sie sich noch gehalten hätte, wenn das Land nicht von der Great Depression erschüttert worden wäre. Die Prohibition stand vielleicht schon am Abgrund, doch die Aussicht auf die Wiederbelebung eines ganzen Wirtschaftszweiges und damit auf frisches Alkoholsteuergeld stieß sie in der Wirtschaftskrise endgültig über die Klippe.[23]
Der Erfolg von Drogenpolitik ist immer auch abhängig von ihrem Zuspruch bei der Bevölkerung. In Deutschland stieße ein Alkoholverbot sicher auf wenig Gegenliebe und wäre aus vielerlei Gründen schwer durchsetzbar. Und für einen florierenden Alkoholschwarzmarkt bräuchte man heutzutage dank Internet und Darknet ja noch nicht einmal eine gut vernetzte Mafia. Die Beliebtheit einer Droge ist also relevant für drogenpolitische Entscheidungen, wird aber bei wissenschaftlichen Bewertungen von Drogen kaum beachtet. Doch der Fokus auf die Schädlichkeit und die negativen Folgen von Drogen ist nur eine Seite der Medaille.
Schauen wir uns dazu noch einmal den beliebten Vergleich zwischen Alkohol und Cannabis an. Laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben weltweit jährlich drei Millionen Menschen aufgrund von Alkoholkonsum – mehr als durch AIDS, Gewalt und Verkehrsunfälle zusammen.[24] Für Cannabis sind zwar Todesfälle bekannt, die mit Cannabis in Verbindung stehen, doch vergiften kann man sich allein daran nicht. Das Cannabinoid Tetrahydrocannabinol, kurz THC, kann in sehr hohen Dosen zwar auch tödlich sein, allerdings werden diese Dosen durchs Kiffen nicht erreicht.[25] Da Cannabis auch medizinisch eingesetzt wird, assoziieren manche damit etwas grundsätzlich Gesundes und unterschätzen die Nebenwirkungen. Die Cannabinoidrezeptoren, die hauptsächlich in Rückenmark und Gehirn sitzen, haben vielfältige Funktionen, unter anderem spielen sie eine Rolle bei der Gehirnentwicklung und beim Aktivieren beziehungsweise Drosseln von Synapsen[26] – komplexe Prozesse, in die Cannabinoide eingreifen. Daraus ergeben sich sowohl therapeutische Möglichkeiten als auch ungewollte Nebenwirkungen. Einige Forscher mahnen etwa zu besonderer Vorsicht, wenn Cannabinoide medizinisch bei Kindern und Jugendlichen eingesetzt werden, selbst wenn es sich dabei um Cannabinoide ohne psychoaktive Wirkung handelt wie etwa CBD.[27]
Es ist auch umstritten, inwieweit Cannabis psychische Beschwerden lindern oder erschweren kann. Es gibt Langzeitstudien, die eine Korrelation zwischen frühem Cannabiskonsum und späterer Schizophrenie beobachten.[28] Doch da man mit weltweit steigendem Cannabiskonsum nicht auch gleichzeitig einen Anstieg an Schizophrenie-Erkrankungen beobachtet, ist der Zusammenhang wohl komplizierter als einfach nur kausal. Möglicherweise verstärkt früher Cannabiskonsum eine Schizophrenie, auch wenn sie nicht dadurch ausgelöst wird. Doch bei Erwachsenen mit nur mäßigem Cannabiskonsum sind die Nebenwirkungen in der Regel überschaubar. Zusätzlich gibt es wissenschaftlich fundierte Richtlinien für sicheren Cannabiskonsum[29] (siehe Box 1, hier), durch die man das Risiko von schädlichen Nebenwirkungen weiterhin verringern kann. Aus toxikologischer Sicht kann man also durchaus argumentieren, dass Cannabis weniger schädlich ist als Alkohol.
So gesehen wäre es nur konsequent, jede Droge, die weniger schädlich ist als die legale Droge Alkohol, ebenfalls zu legalisieren, wenn man Verbot oder Restriktion von Drogen in erster Linie mit dem Schutz der Volksgesundheit begründet. Aber wenn Alkohol gar nicht deswegen legal ist, weil die Droge so harmlos ist, sondern weil Alkohol schlicht und einfach zu beliebt ist, um effektiv verboten zu werden – ja, dann kann man sogar die Drogenbeauftragte Daniela Ludwig besser verstehen. Die sagte nämlich bei der ominösen Brokkoli-Pressekonferenz den erstaunlich ehrlichen Satz: »Wir haben zwei Volksdrogen, ich brauch’ keine dritte.«[30]
1. Der effektivste Weg, jegliches Cannabisrisiko zu vermeiden, ist, auf den Gebrauch zu verzichten. Wer sich für den Gebrauch entscheidet, setzt sich dadurch einem Risiko für eine Reihe von gesundheitlichen und sozialen Schäden aus, akut wie auch langfristig. Je nach Konsumverhalten und Produktqualität sind diese Risiken von Nutzer zu Nutzer und von Mal zu Mal unterschiedlich.
2. Ein früher Beginn des Cannabiskonsums steht im Zusammenhang mit mehreren negativen gesundheitlichen und sozialen Folgen im jungen Erwachsenenalter (besonders deutlich bei einem Beginn vor dem 16. Lebensjahr). Diese Auswirkungen sind besonders stark bei Konsumenten, die besonders früh anfangen und besonders häufig oder intensiv konsumieren. Das kann unter anderem daran liegen, dass häufiger Cannabisgebrauch die Gehirnentwicklung beeinträchtigt.
Grad der Beweislage: Erheblich
3. Produkte mit hohem THC-Gehalt gehen mit einem höheren Risiko für verschiedene (akute und chronische) psychische und verhaltensbezogene Probleme einher. Nutzer sollten über die Art und Zusammensetzung der Cannabisprodukte, die sie konsumieren, aufgeklärt sein und idealerweise Cannabisprodukte mit niedrigem THC-Gehalt nutzen. Angesichts der Befunde eines mindernden Effekts von CBD auf manche THC-bezogene Wirkungen empfiehlt es sich, Cannabisprodukte mit einem hohen Verhältnis von CBD zu THC zu verwenden.
Grad der Beweislage: Erheblich
4. Neuere Review-Studien über synthetische Cannabinoide deuten darauf hin, dass diese Produkte zu schwereren Gesundheitsschäden führen können (bis hin zu Todesfällen). Der Gebrauch dieser Produkte sollte vermieden werden.
Grad der Beweislage: Begrenzt
5. Regelmäßige Inhalation von verbranntem Cannabis hat negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Atemwege. Obwohl andere Konsumwege ihre eigenen Risiken bergen, sollten generell Methoden vermieden werden, die das Rauchen von verbranntem Cannabismaterial beinhalten, zum Beispiel durch die Benutzung von Zerstäubern oder durch Hanfzubereitungen (Edibles). Der Gebrauch von Hanfzubereitungen verhindert das Risiko für Atemwege, aber der verspätete Beginn psychoaktiver Effekte kann zu unbeabsichtigt großen Dosen und entsprechend größeren negativen Auswirkungen führen.
Grad der Beweislage: Erheblich.
6. Konsumenten sollten auf solche Praktiken wie besonders tiefes Inhalieren, Atem anhalten oder das sogenannte Valsalva-Manöver verzichten, die die Aufnahme psychoaktiver Stoffe beim Rauchen von Cannabis erhöhen sollen. Diese Praktiken erhöhen unverhältnismäßig die Aufnahme giftiger Substanzen in das Lungensystem.
Grad der Beweislage: Begrenzt
7. Je häufiger oder intensiver der Cannabiskonsum (z. B. täglich oder nahezu täglich), desto höher ist das Risiko für gesundheitliche und soziale Schäden. Konsumenten sollten ihren Cannabisgebrauch auf einen möglichst nur gelegentlichen Konsum beschränken (z. B. nur an einem Tag pro Woche, nur am Wochenende etc.).
Grad der Beweislage: Erheblich
8. Autofahren unter Cannabiseinfluss erhöht das Risiko für Verkehrsunfälle. Es wird empfohlen, mindestens sechs Stunden nach Cannabisgebrauch das Autofahren (sowie den Betrieb anderer Transportmittel oder Maschinerien) zu unterlassen. Diese Wartezeit kann sogar länger sein, abhängig von der individuellen Person und den Eigenschaften des spezifischen Cannabisprodukts. Die gleichzeitige Verwendung von Cannabis und Alkohol vervielfacht die Beeinträchtigungen und Risiken im Straßenverkehr und sollte kategorisch vermieden werden.
Grad der Beweislage: Erheblich.
9. Manche Bevölkerungsgruppen haben wahrscheinlich ein erhöhtes Risiko für negative Auswirkungen durch Cannabis und sollten vom Konsum absehen. Zu diesen gehören: Menschen mit einer Neigung zu Psychosen und Suchtproblemen, einer Familiengeschichte ersten Grades von Psychosen und Suchtproblemen, sowie schwangere Frauen (vor allem, um Schäden beim Fötus oder Neugeborenen zu vermeiden).
Grad der Beweislage: Erheblich
10. Es ist nicht auszuschließen, dass bestimmte Kombinationen der oben beschriebenen Risikofaktoren negative Auswirkungen besonders verstärken. Zum Beispiel ist es wahrscheinlich, dass ein früher Konsumbeginn zusammen mit häufigem Konsum von hochpotentem Cannabis das Risiko für akute und/oder chronische Schäden unverhältnismäßig vergrößert.
Grad der Beweislage: Begrenzt.
Angesichts der unerschütterlichen Beliebtheit von Alkohol ist es eigentlich ein wenig faul, die Legalität von Alkohol als Argument zu nutzen, um die Legalisierung von Cannabis einzufordern. Die interessantere Frage ist doch, ob Verbote grundsätzlich mehr schützen oder schaden.
Seit 2001 ist in Portugal der private Besitz und Konsum von Drogen keine Straftat mehr, sondern lediglich eine Ordnungswidrigkeit. Das gilt für alle Drogen, von LSD bis Heroin. Prävention statt Verbot, Behandlung statt Strafverfolgung, lautet die Devise. Oft wird Portugal deswegen als das Nonplusultra-Beispiel für erfolgreiche Drogenpolitik gehandelt. Doch auch hier fehlen einige Grautöne und Nuancen in der öffentlichen Diskussion. Die wird nämlich stark geprägt von einem Bericht des wirtschaftsliberalen Cato Instituts (ein Thinktank aus Washington) aus dem Jahr 2009[32], in dem der Jurist Glenn Greenwald die portugiesische Strategie der Dekriminalisierung einen durchschlagenden Erfolg nannte (»a resounding success«) –, und zwar gemessen an praktisch allen Erhebungen (»judged by virtually every metric«). Solche eindeutigen Worte, begleitet von 19 Graphen und drei Tabellen, machten Greenwalds Cato-Report zu einer ganz schönen Ansage, die prompt für Schlagzeilen sorgte, unter anderem in angesehenen Blättern wie dem Economist, dem Time Magazine oder Scientific American.[33] Die letzten beiden Artikel räumten immerhin Platz ein für ein paar skeptische Worte des Kriminologen Peter Reuter von der University of Maryland, die in der öffentlichen Diskussion aber eher überhört wurden. Reuter stimmte zwar zu, dass die Dekriminalisierung in Portugal nicht zu einem erhöhten Drogenkonsum geführt habe – was ja schon mal nicht unspektakulär ist –, gab aber zu bedenken, dass einzelne positive Trends, wie etwa sinkender Heroinkonsum, sich nicht automatisch auf die Reform zurückführen lassen. Denn auch ohne Reformen kommen und gehen Drogenepidemien in Wellen. Es fehlt also genau genommen das Kontrollexperiment mit einem zweiten Portugal ohne Reform.
Na gut. Ein wenig Differenzierung ist immer schön, aber solche abwägenden Töne scheinen nicht allzu viel an der Erfolgsgeschichte Portugals zu ändern, oder? Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man die Ausführungen des portugiesischen Mediziners Manuel Pinto Coelho hinzuzieht. Der sprach von einem »portugiesischen Fehlschluss« und nannte die Reform einen »katastrophalen Misserfolg« (»disastrous failure«)[34]. Einen Tipp für die Welt hatte er auch noch: »Don’t follow us« – »Folgt uns nicht!«[35] Hui. Was ist da los?
Besonders interessant ist, dass beide, Greenwald und Pinto Coelho, ihre euphorische beziehungsweise niederschmetternde Bewertung mit Zahlen untermauerten. Nur eben mit sehr unterschiedlichen. Greenwald berichtete im Cato-Report etwa von sinkendem Drogenkonsum bei portugiesischen Jugendlichen. Unter den Siebt- bis Neuntklässlern hätten 2001, zu Beginn der Reform, 10,4 Prozent einmal Cannabis konsumiert, 2006 seien es nur noch 6,6 Prozent gewesen. Bei den Zehnt- bis Zwölftklässlern hätte 2001 etwa ein Viertel (25,6 Prozent) schon einmal Cannabis konsumiert, fünf Jahre später seien es nur noch 18,7 Prozent gewesen.
Pinto Coelho hingegen hatte andere Prozente in petto. In den Jahren rund um die Reform, von 1998 bis 2002, hätte es unter Jugendlichen einen dramatischen Anstieg von 150 Prozent beim Cannabiskonsum gegeben! Von 2002 bis 2006 sei der Konsum zwar bei allen Drogen (außer Heroin) leicht gesunken, jedoch auf einem deutlich höheren Level als vor der Reform verblieben. Das heißt unterm Strich: Hä??
Tja, wühlt man sich durch alle verfügbaren Daten[36], stellt man zunächst fest: Die Datenlage ist so lala. Dummerweise, ja fast schon tragischerweise, hat es die portugiesische Regierung versäumt, ihre Drogenreform auch mit ausführlicher Datenerhebung und Auswertung zu begleiten. Stattdessen gibt es vier unterschiedliche Datensätze zum Drogenkonsum von Jugendlichen – und sowohl Greenwald als auch Pinto Coelho haben sich jeweils nur einen der vier Datensätze rausgesucht. Der jeweilige Datensatz ihrer Wahl bestätigte ihre Aussagen, aber auch nur die. Ein vollständiges Bild zeichnete jedoch keiner der beiden.
Dieses Bild ist – so weit es die So-lala-Daten hergeben – weniger dramatisch als die Darstellungen von Pinto Coelho und Greenwald: Um 2001 herum gab es einen moderaten Anstieg, danach einen leichten, stetigen Abfall. Der Effekt ist also deutlich weniger stark ersichtlich, als beide behaupten.
Hinzu kommt aber noch etwas Entscheidendes: Die Fragestellung bei der Umfrage war: »Hast du schon einmal Cannabis konsumiert?« Das bejahten auch diejenigen, die etwa nur ein einziges Mal gekifft hatten und dann nie wieder. Doch sowohl Greenwald als auch Pinto Coelho interpretierten jedes »Ja« als »Konsum«. Fragte man die Menschen hingegen, ob sie »vor Kurzem« Drogen konsumiert hätten oder aktuell konsumierten, zeigte sich zwischen 2001 und 2007 bei den meisten Altersgruppen durchaus ein Anstieg, mit 7 Prozent der größte unter den 25- bis 34-Jährigen. Doch interessanterweise gab es gerade bei den Jüngeren, den 15- bis 24-Jährigen, einen Rückgang. Es sieht ganz danach aus, dass nach der Reform zwar viele einmal Drogen ausprobiert haben, aber nicht unbedingt dabeigeblieben sind.
Geht man weiter auf Tauchgang durch die Daten, findet man sowohl bei Greenwald als auch bei Pinto Coelho immer wieder Beispiele für eine nicht ganz sachgemäße Auswahl oder Interpretation, die entweder auf resounding success oder disastrous failure schließen lassen.[37] Am Ende liegt die Wirklichkeit wohl doch näher am »durchschlagenden Erfolg« – wenn man »durchschlagend« streicht, passt es wahrscheinlich.
Die Strategie der Dekriminalisierung lohnte sich übrigens auch in anderer Hinsicht für das Land. Durch die Entlastung von Gefängnissen, den Rückgang bei Strafverfolgungsverfahren und durch den größeren Einsatz bei Prävention und Behandlung sparte Portugal schätzungsweise 18 Prozent an sozialen Kosten.[38]
Wenn man nun unter die etwas dünnen Daten einen vorsichtigen Strich zieht, ist die Bilanz der Maßnahmen für Portugal irgendwo zwischen neutral bis positiv einzuordnen – was für manche vielleicht schon überraschend genug sein dürfte. Mich hat bei der Recherche am meisten überrascht, wie schwierig es ist, eine Drogenreform wissenschaftlich einzuordnen. Das scheint auch anderen so gegangen zu sein. Der Wissenschaftsjournalist Keith O’Brien verglich die Ergebnisse der portugiesischen Reform mit einem Rorschachtest[39] – jenen Tintenklecksbildern, in denen jeder etwas anderes sieht.
Die amerikanische Prohibition ist ein gutes Beispiel dafür, dass viele Schäden, die durch Drogen angerichtet werden, erst durch ihr Verbot entstehen. Nehmen wir als noch deutlicheres Beispiel eine Droge, die im Laienverständnis als besonders schlimmes Teufelszeug abgespeichert ist: Heroin. Dabei steckt die Teufligkeit im Detail. Heroin macht sehr stark abhängig und ist bei Überdosis tödlich. Im Gegensatz zu Alkohol, gegen den der Körper noch Abwehrmechanismen wie Kotzen in petto hat, ist eine Überdosis per Spritze schnell gesetzt. Allerdings kann man mit Heroin alt werden – vorausgesetzt, das Zeug ist sauber. Auf der Straße wird Heroin mit allerlei Dreck gestreckt, was die Droge in Kombination mit ihrem extrem hohen Suchtpotenzial so schädlich macht. Infektionskrankheiten wie HIV, übertragen durch schmutzige Spritzen, sind letztendlich auch ein Symptom der Illegalität. Und die gesellschaftliche Ausgrenzung, die illegale Drogen mit sich bringen – man ist ja kriminell! –, hält Abhängige davon ab, sich Hilfe zu suchen. Dabei ist eine Sucht, eine Substanzabhängigkeit, aus medizinischer Sicht eine psychische Erkrankung, die Hilfe und Behandlung braucht, aber keine Stigmatisierung.
Für die Wissenschaftssendung Quarks besuchte mein Kollege Jens Hahne eine Suchtpraxis in Düsseldorf, in der Heroinabhängige behandelt werden, mit sauberem Heroin, auch Diamorphin genannt. Die ärztliche Kontrolle stellt nicht nur eine hygienische Verabreichung sicher, sondern verhindert auch eine Überdosierung, die selbst mit sauberem Stoff lebensgefährlich sein kann. Richtig dosiert ist Diamorphin für den Körper aber überraschend wenig schädlich und ist in der Schweiz oder in Großbritannien schon seit Jahrzehnten ein zugelassenes Medikament.[40] In Deutschland darf es seit 2009 bei starker Heroinsucht eingesetzt werden, wenn andere Behandlungen, zum Beispiel mit Methadon, versagt haben und sich die Betroffenen trotzdem Straßenheroin besorgten.[41] Die Kosten trägt die Krankenkasse, dennoch sind Diamorphintherapien verhältnismäßig selten, obwohl sich einige Suchtexperten dafür aussprechen.[42]
Im Quarks-Beitrag kann man in der Düsseldorfer Suchtpraxis mehrere Sicherheitstüren, 360°-Kameras, schusssicheres Glas, Spezialtapeten und doppelt gesicherte Tresore bestaunen, in denen das reinste Heroin lagert. Dass man enorme Sicherheitsauflagen umsetzen muss, um eine Diamorphinbehandlung anzubieten, ist sicher ein Grund für das relativ geringe Angebot, doch nicht der einzige. »Uns schlug das Vorurteil entgegen, dass wir einen Stoff auf Kosten und zulasten der Allgemeinheit an Suchtkranke ausgeben, die das so nicht verdient haben«, sagt der Arzt und Suchtmediziner Christian Plattner in die Kamera.
Die Sucht ist natürlich ein ganz wesentliches Problem von Drogen. Wer als Verfechter persönlicher Freiheitsrechte auch für ein »Recht auf Rausch« ficht, wird wahrscheinlich dem Gedanken nicht widersprechen, dass eine Suchterkrankung den freien Willen beeinträchtigt. So gesehen kann Schutz vor einem Suchtmittel durch Verbote oder Kontrolle auch dem Schutz der persönlichen Freiheit dienen. Ein Suchtmittel drängt sich zwischen den Menschen und seinen Alltag, seine Arbeit, seine Freunde und Familie und kann das gesamte Leben dominieren. Das gilt für Alkohol ebenso wie für Heroin. Doch eine Sucht bekommt eine ganz neue Dimension, wenn die Substanz, von der man krankhaft abhängig ist, nur in der Kriminalität zu holen ist. Man macht es sich also zu einfach, wenn man argumentiert, dass Heroin deshalb verboten ist, weil es eine Droge mit besonders hohem Suchtpotenzial ist. Denn seinen vollen Schaden entfaltet das Suchtpotenzial erst in Kombination mit dem Verbot.
Wobei selbst das noch eine ziemlich vereinfachte Sicht auf die Dinge ist. Nehmen wir Deutschlands tödlichste Droge mit ins Bild: Tabak. Die Zahlen, die das Deutsche Krebsforschungszentrum in seinem Tabakatlas 2020[43] veröffentlicht hat, sind Respekt einflößend. 2018 waren in Deutschland 127 000 Todesfälle auf das Rauchen zurückzuführen, doch die wirklich beeindruckende Zahl kommt jetzt: Das sind ganze 13,3 Prozent aller Todesfälle! Die häufigsten Todesursachen waren Krebserkrankungen, vornehmlich Lungenkrebs, aber auch Darm- oder Leberkrebs. Weitere Todesursachen: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes Typ 2 und Atemwegserkrankungen.
Der Rauchertrend ist zwar schon seit einer Weile auf einem langsam, aber stetig absteigenden Ast, vor allem bei Jugendlichen.[44] Doch da sich das Rauchen oft erst später im Leben rächt, wird es wahrscheinlich noch ein paar Jahre dauern, bis sich die sinkende Beliebtheit der Zigarette auch in den Sterblichkeitszahlen widerspiegelt.
Das Suchtpotenzial von Nikotin ist erheblich. Man findet Schlagzeilen, die titeln, es mache sogar stärker abhängig als Heroin.[45] Auch wenn man Nikotin wahrscheinlich getrost als eine sehr stark abhängig machende Droge bezeichnen kann, handelt es sich bei direkten Vergleichen mit anderen Drogen eher um individuelle Experteneinschätzungen als um harte Fakten. Ein methodisch sauberer Vergleich zwischen dem Suchtpotenzial von Nikotin und Heroin ist schwierig, da etwa die Beschaffungshürden so unterschiedlich sind, aber auch, weil sich diese beiden Drogen so unterschiedlich auf den Alltag der Abhängigen auswirken. Auch wenn Nikotin per definitionem ein Rauschmittel ist, ist sein Rausch ja eigentlich kaum der Rede wert. Raucher beschreiben ihn weniger genussvoll als Abhängige anderer Drogen, und trotzdem fällt es ihnen höllisch schwer, mit dem Rauchen aufzuhören.[46] Nicht nur eine Heroinsucht, die Süchtige die Arbeit und das soziale Umfeld kosten kann, ist also schwer zu durchbrechen – eine so wunderbar alltagstaugliche Sucht wie das Rauchen hat ihre ganz eigenen Tücken. Nikotinsucht ist in der gesellschaftlichen Wahrnehmung wohl die am wenigsten stigmatisierte Substanzabhängigkeit. Es hat relativ wenig Auswirkungen, öffentlich zuzugeben, nikotinsüchtig zu sein. Und solange man für die Raucherpause mal schnell vor die Tür kann, ist diese Sucht ziemlich problemlos in Arbeits- und Privatalltag integrierbar.
Der Vergleich dieser zwei Drogen, Heroin und Tabak, macht klar, dass man unterschiedliche Schadenskategorien wie Schaden durch Sucht, Schaden durch körperliche Nebenwirkungen, Schaden durch Stigmatisierung, Schaden durch Kriminalisierung usw. vielleicht auf dem Papier voneinander trennen kann, sie in Wirklichkeit aber eng miteinander verwoben sind. All diese nichtlinearen Zusammenhänge machen direkte Vergleiche schwierig. Daher müssen wir an dieser Stelle zu David Nutts Drogenranking zurückkommen und seiner zweiten methodischen Schwäche: Nicht nur ist die Bewertung der Drogenschäden subjektiv, sondern auch die sauber getrennte Aufteilung in 16 unabhängige Schadenskriterien ist höchst künstlich und damit stark vereinfachend.
Aber gehen wir einmal davon aus, es gäbe so etwas wie eine perfekte Schädlichkeitsskala. Nehmen wir an, Nutts Drogenranking wäre absolut objektiv und wissenschaftlich korrekt. Selbst dann wäre es für politische Entscheidungen über Verbot, Kontrolle oder Legalisierung hilflos unterkomplex.
Stellen wir uns zunächst eine Welt ohne Drogen vor. Eines Tages bekommen wir in dieser drogenfreien Welt Besuch von friedlichen Aliens, so friedlich, dass sie ein Willkommensgeschenk für unsere Spezies dabeihaben: die zwanzig Drogen aus Nutts Drogenranking! Die Aliens erklären uns, dass diese Drogen gewisse Gefahren mit sich brächten, manche größere, manche kleinere, trotzdem sollten wir uns aber mal in Ruhe überlegen, ob wir nicht die eine oder andere gebrauchen könnten – denn diese Dinger würden halt einfach verdammt viel Spaß machen. Da die Aliens auch so aussehen, als hätten sie deutlich mehr Spaß als wir, gibt es grundsätzliches Interesse. Manche Menschen sind hellauf begeistert, andere wollen mit dem Alienzeug lieber gar nichts zu tun haben, wieder andere können sich vorstellen, eine Handvoll Drogen zu übernehmen.
Und jetzt stellen wir uns vor, unsere Entscheidungsbasis sei das Drogenranking aus Abbildung 1.1, das in unserem Gedankenexperiment perfekt, objektiv und korrekt ist. Dann wäre es verhältnismäßig einfach, eine Entscheidung zu treffen. Wir könnten demokratisch abstimmen, wie viel Schaden wir in Kauf nehmen würden, und beispielsweise alles von Cannabis abwärts nehmen. Oder vielleicht auch nur Ecstasy, LSD, Buprenophin und Magic Mushrooms, wenn wir nicht so risikofreudig sind. Wir könnten natürlich auch alle Drogen nehmen, oder keine – wie auch immer, wir müssten bei unserer Entscheidung nur die Drogen an sich in Erwägung ziehen.
In Wirklichkeit sind die Drogen aber schon da. Und das ändert alles! In Wirklichkeit wählen wir nicht zwischen Drogen, denn wir haben schon längst bestimmte Entscheidungen getroffen. Zum Beispiel, dass in Deutschland Tabak und Alkohol legal sind, andere Drogen nicht (mit Ausnahme von medizinischem Cannabis für therapeutische Zwecke oder verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln). In Wirklichkeit wählen wir zwischen verschiedenen Drogenpolitiken. Die Frage ist nicht: Alkohol oder Cannabis? Sondern: Alkohol stärker kontrollieren oder alles so lassen? Cannabis legalisieren oder auch weiterhin verbieten?
Mit anderen Worten: Ändern wir die Drogenpolitik, ändern sich automatisch auch Art und Ausmaß der Schäden, die durch die Droge hervorgerufen werden.
Dass Schäden verschiedenster Art durch Verbote erst auftreten können, zeigt nicht nur das Beispiel Heroin. Methamphetamine – also Crystal (Meth), Crack oder Ice, wie sie auch genannt werden – führen beispielsweise zur Schädigung der Umwelt[47], denn sie werden in kleinen Amateurlaboren produziert, zusammen mit schädlichen Abfallprodukten, die unsachgemäß in der Umwelt entsorgt werden. Wäre die Produktion legal, wäre sie automatisch professioneller und die Umweltschäden geringer.
Auch sogenannte Legal Highs sind ein wunderbares Beispiel. Künstlich hergestellte Cannabinoide[48], die den Cannabis-Hauptwirkstoff THC und seine psychoaktive Wirkung imitieren sollen, waren bis 2016 als »Kräutermischungen« ganz legal erhältlich und wurden als Ersatz für das verbotene Cannabis verkauft. Warum legal? Na ja, sobald man an der chemischen Struktur auch nur eine Kleinigkeit änderte, hatte man eine neue Substanz hergestellt, die pro forma zunächst legal war, da das Betäubungsmittelgesetz nur bekannte Substanzen verbieten konnte.
Das Problem: Man bestellte sich legale Kräuter, die mit irgendeiner unbekannten, ungeprüften Substanz besprüht waren – was man da am Ende genau inhalierte, lag ein bisschen in den Sternen. Diese legalen THC-Verschnitte waren teilweise deutlich gefährlicher als das natürliche Hanf-Cannabinoid THC.[49] Natürlich waren die Behörden dabei, alle neuen psychoaktiven Substanzen zu identifizieren und zu verbieten – nur bis sie damit durch waren, wurden schon längst wieder drei neue Legal Highs hergestellt, und für die Behörden ging der Spaß von vorne los.
Um dieses Katz-und-Maus-Spiel endlich zu durchbrechen, wurde 2016 das Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz (NpSG) verabschiedet, mit dem erstmals ganze Substanzklassen verboten wurden.[50] Das NpSG ist damit übrigens das erste Gesetz, das chemische Strukturen enthält – was ich durchaus feiere. Allerdings konnte selbst Chemie das Problem nicht beheben. Eine ausführliche Auswertung des Effekts des neuen Gesetzes kam zu dem ernüchternden Ergebnis, dass es »keine statistisch bedeutsamen Veränderungen« im Konsum bewirkt habe.[51] Das Verbot von Cannabis hat also einen Schwarzmarkt voller synthetischer Cannabinoide geboren, die deutlich schädlicher sein können als Cannabis selbst.
Doch auch die Legalisierung von Drogen führt natürlich zu Schäden, die man wiederum durch Verbote oder stärkere Kontrollen vermeiden oder reduzieren kann. Dabei ist die Schädlichkeit einer Droge für eine Einzelperson grundsätzlich anders zu bewerten, als die Schädlichkeit einer Droge für eine gesamte Gesellschaft. Von einem Meteoriten erschlagen zu werden, ist beispielsweise äußerst schädlich für die getroffene Person. Die Sterblichkeit unter den von Meteoriten Erschlagenen dürfte bei 100 Prozent liegen. Für die Sterblichkeit einer Bevölkerung sind Meteoriteneinschläge allerdings eine vernachlässigbare Todesursache. So ist auch das Einnehmen von Zyankali für eine Person deutlich fataler als der Konsum von Alkohol, dennoch ist Alkoholmissbrauch das deutlich größere Problem für unsere Gesellschaft. Der amerikanische Politikwissenschaftler Jonathan O. Caulkins spricht hier von »micro-level harm« und »macro-level harm«.[52] Der Schaden für eine Einzelperson ist ein Schaden auf der Mikroebene, der Gesamtschaden für eine Gesellschaft einer auf der Makroebene.
Auf der Mikroebene ist die Schädlichkeit unterschiedlicher Drogen noch verhältnismäßig leicht zu bewerten. Eine rein medizinische und toxikologische Bewertung à la »Schädlichkeit pro Konsumeinheit« kommt da schon ganz gut hin. Doch es ist die Makroebene, die für politische Entscheidungen wichtig ist. Und die einfachste (und stark vereinfachte) Formel, um einen Mikroschaden in einen Makroschaden umzurechnen, lautet:
Der Witz ist nun: Das Ausmaß des Konsums ist direkt abhängig vom legalen Status der Droge. Als ich als Jugendliche ein Kleinstadtgymnasium besuchte, stand Kiffen für mich allein deshalb nicht zur Debatte, weil ich gar nicht gewusst hätte, wo ich Gras herbekommen sollte. Ich kann mir vorstellen, dass das heute anders ist – ich erinnere mich daran, dass Cannabis ein viel teuflischeres Image hatte als heutzutage, wo die Cannabispolitik weltweit zunehmend lockerer wird. Bestimmt waren damals andere gewitzter als ich und wussten sich dennoch etwas zu besorgen, aber natürlich hat man zu legalen Drogen in der Regel einen leichteren Zugang, was wiederum zu größerem Konsum führt. Eine Droge, deren Mikroschaden für den individuellen Konsumenten überschaubar ist, könnte als Volksdroge dann doch einen großen Makroschaden anrichten.
Dass David Nutt und seine Kollegen in ihrer Analyse allerdings nicht ausreichend zwischen Mikro- und Makroschäden unterschieden haben, zeigt das Beispiel Tabak vs. GHB (Gammahydroxybuttersäure, auch als Liquid Ecstasy bezeichnet, obwohl es mit Ecstasy sowohl chemisch als auch in seiner Wirkung wenig gemeinsam hat). Tabak bekam nach der multikriteriellen Schädlichkeitsanalyse einen Score von 26 und war damit etwa ein Drittel schädlicher als GHB mit 19 Punkten … wirklich?? Zum Zeitpunkt der Studie standen in Großbritannien 8,5 Millionen Raucher läppischen 50 000GHB