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Der SPIEGEL-Bestseller jetzt im Taschenbuch! Chemie ist alles – was wir tun, was uns umgibt, was wir fühlen, alles hat mit Chemie zu tun. Glauben Sie nicht? Dr. Mai Thi Nguyen-Kim tritt in diesem spannenden Pop-Science-Buch den munteren Beweis an und zerlegt Alltagsphänomene in ihre chemischen Elemente. Witzig und originell erklärt sie, welche chemischen Reaktionen in und um uns herum insgeheim ablaufen, und macht vor allem eins: Lust auf Chemie. Der Tagesablauf dient der preisgekrönten Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Dr. Mai Thi Nguyen-Kim als roter Faden, der durch die ganze Welt von organischer, anorganischer und physikalischer Chemie führt: Der Tag beginnt mit der Chemie des Aufwachens, mit Melatonin- und Cortisol-Spiegel. Wir erfahren, wann der richtige Zeitpunkt für den ersten Kaffee ist, warum Fluoride in der Zahnpasta enthalten sein sollten und warum das Chaos, das uns im Arbeitszimmer auf dem Schreibtisch erwartet, vom Universum gewollt ist. Wir lernen Neues über die Zusammensetzung von Gorillaglas und die Funktionsweise von Handyakkus, wie sie länger halten und warum sie manchmal explodieren. Wir verstehen plötzlich, warum nur Aluminiumsalze gegen Schweißflecken helfen, wieso Schweiß überhaupt stinkt und was man dagegen wirklich tun kann. Beim Einkauf im Supermarkt klärt Mai Thi Nguyen-Kim, ob sich mit Sauerstoff angereichertes »Sport-Mineralwasser« wirklich lohnt. Am Abend verrät sie das Geheimnis eines perfekten Schokotörtchens – und natürlich geht es zu fortgeschrittener Stunde auch darum, was auf molekularer Ebene eigentlich los ist, wenn die Chemie zwischen zwei Menschen stimmt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 273
Dr. Mai Thi Nguyen-Kim
Handys, Kaffee, Emotionen – wie man mit Chemie wirklich alles erklären kann
Mit Illustrationen von claire Lenkova
Knaur eBooks
Was wir tun, was uns umgibt, was wir fühlen – alles hat mit Chemie zu tun. Daran lässt die Wissenschaftlerin und Journalistin Mai Thi Nguyen-Kim keinen Zweifel. Sie zerlegt vertraute Alltagsphänomene in ihre chemischen Elemente und erklärt witzig und originell, welche chemischen Reaktionen in und um uns herum insgeheim ablaufen. Das Ganze macht nicht nur schlau, sondern vor allem eins: Lust auf Chemie. Fünf Jahre nach dem ersten Erscheinen von Komisch, alles chemisch liegt nun endlich die Taschenbuch-Ausgabe des Bestsellers vor.
Widmung
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Anhang
Literatur
Für meine Mama
Meine Eltern sind die liebevollsten Eltern dieser Welt. Ich vergebe selten solche Superlative, aber bei meinen Eltern kann ich das mit bestem Gewissen vertreten. Als starkes Team haben sie gemeinsam gekämpft und ihre eigenen Interessen immer hintangestellt, in einem damals fremden Land ein neues Zuhause geschaffen, um meinem Bruder und mir das privilegierte Leben zu schenken, das wir bis heute genießen.
Oft rede ich nur über meinen Papa, der nicht nur ein wundervoller Vater, Ehemann – und Chemiker – ist, sondern mich und meinen Bruder so inspirierte, dass wir beide auch Chemiker wurden. Doch dieses Buch möchte ich insbesondere meiner Mama widmen. Sie ist diejenige, die mich am meisten geprägt hat, sie ist diejenige, die sich entschloss, zu Hause zu bleiben und sich voller Liebe und Hingabe um meinen Bruder und mich zu kümmern. Sie ist diejenige, die mich jeden Tag gekuschelt, gefördert und motiviert hat. Ihr jahrelanger mütterlicher Volleinsatz hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Ohne meine Mama wäre dieses Buch nie entstanden. Also, wenn es euch gefällt, dann bedankt euch bei ihr.
Ich war ein ziemlich hässliches Baby. Als ich zur Welt kam, hatte ich Gelbsucht und wollte nichts essen beziehungsweise trinken. Meine Eltern machten sich große Sorgen und gaben alles, um mich so viel wie möglich zu füttern – auch als ich schon längst wieder gesund war. Damit wurde ich zu einem verdammt dicken Baby. Meine ersten Haare formierten sich außerdem zu einer Frisur, die an einen älteren Mann mit unsymmetrischen Geheimratsecken erinnerte. Für meine Eltern war ich natürlich das schönste Baby der Welt.
Als Chemikerin fühle ich mich mit der Chemie manchmal wie eine Mutter mit einem hässlichen Kind, dessen Schönheit nur ich alleine sehen kann. Für die meisten Menschen ist Chemie böse, giftig, künstlich. Oder ein verhasstes Schulfach, das man gar nicht schnell genug abwählen konnte. Diesen Menschen mein Baby schönzureden ist eine Wissenschaft für sich.
Im besten Fall haben die Leute gar keine Vorstellung von Chemie. Sie fragen dann mit großen Augen und einer gewissen Ratlosigkeit im Blick: »Und was macht man so mit Chemie?«
Manchmal würde ich mein Gegenüber dann gerne an den Schultern packen, schütteln und schreien: »ALLES!!! Chemie ist ALLES!!!« Leckeres Essen zum Beispiel ist eine meiner frühesten Assoziationen mit Chemie. Mein Vater ist nämlich ebenfalls Chemiker – und ein hervorragender Koch. Er erklärte mir, dass alle Chemiker gut kochen können. Wer nicht kochen könne, sei auch kein guter Chemiker. Als ich mit dreizehn Jahren anfing, mich für Kosmetik zu interessieren, konnte mir mein Vater dazu ebenfalls alles erklären. Zum Beispiel wie Farbpigmente aussehen, wie Volumenhaarspray funktioniert oder was für einen pH-Wert Gesichtscreme hat. Chemie war für mich also schon immer Teil des Lebens und des Alltags.
Seit meinem Chemiestudium bin ich nicht mehr zu retten. Sei es beim Kaffeetrinken, Zähneputzen oder Sport – ich denke an Adenosinrezeptoren, Fluoride und Stoffwechselenzyme. Beim Spaziergang in der Sonne denke ich an Melanine und Vitamin D, beim Nudelkochen an Siedepunktserhöhung und Stärkepolymere. Und kochen kann ich inzwischen übrigens auch ganz ordentlich. Sonst wäre ich ja keine gute Chemikerin.
Nicht nur von Chemie an sich, sondern auch von den Menschen, die sich damit beschäftigen, haben die Leute so ihre ganz eigenen Vorstellungen. »Du siehst gar nicht aus wie eine Chemikerin«, höre ich oft. Der Erfolg von The Big Bang Theory hat uns Nerds zwar salonfähig gemacht, allerdings auch viele Klischees manifestiert, zum Beispiel dass sich Fachkompetenz und Sozialkompetenz kategorisch ausschließen. Das ist nur eines von vielen Klischees, mit denen wir Wissenschaftler kämpfen. Wissenschaftler sind unbekannte Wesen, deren Leben sich in Laboren oder zwischen Bücherregalen abspielen. Niemand weiß, wie wir aussehen, ob wir vielleicht Hobbys haben oder gar Freunde. Sind Wissenschaftler etwa auch nur Menschen? Tja, das weiß man nicht so genau.
Während meiner Doktorarbeit beschloss ich, das Geheimnis um uns Wissenschaftler zu lüften, und zwar mit meinem YouTube-Kanal The Secret Life Of Scientists – Das geheime Leben der Wissenschaftler. Ich wollte mit meinen Videos der Wissenschaft ein Gesicht geben. Ich wollte nicht nur klarmachen, wie cool Wissenschaft ist, sondern auch wie cool Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind. Diese Mission ist wie ein ganz schön kompliziertes Forschungsprojekt, an dem ich heute immer noch arbeite. Inzwischen produziere ich den YouTube-Kanal maiLab für funk und moderiere Quarks im WDR.
Aber warum jetzt noch ein Buch? Weil ich mich hier so richtig austoben möchte. Dieses Buch ist eine Einladung in meine Gedankenwelt als Chemikerin und soll nebenbei auch einen kleinen Einblick in meinen Alltag als Wissenschaftsjournalistin und YouTuberin geben. Doch vor allem möchte ich, dass ihr mit diesem Buch der Chemie einmal ganz tief in die Augen seht und ihrem unwiderstehlichen Reiz erliegt. Und wenn mich mein Glaube an die Menschheit und ihre Neugier nicht trügt, dann werdet ihr nach der Lektüre dieses Buches nicht nur einsehen, dass Chemie wirklich alles ist (komisch!), sondern vielleicht sogar zugeben, wie wunderschön diese Wissenschaft ist.
OCD – Obsessive Chemical Disorder
TRÖT-TRÖT-TRÖT!!!
Der Schreck wirft mich fast aus dem Bett. Mein Herz pocht bis zum Hals.
»Matthiiiiiiiaaaaaaaaaaas«, möchte ich empört schreien, nur mein Sprachsystem ist anscheinend noch nicht ganz aktiv. Mein Körper befindet sich in einer seltsamen Mischung aus Halbschlaf und Nahkampf, ich werfe mich auf Matthias beziehungsweise sein Handy und schaffe es wild fuchtelnd, diesen grausamen Wecker auszustellen. Es ist verdammte 6 Uhr morgens.
Matthias hat die schreckliche Angewohnheit, mindestens zweimal pro Woche mitten in der Nacht aufzustehen, um laufen zu gehen. Für mich bedeutet das leider, dass ich immer kurz vor ihm wach werden muss, damit mein Tag nicht mit einem Stresshormongefecht anfängt.
Ich lasse mich morgens am liebsten von einem kaum hörbaren Feengeklingel wecken, weil mein Tag sonst mit Herzrasen startet. Matthias hingegen braucht mindestens 100 Dezibel und dieses schlimme TRÖT-TRÖT-TRÖT, um überhaupt wach zu werden. Deswegen stelle ich meinen Wecker in der Regel eine Minute vor seinem, um mich mental auf den Stress vorzubereiten. Nur heute hatte ich nichts von seinen sportlichen Plänen gewusst.
Ich reiße die Vorhänge auf, um Matthias’ Melatoninspiegel zu senken.
»Matthias«, bekomme ich nun endlich heraus.
»Hmm«, brummt der Mann, immer noch im Halbschlaf. Unglaublich.
Das Molekül Melatonin wird liebevoll auch Schlafhormon genannt. Es wird in einer kleinen Drüse namens Zirbeldrüse hergestellt, die in der Mitte unseres Gehirns sitzt. Der Spitzname Schlafhormon kommt nicht von ungefähr, denn Melatonin spielt eine wichtige Rolle in unserem circadianen Rhythmus (lat. circa dies, »rings um den Tag«), also unserem inneren Schlaf-Wach-Rhythmus: Je höher unser Melatoninspiegel, desto müder fühlen wir uns. Doch praktischerweise hilft Licht dabei, seine Konzentration zu senken. Langsam scheint das auch bei Matthias zu wirken.
Die Welt in Molekülen zu sehen ist wie ein Zwang für mich, aber ein schöner Zwang. Man könnte sagen, ich leide unter OCD – Obsessive Chemical Disorder. Wenn ich mir vorstelle, wie Nichtchemiker ihren Alltag leben, so ganz ohne an Moleküle zu denken, finde ich das traurig. Sie wissen gar nicht, was sie verpassen. Am Ende lässt sich nämlich alles Interessante irgendwie mit Chemie erklären. Und letztendlich seid ihr, die ihr gerade diese Zeilen lest, nichts anderes als Haufen von Molekülen, die etwas über Moleküle lesen. Und Chemiker sind Haufen von Molekülen, die über Moleküle nachdenken. Das ist schon fast spirituell.
Wie sieht nun mein Morgen in Molekülen aus?
Wie gut wir morgens aus dem Bett kommen, entscheiden vor allem zwei Moleküle. Von dem einen – Melatonin – brauchen wir weniger, von einem anderen dagegen mehr: von dem Stresshormon Cortisol, das morgens automatisch ausgeschüttet wird. »Stresshormon« klingt stressig, aber in moderaten Mengen hilft uns Cortisol einfach dabei, in die Gänge zu kommen. Dieser nette Zusatzservice unseres Körpers braucht normalerweise noch nicht einmal einen Wecker. Das TRÖT-TRÖT-TRÖT war nun ein bisschen zu viel des Guten und hat bei mir eine waschechte Fight-or-Flight-Reaktion ausgelöst: Kampf oder Flucht. Ein seit Urzeiten bewährtes, ausgeklügeltes Notfallsystem für den Fall einer drohenden Lebensgefahr.
Generell ist Stress, genau wie Schmerz, eigentlich eine begrüßenswerte Reaktion unseres Körpers. Während Schmerz uns zu verstehen gibt, dass etwas nicht stimmt, hilft uns Stress dabei, unser Leben zu retten. Stellt euch vor, ihr spaziert durch die Steinzeit und lauft dabei einem Säbelzahntiger über den Weg. (Säbelzahnkatze müsste man korrekterweise sagen, aber bleiben wir beim Tiger für die Dramatik.) Da würdet ihr ziemlich blöd dastehen, wenn der Körper nicht sofort einen ordentlichen Batzen Stresshormone ausschütten würde, die euch blitzschnell reagieren lassen. Dann heißt es, entweder raus mit dem Speer (Kampf) oder ab auf den nächsten Baum (Flucht)!
Wir müssen davon ausgehen, dass auch der Säbelzahntiger eine Fight-or-Flight-Reaktion durchläuft. Ob Menschen damals tatsächlich auf dem Speiseplan der Säbelzahntiger standen, ist bisher nicht wirklich geklärt. Immerhin waren Menschen auch »Raubtiere«, und eine solche Begegnung war vielleicht ein Zusammentreffen zweier Jäger, die sich gegenseitig Respekt einflößten. Die Fight-or-Flight-Reaktion ist jedenfalls älter als der Mensch und ist auch in vielen Tieren als Alarmsystem installiert. Und wie funktioniert dieses Alarmsystem? Durch Moleküle natürlich.
Die Moleküle, die in unserem Körper schlummern, müssen zunächst durch irgendeinen Auslöser geweckt werden. In der Steinzeit war es vielleicht ein Säbelzahntiger, heute ist es Matthias’ Monsterwecker. Dessen akustisches Signal führt zunächst dazu, dass ein Nervenimpuls vom Gehirn über das Rückenmark bis in die Nebennieren schießt. Die Nebennieren gehören mit der Zirbeldrüse zu den wichtigsten Hormonfabriken unseres Körpers. Dieser Nervenimpuls veranlasst die Nebennieren nun dazu, das wahrscheinlich bekannteste Stresshormon auszuschütten: Adrenalin. Das wird prompt in die Blutbahn gepumpt, über die es sich nun auf den Weg zu verschiedenen Organen macht. Ein Hormon ist nichts anderes als ein Botenstoff, also ein Molekül, das wichtige Botschaften überbringt. In diesem Fall lautet die Botschaft: PANIK!!
Während Adrenalin schnell durch die Blutbahn wirbelt, aber auch schnell wieder verschwindet, rüstet sich ein anderes Hormon für den Stresskrieg: ATCH(Adrenocorticotropes Hormon) wird in der Hirnanhangdrüse produziert und macht sich über die Blutbahn auch auf den Weg in die Nebennieren, das Basislager des Fight-or-Flight-Kampfes.
Kaum angekommen, tritt das Hormon eine ganze Kette chemischer Reaktionen los. Ich stelle mir das gerne vor wie eine dieser typischen epischen Kampfszenen aus Filmen. Nach dem Alarm des Vorboten Adrenalin ist ATCH der Heeresführer, der mit geballter Faust den ersten Kampfschrei loslässt, der die Armee mobilisiert und die Schlacht in Gang setzt. Schließlich wird das zweite Stresshormon Cortisol in die Blutbahn geworfen und macht sich ebenfalls auf den Weg zu verschiedenen Organen.
Hormone können eine Vielzahl körperlicher Reaktionen auslösen. Zu einer Fight-Or-Flight-Reaktion gehören unter anderem ein erhöhter Puls, eine stärkere Durchblutung der Muskeln (nach dem Motto: LAUF!!!), eine schwächere Durchblutung unseres Verdauungssystems (nach dem Motto: Lass alles stehen und liegen, wir haben gerade Besseres zu tun!), eine vertiefte Atmung, erweiterte Pupillen, Schweißausbrüche, Gänsehaut und eine erhöhte Aufmerksamkeit.
Durch all diese körperlichen Reaktionen auf die Ausschüttung meiner Stresshormone bin ich jetzt natürlich hellwach, aber das Gefühl, in Lebensgefahr zu schweben, ist nicht gerade angenehm. Den Molekülen kann ich deswegen keinen Vorwurf machen. Unser Körper läuft nun einmal auf einer Chemie, die aufs Überleben getrimmt ist. Die armen Stressmoleküle wissen nicht, dass Matthias’ Wecker keine Lebensbedrohung ist. Sie wollen eigentlich nur helfen.
Das Dumme ist nur, dass unser modernes Leben voller Stress ist, in der Schule, im Beruf, in zwischenmenschlichen Beziehungen. Aber die wenigsten Situationen sind wirklich lebensgefährlich – zumindest nicht akut. Chronischer Stress schlägt durchaus auf die Gesundheit. Damit wir und unsere Moleküle nicht völlig durchdrehen, hat unser Stresssystem zum Glück eine negative Rückkopplung, die dafür sorgt, dass der Körper nicht komplett eskaliert und sich in die Panik hineinsteigert. Das ist unter anderem dem Cortisol zu verdanken, dem Stresshormon mit Selbstdisziplin. Während Adrenalin nur einmal durch die Blutbahn stürmt und dann schnell wieder verschwindet, bleibt Cortisol etwas länger im System und sorgt letztendlich dafür, dass die Ausschüttung von ATCH gehemmt wird – und damit auch seine eigene Produktion.
Eine perfekte Morgenchemie hingegen sähe so aus: Noch während ich schlummere, treffen die ersten Sonnenstrahlen durch meine Augenlider auf meine Netzhaut. Die ist über den Sehnerv mit dem Gehirn verbunden. Dort wird in der Zirbeldrüse nun die Produktion des Schlafhormons Melatonin gehemmt. Da die Zirbeldrüse indirekt mit dem Sehnerv verbunden ist, wird sie manchmal auch »das dritte Auge« genannt. Das klingt esoterisch, aber es ist was dran. Bei Amphibien ist die Zirbeldrüse tatsächlich wie ein drittes Auge, da sie direkt lichtempfindlich ist.
Während mein Melatoninspiegel langsam sinkt, wird eine angenehme Menge an Cortisol ausgeschüttet. Im besten Fall wacht man so von alleine auf.
Matthias ist unglaublich lichtempfindlich, wenn es ums Schlafen geht. Deshalb schläft er nie ohne Schlafbrille. Da er so jegliches Tageslicht wegblockt, sinkt sein Melatoninspiegel morgens nicht so schnell. Künstliche Dunkelheit ist genauso verwirrend für unseren circadianen Rhythmus wie künstliches Licht. Von beidem haben wir in unserem modernen Leben viel, was unsere innere Uhr aus dem Takt bringt. Meine Hypothese ist, dass Matthias gar keinen Monsterwecker bräuchte, wenn er einfach die Schlafbrille weglassen würde. Matthias hingegen meint, sein Melatoninsystem sei einfach zu empfindlich, ohne dieses wattierte Ding auf der Nase würde er nicht genug Schlaf bekommen.
Was uns beiden die Argumentation schwer macht, ist, dass Melatonin eventuell gar kein Schlafhormon ist. Zum Beispiel steigt der Melatoninspiegel nachts auch bei nachtaktiven Tieren – da wäre es also eher ein »Wachhormon«. Labormäuse wiederum produzieren oft kaum Melatonin wegen einer genetischen Mutation, und trotzdem schlafen die Tiere ganz normal. Plottwist! Also macht Melatonin doch nicht müde? Na ja, auf der anderen Seite gibt es mehrere Studien, die belegen, dass Melatonin als Therapie bei Schlaflosigkeit oder chronisch spätem Einschlafen hilft. Hm. Und jetzt? Schlafforscher sind sich tatsächlich noch nicht einig darüber, wie Melatonin nun genau mit Schlaf zusammenhängt. Solange noch nicht geklärt ist, ob Melatonin wirklich müde macht, können Matthias und ich lange über seine Schlafbrille diskutieren.
Tja, ich will euch direkt im ersten Kapitel eine Sache ans Herz legen: Wer Wissenschaft verstehen will, sollte sich abgewöhnen, nach einfachen Antworten zu suchen. Das klingt zunächst anstrengend, aber ich verspreche euch: Wissenschaftliches Denken macht diese Welt nicht trockener, sondern bunter und wundervoller (im wörtlichen Sinn: voller Wunder). Einigen wir uns jetzt also erst einmal darauf, dass Melatonin kein »Schlafhormon«, sondern eher ein »Nachthormon« ist, das dem Körper übersetzt, was die Augen sehen: Es wird dunkel.
Für Matthias und meinen persönlichen Melatonin-Disput könnte ein Langzeitexperiment Licht ins Dunkel (und in Matthias’ Netzhaut) bringen. Das Problem ist, dass Experimente mit zwei Teilnehmern statistisch nicht haltbar sind. So bleibt uns nur die Diskussion.
Ich gehe in die Küche, um mir einen Kaffee zu machen. Idealerweise sollte man seinen ersten Kaffee nicht sofort, sondern erst eine Stunde nach dem Aufstehen trinken. Denn der morgendliche Cortisolschub ist ja bereits ein körpereigener Wachmacher. Koffein motiviert den Körper ebenfalls zur Produktion von Cortisol. Perfekt, könnte man denken, dann packe ich auf meinen morgendlichen Cortisolpegel einfach noch eine Ladung Kaffee-Cortisol mit drauf! Leider (oder zum Glück) funktioniert unser Körper so aber nicht, denn er hält sich gerne in Balance. Man muss damit rechnen, dass er sich mit der Zeit an den Kaffeeboost gewöhnt, indem er den eigenen morgendlichen Stressservice herunterregelt. Deshalb lieber warten, bis der körpereigene Cortisolschub wieder abgeflacht ist – das dauert etwa eine Stunde –, und dann erst mit einem Kaffee nachlegen.
Weil ich mich aber gerade fühle, als sei mein ganzes Morgencortisol innerhalb von einer Minute schlagartig verpulvert worden, greife ich doch zum Kaffee, um der Müdigkeit entgegenzuwirken, die mich schon wieder erfasst hat.
Falls euch gerade nicht zu heiß ist, holt euch doch auch eine Tasse Kaffee, Tee oder ein Heißgetränk eurer Wahl, das ihr während der Lektüre der nächsten Abschnitte schlürfen könnt. Es gibt nämlich nichts Besseres als ein warmes Getränk, um die Welt in Molekülen zu sehen. Wenn ich meine dampfende Kaffeetasse vor mich auf den Tisch stelle, dann wird nach kurzer Zeit der Tisch unter der Tasse auch warm. Und wenn ich länger warte, wird der Kaffee irgendwann kalt. Habt ihr euch schon einmal gefragt, wo die Wärme eigentlich hingeht?
Damit sind wir auch schon mittendrin in einem meiner Lieblingsthemen: dem Teilchenmodell. Klingt erst mal nicht besonders aufregend, aber wartet mal ab – das Ding hat Faszinationsgarantie. Das Teilchenmodell sagt: Jeder Stoff im Universum besteht aus Teilchen. Das können Atome sein, das können Moleküle sein – praktischerweise müssen wir beim Teilchenmodell noch nicht einmal wissen, wie diese Teilchen genau aussehen. Und trotz dieser stark vereinfachten Betrachtungsweise können wir damit unsere Welt zum Teil (zum Teilchen, haha) erstaunlich gut beschreiben, wie etwa meinen Kaffee.
Wenn ich einen Kaffee trinke, trinke ich also Kaffeeteilchen. Oder eben Teeteilchen, je nach Wahl des Heißgetränks. Stellen wir uns diese Teilchen vor wie winzige Kugeln, die man mit bloßem Auge nicht sehen kann. In Wirklichkeit sind es hauptsächlich Wassermoleküle, ein bisschen Koffein (oder Teein, das ist übrigens dasselbe Molekül) und noch ein paar andere Moleküle wie Aromastoffe. Diese Teilchen sind in ständiger Bewegung. Das kann man sogar sehen, obwohl man Moleküle ja eben nicht mit bloßem Auge sehen kann.
Wie das gehen soll? Ganz einfach: Nehmt euch ein Glas Leitungswasser und gebt da einen Tropfen Kaffee hinein (noch besser funktioniert es mit Tinte, aber wenn ihr gerade sowieso Kaffee trinkt …). Auch wenn ihr das Glas ruhig auf dem Tisch stehen lasst, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich der Tropfen Kaffee im ganzen Glas verteilt hat, auch ohne Umrühren. Das ist jetzt vielleicht keine Beobachtung, die euch umhauen wird. Aber macht euch einmal klar, was da eigentlich gerade in diesem stillen Glas Wasser los ist! Ein chaotisches Gewimmel und Gezappel, eine regelrechte Teilchenparty! Auf diese unsichtbare Teilchenparty möchte ich euch hiermit einladen – denn genau hier beginnt die Chemie.
Übrigens: Das Wasserglas, die Kaffeetasse, der Tisch, der Boden, auf dem er steht, die Luft und natürlich auch du und ich bestehen aus Teilchen. Und auch die bewegen sich! So etwas wie Stillstand gibt es praktisch nicht. Genau in diesem Moment findet überall – in deiner Tasse, unter deinen Füßen und in deinem Körper – eine Teilchenparty statt, du kannst sie nur nicht sehen.
Man könnte jetzt einwerfen, warum man sich eine Welt aus vielen kleinen Teilchen vorstellen sollte, wenn man davon eh nichts mitkriegt? (Abgesehen davon, dass es einfach eine coole Vorstellung ist. Finde ich zumindest.) Also: Man kann sich dadurch zum Beispiel erklären, wie die verschiedenen Aggregatzustände – fest, flüssig und gasförmig – entstehen. Ob ein Stoff fest, flüssig oder gasförmig ist, hängt davon ab, wie beweglich die Teilchen sind.
Meine Kaffeetasse ist fest, weil sich die Tassenteilchen nur wenig bewegen. Sie sind nämlich über molekulare Bindungen miteinander verknüpft. Über chemische Bindungen werden wir später noch ausführlich reden, aber stellen wir uns die molekulare Situation vorerst so vor: Ihr steht bei einem Konzert in einer dicht gedrängten Menschenmasse und könnt euch kaum bewegen. Aber ihr springt natürlich trotzdem herum, so gut es eben geht. So könnt ihr euch die Teilchen innerhalb eines Feststoffs wie einer Kaffeetasse vorstellen.
Im flüssigen Inhalt der Tasse, dem Kaffee, sind die Teilchen nun schon etwas beweglicher, auch wenn sie noch stark miteinander wechselwirken. Auf dem Konzert befänden wir uns hier im Moshpit vor der Bühne, wo wild herumgesprungen wird. Die gasförmigen Luftmoleküle, die wir gerade einatmen, sind aber die wildesten. Die bewegen sich ganz ohne Rücksicht auf ihre Mitmoleküle. Hierzu müsste man das Konzertgelände um ein Vielfaches vergrößern, sodass alle Zuschauer frei herumrennen und Purzelbäume schlagen können, ohne sich dabei in die Quere zu kommen.
Um zwischen Aggregatzuständen zu wechseln, muss man die Temperatur verändern, das kennen wir vom Wasser. Erhitzen wir festes Wasser, also Eis, schmilzt es zur Flüssigkeit; erhitzen wir es noch weiter, verdampft das Wasser und wird gasförmig. Trifft der Wasserdampf nun auf eine kühle Fläche, etwa wie beim Spiegel im Bad, kondensiert er, wird also wieder flüssig. Kühlen wir Wasser weiter ab, erstarrt es zu Eis.
Ist doch alles klar, warum erzähle ich euch das? Weil ich einen kleinen Mindblow für euch habe: Temperatur ist nichts anderes als die Bewegung von Teilchen. Je heißer, desto schneller, je langsamer, desto kälter. Ist es nicht cool, eine molekulare Definition für Temperatur zu haben? Findet ihr das nicht auch viel befriedigender als eine Temperatur auf einem Thermometer?
Wenn man sich jetzt die dampfende Kaffeetasse anschaut, ergibt alles viel mehr Sinn: Der Kaffee ist heiß, das bedeutet, die Wassermoleküle bewegen sich schnell und stoßen dabei aneinander. Diejenigen, die verdampfen, sind so schnell und brauchen so viel Platz, dass sie sich vor lauter Bewegungsdrang aus der Kaffeetasse heraus in die Gasphase verabschieden.
Wie überträgt sich nun die Wärme vom Kaffee auf die Tasse und von da weiter auf den Küchentisch? Wärmeleitung funktioniert durch Zusammenstöße zwischen Teilchen und durch Übertragung von Bewegungsenergie. Die Kaffeeteilchen sausen also in der Tasse umher und stoßen dabei immer wieder gegen den Rand der Tasse. Wie beim Autoscooter geraten dadurch auch die Tassenteilchen stärker in Bewegung und beginnen, schneller zu schwingen. Die Tassenteilchen stoßen ihrerseits an die Teilchen des Küchentischs und bringen den ebenfalls stärker in Schwingung. Und weil die Wärmeleitung immer in Richtung des jeweils kälteren Ortes verläuft, wird der Tisch unter der Tasse warm.
Jetzt verstehen wir auch, warum der Kaffee irgendwann kalt wird: nämlich aus demselben Grund, warum ein angestoßenes Pendel irgendwann wieder stillsteht. Wie beim Autoscooter bremsen sich die Teilchen bei jedem Zusammenstoß gegenseitig ab, bis alle wieder auf Raumtemperatur beziehungsweise »Raumgeschwindigkeit« sind.
Alle Teilchen sowie das gesamte Universum mit allem, was es beinhaltet, folgen dem Ersten Hauptsatz der Thermodynamik. Wir können ihn hier gleichsetzen mit dem Energieerhaltungssatz, der sagt, dass Energie niemals erschaffen oder vernichtet, sondern lediglich umgewandelt werden kann. Man kann stattdessen auch sagen: Die Gesamtmenge der Energie bleibt immer konstant. Wenn ein Teilchen an Energie gewinnt, muss dieselbe Menge an Energie an anderer Stelle verloren gehen. Wenn ein Teilchen beim Zusammenstoß einen Teil seiner Bewegungsenergie auf ein anderes Teilchen überträgt, das dadurch schneller wird, muss es selbst langsamer werden. Wenn nicht, wäre das so, als hätte man Energie aus dem Nichts erschaffen, und das ist nicht möglich. Auch Energie vernichten ist gegen die Gesetze der Thermodynamik, weswegen man so manchen Physiker oder Chemiker ganz herrlich ärgern kann, wenn man im Alltag von »Energie verschwenden« redet. (Falls ihr Physiker oder Chemiker kennt, probiert das mal aus.)
Bevor ich euch weiter in meinen Tag mitnehme, noch ein letztes interessantes Gedankenexperiment mit dem Teilchenmodell, möglicherweise das interessanteste von allen: Wo auch immer ihr gerade sitzt, die Gegenstände um euch herum fühlen sich verschieden warm oder kalt an. In einem geschlossenen Raum haben alle Gegenstände allerdings ein und dieselbe Temperatur, nämlich Raumtemperatur. Warum ist jetzt aber ein Metalllöffel offenbar kälter als ein Holztisch?
Na ja, eine Sache in diesem Raum hat keine Raumtemperatur, und das ist euer Körper. Der hat ja eine Körpertemperatur, und die liegt höher als die Raumtemperatur, zumindest hoffe ich das doch sehr für euch. Was ihr fühlt, wenn ihr einen Löffel oder einen Holztisch anfasst, ist nichts anderes als eure eigene Körperwärme! Wenn diese Wärme schnell von euch weggeleitet wird, fühlt sich der Gegenstand kalt an, wenn sie langsam weggeleitet wird, fühlt er sich warm an.
Wenn ich den Löffel in die Hand nehme, stoßen meine Handteilchen an die Löffelteilchen und bringen diese in Schwingung. Je schneller die Metallatome des Löffels schwingen, desto wärmer wird der Löffel. Metall ist nun ein guter Wärmeleiter: Wenn die Metallteilchen von meinen Fingerteilchen angestoßen werden, pflanzt sich diese Bewegung durch den Löffel gut fort. Warum Metall ein guter Wärmeleiter ist, liegt in der Art und Weise der chemischen Bindung innerhalb des Metalls. Die werden wir uns in Kapitel 8 genauer ansehen. Fürs Erste könnt ihr euch die Bindungen im Metall vorstellen wie ein Klettergerüst aus Seilen. Wenn ein Kind beim Klettern auf einem dieser Seile herumspringt oder herumwackelt, dann pflanzt sich diese Bewegung schnell durch das ganze Klettergerüst fort. Ein zweites Kind auf der anderen Seite des Klettergerüstes wird direkt mitgeschaukelt. Gleichzeitig wird die Bewegung des springenden Kindes durch den Energieerhaltungssatz gedämpft: Dadurch, dass das Kind seine Bewegungsenergie auf das Netz und das andere Kind überträgt, wird es selbst langsamer. Seine Bewegung wird gedämpft. Thermodynamisch betrachtet heißt das: Es wird langsamer, energieärmer – sprich kälter.
Es gibt aber auch Klettergerüste aus festen Stangen. Wenn das Kind nun hier auf einer Stange herumspringt, so wird das nicht viel Einfluss auf das zweite Kind auf demselben Klettergerüst haben. Seine eigenen Bewegungen werden kaum gedämpft und anderswohin übertragen, weshalb es schneller und dadurch wärmer ist. Ein solches Stangenklettergerüst entspricht einem schlechten Wärmeleiter wie Holz. Wenn du deine Hand auf einen Holztisch legst, bringst du dadurch nur diejenigen Holzteilchen zum Schwingen, die in unmittelbarer Nähe zu deiner Hand sind. Die Schwingung und Bewegung pflanzt sich nicht so gut weiter durch das Holz fort. Es fühlt sich wärmer an als der Metalllöffel.
Wenn Temperatur nichts anderes ist als die Bewegung von Teilchen, kann man sich auch den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik besser vorstellen. Der sagt: Wärme fließt immer vom Warmen zum Kalten und nie andersrum.
Wenn du eine Flasche Cola in einen Eimer Eiswürfel steckst, dann fließt nicht etwa die Kälte aus dem Eis in die Flasche, sondern es ist genau umgekehrt: Die Wärme von der Flasche fließt in die Eiswürfel, diese erwärmen sich, und die Flasche kühlt dadurch ab.
Wenn ihr mit diesem Wissen das nächste Mal jemanden sagen hört: »Mach das Fenster zu, die Kälte kommt rein«, dann lasst diesen thermodynamischen Unsinn nicht auf euch sitzen und sagt: »Du meinst wohl, die Wärme geht raus!« Und wenn ihr euch dann noch aufregt, wann immer jemand von »Energie verschwenden« spricht, könnt ihr euch bereits ziemlich unauffällig unter die Nerds mischen. Denn soeben habt ihr die Einführung in die Physikalische Chemie gemeistert, herzlichen Glückwunsch! Und das im besten Fall noch bevor ihr euren Kaffee ausgetrunken habt.
Matthias kommt in die Küche und tätschelt entschuldigend meinen Kopf.
»Tut mir leid, ich habe vergessen, dir zu sagen, dass ich heute laufen gehe.«
»Schon gut«, sage ich, »ich muss sowieso wieder meinen Schlafrhythmus anpassen.«
Obwohl ich es theoretisch besser weiß, liebe ich es, am Wochenende auszuschlafen. Damit versetze ich mich jedes Wochenende in einen »Social Jetlag«. Mein circadianer Rhythmus kann natürlich nicht zwischen Wochentag und Wochenende unterscheiden. Wochenenden sind zwar eine super Sache, aber ein modernes, gesellschaftliches Konstrukt, mit dem unser Körper erst mal nicht viel anfangen kann. Eigentlich richtet sich unser natürlicher Melatoninspiegel mehr oder weniger nach der Sonne. Doch ich bin bei Sonnenaufgang todmüde und gehe dafür viel zu spät ins Bett. Mein Leben mit Kaffee, künstlichem Licht und Monsterweckern verwirrt meinen Körper ständig mit falschen Reizen. Forscher konnten beobachten, dass eine Woche Zelten in der freien Natur, fernab von Kaffee, künstlichem Licht und Handys, den Melatoninzyklus wieder an die Sonnenzeit anpasst. Zu dumm, dass ich nicht gerne zelte.
Doch eine Sache ist wirklich seltsam: Unsere innere Uhr funktioniert prinzipiell auch ohne Licht. Wir haben uns auf dieser Erde, deren Tage nun einmal 24 Stunden haben, genau so entwickelt, dass unsere innere Uhr mit nur kleinen Abweichungen auf 24-Stunden-Tage eingestellt ist. Das Licht hilft uns dabei, unsere innere Uhr zu stellen, sprich die Tage zu synchronisieren und uns zum Beispiel an einen Jetlag anzupassen.
2017 wurde der Nobelpreis für Medizin an drei amerikanische Forscher verliehen, die unsere innere Uhr aufschlüsselten. Dazu hielten sie Fruchtfliegen in zwei verschiedenen Kammern, die sie mit »New York« und »San Francisco« beschrifteten, und inszenierten die Belichtung nach dem jeweiligen Sonnenrhythmus der beiden Küstenstädte. Immer wieder wurden Fruchtfliegen in ein »Flugzeug« (ein Glas) gesetzt und reisten zur anderen »Stadt«. Die Amerikaner beobachteten, wie die Fliegen mit dem 3-Stunden-Jetlag umgingen.
Dabei fanden sie heraus, dass zwei verschiedene Gene essenziell für die innere Uhr sind. Bei Genen wird die Chemie erst richtig spannend! Unsere DNA ist nicht nur selbst ein Molekül, sondern sorgt auch für die Produktion anderer, lebenswichtiger Moleküle. In unseren Genen sind all die Informationen codiert, die wir zum Leben brauchen, auch die über unsere innere Uhr. Dieser Code kann gelesen und übersetzt werden, indem diese Gene Proteine produzieren. Mit anderen Worten: Die Gene haben den Plan, die Proteine setzen ihn um. (Proteine sind ganz gewitzte Moleküle, von denen wir im Laufe des Buches noch einiges mehr hören werden.)
Die beiden »Uhr-Gene« produzieren also zwei »Uhr-Proteine«. Im Laufe des Tages steigt die Konzentration der beiden Proteine zunächst an. Doch dann verbinden sich die zwei zu einer Einheit, und in diesem Zweierteam sind sie dazu in der Lage, den eigentlichen Plan ihrer Gene in die Tat umzusetzen: Die Hemmung ihrer eigenen Produktion. Yep, ihr habt richtig gelesen. Diese Proteine werden produziert, um ihre eigene Produktion wieder zu stoppen. Sie bewirken nämlich, dass ihre eigenen Gene nicht mehr »gelesen« werden können. Ähnlich wie beim Cortisol und dem Stress haben wir hier eine negative Rückkopplung. Werden keine neuen Uhrproteine mehr produziert, sinkt ihre Konzentration wieder. Schließlich ist die Proteinkonzentration so niedrig, dass das Ablesen der Gene nicht mehr länger gehemmt wird – und die Produktion der Proteine beginnt von Neuem. Und dieser ganze Zyklus dauert eben fast exakt 24 Stunden. Tag und Nacht sind also in unseren Genen kodiert.
Ich habe allerdings das Gefühl, dass mit meinen Genen irgendetwas nicht stimmt. Ich bin davon überzeugt, dass mein Körper für einen 30-Stunden-Tag gemacht ist – ich bräuchte viel längere Tage und viel mehr Schlaf. Ich würde mich gerne mal untersuchen lassen.
»Ich muss los«, sagt Matthias.
Mein Handy vibriert. Erstaunt sehe ich, dass es Christine ist. Um diese Zeit schon wach?
»Ich glaube, Jonas ist gestorben«, schreibt sie.
»Ich ruf dich gleich an«, antworte ich.
Matthias, schon in Laufklamotten, reckt noch mal den Kopf durch die offene Tür und fragt, ob er einen Schlüssel mitnehmen soll.
»Nein«, sage ich. »Mach die Tür zu, die Wärme geht raus!«
Tod durch Zahnpasta
Wo bist du gerade?«, frage ich, als Christine endlich an ihr Handy geht.
»Auf dem Weg ins Labor.« Sie klingt verärgert.
»Also, was ist jetzt mit Jonas?«
»Bei dem war ich gerade.«, schnaubt sie.
»Du hast also doch bei ihm übernachtet? Wie …«
»Mai«, unterbricht sie mich. »Er benutzt NATURZAHNPASTA.«
»Wie?«
»Ohne Fluoride.«
Ach du Scheiße, denke ich. Jonas ist ein ganz süßer Physiker, mit dem Christine seit ein paar Wochen was am Laufen hat. Wir kennen ihn eigentlich schon länger über unseren Kumpel Hannes, der ist ebenfalls Physiker. Obwohl Jonas extrem gut aussehend ist, hatte sich Christine nie besonders für ihn interessiert. Ich würde sie als sapiosexuell bezeichnen, sprich, sie fühlt sich emotional und körperlich nur zu intelligenten Menschen hingezogen. Als uns Hannes irgendwann erzählte, dass Jonas »das totale Brain« sei und immer Semesterbester war, war Christine dann plötzlich ganz scharf auf ihn. Umso erschreckender, dass er Zahnpasta ohne Fluoride benutzt.
»Bist du sicher?«, frage ich. »Vielleicht lag es an der Tube, die machen ja alle heute so ein biomäßiges Marketing. Schließlich gibt es auch Kräuterzahnpasta mit Fluoriden.«
»Nein, es stand ganz groß ›OHNE FLUORIDE‹ drauf. Und die Liste mit den Inhaltsstoffen habe ich mir auch durchgelesen.«
»Aha. Und was ist dann drin, wenn keine Fluoride drin sind? Was ist der Ersatzstoff? Hast du es mal …«
»Darum geht es jetzt nicht«, unterbricht mich Christine.
Oh, oh. Wenn sie noch nicht einmal Lust hat, über Inhaltsstoffe zu sinnieren, ist es wirklich ernst.
»Ich bin so abgeturnt. Ich denke, Jonas ist für mich gestorben.«
Diagnose »Tod durch Zahnpasta«, denke ich. Ironischerweise genau das, was Jonas vielleicht wirklich fürchtet.
»Aber hast du ihn mal gefragt? Vielleicht hat er beim Kaufen nur nicht darauf geachtet.«
»Er sagt, Fluoride verkalken die Zirbeldrüse. Und dann wusste er noch nicht einmal genau, wo die Zirbeldrüse ist!«
Tja, Physiker sind halt doch keine Chemiker, denke ich.
»Hydroxylapatit«, sagt Christine unvermittelt.
»Was?«
»Der Ersatzstoff für Fluorid in dieser Kräuterzahnpasta«, schnaubt sie. »Lächerlich.«
»Du meinst Hydroxylapatit wie im Zahnschmelz?«
»Ja! Warum ist so etwas überhaupt erlaubt?«
»Interessant«, sage ich.
»Mach mal bitte ein Video darüber«, sagt Christine. »Ich bin jetzt im Labor. Wir reden später.«