Die Klinge des Waldes - Royce Buckingham - E-Book
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Die Klinge des Waldes E-Book

Royce Buckingham

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Beschreibung

Als naive Prinzessin wurde sie verstoßen, als starke selbstbewusste Frau kehrt sie zurück.

Als Thronerbinnen des Waldkönigreichs Strata führen Flora und ihre ältere Schwester Amora ein behütetes Leben. Doch dann trifft Flora aus Liebe zu ihrer Schwester eine fatale Entscheidung, mit schrecklichen Konsequenzen. Sie wird von ihrem eigenen Vater verbannt und sieht sich plötzlich mit der wirklichen Welt, außerhalb des Palastes, konfrontiert. Von ihrer letzten Vertrauten verraten, ist Flora dem Tode nahe und endgültig auf sich gestellt. Doch sie ist nicht bereit aufzugeben. Flora kämpft und überlebt. Aus dem naiven Mädchen wird eine starke junge Frau, die bereit ist zu kämpfen, um die zu retten, die sie liebt …

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ROYCEBUCKINGHAM

DIE

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Copyright © 2018 by Royce Buckingham Published in agreement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A. © 2018 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Redaktion: Alexander Groß Covergestaltung und -illustration: © Max Meinzold, München Karten: © Andreas Hancock JaB · Herstellung: sam Satz und E-Book: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-22731-9V002 www.blanvalet.de

Buch

Als Thronerbinnen des Waldkönigreichs Strata führen Flora und ihre ältere Schwester Amora ein behütetes Leben. Doch dann trifft Flora aus Liebe zu ihrer Schwester eine fatale Entscheidung, mit schrecklichen Konsequenzen. Sie wird von ihrem eigenen Vater verbannt und sieht sich plötzlich mit der wirklichen Welt, außerhalb des Palastes, konfrontiert. Von ihrer letzten Vertrauten verraten, ist Flora dem Tode nahe und endgültig auf sich gestellt. Doch sie ist nicht bereit aufzugeben. Flora kämpft und überlebt. Aus dem naiven Mädchen wird eine starke junge Frau, die bereit ist zu kämpfen, um die zu retten, die sie liebt

Autor

Royce Buckingham, geboren 1966, begann während seines Jurastudiums an der University of Oregon mit dem Verfassen von Fantasy-Kurzgeschichten. Sein erster Roman Dämliche Dämonen begeisterte weltweit die Leser und war insbesondere in Deutschland ein riesiger Erfolg. Gemeinsam mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen lebt Royce Buckingham in Bellingham, Washington. Er arbeitet zurzeit an seinem nächsten Roman.

Von Royce Buckingham bereits erschienen

Dämliche Dämonen · Mürrische Monster · Fiese Finsterlinge · Garstige Gnome · Die Karte der Welt · Der Wille des Königs · Die rubinrote Königin · Kaltgestellt

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Karten

TEIL I

PRINZESSIN

Kapitel 1

Der lange Sturz

Flora nickte so unverbindlich und nichtssagend, wie sie es immer tat, wenn ihre ältere Schwester einen ihrer Vorträge hielt – selbst wenn sie nicht deren Meinung war. Wer nicht den Thron erbte, verhielt sich besser umgänglich.

»Wir sind Prinzessinnen«, fuhr Amora fort. »Wir können tun, was immer uns beliebt.«

Flora lächelte hinter vorgehaltener Hand leicht spöttisch. Dann könnte ich also in die Luft springen und fliegen? Oder davonlaufen und mich einem Wanderzirkus anschließen? Oder wenn es mir gefiele, hier und da Vaters Klinge gürten und jemanden töten?

Flora stand mit diesen lächerlichen Gedanken im Kopf an dem runden Fenster, das in die drei Handbreit dicke hölzerne Außenwand des Thronerbenturms eingelassen war, des zweithöchsten Wohnturms auf der Lichtung. Es bot ihr einen hervorragenden Ausblick auf die freie Fläche. Nur der Königsturm war höher, und obwohl sie und Amora in seinem Schatten lebten, genossen sie mehr Sonne als irgendein niederer Adeliger auf der Lichtung – wie es unser gutes Recht ist –, zumindest bei den seltenen Gelegenheiten, da die gelben Strahlen der Sonne die hartnäckige stratanische Wolkendecke über ihren Köpfen durchdrangen. Es ist ein großartiger Turm, dachte Flora. Besser als die Türme der anderen adeligen Familien.

Um einen lebenden Tuftorbaum herum erbaut, der als zentrale Säule diente, erhob sich der Thronerbenturm hoch in die Baumkronen des Waldes, und die Kammern der Schwestern befanden sich im obersten Stockwerk – runde Räume, die aus den tiefen Holzwänden herausgeschlagen worden waren. Ähnlich gerundete Flure zweigten wie Speichen vom zentralen Innenhof mit seinem Tuftorherzen ab. Drei Ausgänge führten auf schmalen Stegen zum angrenzenden Königsturm, zum Mönchsturm und hinunter zur Lichtungshalle. Aber die Äste der Bäume, die durch die stratanischen Gebäude und zwischen ihnen wuchsen, boten einem klugen und geschickten Mädchen alternative Pfade. Einem Mädchen wie mir! Das Astwandeln war keine einfache Sache, und ihr Vater hasste es, wenn sie es tat – er sagte, er werde sie gewiss eines Tages wie eine gewöhnliche Verbrecherin tot am Fuße des Baums auffinden. Aber Flora liebte es, in den Ästen und Blättern herumzuklettern. Sie brauchte nur die kleinsten Vorsprünge, um sich festzuhalten, dann konnte sie auf fast alles klettern. Jeden Tag suchte sie nach einer anderen Route durch das Labyrinth der Äste, die sich bogen und krümmten, sich im nassen Frühling nach der schwer fassbaren Sonne reckten oder sich im Winter gegen die Kälte einrollten.

Amora kletterte nicht, nicht in ihren hübschen Kleidern. Stattdessen verbrachte sie ihre Zeit damit, durch Stratas Türme und Hallen zu wandern, müßiges Geschwätz aufzuschnappen und weiterzutragen, damit es Wurzeln schlug und wuchs. Als würde sie Gerüchte züchten. Sie mochte besonders den Läuferturm, das Zuhause des Herzogs und der Herzogin Läufer und ihrer fünf Töchter, die die größten Ohren auf der Lichtung hatten – ihre riesigen Lauscher hörten alles, weshalb Amora sie so mochte und viele andere sie hassten. Ihr Turm war etwas niedriger, aber nicht viel. Floras eigene königliche Gemächer im Thronerbenturm lagen nur ein klein wenig höher als die der Läufers – nah genug, dass Amora auch zu den ungewöhnlichsten Stunden augapfelgroße Tuftorsamen durch Emerly Läufers Fenster werfen konnte.

Wichtiger noch, sie befanden sich weit über all den viehischen Dingen tief unter ihnen im Dreck: furchterregenden Großkatzen, schmuddeligen Grundlingen und blutrünstigen Eindringlingen. Obwohl seit der Zeit vor Floras Geburt keine Armee mehr durch die Wälder von Strata bis zur Lichtung vorgedrungen war, waren die Geschichten über die Gemetzel und Plünderungen während der Holzkriege erschreckend. Und obwohl sie täglich kletterte – geschickt über schmale Äste lief und sich von herabhängenden Zweigen schwang, was ebenso dem Spaß diente wie der Fortbewegung zwischen den Türmen –, ließ sie sich nur noch selten bis zum Boden herunter. Mägde und Laufburschen hievten nach oben, was sie und Amora brauchten, und die beiden lebten monatelang näher an den Baumwipfeln als am Boden und ohne den Dreck je zu berühren. In der Tat sagten ihnen die stratanischen Mönche, dass sie in ihrem Thronerbenturm, hoch oben zwischen den majestätischen Tuftorbäumen, »den Göttern nahe« seien. Amora versuchte, Flora davon zu überzeugen, dass die Mönche gesagt hätten, sie beide seien »nahezu göttlich«.

Aber Flora fühlte sich nicht wie ein Gott, als sie an dem großen polierten Wasserbecken stand, das in das dicke Sims ihres Fensters eingelassen war, noch hatte sie das Gefühl, tun zu können, was immer ihr gefiel. Stattdessen fühlte sie sich wie ein glücklich verschwitztes Mädchen von knapp fünfzehn Jahren, das sein verschmiertes Gesicht waschen musste, bevor es sich in einem Spinnenseidenkleid als eine der Töchter des Königs in der Öffentlichkeit präsentierte.

Das von der Zeit blank gescheuerte Wasserbecken war so breit wie die Spanne ihrer Arme. In den Baumkronen darüber sammelte sich in ausladenden, zusammengenähten Blättertrichtern frisches Regenwasser; dünne, schlauchartige Ranken wanden sich von diesen Blatt-Kollektoren aus nach unten wie Schlangen, die sich um den zentralen Tuftorstamm schlängelten, bevor sie das gewonnene Wasser in Floras Waschbecken pumpten. Ein kleines Abflussloch, das ihre Dienerin Eggie in den Boden eingearbeitet hatte, sorgte dafür, dass das Wasser stetig abfloss – jedoch nicht so schnell, dass sich das Becken je leerte. Eggie war ein linkisches, hässliches Mädchen mit dicken Gliedmaßen und einer flachen Stupsnase. Tatsächlich hatte Amora sie »unbeholfenes Rindvieh« genannt, als sie Amoras Haarbürste aus Wildschweinborsten zwischen den Ästen bis ganz nach unten in den Dreck hatte fallen lassen. Aber Flora fand, dass Eggie auch schlau war – sie konnte Dinge reparieren. Wie brackige Wasserbecken. Und Eggie hatte Amora eigenhändig eine neue Bürste aus Kiefernnadeln gefertigt, die noch besser war als die aus Wildschweinborsten.

Flora hielt sich ihre dicken, rabenschwarzen Locken hinter dem Kopf zusammen und tauchte das Gesicht ins Wasser. Während sie sich nach ihrer morgendlichen Kletterpartie den Schweißfilm von der Stirn wusch, öffnete sie unter der Oberfläche die Augen, um zu beobachten, wie das Wasser in einem Strudel durch Eggies schlaues Loch abfloss. Sie konnte nicht wirklich sehen, wie die Flüssigkeit aus dem Holzbecken entkam, aber sie spürte den Sog an ihrem Kinn und ihren Lippen, als würde das Wasser versuchen, sie durch den Abfluss zur Erde zu ziehen. Als sie auftauchte, tropften kristalline Perlen von ihr herab, und sie sah ihre Schwester schelmisch grinsen.

»Und was mir heute beliebt«, fuhr Amora fort, als hätte Flora sie nicht die ganze Zeit ignoriert, »wartet gerade in meinem Zimmer und hat seine Tunika über meinen Bettpfosten gehängt.«

Flora schnappte nach Luft und spie einen nassen Sprühnebel aus dem Mund. Sie versuchte, schneller zu reden, als ihre Zunge es vermochte. »Ein Junge? In deinem Zimmer? Du kannst nicht … er kann nicht … aber … wer? Wer? Wer?«

Amora lachte. »Du klingst wie eine stotternde Eule, kleine Schwester.« Sie warf Flora ein Handtuch ins nasse Gesicht. »Enic, der Stallbursche, wenn du es unbedingt wissen musst. Der mit der Narbe auf der Wange.« Amoras Gegacker war ganz anders als Floras mädchenhaftes Kichern; es hatte scharfe Kanten, die sich mit zunehmendem Alter auch in Floras Lachen entwickeln würden, so stellte sie es sich jedenfalls vor. Mit über sechzehn Jahren war Amora fast zwei Jahre älter. Sie war außerdem die Erste in der Thronfolge; Flora würde nicht Königin werden. Ihr königlicher Vater hatte bei ihrer älteren Schwester hinten im Nacken das verschlungene Mal der Evangelins eingebrannt und in Floras Nacken zwei Male, sodass es, sollte er eines Tages fallen, keinen Irrtum geben konnte, keine unrechtmäßigen Ansprüche, keine Kämpfe innerhalb der Familie. Sie waren beide Thronerbinnen, aber das einzelne Mal kam zuerst.

Doch seine Vorsichtsmaßnahmen waren unnötig, denn sosehr sie einander ärgerten, liebten sie einander auch. Wie es bei den meisten Schwestern der Fall ist, nehme ich an. Tatsächlich hatte Amora eines Nachts einen heimlichen Pakt mit Flora geschlossen, während sie ihnen ihre Katzenfelldecken über die Köpfe gezogen hatte, als sie eigentlich hätten schlafen sollen. Amora hatte Flora einen Platz an ihrer Seite versprochen, wenn sie den Thron bestieg, mit fast gleicher Machtbefugnis. Fast. Sie würden auf den zwei Thronen in der Lichtungshalle als Schwester-Königinnen sitzen, während ihre Ehemänner – wer immer die sein würden – in der zweiten Reihe saßen. Amora sagte ihr, dass ihre gemeinsame Herrschaft eine köstliche Überraschung für ihren zutiefst traditionellen königlichen Vater sein würde – einen Mann, der sich mit Überraschungen entschieden unwohl fühlte –, wenn Amora ihm ihre Idee in ein paar Monden an ihrem siebzehnten Geburtstag präsentierte. Amora würde ihr Vorhaben mit einer rechtsgültigen Erklärung offiziell machen, einer Erklärung, die Flora schreiben würde – sie konnte besser mit Buchstaben umgehen, obwohl sie zwei Jahre jünger war.

»Keine Tunika?«, fragte Flora fasziniert. »Was hat er denn dann an?«

»Gar nichts, vermute ich, wenn er meine Anweisungen verstanden hat. Er ist nicht der Hellste.«

»Amora! Du bist schrecklich. Und du hast ihn einfach dort allein gelassen?«

»Wenn man sie warten lässt, sind sie umso bemühter. Das hat uns unsere liebe königliche Mutter gelehrt, nicht wahr?«

»Sie meinte, man solle sie auf die Hochzeit warten lassen.«

»In beiden Fällen sind sie um die gleiche Sache bemüht. Die Ehe ist lediglich die offizielle Methode, sie zu bekommen.« Amoras bewegliche Augenbrauen wackelten wie Schleiertänzerinnen. »Aber es gibt auch andere Methoden.«

»Nicht für die Tochter eines Königs. Erst recht nicht für die Tochter eines so strengen Königs. Vater würde einem Jungen die Hand abschlagen, wenn er sie unter deinem Kleid fände.«

»Ach, die Gefahr macht es ja gerade so amüsant. Außerdem hat Enic noch eine zweite Hand.«

»Wie lange wirst du ihn warten lassen?«

»Ich glaube, es ist jetzt fast eine Stunde, aber ich verliere leicht den Überblick. Eine weitere Viertelstunde wird genügen. Bis dahin sollte er reif sein. Ich hoffe nur, dass er nicht ohne mich anfängt. Er hat schließlich noch seine Hände.«

Flora errötete, verlegen und schockiert, aber insgeheim erfreut darüber, in das unanständige Geheimnis ihrer Schwester eingeweiht worden zu sein – Amora hatte die besten Geheimnisse auf der Lichtung. Und die schlimmsten. Flora beugte sich weit über den Rand des Beckens, um die saubere, feuchte Waldluft tief einzuatmen.

»Seltsam. Das niedere Volk versammelt sich auf dem Treppenabsatz.«

»Grundlinge? Auf dem Treppenabsatz? Wird jemand gebäumt?« Amora trat neben sie und blickte auf die Menschenmenge in schlichten Tuniken und Überwürfen hinab – die Bauern, die Bewohner des Drecks. Die Grundlinge. Sie lungerten herum und starrten zu ihnen herauf.

»Ich glaube nicht, dass das heute stattfindet«, sagte Flora.

»Es muss so sein, wenn der Pöbel sich auf dem Treppenabsatz versammelt. Der älteste Bruder der Rackel-Brut, der Fette, wartet jetzt seit Wochen auf sein Schicksal auf den Balken. Vater muss endlich beschlossen haben, ihn bäumen zu lassen.«

»Ich dachte, die Verzögerung würde bedeuten, dass er nicht gebäumt wird. Normalerweise entscheidet Vater binnen Augenblicken über das Schicksal eines Mannes.«

»Aber ja, binnen zorniger Augenblicke. Sieh sie dir an, wie sie herumwimmeln wie Fleischaffen, grunzend und kreischend. Sie sind gekommen, um zu sehen, ob Rackel den Sturz überlebt, ich sage es dir.«

»Wie hoch in den Richtbaum werden sie ihn bringen?«

»Ich wette, bis ganz nach oben. Der fette Rackel hatte sich mit dem Wüstenvolk verschworen, um den Federsee trockenzulegen. Diese sandfressenden Wüstengrundlinge wollen ihren dreckigen Sand mit unserem sauberen Nass bewässern. Vater hat ein Truppenkontingent geschickt, um ihre Ingenatoren und Schaufler zu vertreiben, und dabei die Verschwörung aufgedeckt. Der fette Rackel verdient jeden Ast, den er trifft.«

»Ganz nach oben?«

»Gewiss. Falls sie seinen fetten Arsch so weit hinaufhieven können.«

»Er wird direkt an unserem Fenster vorbeifallen!«

Ihre lange dunkle Mähne hing über den Rand des Beckens, und sie beobachtete die Grundlinge. Sie wuselten so weit unter ihr herum, dass sie weniger Bedeutung zu haben schienen als Nagetiere, doch warteten sie auf das gleiche tödliche Spektakel und waren ein ebenso gewolltes Publikum wie sie und ihre königliche Schwester. Sogar noch mehr.

»Der Pöbel ist neugierig auf die Welt über ihm«, überlegte Amora laut. »Sollen wir sie anspucken?«

»Es regnet. Sie werden es nicht bemerken.«

»Genau. Sie werden ebenso lächerlich unwissend sein wie immer.« Amora hustete einen Mund voll Schleim hoch.

»Du bist wirklich gemein.«

Amora spuckte zweimal aus und ermutigte Flora, es ebenfalls zu versuchen, was diese auch tat. Es war nicht so befriedigend, wie ihre Schwester es angedeutet hatte; die Menschen waren zu weit entfernt, um zu erkennen, ob sie sie getroffen hatte. Wenn ja, reagierten sie nicht, und es machte wohl kaum Spaß, Grundlinge anzuspucken, die nicht reagierten.

Bei einem Geräusch von oben hoben sie die Köpfe – irgendetwas ging in dem nahen Baum, dem Richtbaum, vor sich. Das Geschehen wurde von Ästen und Blättern verdeckt, war aber laut genug, dass Flora wusste, dass stratanische Lichtungswachen einen Mann auf die Büßerplattform zerrten, die oberhalb der höchsten Äste aus dem Baumstamm ragte. Ein dummer Name, dachte Flora. Es zählt nicht, etwas zu bereuen, wenn man gleich in den Tod gestoßen wird. Der Sturz von der Plattform war tief, bevor irgendwelche Äste dem Verurteilten eine Chance boten, nach Rettung zu greifen. Es geschah selten, dass jemand seinen Sturz bremste, aber im Laufe der Geschichte der Lichtung hatten einige es geschafft, und sie waren begnadigt worden. Graf Dörrtal, der wegen der Ermordung seiner eigenen Frau verurteilt worden war, hatte sich mit einem berühmt gewordenen Hüpfer gerettet, als er mitten auf einem dicken Ast gelandet war, mit seinem gleichermaßen dicken Bauch, oder zumindest ging so die Geschichte. Die Tötung seiner Frau war als gerechtfertigt erklärt worden – oder warum hätten die Götter ihn sonst verschont? Flora hatte zu ihren Lebzeiten noch niemanden davonkommen sehen. Da sie selbst eine Kletterin war, hatte sie sich jedoch im Kopf zurechtgelegt, wie es zu bewerkstelligen wäre: den Sturz zu Beginn abbremsen, indem man mit den Beinen die ersten Äste trifft – die stabilsten Äste, bei denen die Wahrscheinlichkeit am geringsten ist, dass sie beim Aufschlag abbrechen –, dann die Arme ausbreiten und den nächsten Ast packen und daran schwingen, um den Abwärtssog in eine seitliche Richtung umzulenken, darauf hoffend, dass die Handgelenke nicht gebrochen sind und man noch zupacken kann. Danach war es reines Glück. Ein beherzter Eichhörnchengriff vielleicht. Überlebende blieben nicht in Strata, nachdem sie gebäumt worden waren; in diesem Punkt waren die Archive eindeutig. Traditionellerweise flohen Überlebende der Bäumung nach der Demütigung, von oben heruntergeworfen worden zu sein wie der Inhalt eines Nachttopfes – den Floras Familie und andere Adelige vom entferntesten Ast des Stinkbaums in den Sumpf leerten. Überlebende einer Bäumung nahmen ihre verräterischen Narben und gebrochenen Glieder mit sich und kehrten nie mehr zurück.

Eine Trompete wurde geblasen. Der Ruf der Gerechtigkeit.

Amora klatschte erwartungsvoll in die Hände. »Sollen wir hinausklettern, um besser sehen zu können?«

»Die Aussicht von hier ist gut genug«, antwortete Flora. »Außerdem, was ist, wenn er in unsere Richtung fällt? Ich habe gehört, ein gebäumter Mann habe einmal auf seinem Weg in die Tiefe eine übertrieben neugierige Herzogin mitgerissen.«

»Das ist bloß eine Geschichte. Ich habe sie ein Dutzend Mal gehört, und mit jeder Schilderung verändert sie sich. Einmal war es eine Baronin, die umgerissen wurde, und einmal war es eine uns besuchende Königin!«

Flora schnaubte. »Ein paar unterschiedliche Einzelheiten bedeuten nicht, dass die Geschichte nicht wahr ist.« Sie kannte die verschiedenen Versionen ebenfalls, aber sie genoss es immer wieder, sie zu hören. Tatsächlich liebte sie Geschichten, vor allem die unmöglichen. »In allen Geschichten steckt ein Körnchen Wahrheit, selbst in den Mythen.«

Nachdem sie über ihren Aussichtsplatz entschieden hatten, setzten sie sich hin, um zuzusehen. Es war sehr aufregend. Der lange Sturz des Verurteilten lockte immer eine Menschenmenge an. Es war Gerechtigkeit. Es war Leben. Aufstieg und Fall. Wachstum und Tod. Leben erhob sich aus dem Boden und wuchs; und wenn es verfault war oder starb, fiel es herunter und kehrte zur Erde zurück.

Der Verurteilte stand jetzt auf der Plattform, dem höchsten Punkt im Baum der Gerechtigkeit, der das Gewicht von zwei Wachen und einem glücklosen Gefangenen tragen konnte. Von dort, wo die Schwestern sich auf den Rand von Floras Wasserbecken lehnten, war der Mann eine ferne Silhouette. Zwei massige stratanische Lichtungswachen flankierten ihn, so muskelbepackt, dass ihre Leiber erkennbar waren, obwohl sie eigentlich nur Schatten vor dem Hintergrund des Himmels waren – Fichtan und Eicham Krud, die Amora »die Fichte-und-Eiche-Brüder« nannte. Neben ihnen sah der verurteilte Rackel klein aus. Aus dieser Entfernung wirkt er eigentlich nicht besonders fett. Die Gebrüder Krud zerrten ihn zum Rand und stützten ihn, damit er nicht zusammenbrach oder sich wie ein panischer Affe an die Plattform klammerte. Auch ihr königlicher Vater war mit dort oben, um das Urteil zu verkünden. Es wurde etwas gesagt, zu leise, um es zu verstehen, dann warfen die Brüder den Gefangenen ohne viel Federlesens über den Rand.

Flora und Amora schnappten gleichzeitig nach Luft. Der Verurteilte verdrehte die Glieder, um zu versuchen, sich zu retten. Er war beweglicher, als Flora erwartet hatte, und seine Hände waren nicht gefesselt. Er ruderte mit den Armen, um die ersten Äste abzuwehren. Nein!, dachte Flora. Er sollte sich daran festhalten. Oben waren die dünnen Zweige der Baumkronen, die ohne Verletzungsgefahr genutzt werden konnten, um die Wucht des Sturzes zu bremsen, aber Rackel mied sie und nahm stattdessen Geschwindigkeit auf. Als er auf Floras Fenster zustürzte, verfing sich sein Bein an einem größeren Ast und ließ ihn unkontrolliert herumwirbeln. Seine bloßen Arme und Beine flogen in alle Richtungen.

»Er ist nackt!«, quiekte Amora mit einer Mischung aus Entsetzen und Erheiterung.

Unddünn. Flora runzelte die Stirn. Und jung.

Der nächste Ast traf ihn in die Rippen und trieb ihm mit einem Wusch, das sie von weit unten hören konnten, die Luft aus der Lunge. Aber der Ast verlangsamte seinen Sturz nicht; nicht genug. Als sein Kopf gegen einen anderen dicken Ast schlug, ertönte ein scharfer Laut, als würde ein Fleischaffe auf einem Stein eine Tuftornuss knacken. Er war jetzt direkt über ihnen und fiel immer noch sehr schnell. Schließlich konnte Flora sein Gesicht erkennen.

»Amora, das ist nicht der fette Rackel. Das ist …«

Enic, der Stallbursche, schoss vorbei, erschlafft von einem vernichtenden Schlag gegen den Schädel. Aus dem offenen Loch in seinem Kopf spritzte fettige Flüssigkeit in Floras sauberes Wasserbecken. Er würde während der verbleibenden Reise zur Erde keinen Ästen mehr ausweichen. Er war bereits tot.

Kapitel 2

Könige und Königinnen

»Bist du zornig, Vater?«, fragte Flora.

»Nein«, antwortete König Leonard Evangelin.

Mit siebenunddreißig Jahren war ihr königlicher Vater körperlich immer noch kräftig, nun aber eher sehnig als muskulös. Obwohl er früher ein schwergewichtiger Mann gewesen war, klagte Floras Mutter, dass sein Appetit in letzter Zeit vor Sorge gelitten habe. Das Herrschen hatte den Großkater, wie seine Waldkrieger ihn nannten, altern lassen. Sie respektierten ihn, denn er war ein zuverlässiger, entschiedener und gerechter Mann. Aber nun saß er rastlos vor seiner Tochter auf dem Thron in der Lichtungshalle wie ein Kater, der sich bereit machte, sich auf jemanden zu stürzen oder zu fliehen oder einfach frustriert zu miauen.

Natürlichist er zornig, dachte Flora. Er hat gerade den Befehl gegeben, einen Jungen von einem Baum zu werfen!

»Ich muss dir lediglich eine Frage stellen«, fuhr er fort. »Man hat einen Jungen aus dem gemeinen Volk unbekleidet im Zimmer deiner Schwester gefunden, wo sein unteres Glied steif wie ein Ast hervorragte. Amora sagt, eine deiner Dienerinnen habe ihn dort hingebracht. Die kleine Egmont. Das Mädchen bestreitet es. Was hast du dazu zu sagen?«

»Er ist tot, nicht wahr?«

Der Großkater knurrte. Es war nicht die Antwort, die er hören wollte. »Er ist verurteilt worden. Er gehört der Vergangenheit an. Es ist passiert. Und zu Recht, wie es mein Gesetzesgeber bestätigt hat.« Er deutete auf den Mann in Amtsrobe an seiner Seite, Benavere Schuster, der zurücknickte. »Jetzt erklär mir, wie ein nackter Grundling im Zimmer einer Prinzessin auftauchen konnte.«

»Ich habe ihn nicht dort hingebracht.«

»Natürlich nicht. Nicht du. Das weiß ich. Du bist mein zarter grüner Zweig. Aber ich wette, du weißt, wer es getan hat … nicht wahr?«

Flora sah, dass er darum kämpfte, vor seinem beträchtlichen Publikum ruhig zu bleiben – vor Amora, Schuster, seiner Lichtungswache, dem irritierenden Meistermönch, der Flora immer auf die Finger schlug, wenn sie im Unterricht uralte Namen falsch aussprach. Und vor meiner Mutter. Es waren nicht sehr viele Menschen, aber sehr wichtige. Auch Eggie war da. Das Fehlen von Enics Familie fiel auf. Ihr königlicher Vater würde sich später persönlich mit ihnen treffen, um das Urteil und die schnelle Bestrafung zu erklären. Allzu schnell – Enic hätte dir sagen können, wer ihn nach oben gebeten hat, wenn du ihn nicht getötet hättest, du verrückter Kater! Die Familie bekam erst Gelegenheit, Beschwerden zu äußern, nachdem das Urteil bereits vollstreckt war. Aber wie sollen sie sich beschweren? Ein Stalljunge hatte nichts im Zimmer einer Prinzessin zu suchen – schon gar nicht nackt. Außerdem würde ihr Vater dafür sorgen, dass Enics Familie alle ausstehenden Löhne bekam, die der Stalljunge verdient hatte. Er ist ein guter, gerechter Mann, dachte Flora, aber auch ein Mann voller Launen. Es war klug, das nicht zu vergessen.

Eggie stand starr und mit steinerner Miene da – steif wie ein Ast. Sie wurde von einer Lichtungswache flankiert, deren riesige Hand auf ihrer Schulter lag. Sie betrachtete Flora mit dem gleichen intensiven Blick, wie wenn sie darüber nachgrübelte, wie man ein Schubkarrenrad reparieren konnte. Oder ein Becken mit stehendem Wasser. Amora saß krumm wie eine gescholtene Hündin vor ihrer königlichen Mutter, die ihr beruhigend den Rücken tätschelte. Ihre Wangen waren tränenüberströmt, und sie sah Flora mit flehenden Augen an. Die Konsequenzen waren ernst. Ein Junge war tot. Nur ein Junge aus dem niederen Volk, den Göttern sei gedankt, aber trotzdem … Amora sollte sich ihre Unschuld für einen Prinzen aufsparen, der eines Tages kommen würde, nicht für irgendeinen Grundling mit einem steifen Ast. Eggie kam aus dem Volk. Wie Enic. Ihre mögliche Strafe würde sich von der Amoras ebenso gewaltig unterscheiden wie ihrer beider Geburtsrechte.

Flora wünschte, sie könnte so schnell Worte finden wie ihr königlicher Vater. Er hatte sie gelehrt, dass ein guter Herrscher entschlossen sein musste. Aber Impulsivität, Instinkt und Zorn halfen ihr nicht, so wie sie ihm halfen. Sie litt an der Unentschlossenheit, die aus Vorsicht und Nachdenklichkeit geboren war, und jetzt verließ sie auch noch ihre träge Vernunft. Alle schauen her. Sie stand mitten auf der Bühne vor einem gebannten Publikum, das auf ihre nächste Zeile wartete, wie bei einer Wanderschauspielerin in einem Drama. Die Wahrheit ist fast immer die richtige Antwort. Flora öffnete den Mund, um zu sprechen. Aber die Worte blieben ihr im Hals stecken, als ihr ein anderer Gedanke durch den Kopf schoss – Schwestern geben einander Rückendeckung. Es war ein weiterer heimlicher Pakt, auf den Amora sie in tiefster Nacht eingeschworen hatte – einer Zeit, zu der Floras Schwester viele ihrer Lebensregeln formulierte. Und wieder hatte Flora alles abgenickt, ob sie es glaubte oder nicht.

»Eggie mag Jungen«, sagte Flora schließlich. Das stimmte durchaus – Eggie war ein Mädchen, und Amora zufolge mochten alle Mädchen Jungen. Und tatsächlich hatte Eggie mit ihnen beiden einmal über Neve, den Küchenjungen, gekichert. Und Eggie hatte Enic wahrscheinlich gekannt, obwohl sie keine Unzucht mit ihm getrieben haben würde, da sie der königlichen Familie in den Türmen diente und er ein Grundling war, der Pferdescheiße schaufelte. »Und ich denke, sie hat den nackten Jungen gekannt. Sie sind schließlich beide Diener«, fügte Flora hinzu. Dann zuckte sie die Achseln, als lade sie das Publikum ein, die Verbindung selbst herzustellen.

Die Stimme ihres königlichen Vaters hob sich um eine Oktave. »Und sie hat einen nackten Jungen, den sie kannte, in das Schlafzimmer einer Prinzessin gebracht?«

»Ich weiß es nicht. Aber wie sollte er sonst dort hingelangt sein?«

Sie beobachtete ihr Publikum. Einige Männer und Frauen nickten. Andere seufzten wissend – vulgäre junge Grundlinge würden auf einem Esstisch rammeln, wenn man ihnen die Gelegenheit dazu bot, überlegten sie. Warum sollten sie es nicht in einem eleganten königlichen Schlafzimmer tun? Floras Andeutung reichte. Und sie hatte es ohne eine tatsächliche Lüge geschafft.

Ein erleichterter Ausdruck huschte über Amoras Züge, dann erschien der Anflug eines Lächelns auf ihrem Schmollmund. Sie machte eine dezente Handbewegung, zwei zusammengedrückte Finger. Schwestern.

Flora wollte Eggie nicht ansehen, aber ihre Dienerin stand nahebei, direkt neben dem Thron. Ihre Lippen waren zusammengepresst, und ihre Schweinenasenflügel blähten sich. Wenn sie das tut, ist sie besonders hässlich. Aber statt sich zu verteidigen oder zu protestieren, blinzelte sie nur. Ein Zeichen? Wer konnte das wissen?

Flora war erleichtert. Es hätte schlimmer kommen können. Eggie hätte »Lügnerin!« schreien können. Nein, hätte sie nicht, denn Flora hatte nicht gelogen. Außerdem war Flora die Tochter eines Königs.

Undeine Prinzessin kann tun, was immer ihr beliebt.

Königin Evita Evangelin stand auf dem geschwungenen Balkon des Königsturms mit Blick auf die Lichtung, und ihr pechschwarzes Haar fiel ihr wie ein Schleier halb übers Gesicht.

Esist auch der Königinnenturm, dachte Flora – ihre königliche Mutter war ebenso Herrscherin über Strata wie ihr königlicher Vater. Aber da sie in der Öffentlichkeit niemals stritten, war ihre Doppelherrschaft für das gewöhnliche Volk nicht sichtbar. Flora hörte gelegentlich Geschrei hinter der dicken Tuftortür mit dem goldenen Katzenkopfklopfer, größtenteils von ihrem Vater, aber sie wusste, dass ihre Mutter mit ihrer kühlen Logik ebenso oft gewann, wie sie verlor. Und wenn sie nach einer privaten Beratung wieder auftauchten, benahmen sie sich, als wären sie die ganze Zeit einer Meinung gewesen.

Flora stützte sich mit ihrer Mutter auf das geschwungene hölzerne Geländer, ganze zehn Etagen über dem Boden. Ein langer Sturz für eine Prinzessin. Doch es bestand keine Gefahr, dass das königliche Geländer nachgeben würde – die Zapfenverbindungen waren zwei Generationen zuvor von einem stratanischen Handwerksmeister maßgefertigt worden, als Königin Tetra Evangelin den Turm um vier Etagen hatte erweitern lassen, damit er das höchste Gebäude auf der Lichtung wurde. Königin Tetra mochte die elegante Spiralstruktur lieber als den Festungsklotz ihres Mannes etwas weiter nördlich, der jetzt die Lichtungshalle war – ebenfalls ein hohes Gebäude, aber älter und erbaut, bevor die stratanische Architektur lebende Bäume einbezogen hatte. Tetra hatte ihren Ehemann nicht besonders gemocht, hieß es, und sie hatte den zauberhaften gewundenen Anbau ihres neuen Heims in gleichem Maße befohlen, um die Erinnerung an ihn und das Leben in der Lichtungshalle hinter sich zu lassen, wie um sich in der Waldhauptstadt Strata einen Namen zu machen.

Wie Floras eigener Turm folgte Tetras Meisterwerk einem himmelhohen Tuftorbaum in die Wolken. Der Turm schlang sich um den Baum wie eine Wendeltreppe mit stabilen geschlossenen Plattformen auf jeder Etage. Flora wurde gern in den Turm ihrer Eltern gerufen. Wenn sie auf einen Ausguck stieg, den eine Königin entworfen und gebaut hatte, bot ihr das eine andere Perspektive, die Perspektive einer Königin. Vor allem war er ein wenig höher als Floras eigener Turm, und es gab weniger Blätter dort oben, die die Aussicht versperrten. Die Sonne schien kräftiger, und sie konnte weiter und klarer sehen. Ihre Schwester dagegen beklagte sich, dass sie sich schutzlos fühle, wann immer sie sich dort aufhielt. »Als würde ich von einem übereifrigen Mönch aus einem kühlen dunklen Raum ins grelle Morgenlicht gezerrt, nachdem ich mir am Abend zuvor zu viele Becher Wein einverleibt habe.«

»Vater hat einen unschuldigen Jungen getötet«, sagte Flora ohne jede Einleitung.

Ihre Mutter sah sie nicht einmal an. Und sie wirkte auch nicht überrascht, obwohl Flora vorgehabt hatte, sie zu erschüttern.

»Ach ja?«

»Ja. Er hat einen Tobsuchtsanfall gehabt und ihn ohne Untersuchung bäumen lassen.«

»Hast du ihn toben hören?«

»Ich kann ihn im Geiste hören.«

»Der Junge ist verurteilt worden. Ja. Es war ein hartes Urteil. Aber war es wirklich die Entscheidung deines Vaters?«

»Wessen Entscheidung soll es denn sonst gewesen sein?«

Ihre königliche Mutter tätschelte ihr geistesabwesend die Hand und fuhr fort, die Aussicht zu betrachten. »Ja, wessen Entscheidung, in der Tat?«

Flora starrte sie ungläubig an. »Was? Du? Nein. Das würdest du nicht tun!«

»Channeri Läufer hat ihn im Zimmer deiner Schwester gefunden. Ich nehme an, Channeri ist in die Stadt gekommen, um ein wenig eigenen Turmtratsch zu verbreiten. Und da saß er, wartete nackt auf dem Bett, eine saftige Portion Klatsch für den Hof – und wertvoll. Verstehst du, Channeri redet viel, und sie war schon immer eifersüchtig auf Amora, und deine Schwester trägt wenig dazu bei, sie davon abzubringen. Channeri hätte allen in Strata erzählt, die Thronerbin sei unkeusch. Der Wert deiner Schwester als Ehefrau wäre in den Augen möglicher Bewerber dramatisch gesunken.«

»Ihr Wert?« Flora schäumte. Sie war zornig. Aber auf wen? Es war leicht, böse auf ihren aufbrausenden Vater zu sein, aber es fiel ihr schwer, ihrer vernünftigen Mutter zu zürnen. Noch konnte sie auf Enic wütend sein, weil er sich seinen Tod eingehandelt hatte. Er war ein netter Junge gewesen, wenn auch ein wenig stumpfsinnig. Er hatte ihr einmal einen Rat gegeben, als sie ausgeritten war. »Nehmt nicht das Pony«, hatte er gesagt. »Ein Mädchen mit Mumm, wie Ihr es seid, wird auch mit der Stute fertig.« Das hatte ihr gefallen. Und er hatte recht. Sie war mit der Stute so gut fertiggeworden wie eine doppelt so alte Reiterin. Enic war das Opfer ihrer Schwester und der großmäuligen Channeri. Und das Opfer meiner königlichen Mutter.

»Vielleicht hättest du Channeri vom Baum werfen lassen sollen.«

»Es wurde erwogen«, antwortete ihre Mutter zu Floras Überraschung. »Aber Channeri ist die Tochter eines Herzogs. Man hätte zu viel erklären müssen. Außerdem war sie bereits in die Küche gelaufen, um die Nachricht dort zu verbreiten. Wir mussten die Geschichte unter Kontrolle bekommen, und sie hatte ihre Version davon bereits erzählt. Eine Lichtungswache hat den Jungen gepackt, bevor er noch seine Kniehose hochziehen konnte. Wir haben ihn daran gehindert, ihre Geschichte zu bestätigen.«

»Warum habt ihr ihn nicht einfach dazu gezwungen, alles geheim zu halten. Damit gedroht, ihn zu bäumen?«

»Oh, mein liebes Mädchen. Junge Menschen können keine Geheimnisse hüten. Nur Alter und Erfahrung lehren Menschen, den Mund zu halten. Wie gesagt, die Information war zu wertvoll – er hätte sie irgendwann ausgeplappert, vielleicht betrunken bei einem Kartenspiel. Aber halte mich nicht für ein Ungeheuer. Wenn ich ihn gefunden hätte, hätte ich ihn seiner Wege geschickt; niemand würde einem Grundling aus den Ställen glauben, der mit einem Ausflug in die Gemächer einer Prinzessin prahlt. Zwei Kupfermünzen kaufen dir in einer Taverne ein Dutzend dieser ›erstaunlichen‹ Geschichten. Aber Channeri ist die Tochter eines Herzogs. Hätte er ihr Gerücht bestätigt, hätte die Geschichte die Runde gemacht. Nein, wir konnten nicht darauf vertrauen, dass er diesen Leckerbissen für sich behielt. Doch bei den Toten kann man sich immer darauf verlassen, dass sie ein Geheimnis wahren.«

Flora nickte. Es war eine Lektion. Ihre Mutter erteilte sie ihr. »Hast du Vater damit überzeugt?«

»Nein. Das war viel einfacher. Wie du gesagt hast, er ist leicht zu erzürnen, und der Gedanke, dass ein Grundling das Bett seiner Tochter besudelt hat, war Anlass genug. Er glaubt, die Tugend deiner Schwester wäre immer noch unversehrt.«

Floras leerer Blick verriet ihrer Mutter, was sie wissen musste.

»Bist du genauso naiv wie er? Was denkst du, weshalb ich Neve, den Küchenjungen, vor drei Monaten fortgeschickt habe?«

»Oh.«

»Ich war diejenige, die diesen Jungen zwischen den Beinen deiner Schwester gefunden hat, und so konnte ich ihn vor dem Abgrund retten.« Die Königin entfernte sich von dem Geländer und füllte sich einen hölzernen Kelch mit Apfelwein aus einem geschnitzten Schwanenkrug. Sie schenkte auch Flora einen Becher ein, wenn auch nur halb voll. »Fremdländische Prinzen können wählerisch sein, was ihre Verlobten betrifft. Man lehrt sie, ›Tugend‹ zu verlangen, aber was sie eigentlich meinen, ist eine Furche, die noch kein Mann gepflügt hat. Natürlich ergibt das keinen Sinn. Diese geilen Jungen erwarten, dass junge Mädchen das Lager mit ihnen teilen. Und doch erwarten sie, wenn sie Männer werden, eine Frau zu bekommen, die ihrerseits mit keinem Jungen das Lager geteilt hat. Und so müssen wir die Jungen zurückweisen oder die Männer belügen. Und deine Schwester ist eine begnadete Lügnerin.« Ihre Mutter warf sich ihr langes Haar über die Schultern und lachte leise. »Schön und gut – wer will schon ablehnen, wenn er jung ist. Aber sie hätte keinen Jungen in ihrem Zimmer lassen dürfen, wo ihre schwatzhafte Freundin ihn finden konnte. Unvorsichtig. Dumm. Sie hätte sich mit ihm in den Ställen treffen sollen, wo niemand einem Zeugen geglaubt hätte, selbst wenn ein Mann oder eine Frau aus dem gemeinen Volk sie gesehen hätte. Und sie hätte sich eine weniger nützliche Dienerin aussuchen sollen, um ihr die Schuld in die Schuhe zu schieben. Es sind Entscheidungen wie diese, die sie zu einer schwachen stratanischen Königin gemacht hätten.«

»Gemacht hätten?«

»Deine Schwester wird heiraten.«

Flora schnappte nach Luft. Es hatte gar keine Gerüchte über einen Bewerber gegeben. Kein Gerede. Keine förmlichen Besuche seit dem des kleinen Sohnes des Obstgarten-Herzogs vor zwei Jahren, und der war noch ein Kind gewesen. Es gab nicht einmal einen passenden Kandidaten auf der Lichtung, oder? Flora ging im Geiste die heiratsfähigen Adeligen durch. »Heiraten? Ich dachte, sie würde Ärger bekommen!«

»Den bekommt sie. Glaub mir, diese Heirat ist keine Belohnung für ihr Verhalten. Sie soll Prinz Ulgar vom Wüstenvolk heiraten. Dein Vater hat Iain Rackel gleich nach diesem Zwischenfall ausgeschickt, um die Verbindung einzufädeln.«

»Der fette Rackel, der unter Bewachung stand?«

»Ja. Er kennt das Wüstenvolk. Er wird deine Schwester anbieten, um unsere Königreiche zu einen und einen Krieg wegen des Federsees zu verhindern. Sie wird eine Königin des Sandes sein.«

»Aber das bedeutet …«

»Ja. Du wirst Königin des Großen Waldes von Strata werden.«

Flora konnte den Gedanken kaum fassen. Ich werde Strata regieren. Einfach so, alles an einem einzigen Tag. Doch nagende Schuldgefühle überschatteten ihre Aufregung. Ihre Schwester würde weggeschickt werden, um ihr den Weg freizumachen, und ihr Pakt, gemeinsam über Strata zu regieren, würde gebrochen werden. Enic, der Stallbursche, war gestorben, um Floras Thronfolge zu ermöglichen, und …

»Was wird aus Eggie?«, fragte sie.

»Du hast recht daran getan, für deine Schwester zu lügen.«

»Ich habe nicht gelogen. Nicht direkt.«

»Du hast sehr wohl gelogen. Wie eine Königin. Es ist die eine königliche Fähigkeit, die deine Schwester und du tatsächlich zu teilen scheint.«

»Es ist keine Fähigkeit, die ich teile. Ich meine, es ist keine Fähigkeit, die ich besitze. Es war schwer für mich, diese Dinge zu sagen. Es hat mir nicht gefallen.«

»Dann schlägst du nach deinem Vater. Er könnte die Wahrheit nicht mal beschönigen, wenn es um sein Leben ginge. In der Tat, ich denke, es wird eines Tages sein Verderben sein.«

»Aber Eggie …«

»Oh ja. Die Dienerin wird nach unten geschickt werden, wenn auch nicht vom Baumwipfel aus. Keine Sorge. Sie hat uns jahrelang gut gedient, kluges Mädchen. Ihre Großmutter hat sich um mich gekümmert, als ich jung war, und sie hatte sich von den Tuftorwurzeln hochgearbeitet, um sich und ihrer Familie einen Platz in den Baumkronen zu sichern, wo sie dem Adel diente. Eggie wird nicht gebäumt werden.«

Flora stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Wohin wird man sie dann schicken?«

Ihre Mutter verdrehte die Augen, als wäre dies die geringste ihrer Sorgen.

Undwahrscheinlich ist das auch so, dachte Flora. Viel war an diesem Tag geschehen.

Evita Evangelin zuckte mit ihren königlichen Schultern. »Wie ich höre, ist in den Ställen eine Position frei geworden: Scheiße schaufeln.«

Kapitel 3

Beunruhigende Briefe

Der erste Brief von Amora kam zehn Tage nachdem sie in einen sonnengebleichten Wagen verfrachtet worden war. In ihrem absurden grünen Hochzeitsgewand mit der belaubten, zehn Fuß langen Schleppe war sie von einem schwankenden Gespann mit vier buckeligen Pferden in die Wüste gekarrt worden.

Flora nahm das versiegelte Papier von dem Kurier entgegen, stopfte es unter ihre Schärpe und kletterte in die Äste hinauf. Der Kurier – Kouglas war sein Name – rief ihr etwas nach, aufrichtig besorgt. Jede Lichtungswache war verantwortlich für ihr Wohlergehen, und es war keine ganz ungefährliche Angewohnheit, durch die Tuftorbäume zu klettern, jedenfalls nicht für ein durchschnittliches stratanisches Mädchen, das vielleicht hinunterfallen und sich das Genick brechen würde.

Aberich bin kein durchschnittliches stratanisches Mädchen!

In der Tat wäre es für jeden tödlich gewesen, der nicht so geschickt darin war wie sie, über die Äste zu laufen, aber Flora lebte in der Baumkrone und war seit frühester Kindheit von Ast zu Ast gehüpft. Sie lief über die drei Handbreit dicken gegabelten Pfade drei Ebenen über der Erde. Kouglas folgte ihr, aber er war ein Renner, kein Kletterer. Ein Grundling. Sie führte ihn an der Nase herum, und er rannte unter ihr her und schrie Warnungen, die sie ignorierte, bis das dichter werdende Unterholz ihn bremste.

Flora schlängelte sich weiter durch die Bäume, den ganzen Weg zu den Ruinen von Wychwald, wo sie sich anmutig von den Ästen auf die bröckelnde Steinmauer fallen und dann die Beine baumeln ließ. Der nasse Wychwald tropfte vom ewigen leichten Nebel. Er war nicht weit von der Lichtung entfernt, aber er stand in den Vorhügeln des zerklüfteten Rabenkamms, und die grauen stratanischen Wolken entließen ihre Bürde auf seine Hänge, wenn sie über die gezackten Gipfel zu klettern begannen. Der Nebel verlieh den Ruinen eine gewisse Stille, als hinge ein dünner Vorhang über ihnen.

Flora beugte sich über den Brief, um ihn gegen die Feuchtigkeit zu schützen, und brach sein Wachssiegel. Das Papier war ein dünnes Pergament, hochwertiger, als sie es von dem wilden Sandvolk erwartet hätte. Mattias Ospringer, ein Bibliothekslehrling von der Lichtung, hatte ihr einmal erzählt, dass das Wüstenvolk, weil es in seiner staubigen Welt keine Bäume habe, Papier aus der Haut geschlachteter Lagerhunde mache. Oder es stahl – die Wüstenbewohner waren außerdem berüchtigte Räuber. Flora hatte die Geschichten über blutige Plünderungen von Karawanen gehört, die den Sand zwischen Strata, Tiborin und Schmutz durchquerten.

Bei den Buchstaben im Brief handelte es sich offensichtlich um Amoras abgehacktes Gekritzel, verfasst in der Sprache der Evangelins, die Floras Großtante Hilda sie gelehrt hatte. Die Sprache war für alle außerhalb ihrer eigenen Familie unleserlich. Die Geheimschrift war jedoch nicht gänzlich unknackbar; einmal hatte ein Gelehrter aus dem Bibliotheksturm sie entschlüsselt, der hinreichend klug gewesen war – nicht Mattias. Aber dieser Gelehrte war zu klug gewesen. Man hat ihn gebäumt, erinnerte sich Flora, als sie den Brief ihrer Schwester auseinanderfaltete.

Liebe, süße Flora,

mein Leben ist erbärmlich. Ein Albtraum im Wachzustand. Ich kann so nicht weitermachen!

Ich bin mit einem Wahnsinnigen verheiratet worden, der jede Nacht in mein Bett kommt, um mich zu schänden und zu demütigen. Und es ist nicht der Prinz, dem man mich versprochen hatte! Der alte, verlebte König hat mich seinem eigenen Sohn gestohlen und mich zu seiner zweiten Braut gemacht. Sein Sohn soll jetzt stattdessen irgendein Miststück von den Hügelvölkern heiraten.

Ich bin unglücklich und staubig und allein. Ich kann das Grunzen und Murmeln meiner neuen Diener in ihrer hässlichen Sprache kaum verstehen. Überall um mich herum nur Dreck und Sand. Meilenweit kein Baum. Hier sind alle Grundlinge.

Mutter und Vater haben auf meinen ersten Brief nicht geantwortet. Wirst du mir helfen? Du musst! Hol mich nach Hause. Für uns. Wir wollten Strata gemeinsam regieren. Du hast es geschworen!

Außerdem vermisse ich dich.

Deine dich liebende Schwester,

Amora

Flora ließ auf der einzigen Steinmauer in ganz Strata die Schultern hängen. Der Brief rührte sie zu Tränen, die Ungerechtigkeit des Ganzen weckte ihren Zorn, und ihre Hilflosigkeit wurde zu Verzweiflung.

»Ahhhh!«

Ihr menschlicher Schrei hallte durch den tropfenden Wald, dann senkte sich eine unheimliche Stille herab, als hätte sie bei der Kuttenzeremonie eines Mönchs eine unpassende Bemerkung gemacht, und alle hätten sich umgedreht, um sie anzustarren. Sämtliche Tiere lauschten, warteten, beobachteten sie. Sie lauern. Flora hatte ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Es raschelte im Gebüsch, und sie sprang auf, während in ihrem Kopf Bilder von Panthern, Tigern und den sagenumwobenen Mynx erschienen – Letztere waren legendäre, pferdegroße Mörderkatzen mit gebogenen Reißzähnen, die angeblich »flinker als ein Fuchs und stärker als ein Ochs« waren.

Flora spannte die Muskeln an, um in die Bäume zu springen und um ihr Leben zu rennen. Ihr Herz hämmerte wie eine Trommel, doch die Kreatur, die aus dem Blätterwerk brach, war eine andere Art von Großkater als der Mynx.

»Vater?«

Flora wusste nicht, ob sie erleichtert darüber war, dass ihr königlicher Vater gekommen war und nicht der Albtraum irgendeiner Kindergeschichte. Er wird zornig sein.

Leo Evangelin erschien mit einem Stampfen seiner Affenfellstiefel auf Wychwalds uralten Pflastersteinen, die rissig und grün von einem Teppich aus Moos waren. Der Umhang aus dem gestreiften Fell des großen Tigers, den er als Junge erlegt hatte, um sich seinen Namen zu verdienen, flatterte hinter ihm her. Flora war der Wirbel peinlich, den sie mit ihrem Schrei verursacht hatte; sofort erschienen drei weitere Lichtungswachen, darunter Kouglas, der zweifellos Ärger bekommen würde, weil er sie aus den Augen verloren hatte. Selbst schuld, lahmer Schneckengrundling. Als Leo sah, dass sie unversehrt war, schnaubte er in wortlosem Ärger und scheuchte seine Wachleute schroff zurück auf die Lichtung. Dann seufzte er und kletterte die zerbrochenen Steine zu ihr hinauf. Es hatte keinen Sinn zu fliehen.

Ichsitze in der Falle, dachte Flora, als König Leo Evangelin sich auf die gewaltigen Grundmauersteine hievte, die halb in der Erde begraben lagen, und dann den Schutt der Bresche bestieg, die vor Urzeiten gewaltsam in den Hauptwall der Festung geschlagen worden war.

Die steinernen Ruinen der uralten Stadt erhoben sich wie riesige Grabsteine zwischen den Fichten, Kiefern und Tuftors, fast gänzlich vom Wald zurückerobert, verdeckt durch Bäume, Gräser und Farne, Hunderte von Jahren nachdem die grauen Mauern brutal in die neblige grüne Landschaft eingedrungen waren.

Während ihr Vater kletterte, staunte Flora über das schiere Ausmaß der Steinbauten. Wie lange muss es gedauert haben, das alles zu erbauen? Ein halbes Jahrhundert, hatte sie gehört. Ein ganzes Leben. Der durchbrochene Wall schlängelte sich zwischen den gewaltigen Tuftors hindurch wie ein hoher gepflasterter Pfad, der einen großen Kreis bildete. Er war jetzt natürlich verfallen und verlassen, abgesehen von hungrigen Katzen und Fleischaffen, aber seine Überreste würden stehen, solange Flora es sich vorstellen konnte. Viele Generationen lang. Darin lagen Stolz und Schande. Mutige Menschenhände und geniale Ingenatoren hatten das Steinwunder mitten in der unwirtlichen Landschaft des nassen Waldes errichtet, und sie hatten sich seinen wilden Bewohnern gestellt, um ein mächtiges Zeugnis menschlicher Stärke zu erschaffen.

Undmeine stratanischen Vorfahren haben es niedergerissen.

Es gab dazu natürlich eine Geschichte, und Flora kannte sie sehr gut. Stratanische Axtkrieger hatten Stein mit Holz besiegt. Sie hatten im Morgengrauen angegriffen und waren mithilfe hölzerner Gerüste in Massen über die Mauern gekommen. Der Wall war zu nah an dem dichten Blätterwerk von Wychwald gebaut worden, und die Mauerwache hatte das nächtliche Nahen der Feinde erst sehen können, als es zu spät gewesen war. Leitern waren zum Einsatz gekommen, bevor die Wychmänner ihre Bogenschützen zu den Schießscharten schicken konnten. Als die Bedrohung durch die Bogenschützen erst zunichtegemacht worden war, brachte man Rammböcke aus Tuftorbäumen herbei, um Löcher in die Mauern zu schlagen. Die Niederlage folgte schnell und unmissverständlich und legte die Schwäche einer massiven Felsfestung im tiefen Wald bloß. Steinerne Mauern und Burgen waren Bauten fürs offene Gelände – wie die Wüstenoase oder die Küstenstadt Schmutz. Es hatte ein halbes Jahrhundert gedauert, die Festung von Wychwald zu erbauen, und eine einzige Nacht, sie zu zerstören. Die Strataner hatten demonstriert, dass steinerne Bauten keinen Platz in ihrem dichten Wald hatten, zum blutigen Kummer der Wychmänner. Sie wurden von ihrer eigenen Schutzmauer geworfen – in einer primitiven Vorform moderner Bäumungen –, und das Zeitalter der Holztürme hielt das Vorrücken des Steins auf.

»Du machst mir Angst, Prinzessin«, sagte ihr königlicher Vater, als er zu ihr auf den Wall trat. Er hatte sich angewöhnt, sie »Prinzessin« zu nennen, jetzt, da ihre Schwester fort war. Vorher war es immer »Zweig« gewesen. Amora hatte er »Knospe« genannt, bis sie das Alter ihrer ersten Blutung erreichte, und anschließend »Prinzessin«, wie es sich für eine junge Frau geziemte, die alt genug war, um auf einem Thron zu sitzen. »Du bist jetzt Stratas Thronerbin. Du darfst kein impulsives Kind mehr sein.«

Flora wedelte mit Amoras Brief vor seiner Nase, als wollte sie ihn damit schlagen. »Amora hat dir eine Nachricht geschickt! Du hast sie ignoriert. Warum?«

Er seufzte. Offensichtlich war das ein wunder Punkt. Er hat wahrscheinlich schon mehrere entnervende Beratungen zu diesem Thema mit meiner königlichen Mutter durchlitten.

»Wir haben mit dem Wüstenvolk Frieden geschlossen. Ein guter, praktischer Handel. Ich werde diesen Frieden nicht stören, weil deiner Schwester irgendetwas nicht behagt.«

»Nicht behagt? Du hast sie an einen alten Mann verkauft!«

»König Ulag ist fünfunddreißig. Er ist jünger als ich und kaum alt zu nennen.«

»Mehr als doppelt so alt wie sie. Und schrumpelig.«

»Er hat Wüstenhaut – gesunde Runzeln von der Wüstensonne, nicht von hohem Alter.«

»Und du wirst zusehen, wie der Traum deiner erstgeborenen Tochter, über unser eigenes Königreich zu herrschen, in diesem trostlosen Ödland ebenfalls dahinschrumpelt?«

»Ja.«

Flora schob die Unterlippe vor und verlangte mit ihrem Schmollmund eine bessere Erklärung.

»Ich werde zu meinem Wort stehen, wie ein König es tun muss.« Er hielt inne und blickte sie vielsagend an. »Wie eine Königin es tun muss.«

»Ich habe mein Wort nicht gegeben.«

»Dann ist es gut, dass du noch keine Königin bist und keine Soldaten befehligst. Es wäre närrisch zu versuchen, sie zurückzuholen. Er ist ein stolzer Mann. Du müsstest ihn töten. Könntest du das tun, Zweig?«

»Ja!«

»Ha, er würde dich einfach ebenfalls töten. Und wo wärst du dann?«

»Unsere Armeen können siegen.«

»Ein Krieg wegen eines einzigen Mädchens?«

»Einer einzigen Prinzessin.«

»Einer einzigen Prinzessin, die sich schlecht benommen hat. Dieser staubige alte König tut mir beinahe leid. Außerdem habe ich noch eine andere Prinzessin.«

»Amora ist dein eigen Fleisch und Blut und deine Thronerbin.«

»Du bist jetzt meine Thronerbin. Würdest du das und das Leben all dieser Soldaten aufgeben?«

»Ja. Mit Freuden, wenn es meine Schwester nach Hause brächte. Jeder loyale stratanische Soldat würde für die Ehre seiner Prinzessin sterben.«

»Sei dir da nicht so sicher. Loyalität ist eine gute Sache, aber sie muss verdient werden, bevor man sie bekommt. Eine gute Königin ist besonnen genug, ihre Untertanen nicht in den Tod zu schicken, weil ein Mädchen in einem Brief irgendeine Geschichte ausbrütet. Jetzt lass uns nach Hause zurückkehren.«

»Ich bleibe noch ein Weilchen. Es ist schön hier, und ich will mich darin üben, besonnener zu sein.«

»Denk auf dem Heimweg darüber nach. Hier ist es nicht sicher. Du hast dich nicht bewaffnet, bevor du davongelaufen bist und es Kouglas überlassen hast, seinem König zu berichten, dass die Prinzessin ihn abgehängt habe. Er hat gezittert wie Espenlaub.«

»Es scheint, dass ich ihn nicht gründlich genug abgehängt habe.«

»Komm. Sonst wirst du noch von einem Mynx gefressen.«

»Die gibt es nicht wirklich«, erklärte Flora. »Oder doch?«

»Dann von einem mädchenfressenden Tiger. Der Fellumhang, den ich trage, ist echt. Ich habe in ebendiesem Wychwald die Kehle dieses großen Tieres durchgeschnitten, als ich …«

»Als du ein Junge warst. Ich kenne die Geschichte.«

»Es ist keine Geschichte. Es ist wirklich passiert. Dieses Fell ist der Beweis. Du kannst es berühren. Du kannst es fühlen. Ich war mit einer Klinge ausgerüstet, als ich jung war, nicht mit Tagträumen und mürrischen Launen. Ich habe mich nicht vom schönen Schein der Welt täuschen lassen. Ich lebe noch, und dieses Tier ist tot, weil ich nach Fährten auf dem Boden gesucht habe, nach Klauenspuren an Baumstämmen und nach Blutstropfen auf Blättern. Dein Aufstieg zum Thron wird schwierig werden, wenn du nicht den Unterschied lernst zwischen einer fantastischen Geschichte und dem, was real ist.«

Kapitel 4

Eine fantastische Geschichte

Es kamen drei weitere Briefe, jeder eindringlicher als der vorangegangene. Beim Lesen konnte Flora beinahe die Stimme ihrer Schwester hören, mit ihrem vertrauten schrillen Ton, bei dem sie immer zusammenzuckte. Und die Nachrichten waren schlimm. Man hatte Amora gezwungen, Insekten zu essen! Und all ihre stratanischen Kleider wegzuwerfen. Wie die stinkenden Wilden, unter denen sie lebte, konnte sie oft tagelang nicht baden. Und der Sand fand seinen Weg in jede Nische und jede Ritze ihres Körpers, schrieb sie. »Nicht unähnlich meinem lüsternen Gemahl!« Sie nannte ihn sogar »Sandmann«.

Ichmuss sie retten, dachte Flora, als sie sich auf ihren Stuhl an der gewaltigen Festtafel in der Lichtungshalle setzte. Ihr königlicher Vater und ihre königliche Mutter saßen am Kopfende des Tisches, flankiert von ihren Ratgebern. Flora nahm weiter unten Platz, wo sie sich nicht in ihrem direkten Blickfeld befand. Sie lächelten, tunkten Nüsse in Seetaucherleberöl und warteten mit beschämend guter Laune auf das Unterhaltungsprogramm des Abends, als wäre die Vergewaltigung ihrer ältesten Tochter ihre geringste Sorge, als würde Amora nicht in der heißen Wüste gefoltert und entehrt, während sie sich inmitten munterer Gäste in einer kühlen Halle an frischem Gemüse und Wildbretpasteten gütlich taten. Es war der Tag der Dankbaren Ernte, aber die Feier fühlte sich für Flora so hohl an wie der Turm der Thronerben ohne ihre Schwester.

»Da kommt der Barde!«, rief Graf Wanken, der weiter unten in der Mitte der Tafel saß. Wanken war ein fetter Mann, der Floras Meinung nach Feste ein wenig zu sehr genoss.

Zuerst fragte sie sich, ob Wanken den Ausrufer ihres Vaters meinte, Schnickschnack, der neben dem Thron stand. Schnickschnack fungierte auch als Hofnarr des Königs, und sie hatte ihn als Kind ungemein witzig gefunden – oft hatte sie sich vor Lachen gekrümmt, wenn er seinen Schlapphut aufgesetzt hatte und herumgetollt war, während er so tat, als wäre er ein Affe oder ein Löwe. Doch seit sie älter als zehn war, hatte sie festgestellt, dass sie all seine Witze schon aufsagen konnte, bevor er sie ausgesprochen hatte, und statt lustig fand sie ihn jetzt ermüdend oder sogar ärgerlich. Aber Schnickschnack rührte sich nicht von der Stelle. Stattdessen klammerte er sich am Thron fest, wie ein Kind, das befürchtete, man könnte ihm sein Spielzeug wegnehmen.

»Wo ist sie?«, rief Floras Onkel Vernon ein wenig zu laut. Vernon war der jüngere Bruder ihres Vaters und nach Flora der Nächste in der Thronfolge, nun, da Amora fort war. Er beugte sich über den Tisch, stieß Kelche um und grölte.

Sie? Barden waren doch immer Männer, dachte Flora. Vielleicht hat mein Onkel bereits zu viele Becher genossen. Er war ein berüchtigter Trinker. Amora hatte Vernon sogar »Trunkel« getauft. Es gab eine Geschichte, nach der er einmal bei einer Hochzeit, ohne hinzuschauen, aus einem Fenster der Lichtungshalle gepinkelt hatte, genau auf die Mutter des Bräutigams. Flora war sich nicht sicher, wessen Hochzeit es gewesen war, aber so ging die Geschichte.

Flora wartete darauf, dass der Barde erschien und sich als ein mittelmäßiger Jongleur oder wenig witziger Hofnarr entpuppte. Oder vielleicht ein glanzloser Magier, der Hühner unter seinem Umhang hervorzaubert. Sie hoffte, dass es ein Axtwerfer oder Feuerschlucker sein würde – wenigstens sorgt es für etwas Aufregung, wenn er schlecht ist. Aber es war für gewöhnlich immer die gleiche Art von Darbietung, und es war anzunehmen, dass es die gleiche Art von Langeweile wie immer werden würde.

Schließlich schob Schnickschnack die Brust vor und trat nach vorn, um seine Rolle als Stratas Ausrufer zu erfüllen, aber er ließ eine Hand auf dem Thron liegen. »Edelleute von Strata, geehrte Gäste und …«

»Halt! Halt-Halt-Haaaalt!« Eine lauter werdende Stimme übertönte von den großen Doppeltüren der Lichtungshalle her selbst Schnickschnacks Bellen. »Ich stelle mich selbst vor!«

Flora konnte den schweren Akzent nicht einordnen. Natürlich war sie noch niemals außerhalb von Strata gewesen, daher waren die Stimmen der anderen Königreiche ihr größtenteils ein Rätsel. Nur jene Reisenden, denen es gestattet war, die Lichtung zu passieren, boten ihren Ohren eine Auswahl verschiedener Redeweisen, die anders waren als die der Waldbewohner. Die meisten Reisenden von außerhalb des Waldes stammten aus dem nahen Tiborin, dessen Sprache harsch und abgehackt war. Der seidige Ton und der fließende Rhythmus dieser Worte unterschieden sich von allem, was Flora je gehört hatte.

Undmein Trunkel hatte recht – die Sprecherin ist eine Frau.

Diese Frau war erschreckend hochgewachsen, mit kastanienbraunem Haar, üppig und lang. Sie hat keine Diener. Sie trug hochhackige Reitstiefel unter ihrem Gewand, statt der geziemenden Abendschuhe, und dadurch war sie die erhabenste Frau in einem Raum voller Liebhaber von Höhen. Das Gewand schimmerte im Fackellicht wie ihr Haar. Und sie war schön. Nein. Ihr Gesicht war nicht weich und zart – die Frau war atemberaubend, nicht hübsch. Flora erhob sich auf ihrem Stuhl auf die Knie, um besser sehen zu können. Das scharfe Kinn der Frau ragte aus ihrem eckigen Kiefer hervor, verlangte Aufmerksamkeit und trug ihr interessierte Blicke von den Männern ein. Ihre Gestalt war imposant – ein stämmiges Stundenglas mit üppigen Brüsten, langen Beinen und einer geschnürten Taille. Ihr Hintern wölbte sich dramatisch, und sie wackelte damit hin und her, als hätte sie dort eine Ansammlung dekorativer Federn, während sie durch den königlichen Bankettsaal der Lichtungshalle schritt.

»Brave Leute von Strata! Und auch die weniger Braven unter Euch. Ich bin Anjali!« Sie grinste, hielt inne und ließ ihre Worte wie silbrigen Staub über die Menge rieseln. Sie nannte keinen Familiennamen, der vielleicht auf die Güte ihrer Abstammung hingedeutet hätte. Daher fragten sich alle, wer sie sei.

»Fahret fort, werte Dame«, donnerte König Leo. »Unterhaltet uns!«

»Oh nein, ich spiele nicht die Närrin. Obwohl Ihr Waldeichhörnchen mich durchaus unterhaltet.«

Onkel Vernon quatschte begierig dazwischen: »Seid Ihr dann hier, um uns einen wollüstigen Tanz darzubieten?«

»Auch das nicht. Obwohl Euer eigener Ausrufer das vielleicht tun könnte, wenn ich fertig bin.«

Das trug ihr ein Lachen ein, wenn auch nicht von Schnickschnack, der mit schmalen Lippen, in sich zusammengesunken und sehr wenig wollüstig dastand und die Armlehne des Throns seines Königs immer noch fest umklammert hielt.

»Nein. Ich lasse mich nicht als dressierten Affen von Euch Leutchen von den hohen Zweigen begaffen. Ich bin hier mit einer Geschicht … und Ihr mögt zuhören oder auch nicht.«

Bei diesen Reimen verstummten alle im Saal. Die Ohren der Gäste waren gespitzt, als die fremdländische Stimme ihren Rhythmus fand und sich im Gesang erhob.

»In der fernen Stadt Schmutz

Gab’s schöne Damen im Seidenkleid,

Edle Damen in tiefem Leid.

In der glänzenden Stadt Schmutz. Oho!

Gab’s einen Herzog mit verdorbenem Sinn,

Verführte und nahm ihre Ehre ganz hin,

Belog sie und machte die Bäuche dick.

In der trügerischen Stadt Schmutz. Aha!

Selbiger Herzog verlieh Gold zuhauf

An Handwerksleute landab, landauf,

Wenn verspätet sie zahlten, kam ein Ohr obendrauf!

In der netten Stadt Schmutz. He, he!

Sein übles Tun, es war zum Kotzen,

Sein Volk rief: ›Wer kann schon einem Herzog trotzen?‹

›Unsren Herrn müsste man einmal scharf anmotzen!‹

In der brutalen Stadt Schmutz. He, he!«

Flora staunte über Anjalis Lied. Obwohl es einfach und zotig war wie ein Gassenhauer zum Mitsingen, verlieh ihre anschwellende Stimme dem Lied Glaubwürdigkeit. Flora konnte sich den bösen Herzog beinahe vorstellen, der sich über Geld die Hände rieb, Ohren abzuschneiden befahl und Frauen mit seinen Bastarden wegjagte. Anjali wechselte vom Scherzhaften mühelos zu Ernsthaftigkeit und erntete erst Gelächter und dann ernstes Schweigen. Sie sang aufgrund ihrer Größe mit Autorität, und dadurch erschien die Geschichte wahrhaftig und real. Wie könnte sie sonst eine Geschichte mit so viel Gefühl erzählen, wenn sie nicht der Wahrheit entspräche?

Sie sang weiter:

»Doch mein tragisches Lied nimmt eine Wende,

Einen Mann gab’s, der machte dem Unrecht ein Ende.

In der wunderbaren Stadt Schmutz. Aha.

Ein Mann, der sich selbst ›Ratte‹ nannte,

Dies sag ich mit allem Respekt, den ich kannte.

Es spuckte und grinste dieser edle Knappe,

›Für Geld fütt’re ich dem Herzog die Kappe.‹

In der fernen Stadt Schmutz, oho!

In der fernen Stadt Schmutz, aha.

In der reizenden, ätzenden, netten und fetten, schönen, dröhnenden, beflissenen, beschissenen, fernen Stadt Schmutz, he, he!«

Ihre Stimme erhob sich abwechselnd wie ein hoher Tuftor und wurde dann wieder zu einem Tröpfeln wie der süße Saft der Zuckerweide. Die Worte füllten die Halle, und die Frau bewegte sich mühelos zwischen den Tonlagen, jede Note kristallklar und doch mit der nächsten verschmelzend. Sie benutzte sogar die Akustik des riesigen Saals, um sich selbst zu begleiten, indem sie ihre Stimme von den Wänden und der Decke widerhallen und in düsteren Momenten wiederkehren ließ – kurz bevor ein armer Hutmacher in der Geschichte sein Ohr verlor –, um ein gruseliges Echo in ihrer Geschichte zu schaffen.

Undder Liedtext selbst ist von genialer, grausamer Schläue, dachte Flora. Die Geschichte enthielt Schönheit und Gefahr, Seidenkleider und einen bösen Adeligen. Verführung und Schande. Lust und Mord. Genug, dass die Ohren einer Prinzessin rot werden! Das Lied ging weiter und erzählte mehr über den mysteriösen, ehrenhaften Meuchelmörder, der für einen Preis dem Unrecht ein Ende machte. Die Ratte. Er tötete den Herzog natürlich und ließ ihn seine eigene Kappe fressen, bevor er ihm die Achillessehnen durchtrennte, und der Herzog taumelte, bis alles Blut aus ihm herausfloss. Aber der abscheuliche Edelmann hat es verdient. Und in einem Anfall von ausgleichender Gerechtigkeit wurden die Bastarde der entehrten Damen in den Adelsstand erhoben. Sie erließen umgehend allen ihre Schulden an den Thron, und der Handel blühte in der Stadt auf. Alle lebten danach glücklich bis ans Ende ihrer Tage – bis auf den Herzog natürlich, der überhaupt nicht mehr lebte –, und Flora war entzückt.

Es folgte ein Moment der Stille, als Anjali fertig war. Sie war nicht herumgehüpft oder hatte sich oder andere zur allgemeinen Erheiterung mit Messern in Gefahr gebracht. Es gab keine Possen, kein Jonglieren mit Äxten. Stattdessen hatte sie einem Saal voller tratschsüchtiger Aristokraten einfach eine Geschichte vorgesungen. Ob sie ihnen gefiel oder nicht, war für die Fremde offenbar ohne Bedeutung. Sie wartete nicht einmal ab, ob man applaudierte, sondern ging sofort an den Tisch mit den Speisen und nahm sich ein geröstetes Baumhuhnbein.

Flora starrte sie an. Sie ist unglaublich!

Dann begann ihr königlicher Vater zu klatschen, und plötzlich brach die ganze Halle in Applaus aus, schlug mit Krügen auf Tische und johlte herzhaft. Der Jubel erschütterte die Lichtungshalle, als fast alle einstimmten. Nur Schnickschnack rührte sich nicht, wie Flora bemerkte. Der Ausrufer schien sich unwohl zu fühlen, sein Gesicht verzerrt, als müsse er dringend pinkeln. Seine traditionellen Mätzchen waren im Vergleich altmodisch und stümperhaft. Er hatte nie solch begeisterten Beifall erhalten, soweit Flora sich erinnern konnte. Der königliche Ausrufer-Barde-Hofnarr blickte sich mit großen Augen um, eher von dem wilden Beifall erschüttert, den man der fremdländischen Grundlingsfrau zuteilwerden ließ, als von ihrer erstaunlichen Darbietung.

Als das Klatschen und Rufen verebbte, ging die Mahlzeit weiter, und König Leo lud ihre Gastsängerin ein, sich nach Herzenslust an den Speisen zu bedienen, was in der Lichtungshalle Sitte für jene war, die genügend Applaus empfangen hatten. Anjali war fast fertig mit dem Hühnerbein und musterte das aufgeschnittene Fleisch und das Brot. Keinerlei Zweifel in ihr.