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Im April des Jahres 1825 gelangt Clementine über die schwankende Schiffsbrücke, die vom Deutzer Ufer hinüberführt, nach Köln. Die Preußen regieren mit protestantischer Pedanterie, Napoleon ist besiegt, und wenn Clementine wollte, könnte sie längst wieder hinter Klostermauern leben. Warum will eine Frau von fast fünfzig Jahren im Nonnenhabit in Köln sesshaft werden - und eine Eau de Cologne- und Heilwasserfabrikation wagen? Eine starke Frau zwischen Gottesfurcht, Nächstenliebe und Unternehmerdenken.
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Seitenzahl: 538
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Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist frei erfunden, wenngleich im historischen Umfeld eingebettet. Einige Personen, Ereignisse und Orte sind historisch, einige sind es nicht.
© 2014 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz Erstausgabe 2008 eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-559-4 Originalausgabe
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Für Rolf
»Ich kann freilich nicht sagen,
ob es besser werden wird,
wenn es anders wird:
aber so viel kann ich sagen,
es muss anders werden,
wenn es gut werden soll.«
Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799)
Prolog
Das Klostertor fiel hinter Wilhelmine ins Schloss. Christine stand davor und weinte.
»Nicht für lange«, hatte sie ihrer Tochter nachgerufen, »wenn sich alle beruhigt haben, komme ich wieder und hole dich, und dann werden wir sehen, was wird.«
Die Mutter Oberin hatte die Finger vor die Lippen gehalten, Wilhelmines Arm genommen und sie hineingeleitet ins Innere des Annunziatenklosters St. Anna in Coesfeld im Bistum Münster. Vom langen Sitzen in der schaukelnden Kutsche war Wilhelmine noch ganz benommen. Sie wollte nur etwas essen und schlafen. Schwester Ophelia ging vor ihr her und führte sie durch den Klostergang an vielen Türen vorbei, bis zu der, die sie öffnete. Zögernd setzte Wilhelmine ihren Fuß über die Schwelle und betrat den schmalen, sparsam möblierten Raum: ein Stuhl, ein Bett, ein Tisch und zwei Haken. Das kleine Fenster im oberen Drittel warf einen dicken Sonnenstrahl herein, so als wollte der Himmel sie begrüßen als seine Tochter – oder schon als Braut?
»Um halb acht hole ich dich wieder ab zu Vigilien und Komplet. Bis dahin hast du Zeit zur Besinnung, um anzukommen. Schau in dich hinein und höre darauf, welchen Rat dir Gott zu geben bereit ist.«
Wilhelmine setzte sich auf das Bett, eine harte Liegestatt mit rauer Decke, nicht zu vergleichen mit den weichen Daunen daheim. Gegenüber hing das Kruzifix, der einzige Wandschmuck in dieser schmalen Zelle. Sie hob den Rock in die Höhe und griff unter den Hosenbund. Von dort holte sie den zerdrückten Zettel, presste ihn an die Lippen und flüsterte: »Clements, ja – für immer und ewig.« Danach sah sie auf den gekreuzigten Christus, faltete die Hände und betete: »Hilf mir, Herr Jesus, hilf mir und lass mich glücklich werden.«
Die Klosterglocke schlug zweimal, und Wilhelmine, die sich erschöpft auf das Bett gelegt hatte, erwachte. Ihr war kalt. Es klopfte an der Tür. Sie sprang auf und öffnete. Eine junge Frau stand vor ihr, das hübsche Gesicht umrahmt von einem Kopftuch, am Gürtel, von dem das graue Gewand in der Taille gehalten wurde, hing der Rosenkranz.
»Ich bin Magdalena«, sagte sie und lächelte so warmherzig, dass Wilhelmines Frösteln nachließ, dass sie zurücklächelte und flüsterte:
»Komm doch herein.«
Das Mädchen hielt einen Krug in der einen Hand und einen halben Brotlaib in der anderen.
»Mehr konnte ich nicht mitbringen auf die Schnelle«, sagte sie, »die Schwester Köchin brachte gerade die Reste zum Stall. Ich weiß, wer du bist, und ich weiß, dass du leidest.«
Wilhelmine sah sie erstaunt an. »Du kennst mich? Aber woher? Ich bin noch nie in dieser Gegend gewesen …«
»Ich bin eine Schwester von Ludwig Barthel, deinem Hauslehrer. Einmal warst du bei uns mit deinem Vater, als ihr Ludwig wieder holen wolltet. Erinnerst du dich? Ich öffnete dir damals die Tür. Und meine Mutter bat euch zu Tisch. Aber ihr setztet euch nicht, spracht nur mit meinem Bruder und wart rasch wieder fort. Von Ludwig weiß ich, dass Clements dich liebt und du ihn. Aber sage mir, warum bist du hier?«
»Es ist, als hätte ich jetzt doch eine Schwester bekommen«, sagte Wilhelmine und umarmte das Mädchen. »Ich sollte einen Adligen heiraten, und der sah mich in der Kirche mit Clements. Mein Vater überredete ihn, mich dennoch zur Frau zu nehmen, aber ich wusste, dass ich nur Clements liebe und keinen sonst. Da brachte mich meine Mutter hierher. Nur für eine Zeit lang.«
»Das wird sich zeigen«, sagte Magdalena. »Jetzt stärke zuerst einmal deinen Körper, und später wird sich auch deine Seele hier wohlfühlen.«
Damit verließ sie den Raum. Wilhelmine setzte sich auf den Stuhl an den Tisch, und bei Wasser und Brot bedachte sie ihr Leben. Schwester Ophelia, von der sie später abgeholt wurde, warf einen Blick auf den Krug und die Krümel drum herum und sagte:
»Wir beten jetzt das Nachtgebet, die Abendspeise für die Seele.«
Eine Vielzahl von Ordensdamen hatte sich mit ihr in der Kirche versammelt. Der Orgelklang erinnerte an Clements, wie überhaupt alles in diesem Raum, denn es war ja das Haus Gottes gewesen, unter dessen Dach ihre Liebe wuchs und gedieh.
Die Gebete wurden lateinisch gesprochen, es waren Worte, deren Inhalt sie verstand. Die Mutter Oberin allerdings blickte streng, weil Wilhelmine im weltlichen Gewand erschienen war.
»Die Zeit des Gebetes ist die kostbarste Zeit unseres Lebens«, sagte sie, »und ich bitte dich, ab morgen auch mit dem Äußeren diesem Anspruch zu genügen.«
Ein langes graues Kleid lag auf ihrem Bett und ein weißes Tuch, das die Haare bedeckte. Es gab keinen Spiegel, in dem sie sich hätte sehen können. So fragte sie Schwester Magdalena, wie ihr diese Tracht zu Gesichte stehe, und Magdalena lachte.
»Die Schönheit deines Antlitzes wird durch die Schlichtheit in seinem Glanz erhöht.«
Das Leben bekam seinen Rhythmus. Bereits um Viertel nach vier sollte die erste stille Anbetung beginnen, und sofern es wirklich ein Gebet des Herzens wäre, sollte es in nichts anderem bestehen, als Gott in seinem Herzen gegenwärtig zu glauben und sich ihm liebend zu überlassen. Wilhelmine schlief wenig in diesen ersten Wochen. Ihre Gedanken waren keineswegs geborgen in der Liebe Gottes, sie sehnte sich nach Clements, und die Hoffnung, durch Magdalena mit ihm in Verbindung zu bleiben, bestärkte sie, durchzuhalten. Manchmal hielt sie statt des Rosenkranzes die kleine Porzellanfigur in der Hand und betete statt des »Ave Maria voll der Gnaden« ein »Clements, ich bin voll von Liebe zu dir«. Nach dem Wecken um kurz vor halb sechs war sie gezwungen, gleich aufzustehen, sich anzuziehen, um pünktlich um sechs zu Laudes und Terz in der Kirche zu knien. Anschließend war Eucharistiefeier, und danach ging es in den Speiseraum zum Frühstück. Von Viertel nach acht bis halb zwölf wurde gearbeitet, und was die Schwester Oberin darunter verstand, war für Wilhelmine vorerst eine Zumutung. Sie hatte gehofft, ihre Literatur- und Geschichtsstudien fortsetzen zu können, fremdsprachige Bücher zu lesen und so ihren Geist lebendig zu erhalten für das Leben nach dieser Zeit, stattdessen wurde sie zum Kartoffelschälen geordert, zum Blumengießen oder Unkrautjäten. Oftmals taten ihr bei der Mittagshore die Knie weh oder der Rücken, und als sie zum ersten Mal nach dem Mittagessen während der nachmittäglichen Arbeitszeit für eine Stunde in die Kapelle zur stillen Anbetung entsandt wurde, empfand sie diese Ruhe als Erholung. Schließlich betete sie sogar, nicht, wie die Ordensregeln es vorsahen, als Versenkung in die Liebe Gottes, sondern eher dafür, dass sich die Zeiten bald und eindeutig änderten, damit sie endlich ihr Leben mit Clements beginnen könnte.
Um fünf wurde zur Vesper geläutet, danach liefen alle zum Abendessen, lachend und schnatternd wie junge Gänse, und wenn sie später beim Spülen waren, wurde so erzählt wie damals in Brüssel, als die Freundinnen ihrer Mutter zum Tee kamen, als sie selbst noch ein Kind war und noch nichts davon wusste, wie sich das Leben wenden kann und manchmal gerade dann abknickt, wenn es voller Farbenpracht leuchtet und blüht.
Zur Rekreation ging sie zurück in die Zelle, nahm Zettel und Figur in die Finger, sah durch das kleine Fenster zum Himmel empor und dachte an Clements …
»KÖLN!«, rief Clementine und erwachte. Für eine kleine Weile glaubte sie, in Münster zu sein, in ihrer hübschen Wohnung im Hause des Domkapitels, wo die weiche Wärme ihres Bettes wie ein Schutzschild gewesen war vor dem Rest der Welt. Dann jedoch, als sie die Augen öffnete und ihr Blick auf die Kargheit des Raumes fiel, erkannte sie blitzartig, wo sie sich befand: der alte Holzschemel, der ins Wanken geraten war, gestern Abend, als sie darauf gesessen hatte, um das Habit auszuziehen und sich für die Nacht zu bereiten, und dabei fast auf den Boden gestürzt wäre, auf die rohen Bretter, in deren Ritzen sich Staub und Ungeziefer tummelten. Sie starrte auf einen braunen Käfer, der schnell und ohne erkennbaren Nutzen hin und her krabbelte. Der Schmutz ist es, dachte sie, die fehlende Sauberkeit überall, die treibt die Menschen in Krankheit und Tod. Das müsste man ändern, damit müsste man beginnen …
Gewiss, Münster lag hinter ihr, die schillernde Zukunft jedoch, die sie sich erhofft hatte, in deren farbigem Licht sie aufgebrochen war, hatte immer mehr an Leuchtkraft verloren während der Reden am letzten Abend unten im Schankraum der Herberge, in der sie Station gemacht hatte. »Köln«, das war ihre Antwort gewesen auf die Frage eines jungen Offiziers, zu welchem Ziel sie unterwegs sei. Sie hatte den Namen der Stadt sehr deutlich ausgesprochen und womöglich sehr laut, denn sogleich war das Stimmengewirr, von dem der Raum bislang wie von einem Schwarm Bienen erfüllt gewesen war, verstummt. Der Wirt hatte das halb gefüllte Glas auf den Tresen gestellt, der Benediktinermönch am Fenstertisch sein Besteck auf die Tischplatte gelegt, und ein jeder schien diesem Wort eine Bewertung beizumessen, die sie nicht beabsichtigt hatte und auch nicht deuten konnte. Unter den fragenden Blicken, die hernach auf sie gerichtet waren, hatte sie erneut gefühlt, wie sich ihr Herz verschlug und die Hitze von der gegürteten Mitte ihres Leibes hinaufgeschickt wurde zu den Achseln, zum Hals und unter die Haube zu den Haaren. Gleich zu Beginn ihrer Reise war diese seltsame Glut zum ersten Mal spürbar gewesen. Es ist so weit, hatte sie damals gedacht, auch ohne eines Mannes Ehefrau und Bettgefährtin geworden zu sein – und ohne jedes Kindsgebären beginne ich den Abschied von der Weiblichkeit.
Unsinn, dachte sie jetzt und setzte sich auf, schon vor langer Zeit habe ich Keuschheit geschworen, und meine Seele ist ohne jede Begehrlichkeit. So wird mein Körper sich ihr jetzt angleichen, und mein Leben wird sich fügen unter die Einheit von Leib und Geist.
»Köln?«, hatte der Wirt am Abend zuvor gesagt. »Dort passen Sie nicht hin, verehrte Schwester. Eine Stadt voller Widersinn, ein Gemisch aus stinkendem Abfall, in welchem die Ratten sich suhlen, und dem Weihrauch der prunkvollen Kirchen, aus denen mit stolzem Schritt die Notabeln über die Treppen hinunterschreiten, mit lässiger Hand ein paar Pfennige hineinwerfen in die zerlumpten Rockschöße der Bettlerinnen, von denen es mehr zu geben scheint als Häuser hinter den Stadtmauern und die ihr Gewerbe hüten wie die Geier das Aas. Die angestammten Plätze vor den Kirchentüren verteidigen sie mit wütendem Gekeife und, wenn es sein muss, mit einem Hieb ihres krummen Stabs und vererben sie an ihre Kinder und Enkel wie ein ehrbarer Kaufmann seinen Laden. Und was den Dom betrifft, dieses baufällige Gemäuer, das sie an allen Ecken stützen müssen, damit sein Gestein nicht den Gläubigen in den Rücken fällt, den sollten sie abreißen, auch wenn die großen Geister wie Boisserée mit seinen Kupfertafeln und seinen Schriften einer Vollendung zustreben …«
»… und solche wie Goethe und der Kronprinz bereits Feuer und Flamme dafür sind«, rief die Wirtin, die in diesem Augenblick aus der Küche gekommen war und sich die nassen Hände an der Schürze abwischte, »genau wie ich, Schwester, auch ich würde mich freuen, wenn sie dieses wunderbare Werk vollendeten, und vor allem, wenn ich diesem Ereignis noch zu meinen Lebzeiten beiwohnen könnte.«
»Hast du keine Arbeit mehr?«, hatte der Wirt ihr mürrisch zugerufen und eine Handbewegung gemacht, als wollte er sie aus dem Raum verscheuchen.
»Wie gesagt«, war er danach unbeirrt in seiner Rede fortgefahren, »keine Stätte für eine gebildete Nonne, wie ich meine. Bleiben Sie hier in unserem ordentlichen Düsseldorf.«
»Waren Sie denn schon einmal dort, innerhalb der Stadtmauern?«, hatte der Offizier gefragt und sie dabei angeblickt wie weiland Walter von Merentheim, jener preußische Soldat, der ihr nach den Schrecken in Waterloo seine Hilfe angeboten hatte und doch eher selbst hilfsbedürftig gewesen war.
Diesmal hatte sie gelächelt und den Kopf geschüttelt. »Nein«, hatte sie geantwortet, »aber es interessiert mich, das Leben dort kennenzulernen.«
»Wichtig ist, zu welchem Tor Sie hineingehen …«, war alsdann eine Stimme vom Nebentisch zu hören gewesen, wo ein Wohlbeleibter aufsprang und doch nicht wesentlich wuchs, begierig, sein Wissen kundzutun, »… davon gibt es neunzehn, und nicht jedes führt in die schönsten Gassen.«
Währenddessen war der Schweiß an ihrem Leib getrocknet, das Herz wieder in ruhiger Gangart, wie bei den Pferden, wenn sie von einer langen Strecke über holprige Wege müde und hungrig vor der Kutsche hertrotten. Sie wäre gern aufgestanden und nach oben gegangen in das Gastzimmer, welches der Wirt ihr zugewiesen hatte, um sich in dieser letzten Nacht ihrer Reise, die vermutlich auch ihre letzte Reise sein würde, vorzubereiten auf die Ankunft in Köln, auf den Beginn eines neuen Lebensabschnitts … aber dann war der junge Geistliche von seinem Tisch am Fenster aufgestanden und zu ihr gekommen, hatte sich ihr gegenüber platziert und ein Stück weit vorgebeugt, um ihr als Gleichgesinnter, wie er versicherte, einiges kundzutun, das sie dringend wissen sollte, wenn sie unbedingt nach Köln weiterzureisen gedächte.
»Verehrte Schwester«, hatte er feierlich begonnen, und es hatte sich angehört, als bete er das »Gegrüßet seist du, Maria« während der heiligen Messe, »sicher möchten Sie vor allem wissen, wie es mit der Gottesfurcht aussieht, und diesbezüglich kann ich bemerken, dass die Frömmigkeit recht groß zu sein scheint in den Mauern der Stadt Köln, als da sind zweiunddreißig Kirchen und Kapellen, die sich zum Gebet darbieten, und darüber hinweg dreißig Versorgungskonvente. Zum vielfältigen Beten ist die Stadt also auch ohne ihren Dom genügend gerüstet. Allerdings«, nun schlug er die Augen nieder und senkte die Stimme zum Flüsterton, »zwei der Kirchen mussten protestantisch werden, wegen der vielen Preußen, die sich überall breitmachen und unseren heiligen katholischen Glauben unterwandern, vor allem verführen sie unsere frommen Frauen und lassen ihre Kinder womöglich auch in diesem Unglauben aufwachsen.«
»Darüber hinaus gibt es auch noch eine Synagoge für die Juden, die hat man wieder hereinlassen müssen in die Stadtmauern«, hatte der kleine Mann vom Nebentisch gerufen, dessen Stirn sich vor Aufregung oder auch wegen der Wärme ganz rot gefärbt hatte. Auch Clementines Gesicht war wieder erhitzt, und als sie die nassen Tropfen über den Lippen gespürt hatte, war sie rasch aufgestanden und hinausgegangen, die Treppe hinauf in ihre Kammer, hatte sich ein Tropfengemisch aus Salbei und Melisse auf die Zunge gegeben, wovon die Hitze aus ihrem Körper flüchtete und dennoch kein Schlaf hineinfand. Die Gedanken hatten sich schwindlig gedreht und vieles in Frage gestellt, vor allem die getroffene Entscheidung. War sie nicht doch zu alt, um noch einmal ihren Wohnort zu wechseln? Hätte sie nicht früher, wenn überhaupt, diesen Schritt wagen sollen? Noch war Zeit, noch konnte sie umkehren. Zwei Tage höchstens, dann würde sie wieder ins Domkapitel zu Münster einziehen können. Der Kutscher würde die Pferde eindeichseln, sie würde einsteigen und ihm zurufen: »Ich habe es mir anders überlegt.« Die Fürstin vor allem würde sich freuen.
Im Halbschlaf kam sie sich vor wie eine Abenteurerin, die sich mit fast fünfzig Jahren aufmacht, einen Schatz zu finden oder das Glück. Clements huschte durch ihre Träume, Clements, der sie lockte und rief und dem sie sich wieder und wieder versagte. Ihre Augen waren voller Tränen, als sie erwachte. Zufriedenheit will ich finden, dachte sie, einen Ort, der sich mir öffnet, der sich wohlgesinnt zeigt und mir eine Wohnung darreicht und eine Arbeit, die mich ausfüllt. Ich möchte, dass Köln jener Ort wird, wo ich meine Heimat finde.
Wie zur Bestätigung nahm sie die kleine Lade aus der Schachtel, holte das Heftchen heraus, in dem sie alles gesammelt hatte, was ihr über Köln ins Auge gefallen war während der letzten Jahre, seit sie damals an der Stadtmauer vorbeigefahren war auf ihrem Weg, der eigentlich hatte in Brüssel enden sollen und dann doch in Tirlemont zu Ende gewesen war, wo am südlichsten Kölner Stadttor das kleine Mädchen gelehnt hatte, ein Kind von fünf oder sechs Jahren, das aussah wie sie selbst auf dem Bild, das ihre Mutter hatte malen lassen, als sie noch Wilhelmine genannt wurde und in Brüssel lebte, lange bevor sie nach Jever gezogen waren. Mit beiden Händen hatte das Kind gewinkt, und für Clementine hatte es ausgesehen, als hätte das Mädchen ihr zurufen wollen: »Komm her, hier bist du willkommen.« Nie mehr in all dieser Zeit war ihr dieses Bild aus dem Sinn geraten, es war wie eine federleichte Schnur, durch die sie mit Köln verbunden blieb. Sie blätterte durch die Seiten bis hin zu dem Brief, den der Kronprinz an seine Schwester geschrieben hatte: »Da endlich lag im rötesten, goldensten Glanz der eben untergegangenen Sonne der Dom und seine Stadt vor uns. … Da bin ich in der heiligen Stadt Köln. Ich sende Ihnen hier für Charlotte eine Kiste Eau de Cologne von Maria Farina, dem Matador aller Kölner, gebraucht und gekauft … Die Damen vom Verein gefallen mir sehr wohl, in Köln gefällt mir alles …«
Nicht mehr lange, und sie würde mit eigenen Augen sehen, was andere geschaut hatten.
Es regnete, als sie jetzt die Kutsche bestieg, und sie war müde. Die unruhige Nacht hatte keine Erholung gebracht. Sie schloss die Augen und war überrascht, als der Kutscher an ihr Fenster kam mit der Nachricht, sie stünden bereits Köln gegenüber. Die Aussicht auf die Stadt sei von Deutz am schönsten, hatte sie gelesen. Gleich würde ihr Blick sich laben am ruhmreichen Panorama der heiligen Stadt Köln. Sie lächelte, und als der Kutscher die Tür öffnete, stieg sie aus und schaute über den Fluss. Der Himmel war grau, der Strom wild schäumend, das andere Ufer schroff und bedrohlich, ohne den erhofften Willkommensgruß. Der Regen wurde vom Wind durch die Lüfte gejagt und peitschte gegen ihre Stirn. So tief war die Wolkendecke hinuntergeschoben, dass die Sicht kaum noch bis zur Mitte der Schiffsbrücke reichte. Der Kutscher bot ihr an, sie hinüberzugeleiten, damit sie, wie sie gewollt hatte, sich der Stadt zu Fuß nähern könnte. Clementine schwieg. Eine unerklärliche Angst griff nach ihrer Seele und nahm ihr allen Mut. Ja, sie hatte sich der Stadt behutsam nähern wollen, hatte ihren Anblick aufsaugen, ihre Schönheit genießen wollen, nun aber wäre sie am liebsten in die Kutsche zurückgekrochen, hätte die Vorhänge zugezogen und sich in die Decke gehüllt.
Der Gang über die schwankende Brücke, obwohl vom Kutscher gestützt, geriet immer mehr in den Sog einer dunklen Gefahr, die sie nicht zu benennen vermochte, und als sie endlich das gegenüberliegende Ufer erreichte, war sie traurig und hoffnungslos. Was will ich in dieser Stadt, dachte sie, ich, die Klosterfrau Maria Clementine Martin, im fünfzigsten Jahre meines Lebens?
»Wohin darf ich Sie begleiten?«, fragte der Kutscher, aber Clementine schaute ihn nur fragend an.
Schließlich nickte sie und zeigte nach vorn. »Dort«, sagte sie leise, »dieser Gasthof.«
»Zum Großen Rheinberge«, buchstabierte der Kutscher und geleitete sie die wenigen Schritte zur Tür hinein. Man fragte, ob sie vorher Quartier bestellt habe, und als sie verneinte, gab es vielerlei Hin und Her und dann doch eine Kammer im zweiten Stock.
»Und«, sagte die Wirtin, »welch ein Glück, mit Blick auf den Rhein. Sie werden sich daran gewiss entzücken, verehrte Schwester. Zuvor jedoch wollen Sie sich freundlichst eintragen ins Meldebuch.«
»Maria Clementine Martin, Klosterfrau«, schrieb sie, »angereist aus Münster am 27. Tage des Monats April im Jahre 1825.«
Dieser Vermerk war am folgenden Morgen im Verzeichnis der gestern angekommenen Fremden zu lesen, das Blatt hatte neben ihrem Frühstücksteller gelegen.
Die Herberge war gefüllt bis zum letzten Platz! Eine halbe Stunde nach Clementine hatte das Dampfschiff aus Rotterdam im Hafen Anker geworfen und kurze Zeit später eine Flut von übernachtungswilligen Gästen zur Tür hineingespült, von denen die Hälfte nicht unterkam, unverrichteter Dinge hinauseilte, um anderenorts ein Nachtlager zu finden. Sie waren enttäuscht, weil diese Herberge einen Ausblick hatte, mit dem keines der anderen Häuser zu wetteifern vermochte, auch nicht jene, welche mehr Luxus boten und hier und da solcherart illustre Gäste unter ihrem Dach beherbergten wie der Gasthof Zum Heiligen Geist am Thurnmarkt, den Goethe bevorzugte, oder der Kaiserliche Hof, zweifellos der vornehmste Gasthof der Stadt, in welchem, wie der Name schon zeigte, auch kaiserliche Hoheiten abstiegen. Keiner dieser Gasthöfe jedoch hatte jene spektakuläre Aussicht, von der Clementine gleich bei Sonnenaufgang überrascht worden war. Vor ihr, zum Greifen nahe, rauschte im Morgenlicht glitzernd der mächtige Strom vorbei in weiter Windung auf die Niederlande zu. Im Hafen hatte bereits das geschäftige Treiben des Tages begonnen, und auf der Schiffbrücke, die sozusagen vor ihren Füßen lag, spazierten die Menschen von Köln nach Deutz und umgekehrt. Der Himmel war blank gewischt, und es kam Clementine vor, als übertrüge sich diese Klarheit auf ihre Seele. Nichts mehr war zu spüren von Furcht und Sorge, keine Angst mehr vor dem, was vor ihr lag. Mit leichtem Schritt kam sie zum Dom, öffnete die schwere Pforte und ging hinein, geradewegs durch bis zum schimmernden Schrein. Dort verharrte sie eine Weile in tiefer Andacht. Hier war der Herzschlag der Geschichte gegenwärtig, hier, in der erhabenen Größe dieses Gotteshauses, spürte sie, wie sich Demut anfühlt, und plötzlich war sie sich einig mit all jenen, deren begeisterte Worte über den Dom sie gehört und gelesen hatte, die vom himmelan sich wölbenden Chor gesprochen hatten, aus dem jetzt, als sie zu den Glasgemälden des Obergadens blickte, das Sonnenlicht hereinfiel, als wäre es geradewegs aus dem Himmel gesandt. Sie drehte sich hierhin und dorthin und musste sich festhalten, weil ihr schwindelig wurde. Diese Stadt, mit ihrem mächtigen Dom, würde ihre Heimat werden. Hier wollte sie ihre Wurzeln tief in die Erde setzen, daraus sollte ein Baum entstehen, der sich über ihre Jahre hinaus erheben und an sie erinnern würde, wenn ihr Leib längst zu Staub geworden sein würde … Hatte sie diesen Gedanken wirklich selbst gedacht, oder war er ihr eingegeben worden? Wie sollte sie es schaffen, in Erinnerung zu bleiben, wo doch kein Kind oder Kindeskind von ihr würde erzählen können? Dennoch war eine Sicherheit in ihr entstanden, die solcherart zweifelnden Gedanken trotzte, die sich aus höheren und ewigen Erkenntnissen zu speisen schien. Hier in diesem Augenblick war der Plan geboren, etwas zu gründen, das sich als der Erinnerung wert erweisen würde. An jenem sonnigen Frühlingsmorgen im Jahre 1825 ließ eine Ahnung dieser Zukunft sie so beschwingt hinauseilen, durch die verwinkelten Straßen und Gassen dieser Stadt, wo auch der Schmutz und das Grau schließlich farbig erschienen und sich jedes Kindergeschrei in ihren Ohren zur Musik wandelte, vielleicht, weil sich ihr Herz nun endlich zu Hause fühlte.
»Ich bin angekommen«, schrieb sie in das kleine Büchlein, »jetzt bin ich endlich daheim.«
Noch kümmerte sich niemand um sie. Keine Fürstin Friederike, die ihren Kutscher schickte, kein Arzt, der nach ihren Heilmethoden fragte, niemand, der sich an ihre Kindheit erinnerte oder an die pflegerische Kraft ihrer Hände, die sie über leidende Körper gehalten hatte, im Hospital in Coesfeld, bei den Bauern in Glane, in den Häusern von Jever und Tirlemont, auf dem Schlachtfeld von Waterloo und schließlich in den Krankenstuben im Domkapitel von Münster. Niemand auch, der etwas ahnte von dem liebenden Mädchen mit Namen Wilhelmine, das sie gewesen war einstmals, dessen Herz zerriss und nie mehr zum Ursprungstakt zurückkehrte. Wo mochte Clements sich aufhalten in diesem Augenblick, als sie sich anschickte, den letzten Abschnitt ihres Lebens zu beginnen? Dachte er noch an sie?
Später stand sie am Ufer des großen Flusses, unbeweglich wie in Stein gegossen, blickte hinüber zu der Festung Deutz und versuchte sich vorzustellen, wie und auf welche Weise sich hier leben lassen würde, wo sie wohnen sollte, welches Tun ihren Tag füllen könnte. Beim frühen Morgentrunk gestern in der Düsseldorfer Herberge hatte die Wirtin hinter dem Tresen gestanden. Sie hatte Kaffee ausgeschenkt und sich dann vor den Tisch gestellt, an dem Clementine saß. »Schwester«, hatte sie gesagt, »seien Sie vorsichtig, es ist gefährlich, als Weib ohne Mann leben zu wollen. Und wenn Sie auch im Nonnengewand einen Schutzmantel über Ihre Schulter gelegt haben, in Ihren Augen sprüht ein Glanz wie aus einem inneren Feuer gespeist, der auf einen Willen weist, welcher sich nicht zu schicken scheint für ein Frauenzimmer in unserer Welt. Köln ist voller Undurchsichtigkeiten, und ich bin sicher, wenn sich jemand von außen hineinwagt, werden sie ihn betrachten, ihn begrüßen, aber wenn er sich mehr vornehmen sollte, als die Stadt zu bestaunen, werden sie ihm die Türen zuschlagen und ihn auf der Straße vertrocknen lassen. Vor allem, wenn dieser Fremde weiblichen Geschlechtes ist und dazu nicht greifbar für Männerhände.«
Clementine war rasch aufgestanden und hatte sich verabschiedet. Sie war in anderen Lebenslagen nicht untergegangen, sie war immer und überall unter Gottes Schutz, wer also sollte sie bedrohen können, wer sollte ihr gefährlich sein? Vor allem hier in dieser heiligen Stadt mit der wundervollen Kathedrale.
Sie atmete tief ein. Die würzige Luft durchströmte ihren Körper, und als sie die warmen Finger der Sonne auf ihrem Gesicht spürte, war es, als ob einer Mutter streichelnde Hände Zuversicht gäben. Wie ein Zuspruch klang auch ein Geläut, das aus dem Stumpf des Südturms kam, dessen Melodie sich rasch wie ein Ruf über die Stadt verteilte, hier und dort eine Antwort fand, sich damit verband und zu einem solch mächtigen Klangdach emporwuchs, als ob sich das Paradies schon jetzt und hier zeigen wollte.
Sie würde sich nicht beirren lassen. »Köln«, flüsterte sie, »du sollst meine Stadt sein, ich will dich entdecken, in dich hineingehen, mich mit dir verbünden mit all meinem Wissen und Wollen.« Sie könnte sich bei Walter Berkenkamp anmelden, zum Unterricht über Pflanzenkunde, der am 3. Mai im Botanischen Garten begann, oder einfach nur jeden Tag in einer anderen Kirche beten, sie könnte die Konvente besuchen und überlegen, dort zu wohnen und zu arbeiten, oder die verschiedenen Sorten Kölnisch Wasser ausprobieren, vielleicht wieder mit einem Arzt zusammenarbeiten. Es gab so viele Möglichkeiten, und wenn ihr nicht in diesem Augenblick eingefallen wäre, dass sie in wenigen Tagen bereits fünfzig Jahre auf Erden wandelte, sie hätte glauben können, ihr Weg begänne erst jetzt.
Sie klopfte an die Tür des Karmeliterinnenordens, voller Hoffnung, dort bleiben zu können, um im Frieden eines Klosters weiterhin an der Kräuterlehre zu arbeiten, zum Wohle der Menschen und im Rhythmus des klösterlichen Lebens. Jedoch anstelle der Schwester Türhüterin stand ein alter Priester am Tor, der sich mit dem Vikar und dem Küster die Räumlichkeiten teilte. Die Kirche würde, sagte er, endlich wieder zum Gottesdienst genutzt und die hinteren Räume als Schule für die Ärmsten der Armen, deren Kinder ja nun auch Lesen und Schreiben lernen könnten oder sogar müssten. Und vielleicht werde ja sie, die ehrwürdige Schwester, in aller Demut sich bereitfinden, hier mitzuhelfen für Gottes Lohn. »Gelobt sei Jesus Christus …«
»… in Ewigkeit, amen«, antwortete Clementine und ging rasch davon. Auch hier hatten die Nonnen vor dem heißen Atem Napoleons fliehen müssen, wie sie selbst, zuerst aus Coesfeld und dann schließlich auch aus Glane. Wie anders hätte ihr Leben verlaufen können, gern wäre sie Mutter Oberin geworden, mit Verantwortung für einen Konvent und die Nonnen darin. So aber war sie wieder nach Jever zurückgekehrt, hatte nach dem Tod der Eltern versucht, eine kleine Schule aufzubauen – drei Tische, sechs Stühle, und jeden Tag waren mehr Kinder gekommen –, gemeinsam mit Ludwig Barthel und Hildegard, die ihr beim Unterrichten halfen, mit Albertine, der treuen Dienstmagd ihrer Eltern, die Bohnensuppe und Mandelpudding kochte, damit niemand hungrig blieb, weder am Leib noch an der Seele. Warum wollte sie jetzt nicht mehr das tun, was ihr vormals wichtig erschienen war? Nachmittags war sie damals zu den Krankenstuben gewandert, oftmals weit draußen vor der Stadt. Die Tage waren dermaßen ausgefüllt gewesen, dass sie abends erschöpft in die Kissen fiel. Wenn sie jedoch dann und wann erwachte mit jener unerklärlichen Sehnsucht im Herzen, hatte sie oftmals beim Morgenlob von Gott wissen wollen, warum ihr Herz nicht zur Ruhe fand.
Anton Zülch, der Wirt des Table d’Hôtel, der ihr am darauffolgenden Tag ein köstliches Fischgericht servierte, tauschte ihre alten Silbergroschen, Düttchen und Böhmenstücke um in die schönen neuen Münzen, damit sie nicht nach dem Präklusivtermin am 1. Oktober, jenem letzten Tag für die Umwechslung der aufgerufenen Banknoten und Münzen, mit ungültigen Geldstücken belastet sei. »Überhaupt«, sagte er, »ist ja die Vermögenslage neben der Gesundheit das wertvollste Gut im Leben, und da möchte ich Ihnen, verehrte Schwester, sofern Sie sich hier niederzulassen gedenken, noch einen guten Rat geben. Vertrauen Sie der Sparkasse, die kurz vor ihrer Gründung steht und ein sicherer Hort werden wird für alles Ersparte. In den Räumlichkeiten des ehemaligen Minoritenklosters, heißt es, soll die Institution untergebracht werden unter der Leitung von Joseph Stern, den ich kenne und bestens empfehlen kann. Er führt bislang mit außerordentlicher Gründlichkeit das Leihhaus und wird ohne Frage unter städtischer Aufsicht agieren. Sie sollten diese Geldanlage unbedingt bedenken.«
Danach hatte sie sich gefühlt wie eine Bürgerin dieser Stadt, zugehörig zu der Klasse ihrer Bewohner, die dem Sparen zugeneigt war, die gewillt war, für spätere Zeiten vorzusorgen, um nicht der Armenverwaltung zur Last zu fallen. Auf dem Heimweg ging sie gerader und so selbstbewusst, wie sie sich vorstellte, dass eine Kölnerin zu gehen gewohnt sein müsste.
Plötzlich stand sie vor der offenen Eingangstür einer Kirche. Das schwarze Angesicht der Mutter Gottes, das ihr vom Altar her entgegenblickte, erschreckte sie dermaßen, dass sie gleich wieder gehen wollte, jedoch hielten die Augen jener Maria sie fest, sodass sie unversehens in einer Bank war, kniend, die Ellbogen auf die vordere Lehne gestützt, die Stirn gegen die verschlungenen Hände gedrückt … Warum war sie vor dem Wunsch des Priesters nach Hilfe davongelaufen? Hatte sie nicht ein Gelübde getan, ihr Dasein auf dieser Welt in Keuschheit, Gehorsam und vor allem Nächstenliebe zu leben? Damals im Kloster Coesfeld, als Ludwig Barthel gekommen war, um seine Schwester Magdalena abzuholen, da hatte sie selbst mitgehen wollen, zu den Barthels, vor allem zu Clements. Clements aber war nach Amerika ausgewandert, hatte es geheißen, aus Kummer und Wut, und für Clementine war die Welt wie aus den Angeln gerissen. Freudlos und ohne jede Hoffnung hatte sie eine Woche lang mit niemandem gesprochen, still war sie zu den Gebeten erschienen, schweigend zur Arbeit und zu den Mahlzeiten. Danach hatte die Schwester Oberin an ihre Tür geklopft. Dass sie schweige, sei richtig, das innere und äußere Schweigen sei ein gutes Mittel, um zu sich selbst zu gelangen und zur Vereinigung mit Gott. Zwei Tage Einkehr waren ihr befohlen worden, ohne Speise und Trank, damit sie sich erforsche und erfahre, welchen Sinnes ihr Herz sei. Clementine hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und aus dem winzigen Fenster ihrer kargen Klosterzelle in den Himmel geschaut, bis die Sterne aufblinkten und sie sich einreden wollte, dieses Licht schicke der Geliebte, um ihr Mut zu machen. Sie hatte den Zettel hervorgeholt, auf dem seine Worte standen. »Für immer und ewig dein Clements.« War alles vorbei? War sie betrogen worden auch von der Mutter, deren Idee von der Klosterunterbringung als Hilfe verkleidet doch womöglich nur eine List gewesen war, um Clements aus ihrem Leben zu löschen? In der Nacht hatte sie von Brüssel geträumt, von einer Christmette, wo sie die Eltern verlor, nach ihnen schrie, sich verlassen fühlte und voller Furcht. Dann hatte die Orgel zu spielen begonnen, ein Choral, der so laut anschwoll, dass sie sich von den Tönen hochgehoben fühlte, zu schweben schien, und plötzlich war sie frei gewesen und ohne jede Angst. Am nächsten Tag hatte sie wieder auf dem Schemel Platz genommen. Manchmal hatte sie vergessen, wo sie sich befand, und hin und wieder sogar, wer sie war. Zur Mittagszeit war ein Sonnenstrahl in die Zelle gefallen, direkt auf ihre Hände. Sie hatte dies als ein Zeichen gewertet, dass es ihre Hände seien, die etwas schaffen sollten, und als sie die Bibel aufschlug und nach einer Bestätigung suchte, las sie:
»Gott hat dir nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.«
Während der nächsten Nacht hatte sie kaum Schlaf gefunden, die Zukunft hatte im Dunkeln gelegen, das, was sie vorher darin gesehen hatte, zählte nicht mehr. Hin und wieder war die Angst hoch zu ihrem Herzen gekrochen, zischte und drehte sich um ihren Hals, dass sie glaubte, daran zu ersticken, aber dann hatte die Klosterglocke mit ihrem fröhlichen Geläute die Schlange verjagt. Als die Mutter Oberin hereingekommen war, hatte Clementine demütig ihren Kopf gesenkt und sich bereit erklärt, als seine Magd auf dem Acker des Herrn tätig zu werden. So war sie zur Nonne geworden.
Sie hob den Blick und sah der schwarzen Gottesmutter ins Gesicht. Das Nonnenkleid trug sie noch immer mit Stolz und Freude, würde es für nichts auf der Welt eintauschen wollen gegen ein weltliches Gewand. Warum aber sollte es nicht möglich sein, auch ohne die schützenden Mauern eines Klosters nach den Regeln des Ordens zu leben und dennoch neue Wege zu gehen, etwas von dem weiterzuführen, was sie sich in vielen Lehrstunden hatte aneignen können, diesen Reichtum an Wissen, an Kenntnissen der Kräuterheillehre und ihrer Anwendung, einen Schatz, den sie weitergeben könnte zum Guten für viele Menschen in Krankheit und Not. Es schien ihr, als wäre so etwas wie Verständnis in den Augen der Madonna zu sehen, ein kleines Lächeln auf ihren Zügen, als Bestätigung und Bejahung dessen, was sich Clementine erdacht hatte in den letzten Minuten.
In vielen Kirchen der Stadt wurde tagelang für Seine Erzbischöfliche Gnaden gebetet. Eine Stunde lang hatte Clementine daran teilgenommen, danach war sie sicher gewesen, dass Graf Spiegel in dieser Stadt willkommen sein würde. In Münster war sie ihm zum ersten Mal begegnet. Die Gespräche mit ihm während der abendlichen Einladungen unter dem imposanten Dach des Hauses der Fürstin Friederike hatten Clementine sehr beeindruckt, und schließlich war zwischen ihr und Spiegel so etwas wie eine stille Freundschaft entstanden. Wegen seiner Verdienste um das Gelingen bei der Umsetzung der Bulle »De salute animarum« war ihm das Erzbistum Köln angeboten worden, und bevor er dahin umsiedelte, hatte er ihr eine handschriftliche Notiz zukommen lassen: »Liebe Schwester Clementine, wollten Sie selbst nicht auch einen Wechsel nach Köln vornehmen? Die Tore sind offen.«
Daraufhin hatte Clementine das dicke Wolltuch über die Schulter geschlungen und war hinübergelaufen zur münsterschen Kathedrale.
»Ist es das, was ich tun soll«, hatte sie den steinernen Jesus gefragt, »nach Köln reisen, um dort zu bleiben bis ans Ende meiner Tage? Ist dies nur ein Wunsch meines Herzens oder auch dein Plan für mein Leben?«
Sie hatte hochgeblickt zum Steingesicht, wo gerade in diesem Moment ein Sonnenstrahl vorbeiglitt, der den Staub in der Luft sichtbar machte und damit den Augen Lebendigkeit verlieh, sodass es aussah, als hätten sie sich einmal geschlossen und wieder geöffnet. Clementine hatte danach das Vaterunser gebetet und dreimal den Rosenkranz, und als sie auf den Kirchplatz hinausging, hatte der Frost kleine Kristalle an die Bäume gehängt, die aussahen wie Sterne. Sie war dem Ruf des Erzbischofs gefolgt, hatte Münster hinter sich gelassen, war durch die offenen Tore in die Stadt getreten, und es schien ihr nun angemessen, Graf Spiegel hiervon in Kenntnis zu setzen.
»Ich bin angekommen«, schrieb sie, »und wohne im Großen Rheinberge. Noch bin ich mir nicht schlüssig, wie es weitergehen wird, dennoch fühle ich mich vollends aufgehoben in dieser Stadt und in Gottes Hand. In hoher Verehrung Maria Clementine Martin«.
Kaum hatte sie den Brief in den Umschlag gesteckt und versiegelt, kam bereits der Laufbursche, nahm ihn und eilte damit zur Tür hinaus. Kurz danach jedoch wäre sie ihm gern hinterhergerannt, um ihn aufzuhalten, denn inzwischen hatte sie in der Zeitung eine Nachricht gelesen von Ferdinand August Spiegel, Graf von Desenberg, Erzbischof von Köln, selbst verfasst und an die Bürger der Stadt gerichtet:
»Die vielen schriftlichen Eingaben mehrerer hiesiger Stadtbewohner veranlassen mich, zu erklären, dass wegen der Antworten, einige Tage nach der Einreichung der Vorstellungen, bei meinem Türhüter nachmittags von 6-7 Uhr nachzufragen ist.
Köln, den 30. April 1825«
Ihr Schreiben würde also möglicherweise ebenso wie alle anderen Briefe an den Sekretär weitergereicht werden, und sie würde sich in den nächsten Tagen einer Antwort wegen an den Türhüter zu wenden haben. Nein! Dann wollte sie lieber ohne die Protektion des Herrn Spiegel bleiben. Sie trank ein letztes Glas Wasser, und als die Wirtin fragte, wie sie sich fühle in Köln und in ihrer Herberge, da nickte sie und sagte: »Gut«, und auf die Frage, wie lange sie vorhabe, in Köln zu bleiben: »Für immer!«, und sie erschrak vor dieser Endgültigkeit, die ihr da herausgerutscht war, denn auf die nachfolgende Frage, wo sie denn auf Dauer zu wohnen und wovon sie zu leben gedächte, wusste sie keine Antwort. In diesem Augenblick kam der Junge im Laufschritt zurück, reichte ihr den großen Umschlag und sagte voller Stolz: »Vom Erzbischof persönlich.« Clementine griff in ihre Rocktasche und gab ihm ein paar Pfennige, dann ging sie hoch in ihre Kammer, öffnete das Fenster, atmete tief durch und las den Brief.
»Verehrte Clementine,
ich bin von Herzen froh, Sie in dieser Stadt zu wissen und desgleichen unter meinem persönlichen Schutz. Daselbst an diesem Tage um die sechste Stunde bitte ich Sie zu Tisch in meinem Hause und hoffe, Sie geben mir die Ehre und machen mir die Freude.
In großer Hochachtung
Ferdinand August Spiegel, Erzbischof von Köln«
Das Palais in der Gereonstraße sei vom Staat aus Privatbesitz gekauft und danach der Kirche als Bischofssitz zur Verfügung gestellt worden, hatte die Wirtin zu erzählen gewusst, und in der Zeitung hatte Clementine gelesen, dass der Preußenkönig, obwohl evangelischen Glaubens, ein frommer Mann sei, auf dessen Wort man bauen könne. »Kommt mir mit redlicher, treuer und beharrlicher Anhänglichkeit entgegen«, hatte er geschrieben, »ihr werdet gerechten und milden Gesetzen gehorchen. Eure Religion, das Heiligste, was dem Menschen angehört, werde ich ehren und schützen.«
Es war zweifellos ein Domizil, dessen prunkvolle Ausstattung ein Ferdinand August Spiegel genießen konnte. Denn dass er sich als Erzbischof von Köln einen neuen Lebensstil angewöhnen würde, war nicht zu erwarten gewesen. Er blieb, was er gewesen war, ein Mann Gottes, der sich auch in der Welt auskennt. Genau wie sie selbst. Eine Magd Gottes, vertrieben aus den Klostermauern und nun auf ihrem Weg durch die Welt. Mit geradem Rücken und freiem Blick schritt sie die Treppe hinauf. Vom Türhüter in den Saal geleitet, wurde sie mit großer Herzlichkeit begrüßt und vorgestellt. Es ist, dachte Clementine, eine solche Leichtigkeit im Raum und über dem Tisch, eine wärmende Fröhlichkeit … und sie meinte, diese Leichtigkeit auch schon vorher in der Stadt wahrgenommen zu haben. Vielleicht war es der Wind, der um den Dom und vom Rhein her wehte und als Geist Gottes die Heiterkeit in die Herzen der Menschen streute. Der Erzbischof saß ihr gegenüber, und es war kaum anders als vormals in Münster, wenn sie bei der Fürstin speisten. Nur war sie hier ausschließlich von Männern umgeben, die meisten davon dem Klerus zugehörig.
»Oberbürgermeister Steinberger hatte auch kommen wollen«, sagte Spiegel.
Der Dompropst lachte. »Wahrscheinlich sitzt er stattdessen mit der Geige bei seinem Orchester zur Probe.«
»Er ist ein sparsamer Mensch«, erwiderte der Erzbischof, »im Ansatz gut, aber schwach, wenn es um die Durchsetzung seiner Pläne geht. Gehorsam und gütig, Familienvater und von inniger katholischer Frömmigkeit.«
»War nicht Jakob von Wittgenstein Oberbürgermeister in dieser Stadt?«, fragte Clementine, um kundzutun, dass sie wohlinformiert war über die Geschicke der Stadt, jedoch schien dieses Thema keinem zu gefallen, und erst nach langem Schweigen antwortete der Vikar.
»Zweimal sogar war er das, einmal fünf Jahre lang in der reichsstädtischen Zeit und dann noch einmal für zwei Jahre unter den Franzosen. Danach haben sie ihm alles Mögliche angehängt. Vor zwei Jahren ist er gestorben. Man sagt, an seelischer Verstimmung.«
War es wirklich möglich, dass die Seele den Körper zerstörte? War auch die Krankheit ihrer Mutter Christine damals in Jever mehr von der Traurigkeit ihrer Gedanken ausgegangen als vom Versagen ihres Körpers? Die Ärzte prüften nur den Leib und seine Funktion, sie salbten und tröpfelten, sie schnitten und zapften das Blut aus den Adern, und es wäre doch vielleicht wichtiger zu wissen, welcher Art die Gedanken sind, die ein jeder in seinem Kopf und im Herzen mit sich herumträgt. Vielleicht sollten all jene, die mit der Pflege und Heilung befasst sind, solches mitbedenken.
»Vielleicht«, klang es vom anderen Ende des Tisches herüber, »vielleicht hätten sie damals besser den Mylius behalten sollen als Oberbürgermeister, der war ein Träger der alten Traditionen und dennoch Förderer neuer Bestrebungen.«
Die alten Traditionen ehren und dennoch den Fortschritt und das neue Wissen nicht in den Wind schlagen. Das wäre vielleicht eine Grundlage, auf der sich leben und arbeiten lassen würde. Der Kammerdiener öffnete die Fenster, weil ein jeder den Kragen zu lüften begann. War es die Schwüle, die nach dem anhaltenden Frost im März nun während der letzten Apriltage so ungewohnt plötzlich hereinbrach, oder fand auch im Körper der Herren Geistlichen in gewissen Jahren ein Wechsel statt, auch bei ihnen ohne dem entsprochen zu haben, zu welchem ihr Körper in der Lage gewesen wäre, sofern sie sich an die Amtsgebote der heiligen Kirche hielten?
»Ich habe eine Aufgabe für Sie, Schwester«, sagte Spiegel in Clementines Gedanken hinein, »zumindest für den Anfang. Domvikar Gumpertz ist im sechsundachtzigsten Jahre seines Lebens und nicht mehr bei guter Gesundheit. Er braucht eine erfahrene Pflegerin, die seine letzte Zeit hier auf Erden zu einer Gnadenzeit werden lässt. Ich weiß von Ihren Heilkräuterkenntnissen und auch von Ihrer Nächstenliebe. Deshalb hoffe ich, Sie nehmen diese Aufgabe an, als ersten Auftrag Gottes in dieser Stadt. Es scheint mir nicht der schlechteste Anfang zu sein.«
Später in der Kammer auf dem Bett sitzend griff Clementine nach dem Heft, in das sie seit ihren Lehrjahren bei Ludwig Barthel alles Wichtige hineingeschrieben hatte. Dort fand sie nach einigem Blättern einen Text, den Goethe während einer Reise in die Schweiz in sein Tagebuch geschrieben hatte:
»In der menschlichen Natur liegt ein heftiges Verlangen, zu allem, was wir sehen, Worte zu finden, und fast noch lebhafter ist die Begierde, dasjenige mit Augen zu sehen, was wir beschrieben hören.« Und: »Wer nicht neugierig ist, erfährt nichts.«
Wieder lag der Anfang eines Weges vor ihr, und die Neugierde darauf, welcher Art er sein würde, belebte ihr Herz.
Andreas Schlebusch hieß der junge Mann, der am nächsten Morgen seine Aufwartung machte, um sie im Auftrag des Erzbischofs hinüberzuführen ins Haus des alten Vikars Gumpertz, Auf der Litsch No. 1. Er klopfte, öffnete die Tür und ging dann vor Clementine her die Stiege hinauf.
»Guten Morgen«, rief er, »lieber Johann Gumpertz, ich bringe Ihnen eine gute Nachricht. Die verehrte Schwester Maria Clementine hat sich bereitgefunden, Ihre Leiden zu begleiten und Ihre Wunden zu pflegen. Sie ist mit der Kräuterlehre sehr vertraut und hat vielerorts Menschen damit von Krankheit und Schmerzen befreit.«
»Soso«, brummte der alte Mann, »sie möge eintreten.«
Als Clementine seine zitternde Hand ergriff, wusste sie, dass sie ihn lieben würde, wie sie ihren Vater hätte lieben sollen, dass sie bei ihm ausharren würde bis zu seinem Ende, um wiedergutzumachen, was sie beim Leiden und Sterben ihres Vaters versäumt hatte.
Zwei Kammern bezog sie im Hause des Domvikars, richtete sich ein mit dem, was sie mitgebracht hatte, und wenigen Möbelstücken, die sie während der nächsten zwei Wochen vom großen Kaufangebot in der Brückenstraße auswählte: einen Nachttisch, einige Küchendinge … Bei den Spiegeln geriet sie in Verlegenheit. Natürlich hatte es in den Häusern ihrer Kindheit prächtige Spiegel gegeben, in denen sie sich oft und gern angesehen hatte. Auch in den Zimmern der Herbergen war hier und dort ein Spieglein überm Waschtisch zu finden gewesen, meistens zerkratzt und verschmiert. Dahinein hatte sie keinen Blick geworfen. Im Kloster hingegen lebte man ohne solche Versuchungen, da galt nur Aussehen und Glanz des Herzens und der Seele. Aber nun? Sie lebte nicht mehr im Konvent, sie ging ihren Weg durch eine moderne Welt in einer großen Stadt mit vielen Menschen, die ihrer ansichtig wurden, ohne ihr Inneres zu kennen. Von denen sie ausschließlich nach ihrem Äußeren beurteilt werden würde. Sie hatte die Werbung für ein Buch gelesen, das in achter Auflage erschienen war und Ratschläge gab über Grundsätze und Regeln des Anstandes, der Grazie, der feinen Lebensart und der wahren Höflichkeiten. Darin war die Rede gewesen von Verstand und Tugend, diesen höchst schätzbaren Eigenschaften eines Menschen, die leider im praktischen Leben gewöhnlich zu wenig geachtet würden und sich oft ganz verlören, wenn man nicht vor der Welt mit der Gabe der Liebenswürdigkeit erschiene, das hieß, man sollte Kenntnisse und ein gutes Herz mit einem gefallenden Äußeren verbinden. Wichtig seien im Leben auch Kultur des Blickes, Stellungen und Bewegungen des Körpers, Kleidung, Ausbildung der Sprache und des Tons und vieles mehr. Sollte sie weiterhin darauf hoffen, dass ein jeder sogleich in ihr Herz blickte, oder würde es von nun an löblicher sein, zur Sicherheit hier und da einmal einen prüfenden Blick in den Spiegel zu werfen? Galt es nicht auch, sich seiner selbst bewusst zu werden, die Bewegungen des Körpers zu erforschen und die Kultur ihres Blickes? Zu Hause schämte sie sich solch eitler Gedanken, ließ den Spiegel lange Zeit verpackt stehen und drehte auch später oft seine spiegelnde Seite zur Wand. Immer dann, wenn sie den Eindruck hatte, dass ihr Blick allzu sehr dieser weltlichen Bestätigung bedurfte.
Auf der Hohe Straße beim Notar Bürgers fand sie noch eine Kommode und einen Sekretär, dazu zwei gepolsterte und zwei ungepolsterte Stühle. Sie hängte das Kruzifix übers Bett, zwei geerbte Gemälde übers Sofa und stellte den silbernen Kerzenleuchter, der früher den Esstisch in ihrem Elternhaus so festlich geschmückt hatte, auf die neue Kommode. Danach schrieb sie einen kleinen Dankesbrief an den Erzbischof für diese Vermittlung und dass sie mit Freude an die Arbeit gehen wolle.
»Ich bin schwach auf den Beinen, aber mein Kopf ist klar«, hatte Gumpertz am ersten Abend gesagt, »also Schwester, setzen Sie sich zu mir und erzählen Sie mir, wer Sie sind und woher Sie kommen.«
Clementine hatte gelacht.
»Es gibt nicht viel zu sagen, ich war Nonne in Coesfeld und später in Glane, habe die Kräuter studiert und im Hospital die Kranken versorgt. Währenddessen war ich oftmals im Lande unterwegs, um auch in anderen Konventen die Heilkräuterlehre verständlich zu machen, in Brüssel schließlich, meinem Geburtsort, wurde ich um die Kenntnis eines Geheimrezeptes bereichert, dessen ich mich nun rühmen darf, da es sich hierbei um den wirklich echten Karmeliter-Melissengeist handelt, der in seiner Heilkraft alles andere weit übertrifft. Dann aber, Sie wissen ja, wie es damals ging. Unter Napoleon war es plötzlich aus mit der Ordensgemeinschaft. Ich war froh, mit meinen Kräuterkenntnissen und den Erfahrungen im Hospital ein Wissen erlangt zu haben, welches mich fortan am Leben hält, als Krankenschwester in Jever und Tirlemont wie auch im Dienst auf dem Kampfacker in Waterloo. Zuletzt war ich im Domkapitel Münster. Dort habe ich auch den ehrwürdigen Herrn Erzbischof kennengelernt, und nun hatte er die Güte, mir anzuraten, mich bei Ihnen, verehrter Domvikar, einzufinden, um Ihnen das Leiden zu erleichtern.«
»Wenn Sie mir nicht den Wein verbieten und die Pfeife, will ich mich darauf einlassen.«
Er lachte gern, der alte Gumpertz, und nach einer anfänglichen Widerborstigkeit wurde er mit der Zeit außerordentlich gesprächig.
»Napoleon«, sagte er, »dieser Lümmel. Alles wollte er sich untertan machen, alle sollten nach seiner Pfeife tanzen. Überall hat er seinen Stempel hinterlassen, auch bei uns. Jedoch, das muss man ihm lassen, nicht nur zu unserem Nachteil. Der alte Mief, der sich in der Stadt festgesetzt hatte, wurde regelrecht ausgeräuchert. Das Gerichtswesen ist neu organisiert worden, an die Stelle der Magistratsverfassung ist die Munizipalverfassung getreten, das Schulsystem wurde umgestellt, und dass die Franzosen mit unseren Kunstwerken und den Bibliothekaren so unfein umgingen, hatte letztendlich auch ein Gutes. Die Reaktion hierauf war eine große Sammelleidenschaft. Nur dass er die Klöster schließen ließ, das nehme ich ihm sehr übel, vor allem wegen der wunderbaren Klostergärten, die damit verschwanden. Einzig der Garten des ehemaligen Jesuitenkollegs ist erhalten und zum Botanischen Garten geworden, den müssen Sie sich unbedingt ansehen.«
Dass sie schon da gewesen war, freute ihn, und überhaupt schien ihm nichts erstrebenswerter, als einen Menschen für seine Stadt zu gewinnen.
»Denken Sie nur, Schwester«, sagte er, »der preußische Staatsminister hat dem König gegenüber 104.000 Taler für den Weiterbau des Domes befürwortet. Und unser rühriger Boisserée läuft sich die Hacken ab, um die Honoratioren um ihre Unterstützung zu bitten. Schinkel hat er auch gewinnen können. Ich lebe in der Hoffnung, eines fernen Tages vom Himmel herab der Türme des Domes ansichtig zu werden, und schon jetzt kommen mir Tränen in die Augen, wenn ich an diesen Augenblick denke. Er muss vollendet werden. Dann, liebe Schwester, dann wird Köln zum Zentrum all dessen, was eines Menschen Leben bewegen kann.«
Clementine mischte Essenzen für ihn, salbte seinen Rücken und ließ ihn Kräutertees trinken.
»Es geht mir täglich besser!«, rief er eines Morgens aus. »Bald werde ich wieder zum Dom gehen können, wenn Sie mich geleiten wollen, verehrte Schwester.«
»Noch nicht«, sagte Clementine, »lieber Herr Gumpertz, ein bisschen Geduld braucht es noch.«
Am 3. Mai schickte er sie hinunter zum Domhof, wo im Lembertz’schen Saale abends um sechs das vierte Familienkonzert stattfand, damit sie etwas erfahre vom Leben und Treiben der Stadt. Die Kinder erschienen in Spitzen und Samt, die Frauen im Festtagskleid und die Männer mit ihrem feinsten Kragen. Voller Bedacht nahmen sie Platz, und nach dem Konzert brauste der Applaus auf, als hätte ein Mozart oder Beethoven dort vorn auf der Empore gesessen und sein Können zum Besten gegeben.
»Nun ja«, meinte Gumpertz und schmunzelte, als sie ihm davon erzählte, »das ist die Mentalität hier. Wer sein Bestes gibt, wird gelobt, egal auf welcher Ebene das Beste sich darstellt und wie gut dieses Beste ist. Aber nicht nur Musik erfreut unsere Herzen, auch die Kunst ist bei uns zu Hause. Letztes Jahr ist Wallraf gestorben. Er war der letzte Rektor der Universität, bevor sie geschlossen wurde. Unter den Franzosen hat er sich vehement für die Rechte seiner Heimatstadt eingesetzt, hat darauf hingewiesen, dass Köln eine kleine, aber sehr alte Republik ist, mit jahrhundertelanger Tradition einer freiheitlichen Verfassung, die von den Franzosen gerade erst erreicht wurde. Er hat der Stadt unzählige Gemälde vermacht und Tausende graphischer Blätter und vieles mehr.«
Um der Nachwelt in Erinnerung zu bleiben, bedurfte es also augenscheinlich nicht unbedingt leiblicher Kinder, wenn sogar das Weitergeben eigenen Besitzes an die Öffentlichkeit zum steten Gedenken zu führen schien.
Am Vorabend ihres Geburtstages saß Clementine im Theater und lauschte den Gesprächen der beiden Liebenden Romeo und Julia. Wenn sie auch hier und da mit den Tränen kämpfte, war es doch tröstlich zu wissen, dass ihre Erfahrung eine war, die Menschen allerorts und zu allen Zeiten auf Erden gemacht hatten und noch machen würden. Beim Heimweg kam sie sich vor wie eine Darstellerin auf der großen Bühne der Weltgeschichte. Nicht Romeo und Julia hieß die Tragödie, sondern Clements und Clementine, nein richtiger sogar Clements und Wilhelmine, denn das war der Name, auf welchen sie getauft war, den sie später beim öffentlichen Bekenntnis während der Weihe abgelegt und umgewandelt hatte, und, welch ein Glück, diese beiden waren trotz aller Traurigkeit noch am Leben.
Das gleichmäßige Schnarchen des Domvikars zog durch das Treppenhaus. So ging Clementine gleich in ihre Kammer und schrieb in das kleine Heft:
»Morgen werde ich fünfzig Jahre hier auf Erden gelebt haben. Wenn ich morgen also erwache und atme, dann werde ich eine neue Zeit beginnen, jenseits der Tragödie des ersten Teils werde ich ein Lebensstück schreiben, dessen Ausgang glücklich sein soll, und ich will hernach vom Himmel meine Früchte betrachten können, hier in der Stadt Köln.«
Sie begann diesen wichtigen Tag wie gewohnt mit dem Gebet in der kleinen Kirche St. Maria im Pesch und der Pflege ihres Schützlings. Ohne Nennung eines Grundes erbat sie sich einen freien Nachmittag, schlenderte zum Rhein hinunter, über die Brücke hinüber zur anderen Seite. Diesmal war die Ansicht so, wie sie es sich bei ihrer Ankunft erhofft hatte. Ihr Rückweg wurde verzögert, weil sich die Brücke für die Schifffahrt öffnen musste, und so blieb sie am Deutzer Ufer und betrachtete weiter das Panorama, so prächtig und von der Sonne beschienen, dass sie zu lächeln begann und eine tiefe Liebe spürte, eine Zuneigung zu den alten Mauern, zu den Toren, zu den Gassen und zu den Menschen, deren Sprache anders war, als sie es aus dem Norden gewohnt war. Es war gut, hier zu sein, sie hoffte, dass ihre Eltern vom Himmel herab ihrer gedächten, und auch, dass Gott keinen Grund hatte zum Verdruss über dieses halbe Jahrhundert seiner Magd Maria Clementine. Fünfzig Jahre waren eine lange Zeit, vor allem für eine Frau. Sie erinnerte sich an das Gespräch mit ihrer Mutter Christine, damals in Jever.
»Die Hoffnung ist vergangen«, hatte Christine gesagt, »die Träume sind verflogen, die Zukunft ist leer. Mein Denken und meine Sehnsucht prallen gegen Mauern, ich fühle eine schwere Last auf meinen Schultern, als müsste ich Säcke tragen, zur Mühle und wieder zurück. Ach, mein Kind, ich bin eine alte Frau, gehe auf die fünfzig zu und bin für niemanden und nichts mehr zu gebrauchen.« Clementine war zu jener Zeit ein Mädchen gewesen, und die Liebe hatte sie froh gemacht. Was hätte sie antworten sollen? Sie war weit entfernt gewesen von diesem traurigen Denken und Fühlen der Mutter, die nichts hatte essen wollen, nichts trinken, im Bett lag und vor sich hin starrte. Nun war Clementine selbst in dieses Alter gekommen, im Gegensatz zu ihrer Mutter hatte sie keinen Mann, der ihre Hand halten, und kein Kind, das ihr hätte zuhören können, und dennoch fühlte sie, dass die kleine Last, die sie in letzter Zeit manchmal auf ihren Schultern gespürt zu haben glaubte, dass dieses Gewichtlein längst hinuntergerutscht war. Sie war fünfzig Jahre und fühlte sich trotz der Fülle der Lebensjahre nicht alt und verbraucht. Sie spürte noch Kraft in sich. So vieles würde sie tun können. Und wenn Gott ihr genügend Zeit und körperliche Frische gäbe, hoffte sie ein jegliches auf seinen Weg und zur Ernte bringen zu können …
Die Luft war voller Frühlingswürze, und Clementine fühlte sich hungrig. Fünfzig Schritte wollte sie gehen und danach in das nächste Haus treten, das zum Speisen sich anböte. Sie machte zierliche Schritte und brauchte dann doch fast doppelt so viele, bis sie endlich in der Römergasse zum Speisewirt Canisius hineinging und sich ein köstliches Mahl schmecken ließ. Er habe sie bereits durch die Stadt gehen sehen, sagte der Wirt, sie sei doch die, welche den Erzbischof kenne und den alten Gumpertz pflege und aus Münster komme und sich mit den Heilkräutern auskenne. Er habe so manches Mal geschwollene Füße, und vielleicht könne sie ihm zumindest einen Rat geben oder mehr … Clementine reichte ihm ein Fläschchen, eines von jenen, deren Inhalt gegen vieles half und von denen sie immer zwei in der Habittasche trug. Sie riet dem Wirt, seine Füße hin und wieder damit einzureiben und sich gleich danach hinzulegen, auf das Canapé, mit zwei gerollten Decken am unteren Ende, damit die Füße höher zu liegen kämen als das Herz, damit das Blut und der falsche Saft daraus wieder zurücklaufen könnten.
Canisius bedankte sich, und als sie aufstand und bezahlen wollte, protestierte er heftig. Er hoffte, sie noch öfter als Gast bei sich zu sehen.
»Gott segne Sie«, sagte Clementine und ging heim. Jetzt hatte sie doch ein Geburtstagsgeschenk erhalten, wenn es dem Geber auch nicht bewusst geworden war.
Kaum aber hatte sie die Tür aufgeschlossen, hörte sie die Stimme des Domvikars, der durchs Haus rief:
»Wieso kommen Sie erst jetzt? Der Nachmittag ist längst vergangen. Warum saßen Sie nicht am Tisch, um mit mir zu speisen? Jetzt hat das Mädchen Ihren Teller leer gegessen, wäre ja auch zu schade gewesen, alles wegzuschütten oder den Schweinen der Bauern in der Weidengasse zu verfüttern.«
Clementine trat ein und lachte ihn so fröhlich an, dass er innehielt und erstaunt ausrief:
»Was ist denn mit Ihnen geschehen? Sind Sie der Mutter Gottes begegnet, oder wer sonst hat Ihnen diesen hellen Schein ins Gesicht gezeichnet?«
»Lieber Herr Gumpertz«, sagte Clementine, »heute ist ein besonderer Tag, und ich habe ihn mir geschenkt, das hat mich so fröhlich gemacht. Ich habe Geburtstag. Vor genau fünfzig Jahren bin ich in Brüssel zur Welt gekommen. Damals noch Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, alles in Reih und Glied, kein Revolutionsgeschrei, keine Guillotine, kein Napoleon und auch sonst noch manches in anderem Kleid.«
»Vor allem Sie werden damals anders gekleidet gewesen sein«, sagte Johann Gumpertz lachend.
»Dann werden wir jetzt anstoßen auf den Beginn einer segensreichen Zeit für die Klosterfrau Maria Clementine hier in Köln. Wissen Sie, dass man erst im Alter wirklich frei wird? Dann, wenn die meisten Dinge nicht mehr von Interesse sind, wenn sie einen nicht mehr fesseln, wenn man sich auf die paar Jahre besinnt, die einem noch bleiben, dann wird diese kleine Zeit so wertvoll, wie vorher nichts wertvoll gewesen ist. Und wenn ich noch mal alles zu tun hätte, würde ich schon mit zwanzig diese Freiheit wählen. Aber sehen Sie, die wahre Jugend erfährt man eben erst im Alter.«
Als Clementine sich zum Schlafen begab, ließ sie noch eine Weile das Licht an. Sie hatte die Kölnische Zeitung dieses Tages mitgenommen und las sich durch vielerlei Berichte von Sterben und Leben.
»Baumwollmanufakturen und Handel, vor allem aber die Kattundruckerei ist eine Kunst, deren Betrieb und Flor sehr zu bestreben ist«, las sie auf der ersten Seite unter der Überschrift »Preußen«, »und Baumwollmanufakturen geben einen hohen Gewinn und sind wichtig und nützlich für das Land.«
Auch Clements betrieb eine Tuchfabrik, fuhr vielleicht hohe Gewinne ein und war nützlich für sein Land. Wie mochte er sich fühlen, jetzt im Herbst seines Lebens? War er glücklich oder gebrechlich oder gar schon tot? Sie erschrak. Von wem würde sie erfahren, wenn er stürbe?
Nein, daran wollte sie festhalten. Clements lebte, eines Tages, das fühlte sie sicher, eines Tages würde sie ihm noch einmal gegenüberstehen, hier in Köln, in einer Stadt, wo sich viele trafen, Händler und Bankleute, Handwerker und Professoren, Geistliche, Juden, Protestanten, Kaiser und Könige. Warum sollte nicht auch einmal der Baumwollhändler Clements Barthel aus Brüssel seinen Weg hierhin lenken? Beim Einschlafen fiel ihr ein, dass am späten Nachmittag im Dom, während sie über ihr Leben nachdachte, ein Mann neben ihr gekniet hatte, der auffallend oft sein Gesicht zur Seite und ihr zugewandt hielt. Vielleicht war dieser Jemand Clements gewesen? Ab morgen, das nahm sie sich vor, ab morgen wollte sie jedem Menschen ins Gesicht schauen, ab morgen würde sie mehr lachen und sich frei fühlen, so frei, dass sie sich demnächst zum Rathaus begeben würde, um sich ins Bürgeraufnahmebuch eintragen zu lassen, um sich alsbald eine Bürgerin dieser Stadt nennen zu können.
Zunächst allerdings war die Gesundheit des Domvikars so zu erhalten, dass er Hoffnung hegen konnte, bei der offiziellen Inthronisierung des neuen Erzbischofs im Dom anwesend sein zu können.
»Die Kräuter der verehrten Schwester haben aus mir keinen jungen Mann machen können«, erklärte er jedem Besucher. »Ich bin ein Greis geblieben. Nur meinen Blick habe ich gehoben, nicht mehr auf den Boden schaue ich, sondern auf den Tisch und zur Tür und zum Fenster hinaus. Und als sie mich kürzlich am Arm griff und hochzog und mit mir drei Schritte gegangen ist, da hätte ich ein Loblied singen wollen, wenn nicht Aufregung und Anstrengung jeden Atemzug für sich in Anspruch genommen hätten. Sofern ich wirklich am 11. Juni wieder im Dom sitzen werde und die Orgel höre und den Schrein anblicken darf, gehe ich vielleicht dann auch noch zum Rhein hinunter …«
»Oder nach Deutz hinüber«, sagte Clementine und träufelte ihm schnell ein paar Essenztröpfchen in den Mund, den er bereitwillig aufhielt, lächelnd und voller Vertrauen.