Die Kommissarin und der Teufel - Peter Eckmann - E-Book

Die Kommissarin und der Teufel E-Book

Peter Eckmann

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Beschreibung

Ein geistig gestörter Mann hält sich für den Teufel und ist in der Lage, den Tod vorherzusagen. Diese Fähigkeit wird von einem Verbrecher erkannt und für erpresserische Zwecke genutzt. Kommissarin Hansen begegnet zufällig dem Teufel in dessen irdischen Funktion. Der hält sie für einen Engel, er beginnt an seiner Position als Herrscher der Unterwelt zu zweifeln und verliert seine Fähigkeit, den Tod vorherzusagen. Der Verbrecher, der ihn ausnutzt, will das nicht akzeptieren. Er plant, die Kommissarin in einer spektakulären Zeremonie zu töten, um so das Weltbild des Teufels wiederherzustellen. Nur irdische Mächte können ihr jetzt noch helfen. Der Roman spielt 2016 in der Umgebung von Stade und Freiburg.

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Zu diesem Buch

Ein geistig gestörter Mann hält sich für den Teufel und ist in der Lage, den Tod vorherzusagen. Diese Fähigkeit wird von einem Verbrecher erkannt und für erpresserische Zwecke genutzt.

Kommissarin Hansen begegnet zufällig dem Teufel in dessen irdischer Funktion. Der hält sie für einen Engel, er beginnt an seiner Position als Herrscher der Unterwelt zu zweifeln und verliert seine Fähigkeit, den Tod vorherzusagen.

Der Verbrecher, der ihn ausnutzt, will das nicht akzeptieren.

Er plant, die Kommissarin in einer spektakulären Zeremonie zu töten, um so das Weltbild des Teufels wiederherzustellen. Nur irdische Mächte können ihr jetzt noch helfen.

Der Roman spielt 2016 in der Umgebung von Stade und Freiburg an der Elbe.

Ich bedanke mich bei meiner Frau, die mein größter Fan und gleichzeitig meine strengste Kritikerin ist, für ihre unermessliche Arbeit am Manuskript und den vielen hilfreichen Diskussionen.

Zum Autor:

In Pinneberg wurde Peter Eckmann im Jahr 1947 geboren, in Hamburg, in der Nähe der Reeperbahn, wuchs er auf. Er erlernte den Beruf des Chemielaboranten und schloss 1972 sein Studium zum Chemie-Ingenieur ab. Bis 1975 arbeitete er noch in Hamburg, ehe es ihn zum Unternehmen Dow nach Stade zog. An seinem 59. Geburtstag bot sich Peter Eckmann die Gelegenheit, in den Vorruhestand zu wechseln. „Ich bin viel mit dem Fahrrad unterwegs und kümmere mich gerne um meinen Garten", nennt Peter Eckmann seine Hobbys. „Ansonsten schreibe ich nur noch", fügt er hinzu. Mit seiner Frau Eva Maria ist er seit 1974 verheiratet.

Inhaltsverzeichnis

Tod eines Schiffsoffiziers

Der Teufel

Geschäftsmodell Erpressung

Eine Leiche im Keller

Das Wiedersehen

Engel und Teufel

Die Entführung

Der Vorhof zur Hölle

Nachwort

Tod eines Schiffsoffiziers

Freitag, der 1 Juli 2016. Hinnerk Jensen, Mitinhaber und Vorstandsvorsitzender der Dollart AG, einer Reederei mit elf Schiffen, die in der Nordsee Passagierdienste durchführen, blickt mit krauser Stirn auf den Ausdruck, der vor ihm auf dem riesigen, eichenen Schreibtisch liegt. Er liest den Text wiederholt durch, zögert, nimmt das Blatt in die Hand. Er ist kurz davor, es zu zerknüllen und in den Papierkorb zu werfen. Schließlich legt er es wieder hin, streicht es glatt und liest es abermals durch.

Innerhalb der nächsten vier Wochen wird Hauke Boldixen, einer Ihrer ersten Offiziere, sterben. Wenn Sie sein Schicksal nicht teilen wollen, zahlen Sie die Summe von 250.000 Euro. Details folgen, sobald Sie ihr Einverständnis signalisiert haben. Geben Sie zu diesem Zweck am 1. August eine Anzeige in den Cuxhavener Nachrichten auf, Rubrik Traueranzeigen. Text: „Vielen Dank für die Grabbeigaben. Eure Oma"

Er richtet sich auf und ruft: „Frau Wienberg, kommen Sie bitte!“ Ungeduldig trommelt er mit den Fingern auf der Schreibtischunterlage.

Seine Sekretärin tritt ein, mit dem Notizblock in der Hand. „Sie wünschen, Herr Jensen?“ Ihr Chef ist ein Vorgesetzter alter Schule, mit sehr patriarchalischen Gewohnheiten.

„Ist Herr Boldixen in seinem Büro?“

Sie muss nicht lange überlegen. „Nein, der ist heute und morgen auf der MS Norderney unterwegs. Soweit ich weiß, wird er nicht vor morgen Abend wieder an Land sein. Soll ich herausfinden, wann genau Herr Boldixen zurück sein wird?“

„Ja, tun Sie das bitte.“ Verärgert und beunruhigt lehnt er sich zurück. „Lassen Sie ihm ausrichten, dass ich ihn so schnell wie möglich sprechen möchte.“

„Sehr wohl, Herr Jensen.“ Sie wendet sich zur Tür. „Ist das alles?“

Der alte Reeder knurrt etwas Unverständliches, antwortet dann kurz angebunden. „Danke, Frau Wienberg, das wär’s vorerst.“

Sie geht hinaus und setzt sich im Vorzimmer an ihren Schreibtisch, der höchstens halb so groß ist, wie der ihres Chefs. Sie kramt aus einem kleinen Kasten einen Zettel und schreibt mit ihrer deutlichen Handschrift eine kurze Nachricht. Im Stockwerk über ihr ist ein Büro für einen Teil der Offiziere. Sie teilen sich zu viert einen Raum. In der Regel klappt das gut, sie sind meistens ohnehin auf See. Herr Krönrey, der alte Bootsmann, ist der Einzige von ihnen, der im Augenblick anwesend ist.

„Hallo, Emma. Nett dich zu sehen. Was führt dich hierher?“ Er mustert mit wachem Blick ihre Sekretärin, die sich heute wieder nett gekleidet hat. Sie trägt ein rotes Kostüm mit nicht zu langem Rock zu ihren halbhohen, cremefarbenen Pumps.

„Guten Tag Bernd, ich habe eine Nachricht vom Chef für Hauke. Es scheint wichtig zu sein. Ist es richtig, dass er morgen Abend wieder an Land ist?“

Der alte Seebär nickt und lässt seine Augen nicht von der Sekretärin. „Da hast du recht, min Deern. Das Wetter ist gut, deshalb wird er den Fahrplan wie vorgesehen einhalten. Er wird aber nicht vor Montagmorgen im Büro sein. Wenn er eingelaufen ist, wird er bestimmt sofort nach Hause wollen, immerhin ist er über das Wochenende unterwegs.“

„Ja, in den Ferien ist immer viel los.“ Sie legt den Zettel auf den Schreibtisch des ersten nautischen Offiziers Hauke Boldixen, genau in die Mitte der Schreibtischunterlage auf dem sehr aufgeräumten Schreibtisch. Ein paar Stifte liegen in einer Plastikschale, der Bildschirm ist mit einer Haube abgedeckt. „Mach’s gut, Bernd. Ich wünsche dir und deiner Frau ein schönes Wochenende.“

„Danke Emma, gleichfalls!“

Reeder Jensen sitzt an seinem Schreibtisch und grübelt. Soll er die Polizei einschalten? Vielleicht ist es nur ein dummer Streich? Er beschließt, zunächst mit seinem Mitarbeiter zu sprechen, sobald der zurückgekehrt ist und dann abzuwarten. Wie kommt der Absender auf 250.000 Euro? Das ist eine Summe, die er verschmerzen kann, es sind ca. 10 % seines verfügbaren Vermögens. Trotzdem — was für eine Frechheit! Nervös trommelt er wieder mit seinen Fingern auf dem Schreibtisch. Er richtet sich abrupt auf und beschließt, diesen Vorgang vorerst zu ignorieren. Das ominöse Schreiben knüllt er zusammen und wirft es in den Papierkorb. Es war der Ausdruck einer E-Mail mit verschlüsseltem Absender, zur Not kann die Wienberg ihm den Wisch erneut ausdrucken.

Es ist Montag, drei Tage später. Hauke Boldixen tritt ein und nickt der Sekretärin zu. „Guten Morgen Emma, ich soll zum Alten kommen?“ Schlank und braun gebrannt ist er in seiner schicken Uniform bei allen Mitarbeitern und insbesondere bei den weiblichen Kollegen beliebt. Er ist 48 Jahre alt, glücklich verheiratet und gern auf der Arbeit. Die Seefahrt war schon immer ein Jugendtraum von ihm gewesen, den er sich vor 20 Jahren erfüllt hat.

„Lass ihn das bloß nicht hören. Es scheint wichtig zu sein, ich drück dir die Daumen.“

Schiffsoffizier Boldixen streicht eine vorwitzige blonde Strähne aus der Stirn und klopft an die massive Eichentür.

„Herein!“ Hinnerk Jensen blickt ihm entgegen und Hauke meint, Sorge in den Augen des alten Mannes zu erkennen.

„Setzen Sie sich!“, der alte Reeder weist auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und mustert seinen Angestellten. Gut sieht der aus, schlank, gesund und sportlich. „Wie fühlen Sie sich, Herr Boldixen?“

Etwas verwundert blickt der seinen Chef an. „Danke der Nachfrage, ich fühle mich gut, ich könnte Bäume ausreißen.“

Herr Jensen rückt unruhig auf seinem Stuhl umher, wie vermittelt er die Nachricht am besten? „Herr Boldixen, ich möchte eine heikle Angelegenheit mit Ihnen besprechen. Vielleicht stellt sie sich als grober Unfug heraus, dann werden wir sie am besten sofort vergessen. Falls mehr dahinterstecken sollte, sollten wir vorbereitet sein.“

Der Seeoffizier zieht seine Stirn kraus. Was redet sein Chef da? Er hat ein Gespräch über seine Urlaubsvertretung erwartet, oder eine Gehaltserhöhung, aber dies scheint offenbar etwas ganz anderes zu sein.

Der alte Reeder trommelt wieder nervös mit den Fingern auf die hölzerne Schreibtischplatte. Es gibt keine nette Art, es dem Ersten zu sagen, so fällt er mit der Tür ins Haus. „Ich habe vor vier Tagen eine E-Mail erhalten, die ihren baldigen Tod ankündigt.“

Stille.

Hauke Boldixen sieht seinen Chef perplex an. Hat er das richtig verstanden? „Bitte? Meinen Tod? Wie ...- wer?“

„Gibt es jemanden, der ihnen nach dem Leben trachtet?“

„Ali, nein! Um Gottes willen!“

Herr Jensen nickt. „Das dachte ich mir, Sie sind doch überall beliebt. Oder haben Sie etwas mit einer verheirateten Frau angefangen und müssen jetzt den Zorn des Mannes fürchten?“ Er lacht etwas gequält und versucht so, dem heiklen Thema einen humoristischen Anstrich zu geben.

Hauke Boldixen schüttelt energisch den Kopf. „Nein, da ist nichts, überhaupt nichts.“

„Sind Sie vielleicht krank und wissen es nicht?“

„Nein, da muss ich ebenfalls passen. Ich bin erst vor zwei Wochen zur Kontrolle beim Doc gewesen; mein Blutdruck ist vielleicht etwas erhöht, aber nicht mehr, als bei vielen anderen auch.“

„Na gut!“ Reeder Jensen schiebt den Schreibtischsessel zurück und erhebt sich. „Dann ist es wohl das, was ich vermutet habe, ein Dummer-Jungen-Streich. Jemand will mich oder Sie erschrecken und auf diese Weise an Geld kommen.“

„Das scheint mir auch so, Herr Jensen.“

„Gut, dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Passen Sie auf sich auf!“ Er reicht seinem Mitarbeiter zum Abschied die Hand. „Schot- und Mastbruch!“

***

Zehn Tage später, Hauke Boldixen steht auf der Brücke der MS Neuwerk und klönt mit dem Rudergänger. Das Wetter ist gut, die See spiegelglatt, kein Windhauch kräuselt das Wasser. In der Ferne ist ein grüner Streifen zu sehen, es ist die Halbinsel Eiderstedt, in einer halben Stunde werden sie ihr Ziel - Strucklahnungshörn auf Nordstrand. - erreichen.

„Wie geht es deiner Frau, soll nicht bald euer zweites Kind zur Welt kommen?", fragt Hauke Boldixen den Rudergänger, Bootsmann Clausen, einen jungen Mann Anfang dreißig, mit einem braunen Bart, der ihm fast bis zum Hemd reicht.

„Gesine ist jetzt im vierten Monat, das wird bis Weihnachten dauern.“

„Dann passt man auf, dass es kein Christkind wird!“

Sie lachen beide, sie sind bester Laune. In etwa einer Stunde ist für sie der Dienst zu Ende. Vorläufig, bis es dann nach dem Mittag, wieder zurück nach Cuxhaven geht.

Hauke Boldixen steht vor dem Navigationsbildschirm und mustert die Anzeige. Die MS Neuwerk ist ein Fahrgastschiff der Reederei Dollart AG, ein modernes Schiff für 250 Passagiere. Doch was ist das? Er sieht plötzlich alles doppelt, sein Blick ist getrübt, er blinzelt, um wieder ein klares Bild zu bekommen, aber der Nebel vor seinen Augen verschwindet nicht, er wird noch undurchsichtiger. Gleichzeitig fühlt er ein dumpfes Pulsieren im Kopf, jäh setzt heftiger Kopfschmerz ein. Krampfhaft hält er sich am Kartentisch fest und sackt kraftlos auf einen Stuhl.

„Was ist mit dir, Hauke?“ Der Rudergänger schickt einen besorgten Blick zu seinem Kollegen.

Doch der ist zum Antworten nicht mehr in der Lage. Der Kopfschmerz ist unerträglich geworden, ihm ist vollständig schwarz vor Augen. Sein Verstand setzt aus, dann schwindet sein Bewusstsein. Hauke Boldixen fällt vom Stuhl und liegt zusammengekrümmt auf dem Linoleumboden.

„Mensch, Hauke! Was ist mit dir?“ Bootsmann Clausen blickt erschrocken auf seinen Kollegen. Er greift zum Mikrofon und ruft den Kapitän aus. „Captain, kommen Sie bitte sofort zur Brücke, ein Notfall!“

Zwei Minuten später trifft der Schiffsführer ein. Bevor er eine Frage stellen kann, sieht er seinen ersten Offizier am Boden liegen.

„Hauke ist plötzlich umgefallen, wir brauchen einen Arzt!“, ruft der Rudergänger.

Kapitän Heinsohn greift wortlos zu seinem Handy und ruft den Rettungsdienst in Husum an. „Kommen Sie mit einem Rettungswagen zum Anlieger Strucklalmungshörn, wir haben einen bewusstlosen Mann an Bord. Nein, er ist nicht ansprechbar! Wir werden voraussichtlich er sieht aufmerksam in die Ferne, dort ist bereits am Horizont der Deich der Insel Nordstrand zu erkennen - „in zwanzig Minuten anlegen, es ist ein Notfall!“ Er nickt wie zu einer Bestätigung und steckt das Handy in die Hemdtasche zurück. Sein nächster Blick gilt seinem am Boden liegenden Offizier, er kniet sich auf den Boden und fühlt nach dem Puls an der Halsschlagader. Er setzt den Finger ab und tastet wieder, sucht nach einer anderen Stelle am Hals. „Mist, Clausen, ich fühle nichts. Können Sie mal versuchen?“ Er steht auf und macht Platz für seinen vierschrötigen Bootsmann.

Der stützt sich mit einer Hand am Boden ab und sucht nach der Halsschlagader, wartet einen Moment. „Nein, Käpt’n, ich fühle auch nichts.“ Er öffnet das Hemd und beugt seinen Kopf bis zur Brust hinunter, hält sein Ohr an den Mund des Ersten. „Scheiße Chef, er atmet nicht, ich glaub, er ist tot.“ Langsam erhebt er sich. „Dass unser Kahn aber auch nicht schneller ist, ich fahre mit allem, was unsere Maschinen hergeben!“

Sein Kapitän klopft ihm beruhigend auf die Schulter. „Ich wünschte auch, wir könnten fliegen, da ist nichts mehr zu machen. Erzähl, was ist denn passiert?“

Mit stockender Stimme beginnt Bootsmann Clausen zu erzählen, immer wieder sieht er zu seinem Kollegen auf dem Boden, in der Hoffnung, dass sich vielleicht doch noch ein Anzeichen von Leben zeigen möge. „Da war nicht viel, Chef. Hauke hat sich plötzlich setzen müssen, es hat höchstens ein paar Minuten gedauert, dann fiel er auf den Boden. Seitdem hegt er da.“

Kapitän Heinsohn kratzt sich am Kopf und sieht mit großen Augen auf seinen Offizier hinunter. „Was das bloß ist?“

Eine gute Viertelstunde später legen sie im Hafen von Nordstrand an. Der Rettungswagen mit der orangenen Kennzeichnung auf weißem Untergrund steht schon mit blinkendem Blaulicht an der Mole. Der Notarzt steht mit einer Tasche an der Kaimauer, begleitet von einem Sanitäter und wartet ungeduldig darauf, dass die Gangway heruntergeklappt wird. Als sie liegt, aber noch nicht befestigt ist, eilen die beiden mit raschen Schritten den wackligen Steg zum Schiff hinüber.

Kapitän Heinsohn erwartet sie ungeduldig. „Folgen Sie mir, der Mann liegt auf der Brücke.“ So rasch ihn seine Beine tragen, eilt er zur Kommandozentrale des Schiffes, Arzt und Sanitäter auf den Fersen. Einige Passagiere sind aufmerksam geworden und verfolgen neugierig den Vorfall.

Auf der Brücke stürzt sich der Arzt auf den Mann am Boden, macht dessen Brust frei und setzt ein Stethoskop an. Mit geschlossenen Augen und krauser Stirn lauscht er in das Gerät. Er schüttelt den Kopf und öffnet seinen Koffer, um den Defibrillator herauszuholen. „Fangen Sie mit der Herzmassage an“, fordert er den Sanitäter auf. Der hockt bereits neben Hauke Boldixen und beginnt mit kräftigen Stößen den Brustkorb zu bearbeiten. Der Arzt hat den Defibrillator bereit, setzt ihn an und betätigt den Taster für den Stromstoß.

Hauke Boldixen zuckt kurz, das Stethoskop ist sofort wieder über dem Herzen. Der Arzt horcht ein paar Sekunden. „Einen Versuch noch,“ murmelt er vor sich hin.

Dieselbe Prozedur, der Mann zuckt wieder leicht, wieder kommt das Stethoskop zum Einsatz. Doktor Wüsthoff steht mit gesenktem Kopf auf und steckt das Stethoskop in die Tasche seiner weißen Jacke. Er blickt sich im Kreise der Zuschauer um, es sind der Bootsmann, der Kapitän, der Sanitäter sowie der Obersteward, der wegen seiner Teilnahme am Krankenpflegeersatzlehrgang auch auf die Brücke gerufen worden ist.

„Der Mann ist tot, schon eine Weile, zwanzig Minuten, halbe Stunde würde ich sagen. Da kann man nicht mehr reanimieren. Woran er gestorben ist, werden die Kollegen von der Pathologie herausfinden müssen.“ Er blickt zu seinem Gehilfen. „Wir werden sofort einen Leichenwagen des hiesigen Bestatters anfordern, wir dürfen keine Toten transportieren.“

Kapitän Heinsohn blickt abwesend dem davonfahrenden Rettungswagen hinterher, dann fällt sein Blick auf seinen toten Offizier, über den der Rudergänger eine Decke gelegt hat. Er gibt sich einen Ruck und sieht die Umstehenden an. „Wir können jetzt nichts mehr tun. Zum Trauern haben wir keine Zeit, der Dienst muss weitergehen.“

Der zweite Offizier übernimmt entsprechend der Dienstvorschrift die Aufgaben seines verstorbenen Kollegen.

Eine halbe Stunde später trifft der Leichenwagen aus Husum ein. Mit Trauer und Schrecken verfolgt die Mannschaft den Abtransport ihres verstorbenen Kollegen.

***

Am Freitagmittag läutet das Telefon im Büro von Emma Wienberg, der Sekretärin des Reeders Jensen.

„Hallo, Emma, hier ist August Heinsohn. Ist der Chef zu sprechen? Es ist wichtig.“

„Guten Tag, August. Nein, leider nicht, er ist in einer Besprechung.“

„Was ich vom Alten will, ist auf alle Fälle wichtiger als jede Besprechung, stell mich bitte durch.“

Reeder Jensen hört das Telefon auf seinem Schreibtisch. Das muss wichtig sein, denn seine Sekretärin hat klare Anweisung, keine Anrufe durchzustellen. „Tut mir leid, meine Herren. Ich muss unser Gespräch einen Moment unterbrechen.“ Er steht auf und nimmt das Mobilteil ab. „Kapitän Heinsohn? Ja, stellen Sie bitte durch.“ Dann lauscht er der Stimme seines Offiziers aus dem Telefon.

„Eine schlimme Nachricht, Herr Jensen. Ich bin jetzt auf der MS Neuwerk am Anleger Strucklahnungshörn. Unser erster Offizier, Hauke Boldixen, ist vor einer Stunde verstorben.“

„Was?“ Jensen lässt sich auf seinen Schreibtischstuhl sinken. „Warum? - Wie ist das passiert?“

„Das weiß im Moment niemand so recht. Vor etwa zwei Stunden fiel Hauke einfach um, war bewusstlos und verstarb innerhalb einer Viertelstunde. Der Arzt konnte nur den Tod feststellen. Jetzt liegt er im Klinikum Nordfriesland in Husum im Leichenkeller, und soll heute noch zur Pathologie nach Kiel gebracht werden.“

Reeder Jensen ringt sichtlich um Worte. „Aber - das ist ja furchtbar! Hat der Arzt nichts gesagt? Eine Vermutung?“

„Tut mir leid Chef, die Mediziner sind ratlos. Es wird ein geplatztes Aneurysma im Kopf als Möglichkeit in Betracht gezogen, Näheres soll die Obduktion in Kiel ergeben.“

„Gut, Kapitän Heinsohn, unterrichten Sie mich, wenn Sie mehr wissen. Ich werde aber selbst auch in Kiel vorsprechen. Außerdem muss ich seine Frau informieren. Das wird mir schwerfallen, muss aber sein.“ Nachdenklich setzt er das Mobilteil in die Halterung und erhebt sich schwerfällig, um zum Konferenztisch zurückzugehen. Plötzlich fällt ihm die Nachricht ein, die er vor zwei Wochen erhalten hat. Darin wurde der Tod seines ersten Offiziers angekündigt. Ihm sträuben sich die Nackenhaare. Mein Gott! Kann der Tod Boldixens tatsächlich mit dieser E-Mail Zusammenhängen? Er mag sich das gar nicht ausmalen. Dann gleitet sein Blick über die Mitglieder der Gesprächsrunde, sie sind zum Teil von weither angereist. So schwer es ihm fällt, die Sache muss er jetzt zu Ende führen. Eines seiner alten Schiffe soll an eine Reederei in Marseille verkauft werden. Für den Erlös will er seine Flotte um ein Tragflächenboot ergänzen, um die Fahrzeiten zu den Inseln zu verkürzen.

Er räuspert sich. „Tut mir leid, meine Herren. Einer meiner Offiziere ist unerwartet verstorben. Ich bitte deshalb darum, dass wir möglichst bald zum Ende kommen.“

Ein Murmeln geht durch die kleine Runde. Der Vertreter der französischen Reederei reagiert als erster. „Mon Dieu, Monsieur Jensen. ‘arte der Mann Familie?“

„Ja, er war verheiratet und hatte zwei Kinder. Das wird bitter für sie sein. Einen Nachfolger zu suchen ist lediglich lästig. Aber für seine Frau wird es ein schwerer Schlag sein - sie rechnet natürlich nicht mit so etwas, ein völlig gesunder, junger Mann...“ Er denkt mit Kummer an die unvermeidliche Begegnung mit Frau Boldixen.

Das Wochenende ist vorbei, dieses Mal lief es zäher als sonst. Immer wieder muss Jensen an die Botschaft aus dem Darknet denken. Gibt es Möglichkeiten, einen Tod aus der Ferne auszulösen? Er schüttelt den Kopf und nimmt sich vor, sich gleich heute mit der Pathologie in Kiel in Verbindung zu setzen. Seinen Hausarzt wird er auch Anfang der Woche aufsuchen. Zum einen, um sich selbst untersuchen zu lassen, zum anderen, um sich über Möglichkeiten zur Herbeiführung dieses speziellen Todes zu informieren.

Mit schwerem Herzen denkt er an den Besuch bei Frau Boldixen zurück. Sie hat so reagiert, wie er befürchtet hat, mit blankem Entsetzen und vielen Tränen. Er hat ihr zugesichert, dass die Reederei die Beerdigungskosten übernimmt, auch wird er seine Sekretärin bitten, der Frau bei den Formalitäten zu helfen, die der Tod des Ehemannes unweigerlich mit sich bringt. Geld ist nicht alles, mehr kann er leider nicht tun.

Er versucht, in seinen Kopf hineinzuhorchen, tastet mit den Fingern seine Schläfen ab. Hat er vielleicht auch so ein Aneurysma? Der Besuch bei seinem Arzt wird das hoffentlich klären. Je länger er darüber nachdenkt, desto eher meint er, einen leichten Druck im Kopf zu verspüren.

Am Montagnachmittag erreicht er den zuständigen Pathologen der Universitätsklinik Kiel. Es ist Doktor Kieling, Rechtsmediziner für Schleswig-Holstein.

„Guten Tag, Herr Doktor. Vielen Dank, dass Sie mir einen Teil Ihrer Zeit opfern.“

„Es passt gerade, ich werde mich aber kurzfassen. Also: Der Verstorbene starb an den Folgen einer zerebralen Aneurysma Blutung. Sobald die eintritt, gibt es medizinisch keine Möglichkeit, einzugreifen.“

„Aha. Kann es sein, den Tod durch so eine Blutung absichtlich herbeizuführen?“

„So eine Frage habe ich noch nie gehört. Aber bitte, auch dazu nur eine kurze Bemerkung. Ein Gehirnaneurysma, also eine Aussackung einer Hirnarterie, haben vielleicht 3 % aller Menschen. Nur bei einem kleinen Teil davon kommt es überhaupt zu einer Ruptur, also einem Platzen der Aussackung. Und davon stirbt etwa jeder Zweite. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Nein, eine Beeinflussung von außen ist völlig ausgeschlossen.“

„Vielen Dank Herr Doktor, für diese Einschätzung.“

„Gerne.“ Klick. Das Gespräch ist unterbrochen. Der Mann hat wohl tatsächlich wenig Zeit.

Tja, nun ist er nur wenig schlauer als vorher. Wie kann es angehen, dass der Schreiber der Mail die Sache mit dem Aneurysma wissen konnte? Boldixen selbst hat keine Ahnung davon gehabt. Und, noch rätselhafter, woher wusste der Verfasser des Erpresserbriefes, wann das Ding platzen würde? Ein Zufall kann es nicht sein, das sagt ihm schon der gesunde Menschenverstand. Aber trotzdem, morgen hat er einen Termin bei seinem Hausarzt.

Am Nachmittag klopft seine Sekretärin, Frau Wienberg, und tritt ein, bevor er »herein« sagen kann. In der Hand hält sie den Ausdruck einer E-Mail. „Herr Jensen, entschuldigen Sie bitte, dass ich störe, aber da ist schon wieder so eine merkwürdige Nachricht angekommen.“ Sie reicht ihm den Bogen Papier.

Sie sehen, wozu wir in der Lage sind. Wenn Sie Ihren eigenen Tod verhindern wollen, zahlen Sie uns am 15. August 250.000 Euro in 100er und 50er Scheinen. Details folgen später.

Geben Sie als Einverständnis eine Anzeige in den Cuxhavener Nachrichten am Montag, 1. August, auf. Rubrik Sterbeanzeigen, Text: „Vielen Dank für die Grabbeigaben. Eure Oma"

Verdammt! Jensen hat irgendwie gehofft, die Erpresser würden so verschwinden, wie sie erschienen waren, und Boldixens Tod würde sich als tragischer, aber natürlicher Tod erweisen. Diese Hoffnung kann er nun begraben. Wie, zum Teufel, soll er sich verhalten? Diese Kerle haben nicht nur den Tod von Hauke Boldixen vorhergesagt, sie können offenbar durch unklare Mächte so etwas wie eine Gehirnblutung auslösen. Jensen schüttelt den Kopf. So ein Unsinn! Gut, 250.000 Euro kann er entbehren, das ist es nicht. Es ärgert ihn lediglich maßlos, dass er auf eine Erpressung eingehen soll. »Wenn Sie nicht - dann...«. Der erfahrene Reeder ist es nicht gewohnt, von irgendjemandem ein Ultimatum gestellt zu bekommen, soweit kommt es noch!

Er beschließt, vor dem Erscheinen der verlangten Anzeige in der Zeitung die Polizei einzuweihen. Mit deren Hilfe kann man die Erpresser vielleicht fassen, die Geldübergaben sind bei Erpressungen in der Regel die Schwachstellen, die oft zur Ergreifung der Täter führen.

Der Besuch bei seinem Hausarzt hat kaum Neues ergeben. Er hat lediglich einen Termin für eine Computertomografie seines Kopfes erhalten, die in der übernächsten Woche stattfinden soll.

„Damit kann man feststellen, ob bei Ihnen ein oder mehrere Aneurysmen vorliegen. Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch sehr gering." Doktor Bergmann sieht ihn prüfend an. „Gibt es einen besonderen Grund für Ihre Sorge?“

„Ein Mitarbeiter von mir, mein Offizier Hauke Boldixen, ist daran kürzlich verstorben.“

„Das passiert leider. Gott sei Dank trifft es nur ganz wenige“, versucht ihn der Arzt zu beruhigen.

„Das habe ich inzwischen auch so verstanden. Das Problem in diesem Fall ist, dass der Tod meines Mitarbeiters vorher angekündigt worden ist.“

„Wie bitte? Jemand hat angekündigt, dass der Mann an so etwas sterben würde?“ Doktor Bergmann richtet sich in seinem Stuhl auf. „So ein Quatsch! Das ist medizinisch völlig unhaltbar.“

„Es ist aber passiert. Offenbar gibt es jemanden, der in der Lage zu sein scheint, zu wissen, ob jemand stirbt. Es könnte natürlich ein Zufall sein, das wäre aber eine sehr merkwürdige Fähigkeit.“

Der Arzt nickt. „Ein Zufall wäre nach meiner Meinung die einzige Erklärung. Aber wie kann das angehen? Man kann keine Zufälle vorhersagen.“

Der Reeder erhebt sich. „Das sehe ich auch so. Deshalb bin ich heute bei Ihnen. Ich danke Ihnen für Ihre Zeit. Sobald ich mehr weiß, werde ich Sie informieren.“

Zum 1. August lässt er von seiner Sekretärin eine kurze Notiz in der Cuxhavener Zeitung veröffentlichen.

„Vielen Dank für die Grabbeigaben. Eure Oma"

Nur einen Tag später trifft eine weitere Nachricht über Proton-Mail aus dem Darknet ein:

Ihr Überlebensbeitrag beträgt 250,000 Euro. Die Aufteilung soll sein wie folgt: 2000 100 Euro-Scheine und 1000 50 Euro-Scheine. Legen Sie die Scheine in eine Blechdose (Keksdose) und deponieren Sie sie am Ende der südlichen Mole des Hafens von Norderney um Punkt 21:00 Uhr.

Seine Sekretärin ist ihm wie immer eine große Hilfe, sie organisiert die Zusammenarbeit mit der Bank und besorgt auch die Dose. Es ist ein runder Behälter mit etwa fünf Litern Inhalt. Außen ist er bunt bedruckt mit Bildern der Kekse, die sich vorher im Inneren befunden haben. Die liegen nun zum Teil in der Schale auf dem Tisch im Besucherzimmer.

Der nächste Schritt ist ein Anruf bei der Polizei in Cuxhaven. „Erpressung, sagen Sie, Lösegeldübergabe? Warten Sie bitte einen Moment, ich leite Sie an die Kollegen von der Kriminalpolizei weiter.“

Ein Kriminalhauptkommissar Bruhnke stellt sich als zuständig heraus. Ein Besuchstermin wird vereinbart, der Weg von der Reederei zur Polizeiinspektion ist nicht weit.

Als sich die beiden Männer gegenübersitzen, kommt Kommissar Bruhnke gleich zur Sache. „Herr Jensen, Sie wohnen zwar in unserem Zuständigkeitsbereich. Da die Geldübergabe aber auf Norderney stattfinden soll, werde ich mit Ihrem Einverständnis die Kollegen von der Polizeiinspektion Aurich informieren. Ich denke, wir werden mit denen kooperieren und Sie auf dem Laufenden halten.“ Er legt eine kurze Pause ein und blickt auf den Ausdruck, den der Reeder Jensen ihm mitgebracht hat. „Mögen Sie vielleicht einen Kaffee? Ich könnte unsere Sekretärin bitten, uns etwas zu bringen.“

„Danke, das wäre nett.“ Herr Jensen hat die letzten Nächte wenig geschlafen und kann etwas Aufmunterung gebrauchen.

„Was halten Sie davon, wenn ich einen Spezialisten für das Internet zu Ihnen schicke, der könnte versuchen, den Absender der Nachricht ausfindig zu machen. Allerdings haben wir so einen Fachmann nicht hier, ich müsste jemanden vom Landeskriminalamt in Hannover anfordern. Das mag ein paar Tage dauern.“ Er rührt nachdenklich in seinem Kaffee. „Womit genau werden Sie erpresst?“

Reeder Jensen erzählt die ganze Geschichte. Man droht, ihn umzubringen, und ist bei seinem ersten Offizier bereits erfolgreich gewesen. „Es ist aus Medizinersicht ein Tod durch das Versagen eines Blutgefäßes, also kein Tötungsdelikt. Normalerweise ist das kein Fall für Sie, erst die Erpressung dürfte Sie interessieren.“

Der Hauptkommissar ist perplex. „Das ist mit Abstand die merkwürdigste, bösartigste Erpressung, von der ich je gehört habe. Formal haben Sie aber recht, der Tod Ihres Offiziers ist aus Polizeisicht kein Tötungsdelikt. Wir können erst bei der Erpressung ansetzen. Deshalb müssen wir den Verfasser der Nachricht ermitteln. Eine weitere Chance dürften wir während der Geldübergabe haben, das ist immer ein Schwachpunkt. Wo soll die Ubergabe stattfinden?“

„Auf der Insel Norderney, und zwar am äußersten Ende der südlichen Mole am Fähranleger.“

Der Kommissar kratzt sich am Kopf. „Dass eine Geldübergabe auf einer Insel stattfindet, habe ich auch noch nicht gehört. Danach können die Erpresser zum Einsammeln des Geldes nur mit dem Schiff oder vielleicht einem Hubschrauber kommen — und dann sind sie noch nicht in Sicherheit: Man muss ja auch wieder runter von der Insel.“ Er sieht auf und blickt seinen Besucher an. „Das werde ich sofort an meine Kollegen in Aurich weitergeben. Zusammen mir der Polizei auf Norderney werden die das schon hinkriegen, das wäre ja gelacht. Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich einen Fachmann für Internetkriminalität für Sie aufgetrieben habe. Und — Herr Jensen, Sie haben das Richtige getan, als Sie uns mit ins Boot geholt haben.“

Reeder Jensen steht eine Viertelstunde später auf dem Bürgersteig der Mittelstraße, jetzt ist er schon etwas ruhiger. Der Kriminalbeamte wirkte sehr kompetent, und wenn die Kollegen in Aurich genauso erfahren sind, ist ihm um das Geld nicht bange.

Nur zwei Tage später klingelt das Telefon, es ist der Internetfachmann vom Landeskriminalamt. „Herr Jensen, wie sieht es morgen bei Ihnen aus? Ich muss ohnehin zur Polizeiinspektion nach Stade, dann würde ich am Nachmittag gerne bei Ihnen vorbeikommen.“

„Das freut mich, dass es so schnell klappt, schon mal vielen Dank.“ Er sieht auf seinen Terminplan, der ganz altmodisch auf seinem Schreibtisch vor ihm liegt. „Ich habe zwar eine Besprechung, aber mich brauchen Sie ja sicher nicht. Wenn doch, kann ich Ihnen auf jeden Fall für einen Moment zur Verfügung stehen.“

„Fein, dann bis morgen.“

Der Computer-Fachmann heißt Lukas Kloth und stellt sich als junger Mann Ende zwanzig heraus. Er wird von Frau Wienberg hereingeführt, die den jungen Mann mit einem Lächeln bei Reeder Jensen zurücklässt. Herr Kloth trägt sein braunes Haar kurz, und ist, den Temperaturen Rechnung tragend, lediglich mit heller Hose und T-Shirt bekleidet. Seine Füße zieren schneeweiße Sneakers. Er hat ein gewinnendes Lächeln und streckt dem Reeder eine braun gebrannte Hand entgegen. „Hallo, Herr Jensen. Mein Name ist Kloth, wir haben gestern miteinander telefoniert.“

„Angenehm, vielen Dank für ihr Kommen.“ An Frau Wienberg gewandt, bittet sie der Reeder: „Können Sie Herrn Kloth zur Hand gehen? Sie können es ohnehin besser als ich, ich muss mich außerdem um meine Besprechung kümmern.“

Herr Kloth verschwindet mit der Sekretärin im Vorzimmer, während der Reeder Jensen an den Tisch zu seinen Gesprächspartnern zurückkehrt.

Etwa eine Stunde später bittet Frau Wienberg ihren Chef, kurz in ihr Büro zu kommen. Herr Kloth hat eben sein Notebook eingepackt und blickt Herrn Jensen an. „Es tut mir leid, da ist leider gar nichts zu machen. Die Erpresser nutzen die Proton-Mail einer Schweizer Firma. Der Weg zum Sender ist sehr gut verschlüsselt, da sind wir zurzeit machtlos. Es tut mir leid, Ihnen keine positive Auskunft geben zu können.“

„Ja, das ist bedauerlich. Ich danke Ihnen trotzdem für Ihre Mühe.“

„Keine Ursache. Diese Brüder werden immer raffinierter, aber irgendwann kommen wir ihnen doch drauf, darauf arbeiten wir hin.“

Während der weiteren Besprechung gleiten die Gedanken von Reeder Jensen immer wieder ab und beschäftigen sich mit der Geldübergabe. Das ist die letzte Chance, die Verbrecher zu fassen. Morgen am Freitag, den 15. Juli, soll es passieren.

***

Norderney, der 15 Juli 2016. Der Reeder ist bereits am Mittag eingetroffen, das Auto hat er in Norden stehen lassen und sich mittels Hubschrauber zu der Insel bringen lassen. Nun sitzt er in dem gelb geklinkerten Bau der Polizeistation in der Knyphausenstraße. Außer ihm sind Vertreter der örtlichen Polizei, sowie der Wasserschutzpolizei anwesend. Der Leiter der Aktion ist Kriminalhauptkommissar Patjens, der jetzt das Wort ergreift. Er ist ein stämmiger Mann Ende vierzig, eine dunkle Hornbrille dominiert ein ausdrucksstarkes Gesicht. Eine widerspenstige Tolle seiner vollen, schwarzen Haare schiebt sich immer wieder vor die Brille und wird unbewusst immer wieder beiseitegeschoben.

„Meine Herren, vielen Dank für Ihr Kommen. Wie Sie wissen, haben wir es mit einer Erpressung zu tun, die Geldübergabe soll heute Abend um 21:00 Uhr stattfinden.“ Er blickt auf seine Uhr. „Es ist kurz nach 17 Uhr, wir haben fast vier Stunden Zeit uns darauf vorzubereiten.“ Er nimmt die E-Mail mit den Anweisungen für die Geldübergabe in die Hand und fasst zusammen. „Danach sollen wir die Dose mit dem Geld am äußersten Ende der Mole am Fähranleger abstellen. Nach meiner Einschätzung kann das Geld nur mittels eines Schiffes oder mit einem Hubschrauber abgeholt werden. Ich schlage vor, wir fahren dort hin, um uns mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut zu machen.“

Die kleine Gruppe verteilt sich auf zwei Personenwagen und fährt gemeinsam zu dem etwa zwei Kilometer entfernten Hafen. Das Wetter ist mäßig, graue Wolken bedecken den Himmel, von dem bis gestern tagelang die Sonne brannte. Es sieht nach Regen aus, einige der Urlauber haben sich bereits den hier verbreiteten »Ostfriesennerz« angezogen, die gelbe Regenjacke.

Nun stehen die Polizisten und Herr Jensen am Ende der Mole und blicken zu dem Fährschiff hinüber, das die Verbindung von Norderney mit dem Festland herstellt. Es läuft gerade ein, anschließend verlassen etwa zehn unterschiedliche Fahrzeuge die Fähre und fahren polternd über die Anlegebrücke zur Insel hinüber. Einige Urlauber in bunter Sommerkleidung gehen zu Fuß zum Frisia Hafenterminal hinüber.

„Sind Sie sicher, dass die Übergabe hier stattfinden soll?“, fragt der Vertreter der Wasserschutzpolizei, ein hagerer, großer Mann in den Vierzigern.

„Ja, wir haben in der letzten Mail die genauen Koordinaten erhalten. Es ist bis auf wenige Meter genau an dieser Stelle.“

Bootsführer Holthusen nickt. „Gut, ich wollte nur sichergehen. Die letzte Fähre geht nach 19 Uhr, danach kehrt hier Ruhe ein.“

„Wer hat das Geld?“, möchte Reeder Jensen wissen.

„Das haben die Kollegen von der hiesigen Polizei in Verwahrung, wir werden es heute Abend gemeinsam mit Ihnen hierherbringen.“

„Das Geld ist bei uns auf der Wache“, ergänzt Polizeimeister Krause. „Ich habe meinen Leuten eingeschärft, besonders darauf zu achten.“

„Wir sollten uns mögliche Transportwege überlegen, um für alle Fälle vorbereitet zu sein“, schlägt Kriminalhauptkommissar Patjens vor. „Fällt Ihnen außer Schiff und Hubschrauber noch etwas ein?“

„Wie reagieren wir, wenn das Geld mit einem Hubschrauber abgeholt werden sollte?“

„Für den Fall können wir ihn mit dem Radar der Küstenwache verfolgen. Ebenso, falls das Geld mit einem Schiff abgeholt wird. Außerdem har die Wasserschutzpolizei ein schnelles Boot, mit dem wir es verfolgen können.“

,Ja, das Streifenboot 8 liegt am Hafen und wartet auf seinen Einsatz“, ergänzt der Bootsführer.

Kriminalhauptkommissar Patjens kraust die Stirn. „Wir haben garantiert etwas übersehen. Die Verfolgung erscheint viel zu einfach. Welcher Erpresser lässt sich darauf ein?“

„Und wenn jemand zu Fuß kommt?“

„Nein, nein. Das halte ich für ausgeschlossen, den hätten wir sofort eingeholt. Wo soll er auch hin, wir sind auf einer Insel. Deshalb wird auch kein Auto, Motorrad oder was auch immer, verwendet werden.“ Der Kommissar schüttelt den Kopf. „Da muss noch etwas anderes sein, haben wir etwas übersehen?“

Den Kollegen fällt auch nichts mehr ein.

Die Zeit vergeht, es ist 20:50, in zehn Minuten soll die Dose mit dem Geld abgeholt werden. Die steht seit wenigen Minuten in der Mitte der Mole und wird mit Argusaugen beobachtet. Reeder Jensen und der Kriminalhauptkommissar Patjens sitzen im Frisia Terminal, lediglich 30 Meter von der bunten Dose mit dem wertvollen Inhalt entfernt. Der Kommissar hält ein Fernglas in der Hand, bereit, es sofort an die Augen zu heben. Ein Funkgerät zur Polizei liegt vor ihm auf dem Tisch.

Das Tageslicht geht zur Neige, der ohnehin nicht helle Tag verdunkelt sich langsam. Nervös hebt der Kommissar das Funkgerät und drückt die Ruftaste. „Hier Patjens, eine kurze Statusmeldung, bitte.“

Das Gerät piept, einer nach dem anderen melden sich die in der Nähe der Mole verteilten Polizisten, auch der Führer des Streifenbootes sendet sein Okay.

Es ist wenige Minuten nach 21 Uhr, die Nerven der Männer im Außenbereich und der beiden Beobachter im Fährterminal sind hoch gespannt. Ein Brausen ist plötzlich zu hören, es wird immer lauter, es klingt etwa so, wie ein elektrischer Rasenmäher. Ein dunkles Gerät, vielleicht doppelt so groß wie eine Getränkekiste, senkt sich mit hoher Geschwindigkeit aus dem immer dunkler werdenden Himmel herab, hinunter auf die Gelddose. Es verharrt kurz direkt auf dem Geldbehälter, um nach wenigen Sekunden mit lautem Brummen und hoher Geschwindigkeit senkrecht in die dunklen, tief hängenden Wolken zu verschwinden.

„Scheiße, eine Drohne!“, entfährt es dem Kriminalhauptkommissar. „Daran hat niemand gedacht!“ Er springt auf und greift sich das Funkgerät: „Alle Beteiligten bitte sofort zu mir!“

Nur wenig später sitzen vier Polizisten und ihre Leiter, sowie der Bootsführer der Wasserschutzpolizei mit Herrn Jensen und dem Leiter der Aktion, Kriminalhauptkommissar Patjens zusammen. Der Reeder — und Besitzer des Geldes, das eben durch die Luft verschwunden ist — blickt von einem zum anderen, sagt aber nichts.

Patjens räuspert sich. „Darauf war niemand vorbereitet. Hat jemand das Fluggerät erkennen können?“

Polizeimeister Meurer meldet sich. „Ich habe es mit dem Fernglas beobachtet. Es war eine Drohne mit sechs Motoren, ein riesiges, professionelles Gerät. „Wissen Sie, mein Schwager hat eine Drohne. Die ist aber wesentlich kleiner, mit vier Motoren. Unter dem Gerät muss ein Magnet oder so etwas gewesen sein, die Dose klebte irgendwie darunter.“

„Wohin ist sie denn verschwunden?“ Kriminalhauptkommissar Patjens bemüht sich um Konzentration - diese Schlappe hat er noch nicht ganz verdaut - und macht sich ein paar Notizen. Er darf auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass er die Sache nicht mehr im Griff hat.

„Die Drohne ist zunächst senkrecht nach oben geflogen, nach 300 Meter habe ich sie nicht mehr erkennen können.“

Der Kommissar wendet sich an den Vertreter der Wasserschutzpolizei. „Gibt es irgendwelche Erkenntnisse über das Radar?“

Doch der schüttelt den Kopf. „Tut mir leid, Chef, keine Chance. Drohnen sind zu klein, die sind im Radar praktisch nicht zu erkennen. Wenn wir ein moderneres Gerät hätten...

Kriminalhauptkommissar Patjens bricht die Aktion ab. „Vielen Dank für Ihren Einsatz.“ Er blickt zum Reeder Jensen hinüber. „Tut mir leid, wir haben getan, was wir konnten. Daran hat niemand gedacht. Bei so einer Art der Lösegeldübergabe sind wir machtlos. Eine Drohne kann man nicht verfolgen, auf keinen Fall so ein schnelles Gerät.“

Jensen richtet sich ein wenig in seinem Stuhl auf. „Ich fand es merkwürdig, dass das Geld mitten auf der Mole deponiert werden sollte, für jeden sichtbar. Solche Übergaben finden doch gewöhnlich heimlich statt, oder? Aber auf eine Drohne bin ich auch nicht gekommen, das Geld kann ich jetzt wohl vergessen. Auf der anderen Seite - wenn die Ganoven Wort halten, bleibe ich vielleicht am Leben. Was meinen Sie, Kommissar Patjens?“

Der Kommissar hat im Moment nicht den Nerv für Jensens Sarkasmus. „Ich werde meinen Bericht zum Landeskriminalamt weiterleiten, sollen die Burschen sich doch etwas einfallen lassen.“ «

Auf dem Nordseedeich, zwei Kilometer östlich der Stadt Norden, sitzt ein Mann auf einem Klappstuhl, gemütlich zurückgelehnt. Ein kleines Steuerpult liegt auf seinem Schoß, mit den Fingern der rechten Hand hält er einen kleinen Joystick und führt ihn präzise mit genau dosierten Bewegungen. Seine Augen blicken konzentriert auf einen Meinen Bildschirm. „Ahmet! Es ist so weit!“, ruft er, nach hinten gewandt. Auf dem Deichverteidigungsweg steht ein dunkelblauer Van. Ein junger Mann steht neben der Fahrertür und rasiert sich die Wangen, ein kräftiger Bartwuchs lässt sie dunkel schimmern. Er kontrolliert seinen Rasiererfolg, indem er mit dem linken Handrücken darüber streicht. „Ja, sofort!“ Er wirft den Apparat durch die halb geöffnete Scheibe auf den Fahrersitz und geht mit langen Schritten den Deich hinauf. Er ist keine Sekunde zu früh, in der Ferne ist bereits ein leises Sausen zu hören. Nur wenige Sekunden später kommt aus dem fast dunklen Himmel ein schwarzes Fluggerät herunter. Es landet exakt einen Meter von dem bequemen Klappstuhl entfernt im Gras des Deiches.

„Viereinhalb Minuten, da soll uns mal Einer einholen!“, lacht der Lenker der Drohne. „Du trägst sie in den Wagen, ich kümmere mich um das Geld.“

Der junge Mann hebt die Drohne mitsamt der Gelddose hoch, sein Kumpel zieht an der Dose, die sich mit etwas Kraft von dem Magneten löst, dann gehen beide den Deich hinunter zu ihrem Auto. Inzwischen ist es fast dunkel geworden.