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Auf der Schwebefähre in Osten wird der ehemalige Kommandant eines Konzentrationslagers von einem früheren Häftling wiedererkannt. Um der Bestrafung zu entgehen, beginnt eine Spirale des Todes. Die Schwebefähre stellt ein wichtiges Bindeglied über die Oste zum Schlupfwinkel des Verbrechers dar. Die Zeit vor fünfzig Jahren wird beschrieben und das Leben mit der Fähre, die eine der wenigen Verbindungen über die Oste zu der Zeit darstellt. Es gibt einen Toten, die Kommissare Krüsmann und Hansen der Stader Kriminalpolizei sind gefordert. Die Suche nach dem Mörder erfordert das Auffinden fünfzig Jahre alter Unterlagen. Verbissen versucht der Nazi-Verbrecher, seine Identität zu verbergen, es führt zu einem weiteren Mordversuch. Der Roman spielt 1965 im Osteland zwischen Osten und Otterndorf. Das Buch blickt zurück zu den letzten Tagen des Konzentrationslagers Buchenwald bei Weimar. Der Weg eines überlebenden Häftlings von 1945 bis 1965 wird lebendig. Der Tage der Entdeckung des früheren Lagerkommandanten stellt sein ruhig gewordenes Leben auf den Kopf.
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Seitenzahl: 263
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Zu diesem Buch:
Auf der Schwebefähre in Osten wird der ehemalige Kommandant eines Konzentrationslagers von einem früheren Häftling wiedererkannt. Um der Bestrafung zu entgehen, beginnt eine Spirale des Todes.
Die Schwebefähre stellt ein wichtiges Bindeglied über die Oste zum Schlupfwinkel des Verbrechers dar.
Die Kommissare Krüsmann und Hansen tauchen in die Abgründe der menschlichen Seele hinab, Überlebende einer schrecklichen Epoche tauchen auf und lassen nichts unversucht, um ihre früheren Verbrechen nicht an das Licht kommen zu lassen.
Der Roman spielt 1965 im Osteland zwischen Osten und Otterndorf.
Ich bedanke mich bei meiner Frau, die mein größter Fan und gleichzeitig meine strengste Kritikerin ist, für ihre unermessliche Arbeit am Manuskript und die vielen hilfreichen Diskussionen.
PETER ECKMANN, geboren 1947, lebt im Niederelbe-Dreieck in der Nähe von Cuxhaven.
Ingenieur der Verfahrenstechnik, schreibt unter dem Pseudonym Allan Greyfox Wildwest- und Detektivromane.
Dieses Buch ist der zweite Kriminalroman, der in der Heimat des Autors spielt. Er handelt wieder in der Nähe der Oste, deren friedliche Umgebung durch die Entdeckung eines früheren KZ-Kommandanten empfindlich gestört wird.
Vorwort
Die Personen
Die Begegnung
Die Kommissare
Spurensuche
Ein Plan scheitert
Der Bahnübergang
Schwäbische Erfahrungen
Verwicklungen
Auflösungen
Nachwort
Die Schwebefähre, technische Daten und Geschichte
Zur besseren Orientierung für den kundigen Leser wurden Ortsnamen korrekt angegeben. Die Namen der Protagonisten sind dagegen frei erfunden. Zufällige Überstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen können jedoch nicht ausgeschlossen werden.
Der Bezug zum Konzentrationslager Buchenwald und seinen Personen ist zum Teil nicht korrekt dargestellt, um es der Handlung dieses Romans anzugleichen. Insbesondere der Kommandant ist so nicht historisch richtig. Ich habe mich an den Lebenslauf des KZ-Kommandanten von Auschwitz, Richard Baer, angelehnt. Fritz Kognatz ist in einigen Zügen an den späteren Zeugen der Nürnberger Prozesse und Europa-Politiker, Eugen Kogon, angelehnt. Dieser ist 1987 im Unterschied zu meinem Nazi-Häftling eines natürlichen Todes gestorben. Bis zu seinem Tode hatte er das heutige Europa entscheidend mitgeprägt.
Die Tätowierung der Häftlingsnummer wurde nur in Auschwitz angewendet, in anderen Konzentrationslagern wurde die Nummer lediglich an der Kleidung befestigt. Der Leser verzeihe mir die historische Ungenauigkeit, eine eintätowierte Nummer auf dem Arm des Fritz Kognatz passt besser in die Handlung.
Die Konzentrationslager wurden mit KL oder auch KZ abgekürzt. KL war die richtige Bezeichnung, mitunter wurde KZ wegen des schärferen Klanges bevorzugt.
Der Autor
Arnold Wolf/Karl Neumann
Ein ehemaliger Lagerkommandant
Fritz Kognatz
Ein früherer Häftling aus Buchenwald
Ilse Schneider
Seine Pflegetochter
Gabriele Husemann
Die Verlobte von Kommissar Hansen
Edwin Frenzel
Der Angestellte und Diener von Arnold Wolf
Emma Husemann
Die Mutter von Gabriele Husemann und Krämersfrau in Neuhaus
Thekla von Borstel
Die Schwester von Emma Husemann
Werner Hansen, Jürgen Krüsmann
Zwei Kriminalbeamte aus Stade
Paul Roth
Ein Besucher aus der Vergangenheit
Ein Tag im Juli, 1965. Das Wasser der Oste zieht langsam in Richtung Elbe, bald wird die Strömung einen Moment zur Ruhe kommen, um sich dann vorübergehend zur Quelle der Oste zu bewegen. Die Schwebefähre ist jetzt, an einem Donnerstagnachmittag, wie bei fast jeder Fahrt gut besucht. Die nächste feste Querung über die Oste befindet sich in Hechthausen, dann erst wieder in Bremervörde, dazwischen, und bis zur Mündung, kann man den Fluss nur auf Fähren überqueren. Ein Personenwagen fährt jetzt auf die Gondel, ein ächzendes Geräusch ist der einzige Protest, zu dem die fast sechzig Jahre alte Schwebefähre in der Lage ist. Der Wagen ist ein großer Mercedes 300 SE, der glänzende schwarze Lack ist mit feinem Staub bedeckt. Eine Person sitzt auf dem Fahrersitz, der mit dunkelrotem Leder bezogen ist. Der Mann hinter dem Lenkrad wird in sechs Wochen einundfünfzig Jahre alt werden, volle graue Haupthaare zieren ein attraktives Gesicht. Sein Ziel ist der Bahnhof in Basbeck, um seine Frau abzuholen, die von einem Besuch bei ihrer Mutter in Hannover zurückkehrt. Der Zug soll in einer halben Stunde in dem kleinen Bahnhof eintreffen.
Der filigrane Fahrkorb aus grün gestrichenen Stahlstreben ist außer mit dem Mercedes, mit einem Lieferwagen, mehreren Radfahrern und einigen Fußgängern belegt. Die Schranke wird geschlossen, der Fährmann startet die Elektromotoren und die Gondel setzt sich langsam in Bewegung. Mit Schrittgeschwindigkeit, fast lautlos, schwebt der Fahrkorb mit dem grün gestrichenen Gestell aus Stahl etwa zwei Meter oberhalb des Wasserspiegels der Oste zum Basbecker Ufer hinüber. Einige Passagiere unterhalten sich miteinander, zwei Jungen toben zwischen den beiden Autos hindurch und handeln sich einen strafenden Blick des Fährmannes ein.
Einer der drei Radfahrer ist ein älterer Herr, etwas über sechzig Jahre alt, mit straff zurückgekämmten, grauen Haaren und einer Brille mit schwarzen Gestell. Er steht mit seinem Fahrrad neben dem Mercedes, zufällig fällt sein Blick in den Innenraum und verweilt einen Moment auf dem Gesicht des Fahrers.
Plötzlich schießen Bilder durch seinen Kopf, Bilder, die er schon lange nicht mehr zugelassen hatte. Und dieser Mann, der sich jetzt einen Meter entfernt von ihm befindet, hatte einen besonders grauenvollen Platz in den Piktogrammen des Schreckens. Jetzt fällt ihm ein, wen er hier vor sich hat. Es ist Arnold Wolf, von Frühjahr 1944 bis Februar 1945 war er der Kommandant des Konzentrationslagers Buchenwald gewesen. Fritz Kognatz sieht noch einmal durch das geöffnete Fenster in den Wagen. Nein, es ist kein Zweifel möglich, dieser Mann ist einer der Dirigenten des Grauens, einer der wenigen Lagerleiter, die nicht von den Siegermächten gefasst und zum Tode verurteilt worden sind.
Der Fahrkorb hat an der Straße nach Basbeck angelegt, die Schranke wird geöffnet, die Fahrgäste setzen sich in Bewegung. Die Motoren werden gestartet und die beiden Autos rollen langsam auf die Straße. Fritz Kognatz will zum Bahnhof Basbeck-Osten, um mit dem Zug nach Otterndorf zu fahren. Er war nach Osten zum Gericht als Zeuge geladen worden und ist jetzt wieder auf dem Weg nach Hause. Während er in die Pedale tritt, um die kleine Steigung der Straße zu überwinden, folgen seine Augen dem schwarzen Wagen. Der Mercedes hält an der Kreuzung mit der Bundesstraße 73 und fährt dann weiter geradeaus. Hat der Lenker mit der dunklen Vergangenheit das gleiche Ziel wie er selbst? Als Fritz Kognatz ebenfalls die Kreuzung erreicht, ist der große Wagen nicht mehr zu sehen.
Am Bahnhof Basbeck-Osten hat er mit dem Rad den Mercedes wieder eingeholt, harmlos parkt der Wagen gegenüber vom Bahnhof. Er blickt auf das Nummernschild und prägt es sich ein. Fritz Kognatz schiebt sein Fahrrad auf den Bahnsteig, gleich soll der Zug kommen, der ihn in sein Zuhause nach Otterndorf bringen wird.
Da ist er wieder! Der frühere Sturmbannführer der Waffen-SS steht auf demselben Bahnsteig wie er und sieht gerade auf die Bahnhofsuhr. Fritz Kognatz beobachtet ihn so unauffällig wie möglich, er will jetzt keinen Fehler begehen. Nein, er hat sich nicht geirrt, je länger er ihn mustert, desto sicherer fühlt er sich.
In der Ferne sind die Umrisse des sich nähernden Zuges zu sehen, sie vergrößern sich langsam, schließlich fährt der Zug mit lautem Brummen und Getöse in den Bahnhof ein. Fitz Kognatz hält sein Fahrrad und achtet auf die Türen, die immer langsamer werdend bis zum Stillstand des Zuges an ihm vorüberziehen. Er öffnet eine Tür und hebt mit der Übung vieler Jahre sein Fahrrad in den Vorraum. Nur einen Moment lässt er den Fremden außer Acht, er tritt wieder an die Tür und sieht den Bahnsteig entlang.
Eine Frau ist ausgestiegen, sie und der Fahrer des Mercedes‘ begrüßen sich und gehen dann zum Ausgang. Ein Pfiff erschallt, Fritz Kognatz tritt in den Zug zurück, die Türen klappen und der Zug fährt an. Er betritt das erste Abteil und setzt sich auf den mit dunkelgrünem Kunstleder überzogenen Sitz.
Der Zug verlässt den Bahnhof, unterquert die Brücke der Bundesstraße 495 und nähert sich immer schneller dem beschrankten Bahnübergang mit der Bundesstraße 73. In wenigen Minuten wird der Zug den Bahnhof Warstade erreichen. Das Ziel des Reisenden ist Otterndorf, dort wird er die Bahn verlassen.
Fritz Kognatz sieht aufgewühlt aus dem Fenster, die Begegnung auf der Schwebefähre hat die hintersten Schubladen seines Gedächtnisses geöffnet und Erlebnisse, die er eigentlich für immer vergessen wollte, zutage gefördert. Warstade liegt hinter ihm, der Zug nimmt wieder Fahrt auf, das rhythmische Rattern über die Schienenstöße wird rascher.
Die Landschaft zieht am Fenster vorbei, er nimmt sie nicht wahr, seine Gedanken kreisen um das Konzentrationslager Buchenwald. Es lag in der Nähe von Weimar, auf dem Westhang des Ettersberges. Das KL Buchenwald war sechs entsetzlich lange Jahre sein Martyrium gewesen, dabei hatte er es besser gehabt, als mancher seiner Mithäftlinge. Als unehelicher Sohn einer jüdischen Ärztin und aktiver Gegner des Nationalsozialismus, war seine Verhaftung durch die Gestapo zu erwarten gewesen. Nach seiner dritten Verhaftung im Jahr 1939, er war damals sechsunddreißig Jahre alt, wurde er in das Konzentrationslager in Thüringen deportiert. Unendliche Leiden und unvorstellbare Gräuel waren jeden Tag gegenwärtig. Ab 1943 wurde er auf Empfehlung des Leiters seiner Häftlingsgruppe, („Kapo“) als Schreiber für den Leiter der Fleckfieberversuche, Dr. Erwin Ding-Schuler, eingesetzt. Seine frühere journalistische Tätigkeit als Redakteur einer katholischen Zeitung kam ihm dabei zugute. Die folgenden zwei Jahre schrieb er nun dessen medizinische Berichte, die zum Teil erfunden waren. Bei Gelegenheit gab es dann Diskussionen zu politischen und menschlichen Themen mit dem Mediziner. Seine engen Kontakte zu Dr. Ding-Schuler gaben ihm die Möglichkeit, für manchen Häftling schonendere Bedingungen und mitunter das Überleben zu bewirken. Diese Beeinflussung war nicht einfach, Dr. Ding-Schuler hatte einen schwierigen, wankelmütigen Charakter. Fritz Kognatz musste mit Engelszungen reden und jedes einzelne Wort sorgsam abwägen, um nicht einen plötzlich hervorbrechenden Zorn des Arztes zu riskieren.
Der Bahnhof Höftgrube ist vorüber, auf der linken Seite der Bahnstrecke erheben sich die bewaldeten Hügel der Wingst. Die Tür öffnet sich, eine junge Frau mit zwei Kindern betritt das Abteil. Nun ist es mit der Ruhe und dem Sinnieren vorbei, vielleicht ist das auch gut so, die Erinnerungen an die über zwanzig Jahre zurückliegenden Gräuel belasten ihn immer noch sehr. Mit mildem Lächeln betrachtet er die beiden Kinder, es sind offensichtlich Bruder und Schwester. Der Junge mag vielleicht sechs Jahre alt sein, das Mädchen ist wohl zwei Jahre jünger. Sie blicken interessiert aus dem Fenster, die Mutter beschreibt den beiden Kindern, was draußen vorüberzieht.
Das Mädchen erinnert ihn an seine Pflegetochter, Ilse Schneider, sie lebt seit fünf Jahren bei ihm und ist ihm wie eine leibliche Tochter ans Herz gewachsen.
Das Ende der Hölle von Buchenwald beginnt in den Märztagen des Jahres 1945. Unter den Bewachern der Häftlinge herrscht eine zunehmende Unruhe. Seit einigen Tagen ist in der Ferne Geschützfeuer zu vernehmen, es rührt offensichtlich von den Kämpfen mit den alliierten Truppen her. In ihrem Block befindet sich ein geheimer Radioapparat, es ist ein defektes Gerät von SS-Sturmbannführer Dr. Ding-Schuler, es war einem kundigen Häftling zur Reparatur übergeben worden. Nun ist der Empfänger schon lange repariert, er dient ihnen in der Nacht zum Abhören der Nachrichten der BBC. Der Sprecher gibt in englischer und in deutscher Sprache bekannt, dass die dritte Armee der Amerikaner bereits den Rhein überschritten hat.
Die Unaufmerksamkeit des SS-Wachpersonals, das sich jetzt offensichtlich mehr mit seiner eigenen Rettung, als mit der Bewachung der Gefangenen beschäftigt, macht es möglich, etliche Pistolen, Gewehre und Munition aus dem Waffenlager der SS zu entwenden. Verstecke sind schnell gefunden, nach Monaten und Jahren in den Baracken kennt man jeden Hohlraum, jedes lose Brett, manche Waffe wird einfach vergraben und mit Blättern abgedeckt. Jetzt macht sich die jahrelange Arbeit an einer geheimen Organisation unter den Häftlingen bezahlt. Unbemerkt von den Bewachern bereiten sich die Lagerinsassen auf den Tag X vor, der Tag, an dem die alliierten Streitkräfte sich Buchenwald nähern werden und die verbliebenen Wachsoldaten überrumpelt werden können. Von Häftlingen aus anderen Lagern hat man erfahren, dass die Wachmannschaften unter Umständen niemanden überleben lassen, damit den Siegern keine Zeugen zur Verfügung stehen.
Die SS-Führung ist ganz offensichtlich in heller Aufregung und bereitet sich auf das Verlassen des Lagers vor, sie wollen nicht den Befreiern in die Hände fallen. Daran kann man ganz klar erkennen, dass ihnen das Unrecht ihrer Taten durchaus bewusst ist. Die amerikanischen Soldaten werden beim Anblick der abgezehrten KZ Insassen und der Massengräber vor dem Lager keine Gnade walten lassen, das war den SS-Söldnern klar.
Am 6. April 1945 lässt SS-Sturmbannführer Dr. Ding-Schuler seinen Schreiber Fritz Kognatz zu sich holen. Er sitzt in dem Büro der Krankenstation, in der seine viele Todesopfer fordernden Fleckfieberversuche durchgeführt wurden. Häftlinge wurden mit Fleckfieber infiziert und jeder erdenkliche Impfstoff wurde an ihnen ausprobiert, in der trügerischen Hoffnung, ein Gegenmittel zu finden. Fast eintausend Patienten haben die Versuche nicht überlebt. Sie sind entweder am Fleckfieber selbst oder an den ihnen injizierten Giften gestorben.
Das kleine Büro ist noch unordentlicher als sonst, auch hier zeigt sich die Unrast unter dem Führungspersonal.
„Setz, dich, Kognatz, ich habe eine wichtige Information für Dich.“ Dr. Ding-Schuler ist noch fahriger als sonst, seine Augen wandern ruhelos hin und her. Sein Schreiber sieht ihn fragend an, was würde er jetzt zu hören bekommen?
„Kognatz, ich habe bei Lagerarzt Schiedlausky eine Liste gesehen, danach sollen achtundvierzig Häftlinge, die als besonders gefährliche Zeugen gelten, noch vor dem Eintreffen der Amerikaner erschossen werden.“
Dr. Ding-Schuler greift nervös in seine Jackentasche und gibt seinem Gegenüber eine Liste. „Das ist eine Abschrift, verfahre damit nach Gutdünken.“ Er nimmt sich eine Zigarette und zündet sie mit bebenden Fingern an. „Du stehst auch auf der Liste, mit Dir habe ich etwas Besonderes vor.“
Fritz Kognatz schluckt, er hat immer damit gerechnet, dass er eines Tages im Konzentrationslager sein Leben lassen würde, doch wenn es vorher angekündigt wird, hat es eine besondere Qualität des Schreckens.
„Ich werde dich aus dem Lager schmuggeln, ich habe Vorkehrungen getroffen, dich in mein Haus zu bringen.“
Fritz Kognatz mustert den vor ihm sitzenden Arzt. Offenbar sind die stundenlangen Diskussionen mit ihm über Ethik, Moral und Menschlichkeit doch nicht umsonst gewesen. Er sieht dem SS-Arzt nachdenklich in die Augen, dann steht Fritz Kognatz auf und verlässt den Raum.
Die Nachrichten aus dem geheimen Lagerradio berichten von dem Näherrücken der Alliierten, danach ist die 4. Panzerdivision der 3. Armee bereits in der Nähe von Erfurt. Der Widerstand der Deutschen ist kaum vorhanden, sodass mit einer baldigen Befreiung gerechnet wird.
Am 8. April erscheint ein Lastwagen der Polizei Weimar im Lager, er soll dringend benötigte Instrumente und Impfstoffe für die Kampfgruppe des SS-Standartenführers Schmidt abholen. In eine der Kisten hat sich Fritz Kognatz gezwängt, der Mediziner hat sein Wort gehalten. Nur wenige Minuten benötigt der schwerfällige Lastwagen in das fünf Kilometer entfernte Weimar, sein Ziel ist das Haus des Arztes. Die Kisten werden auf Weisung des Mediziners in der kleinen Garage abgestellt.
Der LKW entfernt sich mit lautem Brummen, dann kehrt Ruhe ein. Nur wenig später knirscht es an der Kiste, der Deckel wird geöffnet, SS-Sturmbannführer Dr. Ding-Schuler sieht seinen Schreiber triumphierend an. „Na, wie hat das geklappt? Sehe dich bei mir nach Kleidung um, ich werde ohnehin nicht alles mitnehmen können.“ Er hilft seinem Häftling aus der Kiste, dann verabschiedet er sich. „Ich muss los, vielleicht sehen wir uns nie wieder!“ Er ist ruhelos wie immer, springt in sein Auto, ein grauer DKW aus dem Bestand des SS-Wachkommandos, und fährt mit quietschenden Reifen davon.
Fritz Kognatz sollte ihn nie wiedersehen. Sehr viel später erfährt er, dass der Arzt von den Amerikanern gefangen genommen wurde und sich am 14. August 1945 in der Haft selbst gerichtet hatte.
Aus dem Wohnzimmer des Arztes kommen Geräusche. Die vielen Jahre in der Haft unter der unberechenbaren Knechtschaft skrupelloser Aufseher haben ihn gelehrt, auf das leiseste Geräusch zu achten. Geräusche, die neue Gräuel erahnen ließen, um ihnen so rechtzeitig aus dem Weg gehen zu können. Nicht, dass er jetzt noch einem Nazi-Schergen in die Hände fiel. Vorsichtig sieht er in das Wohnzimmer. Auf dem Fußboden sitzt ein kleines Mädchen und spricht mit einem Teddy. Von einem Kind wird keine Gefahr ausgehen, sehr wohl aber von einem möglichen erwachsenen Begleiter. Fritz Kognatz duckt sich hinter den Tisch und wartet ab.
Das Mädchen ist aufgestanden und läuft durch das Haus, es ruft: „Onkel Erwin, wo bist du?“ Immer wieder und wieder. Onkel Erwin ist sicher Dr. Erwin Ding-Schuler, ist die Kleine etwa alleine? Er beschließt, das Risiko einzugehen, und erhebt sich aus seinem Versteck. Das Mädchen sieht ihn überrascht an. „Ich heiße Ilse, wie heißt du?“ Klare blaue Augen fixieren den mageren Häftling in seiner gestreiften Kleidung.“
„Ich heiße Fritz, ich bin ein Freund von Onkel Erwin.“
„So.“ Das Mädchen sieht den seltsamen Gast ohne Scheu an. „Was machst du denn hier?“
„Ich bin zu Besuch hier.“ Ihm kommt der überstürzte Aufbruch von Dr. Ding-Schuler in den Sinn. „Ich soll auf das Haus aufpassen, solange Onkel Erwin unterwegs ist.“ Er mustert das kleine Mädchen. „Wo gehörst du denn hin?“
„Meine Eltern wohnen zwei Häuser weiter, mein Papa ist im Krieg, meine Mama ist einkaufen.“
„Dann kommt sie sicher bald wieder. Holt sie dich denn hier ab?“ Das Mädchen zuckt mit den zierlichen Schultern. „Weiß nicht.“ Na, gut. Er wird sich zunächst etwas Anderes zum Anziehen suchen und sich dann nach Essbarem umsehen. Der seit sechs Jahren ständig bohrende Hunger kann hier vielleicht endlich einmal gestillt werden.
Im Schlafzimmer findet er einen Schrank voller Kleidung, Dr. Ding-Schuler hat offenbar viel Geld für gute Garderobe ausgegeben, welche er in der Eile nur zum Teil mitgenommen hat. Die Sachen passen dank einer ähnlichen Größe mit dem SS-Arzt ganz passabel, sie hängen allerdings an seinem ausgemergelten Körper wie an einer Vogelscheuche herab. Seine nächsten Schritte führen ihn in die Küche. Er wirft einen Blick in die Speisekammer. Was für ein Überfluss! Geräucherte Wurst, Schinken und Käse füllen den kleinen Raum bis unter die Decke. Er schneidet sich von dem altbackenen Brot ein paar Scheiben ab und lässt es sich, wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr, schmecken. Das trockene Brot und ein Stück Wurst erscheinen ihm, als wären es die köstlichsten Delikatessen. Er darf nicht daran denken, dass die Gefangenen im Lager ständig kurz vor dem Hungertod waren, während hier alles im Überfluss vorhanden ist. Fritz muss aufpassen, dass er nicht zu viel und zu schnell isst, sein Magen ist die reichliche Nahrung nicht gewohnt. Auch muss er auf der Hut sein: In der Umgebung wohnen einige der Nazi-Größen aus dem Lager. Er blickt immer wieder nervös zum Fenster. Er versagt sich den Wein, der ebenfalls in der Speisekammer steht, und trinkt lieber Wasser – er muss einen klaren Kopf behalten.
Die kleine Ilse kommt zu ihm in die Küche. Er mustert sie freundlich. „Möchtest du auch etwas essen?“
Sie nickt. Er schmiert ihr eine Scheibe Brot mit Marmelade und freut sich an ihrem guten Appetit. „Wann will deine Mutter dich denn abholen?“
Das Mädchen zuckt wieder mit den Schultern, leckt sich etwas Marmelade von den Lippen. „Weiß nicht.“
Dieselbe unklare Antwort wie vorhin. „Findest du denn alleine nach Hause?“
„Ja.“
„Gut, dann werden wir dich nachher, wenn dich bis dahin keiner abgeholt hat, nach Hause bringen.“ Unbekümmert isst die Kleine das von Fritz Kognatz geschmierte Brot.
Es ist dunkel geworden, von einer Mutter des kleinen Mädchens ist nichts zu sehen. Der ehemalige Häftling sorgt sich um sie. „Wir müssen nachsehen, warum dich niemand holen kommt.“ Er nimmt die Kleine an die Hand, die einen müden Eindruck macht und schon lange im Bett liegen sollte. „Du musst mir zeigen, wo du wohnst, kannst du das?“ Er hält das kleine Mädchen, das höchstens zwei Jahre alt ist, an der Hand und lässt sich von ihr führen. Zielstrebig geht sie zwei Häuser weiter und zeigt auf ein Einfamilienhaus, es ähnelt dem von Dr. Ding-Schuler. „Da wohne ich“.
Fritz Kognatz sieht skeptisch zu dem Haus hin, alle Fenster sind dunkel. Er tritt vor die Haustür und klopft mehrere Male, ohne Erfolg. Er drückt die Klinke hinunter, sie ist verschlossen.
„Ich fürchte, du wirst bei mir, im Haus von Onkel Erwin, schlafen müssen.“ Klaglos ergibt sich das Mädchen in sein Schicksal, sie stapft müde hinter ihrem Begleiter her und lässt sich von ihm in ein Bett im ersten Stock zur Nacht niederlegen. Die Kleine fällt in den Schlaf, kaum dass ihr Kopf das Kissen berührt. Fritz Kognatz legt sich in das Bett im Nebenzimmer. Er liegt lange wach, die Ereignisse des heutigen Tages wirken noch nach. Was wohl seinen zurückgebliebenen Mithäftlingen im Lager passiert sein mag? Was ist mit den fünfundvierzig weiteren Männern auf der Todesliste passiert? Sind die Amerikaner schon eingetroffen?
Am nächsten Morgen ist die kleine Ilse früh auf und weckt ihn. Sofort packt ihn wieder Unruhe. Was mag bis heute passiert sein? Im Wohnzimmer steht ein Radioapparat, dem er nach einigem Suchen einen englischen Sender entlocken kann. Er entnimmt den Nachrichten, dass die 3. Armee inzwischen Erfurt eingenommen hat. Demnach sind die Befreier etwa fünfzig Kilometer entfernt, jeden Tag muss jetzt mit einer Erlösung des Todeslagers gerechnet werden. Ob sich wohl die Häftlinge der Mordliste, die er an das geheime Lagerkomitee weitergegeben hat, in Sicherheit bringen konnten?
Der Tag zieht sich hin, immer wieder sitzt er vor dem Radio und lauscht auf die Nachrichten aus dem Lautsprecher. Das Combat Team 9 nähert sich Weimar. Es gehört zum Kampfkommando der 3. US-Armee von General Patton. Ja, endlich rückt die Freiheit für seine Kameraden in greifbare Nähe! Wenn er ihnen doch nur helfen könnte, hier ist er zur Hilflosigkeit verdammt.
Einen Teil des Tages vertreibt er sich mit Spielen mit der kleinen Ilse. Sie ist aufmerksam und wissbegierig, er versucht ihr manches zu erklären. Wo ihre Mutter nur sein mag? Er nimmt die Kleine wieder bei der Hand und geht auf die Straße. Manche der Häuser in der Nachbarschaft werden offenbar von SS-Personal bewohnt. Für den Mann in dem weiten Anzug und dem kleinen Mädchen interessiert sich niemand, er trägt einen Hut des Doktors, damit man seinen rasierten Schädel nicht bemerkt. Eine geschäftige Unruhe herrscht in manchen Häusern, es scheint, als wenn in letzter Minute für eine Flucht gepackt wird.
Das Haus der Eltern von dem kleinen Mädchen ist immer noch einsam, er sieht auf das Klingelschild. »Schneider« kann er dort lesen. „Heißt du Schneider?“, fragt er seine kleine Begleiterin. Sie zuckt mit den Schultern, sie ist noch zu klein, um so etwas zu wissen.
Flugzeuglärm nähert sich, zwei offenbar amerikanische Aufklärungsflugzeuge fliegen über ihnen hinweg. Ein Moment der Freude erfasst ihn, mit der Niederlage dieses schrecklichen Regimes ist jeden Moment zu rechnen. Doch vorerst bleibt ihm nur abzuwarten, außerdem muss er sich um das Mädchen kümmern, das aus einem unklarem Grund alleine gelassen worden ist.
Der Tag geht vorbei, der 10. April bricht an. Selbst innen im Haus ist aus der Ferne Geschützfeuer zu vernehmen. In der Nachbarschaft herrscht Ruhe, einige Häuser sind offenbar verlassen worden. Im direkten Nachbarhaus wohnt noch jemand, eine alte Frau kommt mit einem Korb voll Salat hinter dem Haus hervor. Fritz Kognatz grüßt sie freundlich, die Dame in der bunten Schürze winkt ihn zu sich.
„Junger Mann, suchen Sie etwas?“, fragt sie ihn freundlich. Sie hat sich ein Kopftuch umgebunden, graue Haare sehen darunter hervor.
„Ich soll auf das Haus von SS-Sturmbannführer Dr. Ding-Schuler aufpassen, bis er von seiner Reise zurückkehrt.“
„Reise, dass ich nicht lache! Von unseren Nachbarn wird niemand mehr zurückkehren. Bald werden die Amerikaner hier das Sagen haben, dann will hier niemand mehr Nazi gewesen sein.“
Aha, er ist also an eine Antifaschistin geraten, die jetzt, sozusagen in Hörentfernung der Befreier, sich traut, den Mund zu öffnen. Das mit den neuen Herren wird sich regeln, was ihn jetzt beschäftigt, ist das kleine Mädchen. Was wird aus ihr werden, wenn niemand mehr zurückkehrt? Er wendet sich an die alte Dame. „Kennen Sie das Kind, welches sich jetzt bei mir aufhält?“
„Sicher doch, das ist die Ilse Schneider.“ Sie nähert sich dem jungen Mann und spricht leise weiter. „Das arme Ding, noch weiß sie nicht, dass sie nicht die Tochter von SS-Hauptscharführer Kurt Schneider und dessen Frau Sybille ist.“ Sie sieht sich nach beiden Seiten um, als wolle sie sich versichern, dass ihr niemand zuhört. „Sie ist wohl die Tochter von Sybille Schneider, aber der Vater ist ganz jemand anderer.“
Sie senkt ihre Stimme nochmals, Fritz Kognatz beugt sich etwas vor und lauscht ihren gedämpften Worten. „Kurt kann erstens keine Kinder zeugen, und ist zweitens seit über drei Jahren an der Front in Russland.“
„Wer, vermutet man denn, könnte ihr Vater sein?“, fragt der junge Mann genau so leise.
„Vermuten? Der Fall ist sonnenklar.“ Die alte Dame sieht ihn triumphierend an. „Der leibliche Vater ist Arnold Wolf, die beiden hatten doch früher eine Weile ein Verhältnis miteinander.“
Fritz Kognatz ist jetzt ehrlich verblüfft. „Sie meinen, die Kleine ist die Tochter des früheren Lagerkommandanten?“, fragt er, lauter als beabsichtigt.
Sie nickt. „Ganz genau, das wissen alle hier. Der betrogene Feldwebel hat davon nichts mitbekommen, der ist ja weit weg.“
Fritz Kognatz denkt nach. „Und jetzt? Will die Mutter denn gar nicht wiederkommen? Was soll denn jetzt aus der Kleinen werden?“
Sie zuckt mit den Schultern. „Dr. Ding-Schuler wollte sich wohl um sie kümmern, aber der hat jetzt ganz andere Sorgen. Die Mutter ist verschwunden, was jetzt aus dem Mädchen werden soll, weiß ich auch nicht.“ Die alte Dame und Fritz Kognatz sehen die Kleine an, die leise vor sich hin singt.
„Das ist nicht leicht für das Mädchen, zurückgelassen zu sein wie eine unerwünschte Katze. Könnten Sie es nicht mit ihr versuchen, oder gibt es noch Verwandte?“
Frau Jensen schüttelt den Kopf. „Die Kleine war nicht vorgesehen, jetzt will niemand etwas von ihr wissen.“
Er wendet sich ab, zum Haus von Dr. Ding-Schuler. Es ist für niemanden irgendetwas klar, ihrer aller Zukunft liegt in den Händen der Siegermächte. Er nimmt sich vor, sich zunächst um das Mädchen zu kümmern, wer soll es denn sonst machen? Vielleicht ist die alte Dame bereit, sie für eine Weile aufzunehmen, das wäre eine große Hilfe für ihn. Er wird sie bei der nächsten Gelegenheit zu überreden versuchen.
Es ist der 11. April. Der Geschützdonner der amerikanischen Sherman-Panzer scheint aus allernächster Nähe zu kommen, am Abend hört er Panzer durch Weimar rollen. Hoffentlich haben die Alliierten auf ihrem Vormarsch das etwas abgelegene Lager Buchenwald nicht übersehen, für diesen Fall erblühen in seiner Phantasie die allerschlimmsten Szenarien.
Am 12. April fahren am Morgen immer mehr amerikanische Panzer mit klirrenden Ketten durch Weimar. Anwohner, überwiegend Kinder und junge Leute, laufen ihnen winkend hinterher. Ein Jeep hält an der Kreuzung, die beiden Insassen beugen sich über eine Karte. Laut dem Stander ist es das Fahrzeug eines Bataillonskommandeurs, dort sollte er Information über das Konzentrationslager bekommen können. Fritz Kognatz sammelt seinen Mut zusammen und tritt auf das Fahrzeug zu. „Excuse me, Messieurs. Can you give me some information about the concentration camp at the Ettersberg? “
Die beiden Soldaten wirken sehr gestresst, sie geben ihm trotzdem eine beruhigende Antwort. Er erfährt, dass bei der Ankunft der amerikanischen Vorhut die Insassen des Lagers über einhundertzwanzig verbliebene Bewacher - dank eigener Bewaffnung - festgesetzt hatten. Sie hatten die Kontrolle über die Wachtürme übernommen, und bereits vor der Ankunft der Alliierten eine weiße Fahne über dem Eingangstor befestigt.
Der Major salutiert, gibt einen Befehl an seinen Fahrer, dann saust der offene Wagen mit heulendem Motor davon.
Fritz Kognatz sieht ihm nachdenklich hinterher, glücklich über die Frohe Botschaft. Er kann es kaum fassen, Tränen laufen ihm über sein hageres Gesicht. Nun hat das Grauen ein Ende gefunden. Wie viel Leid hat dieses und andere Konzentrationslager über die Insassen gebracht! Zuletzt waren in Buchenwald über einhunderttausend Gefangene inhaftiert, zum großen Teil waren es Deportierte aus den Lagern in Polen und von der Westfront. Von denen waren bestenfalls zwei Drittel auf dem »Todesmarsch« hierher am Leben geblieben, viele waren auf dem Weg tot zusammengebrochen und wurden an Ort und Stelle liegen gelassen. In Buchenwald angekommen, gab es praktisch nichts zu essen, ausbrechende Epidemien und Tod durch völlige Erschöpfung und Hunger dezimierten die Überlebenden nochmals.
Den Rest des Tages verbringt er wieder vor dem Radio, während das Mädchen mit einer Puppe spielt, die sie im Haus gefunden haben. Am Abend hört er, dass der amerikanische Präsident Roosevelt an den Folgen einer Hirnblutung gestorben ist. Fast sofort wurde sein Vertreter, Harry Truman, als neuer Präsident vereidigt. Es herrscht Krieg, da kann man es sich nicht erlauben, lange ohne obersten Anführer zu sein.
Die folgenden Tage und Wochen herrscht ein unglaubliches Durcheinander. Die Fahrzeuge auf den Straßen sind überwiegend dunkelgrüne Trucks und flinke Jeeps. Nach und nach kommen die Einheimischen aus ihren Wohnungen und Verstecken. Die Essensvorräte in der Speisekammer des Dr. Ding-Schuler sind beinahe aufgebraucht. Was soll er dann machen? Er hat weder eigenes Geld noch eine Arbeit. Dann ist da noch sein Tagebuch. Seit den ersten Tagen im KZ hatte er begonnen, sich heimlich Notizen zu machen. Die über einhundert Seiten Papier hatte er in einem Hohlraum in seiner Baracke versteckt. Diese Aufzeichnungen könnten sich als wichtig erweisen, er muss versuchen, sie sich zu besorgen.
Ilse Schneider wird inzwischen liebevoll von der Nachbarin, »Oma« Jensen, betreut, er sieht sie fast jeden Tag. Er ist froh über die Hilfe der alten Dame, er ahnt bereits, dass er in der nächsten Zeit kaum Gelegenheit haben wird, sich um das kleine Mädchen zu kümmern.
Am Morgen des 20. April macht er sich auf den Weg. Die Entfernung zum Lager auf dem Ettersberg ist nicht weit, er befindet sich jetzt auch in einer erheblich besseren gesundheitlichen Verfassung, als noch vor zwei Wochen, sodass ihm das Marschieren leicht fällt. Als Fritz die Baracken von Weitem erkennt, krampft sich sein Magen zusammen, er hat aber ein Ziel und geht unbeirrt weiter.
Vor dem KZ stehen ein Panzer und mehrere Militärfahrzeuge, auf dem Turm über dem Eingangstor weht neben der Uhr die amerikanische Flagge, ein Anblick, der Fritz aufatmen lässt. Er wird skeptisch angesehen und findet nach einigem Herumfragen den militärischen Leiter, Major Lorenz C. Schmuhl. Der ist freundlich zu ihm und schickt ihn zu seinem Sergeanten. Dem schwarzen Riesen erklärt er sein Anliegen, sein Hauptproblem ist das Fehlen jeglicher Ausweispapiere. Der Sergeant sieht ihn an, ergreift seinen linken Arm und schiebt den Ärmel der Jacke nach oben. Seine Häftlingsnummer! Die sechs eintätowierten Ziffern waren ihm so selbstverständlich geworden, dass er nicht daran gedacht hatte. Sergeant Wilkens entblößt eine Reihe glänzend weißer Zähne. „Okay, you are a concentration camp prisoner, no doubt!“ Er ruft einen Soldaten von der Wache herein. „Jeff, please join him and help, if required. He might be very helpful for us.“ Jeff, bitte begleite und helfe ihm, falls nötig. Er mag für uns von Nutzen sein. Er sieht Fritz Kognatz noch hinterher, der seinem amerikanischen Begleiter den Weg weist.
Als der Blick des ehemaligen Häftlings auf die Baracken fällt, die immer noch von vielen Insassen bewohnt sind, packt ihn das Entsetzen. Nur langsam dämmert ihm die Erkenntnis, dass diese Leute frei sind, sie haben nur zurzeit keine andere geeignete Unterkunft.
Zielstrebig geht er auf den Block 50 zu, der sechs Jahre sein Quartier gewesen ist. Rasch findet er das lose Brett unter der Baracke und tatsächlich - seine wertvollen Aufzeichnungen sind noch alle vorhanden. Eng beschriebene Blätter, etwas über einhundert an der Zahl, entnimmt er dem Hohlraum. Ehemalige Häftlinge scharen sich um ihn.
„Was hast du denn da?“ Nur wenige kennen sein Geheimnis. „Das ist ein Tagebuch, ich hoffe, dass ich, damit und mit eurer Hilfe manchen von unseren Bewachern ins Gefängnis oder an den Galgen schicken kann.“
Fröhliches Lachen erhält er als Antwort. „Wir sind dabei!“, rufen ihm ein paar zu.
Er kehrt mit dem Wachmann und seinen wertvollen Notizen zur Kommandantur zurück. Der schwarze Sergeant wirft einen neugierigen Blick auf die vielen Seiten, er kann kein Deutsch, die vielen Namen und die Kalenderdaten wecken jedoch seine Aufmerksamkeit. Er ruft seinen Vorgesetzten zu sich. „Major! Please come and have a look at this!“