Die Kraft der Präsenz - Martin Lemme - E-Book

Die Kraft der Präsenz E-Book

Martin Lemme

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Beschreibung

Systemische Autorität ist eine bestimmte Art der Beziehungsgestaltung zwischen Beratenden und Beratenen – und gleichzeitig ein umfangreiches Konzept, das sich fortlaufend weiterentwickelt. Die Grundhaltung der Systemischen Autorität orientiert sich an drei Kernwerten: Sicherheit, Verbundenheit und Autonomie. Zwischen und um diese Kernbedürfnisse entsteht ein Resonanzraum, das transformative Feld, in dem Entwicklungen möglich werden, die zuvor nicht oder nicht mehr möglich schienen. Das Buch beschreibt diese Kernwerte und ihre Konsequenzen für das Handeln auch in schwierigen Beratungssituationen. Auf dieser Grundlage entwickeln die Autoren ein prozessdynamisches Modell, mit dem Beraterinnen und Berater ihr Tun steuern und reflektieren können. Gegenüber der Neuen Autorität übertragen sie den Begriff der Präsenz auch auf Organisationen und setzen ihn für die Beratung von größeren Gruppen um.

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Die Reihe »Beratung, Coaching, Supervision«

Die Bücher der petrolfarbenen Reihe Beratung, Coaching, Supervision haben etwas gemeinsam: Sie beschreiben das weite Feld des »Counselling«. Sie fokussieren zwar unterschiedliche Kontexte – lebensweltliche wie arbeitsweltliche –, deren Trennung uns aber z. B. bei dem Begriff »Work-Life-Balance« schon irritieren muss. Es gibt gemeinsame Haltungen, Prinzipien und Grundlagen, Theorien und Modelle, ähnliche Interventionen und Methoden – und eben unterschiedliche Kontexte, Aufträge und Ziele. Der Sinn dieser Reihe besteht darin, innovative bis irritierende Schriften zu veröffentlichen: neue oder vertiefende Modelle von – teils internationalen – erfahrenen Autoren, aber auch von Erstautoren.

In den Kontexten von Beratung, Coaching und auch Supervision hat sich der systemische Ansatz inzwischen durchgesetzt. Drei Viertel der Weiterbildungen haben eine systemische Orientierung. Zum Dogma darf der Ansatz nicht werden. Die Reihe verfolgt deshalb eine systemisch-integrative Profilierung von Beratung, Coaching und Supervision: Humanistische Grundhaltungen (z. B. eine klare Werte-, Gefühls- und Beziehungsorientierung), analytisch-tiefenpsychologisches Verstehen (das z. B. der Bedeutung unserer Kindheit sowie der Bewusstheit von Übertragungen und Gegenübertragungen im Hier und Jetzt Rechnung trägt) wie auch die »dritte Welle« des verhaltenstherapeutischen Konzeptes (mit Stichworten wie Achtsamkeit, Akzeptanz, Metakognition und Schemata) sollen in den systemischen Ansatz integriert werden.

Wenn Counselling in der Gesellschaft etabliert werden soll, bedarf es dreierlei: der Emanzipierung von Therapie(-Schulen), der Beschreibung von konkreten Kompetenzen der Profession und der Erarbeitung von Qualitätsstandards. Psychosoziale Beratung muss in das Gesundheits- und Bildungssystem integriert werden. Vom Arbeitgeber finanziertes Coaching muss ebenso wie Team- und Fallsupervisionen zum Arbeitnehmerrecht werden (wie Urlaub und Krankengeld). Das ist die Vision – und die politische Seite dieser Reihe.

Wie Counselling die Zufriedenheit vergrößern kann, das steht in diesen Büchern; das heißt, die Bücher werden praxistauglich und praxisrelevant sein. Im Sinne der systemischen Grundhaltung des Nicht-Wissens bzw. des Nicht-Besserwissens sind sie nur zum Teil »Beratungsratgeber«. Sie sind hilfreich für die Selbstreflexion, und sie helfen Beratern, Coachs und Supervisoren dabei, hilfreich zu sein. Und nicht zuletzt laden sie alle Counsellor zum Dialog und zum Experimentieren ein.

Dr. Dirk RohrHerausgeber der Reihe »Beratung, Coaching, Supervision«

Martin Lemme/Bruno Körner

Die Kraft der Präsenz

Systemische Autorität in Haltung und Handlung

Mit einem Vorwort von Arist von Schlippe

2022

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Beratung, Coaching, Supervision«

hrsg. von Dirk Rohr

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann

Umschlagfoto: © Richard Fischer • www.richardfischer.org

Redaktion: Nicola Offermanns

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2022

ISBN 978-3-8497-0423-0 (Printversion)

ISBN 978-3-8497-8371-6 (ePUB)

© 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Vorwort von Arist von Schlippe

Vorwort

1Grundlagen

1.1Vom Elterncoaching zur Systemischen Autorität

1.1.1Der Weg zum neuen Namen

1.1.2Umgang mit Kritik am Konzept Neue Autorität

1.2Ausflug in die neurobiologischen Grundlagen

1.2.1Menschliche Absicherung

1.2.2Entwicklung des Gehirns durch Beziehung und Empathie

1.2.3Achtung: Ansteckungsgefahr!

1.2.4Noch etwas zum Gedächtnis

1.2.5Bedeutung in der Praxis

1.2.6Atmung

1.2.7Singen und Summen

1.2.8Zuhören, Schweigen, Vertagen

1.2.9Sehen

1.2.10Stimme

1.2.11Sprechen

1.2.12Schweigen

1.2.13Berührung und Gesten

1.2.14Spiel und Humor

1.2.15Zusammenfassung

1.3Der Gewaltlose Widerstand: Mahatma Gandhi und seine grundlegenden Prinzipien

1.4Systemische und humanistische Aspekte des Konzepts

1.4.1Systemische Aspekte

1.4.2Humanistische Aspekte

2Prozessdynamisches Modell der Präsenz (PDM)

2.1Zirkuläre Aspekte der Präsenz

2.2Präsenz als Quelle von Autorität

2.2.1Physische Präsenz

2.2.2Pragmatische Präsenz

2.2.3Internale Präsenz

2.2.4Moralische Präsenz

2.2.5Intentionale Präsenz

2.2.6Soziale Präsenz

2.3Das transformative Feld der Entwicklung

2.3.1Transformatives Feld der Entwicklung im Konzept Systemische Autorität

2.3.2Die drei Kernbedürfnisse und ihre Handlungsaspekte

2.4Haltungs- und Handlungsaspekte

2.4.1Reflexion und Entscheidung

2.4.2Selbstführung und Deeskalation

2.4.3Transparenz und Öffentlichkeit

2.4.4Unterstützung und Netzwerke

2.4.5Gegenüber und Widerstand

2.4.6Gesten der Beziehung, der Verzeihung und Versöhnung, Wiedergutmachung

2.5Wachsame Sorge

2.5.1Offener Dialog und Aufrichtigkeit

2.5.2Direkte Befragung

2.5.3Einseitige Maßnahmen

2.6Sicherer Ort – Verankerung

3Die »Sprache« im Konzept Systemische Autorität

3.1Eine Sprache finden

3.2Sprache als Medium der Kommunikation

3.3Adultismus und der Umgang mit Macht in der Sprache

3.3.1Feindseligkeit und tragische Sicht

3.3.2Tragische Haltung

3.4Eine Sprache von Hoffnung und Perspektive

3.4.1Lösungsfokussierung

3.4.2Vom Zuhören und Verstehen

3.5Aus der Problemhypnose in die Lösungshypnose

3.5.1Verkörperte Erkenntnis und Embodiment

3.5.2Aufstellungsformat »Das transformative Feld«

3.5.3Aufstellungsformat »Das Mischpult«

3.5.4Humor in Beratung und Coaching

3.5.5Zum Nutzen von Metaphern

3.6Eine Sprache der Würde und Empathie: Die Chance der Scham

3.6.1Das transformierende Reframing

3.6.2Zuhören und verstehen

4Ein Leitfaden zum Coaching im Konzept Systemische Autorität

4.1Schutz und Sicherheit: Wer oder was braucht Schutz?

4.1.1Schutz und Sicherheit kann sich auf verschiedene Personen oder Umstände beziehen

4.1.2Schutz von Werten

4.1.3Wem oder was dient die Intervention?

4.2Wer oder was eskaliert in welcher Form? Was kann möglicherweise kurzfristig zur Deeskalation beitragen?

4.3Was genau ist das Problem? Welche Verhaltensweisen oder Zusammenhänge stehen im Fokus?

4.3.1Fokus auf die eigene Präsenz

4.3.2Besuchende, Klagende und Kundige

4.3.3Konkrete Situationsbeschreibungen

4.3.4Beobachtungen sortieren und von Bewertungen trennen

4.3.5Entscheidungen treffen

4.3.6Trennung von Verhalten, Person und Bedürfnis einer Person

4.4Welche Bedürfnisse stehen möglicherweise hinter dem Verhalten?

4.5Wie wirkt sich das dieses Verhalten oder das Problem auf die Präsenz der Verantwortlichen aus?

4.5.1Präsenz – eine kurze Beschreibung

4.5.2Präsenz – Selbstreflexion vor dem Intervenieren

4.5.3Präsenzinterviews

4.5.4Präsenzskalierung

4.5.5Präsenzübungen

4.6Welche Interventionen sind erforderlich, um die Präsenz der Verantwortlichen zu stärken? Die Haltungs- und Handlungsaspekte

4.6.1Reflexion und Entscheidung

4.6.2Selbstkontrolle und Deeskalation

4.6.3Transparenz und Öffentlichkeit

4.6.4Unterstützung und Eingebundenheit

4.6.5Gegenüber und Widerstand

4.6.6Gesten der Beziehung, des Verzeihens und der Versöhnung und die Wiedergutmachung

4.7Was ist der nächste Schritt? Auch wenn er noch so klein ist …

5Das Ich im Wir oder Von der Wachsamen Sorge zur präsenten Organisation

5.1Präsenz eines sozialen Systems

5.1.1Physische Präsenz sozialer Systeme (Sichtbarkeit, Erreichbarkeit)

5.1.2Pragmatische Präsenz sozialer Systeme (Handlungsfähigkeit des sozialen Systems)

5.1.3Internale Präsenz sozialer Systeme (Selbstregulation des Systems)

5.1.4Moralische Präsenz sozialer Systeme (Verbindung zur Quelle, Überzeugung, Wertesystem)

5.1.5Intentionale Präsenz sozialer Systeme (Absicht, Vision, Perspektive)

5.1.6Soziale Präsenz sozialer Systeme (Eingebundenheit im größeren Kontext)

5.1.7Praktische Umsetzung

5.2Transformatives Feld in präsenten Organisationen

5.3Haltungs- und Handlungsaspekte in präsenten Organisationen

5.3.1Reflexion und Entscheidung

5.3.2Selbstführung und Deeskalation

5.3.3Transparenz und Öffentlichkeit

5.3.4Unterstützung und Eingebundenheit

5.3.5Gegenüber und Widerstand

5.3.6Gesten der Beziehung, der Verzeihung und Versöhnung, Wiedergutmachung

5.4Ausblick und Überlegungen

Literatur

Über die Autoren

Vorwort von Arist von Schlippe

Es ist schon viele Jahre, genauer sogar Jahrzehnte her, dass ich meine erste Stelle als frisch examinierter Psychologe in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik antrat. Ich erinnere mich gut an einen meiner ersten Patienten, es war ein etwa 12-jähriger Junge, der wegen einer Reihe von Verhaltensauffälligkeiten auf unserer Station aufgenommen worden war. Die Eltern befanden sich in einem hässlichen Scheidungskampf, und Robert, der einzige Sohn, war darin ziemlich verloren. Als ich ihn in einem Einzelgespräch fragte, was er denn selbst vorschlagen würde, wie man ihn davon abhalten könnte, ständig zu klauen, antwortete er mir: »Schlagen! Man muss mich schlagen – so lange, bis ich es endlich kapier’!«

Die Antwort hatte mich damals zutiefst erschreckt. Wie oft mag er genau diesen Satz in verschiedenen Eskalationsstufen innerfamiliärer Auseinandersetzungen gehört haben: »Wann kapierst du’s endlich?!« Wie mag dieses eingefahrene Muster zwischen Eltern und Kind entstanden sein, und was hatte es in der Seele dieses Jungen angerichtet? Zum einen wurde mir bewusst, wie wenig Zugang der Junge selbst zu seiner inneren Verzweiflung hatte, zum anderen hatte er offenbar auch selbst nur ein einziges Bild davon, wie man mit Problemen in der Familie glaubte fertigwerden zu können: Gewalt. Es passte zu der Art, wie die Eltern miteinander umgingen, auch hier tobte ein Kampf, der von seiner Logik her nur mit dem absoluten Sieg der einen und der absoluten Niederlage der anderen Seite enden könnte. Zugleich zeigten sich aber auch die Eltern selbst im Umgang mit dem Kind am Ende ihrer Möglichkeiten. Elterliche Hilflosigkeit ist ja die Schattenseite der Idee von Macht und Kontrolle: Wer sich nicht durchsetzt, hat in diesem Bild »verloren«. Und ihnen standen offenbar kaum andere Möglichkeiten zur Verfügung, als zu eskalieren, zu eskalieren, zu eskalieren – so lange, bis der andere »es endlich kapiert!«

Die Geschichte hat mich damals sehr beschäftigt, wohl nicht zuletzt, da mir die Familie, jeder für sich, durchaus sympathisch war. Und auch, wenn ich damals weder etwas von Systemischer Therapie wusste noch von den Ideen des gewaltlosen Widerstands, erschien es mir nicht angemessen und zu einfach, die Eltern zu verurteilen. Sie waren keine »Monster«, sondern selbst Gefangene eines bestimmten »Mindsets« – eines mentalen Modells des innerfamiliären Umgangs. Sie erlebten, dass es nicht funktionierte und dass die Eskalation sie immer weiter in Richtung des völligen Zerfalls der Familie führte. Und doch waren sie ihm hilflos ausgeliefert. An dem Beispiel wurde mir erstmals deutlich, wie tief der Glaube bei vielen Menschen zumindest unseres Kulturraums verwurzelt ist, es sei möglich, mit Mitteln von Macht, Kontrolle und, ja, auch Gewalt in einen befriedigenden Zustand zwischenmenschlichen Miteinanders zu gelangen. Es ist ein ganzes Glaubenssystem, das Mitglieder einer Familie – und wohl auch Mitglieder anderer sozialer Systeme – miteinander teilen und das sogar Robert mit einbezog, der mir in diesem Kontext natürlich eher als Opfer erschien. Doch wie würde er wohl später einmal seine Kinder erziehen, wenn sie nicht parierten? Vermutlich auch so lange, »bis sie es endlich kapieren« … Ein solches Glaubenssystem, das sich in Kategorien von oben und unten, von Befehl und Gehorsam erschöpft, kann sich tief in einem Menschen festsetzen und sein Verhalten bis in die Intimbeziehungen hinein beeinflussen.

Eine nicht unwesentliche Frage in diesem Glaubenssystem ist die, wie wir »Autorität« verstehen. Gerade zwischen Eltern und Kindern ist Autorität unumgänglich – irgendjemand muss ja am Ende entscheiden, wann das Licht ausgemacht, der Schulranzen gepackt und die Zähne geputzt werden. Und offensichtlich ist es nicht so einfach, den Raum an Verstehens- und Handlungsmöglichkeiten, den die Notwendigkeit elterlicher Autorität (und darüber hinaus in anderen gesellschaftlichen Bereichen) einfordert, konstruktiv zu füllen. Vielmehr sind wir gebunden an die Bilder von Autorität, die uns als Mitglieder einer bestimmten Kultur angeboten werden.

Kultur ist das große Orientierungssystem, in das wir vom ersten Lebensmoment an eingebettet sind und in dem wir uns bewegen. Kultur lässt sich als Ganzes schon gar nicht und in einzelnen Facetten – wie dem Verständnis von Autorität – auch nicht einfach so, per Knopfdruck, verändern. Ihre Veränderung braucht Zeit, Bewusstheit und Reflexion, Diskurs, Auseinandersetzung und Praxis, vor allem Praxis – und das heißt: Versuch und Irrtum.

Das Versagen des »alten« Autoritätsbegriffes war im Laufe des 20. Jahrhunderts mehr als offensichtlich geworden, auch wenn viele Menschen nach wie vor diesen Vorstellungen anhängen – wie etwa das anfängliche Beispiel von Robert deutlich zeigt. Zwischen der Forderung nach Verständnis und Gewährenlassen, Durchgreifen und Disziplin gab und gibt es wenig klare Orientierung und entsprechend viel Verunsicherung. Vor diesem Hintergrund prägte Haim Omer vor vielen Jahren schon den Begriff der Neuen Autorität, um einen Prozess der Neubesinnung anzuregen. Er machte den Begriff gemeinsam mit mir in Deutschland bekannt (Omer u. von Schlippe 2010). Wir wollten darauf hinweisen, wie gefährlich es sein kann, wenn man versucht, das Thema »Autorität« einfach durch Eliminierung des Begriffs zu erledigen. Viele Geschichten aus der Jugendhilfe bis in die Politik hinein zeigen, dass es da, wo nur die Negation von Autorität gesucht wird, ein verunsicherndes Vakuum entsteht. Wie schnell wird da gefordert, zur »harten Hand« zurückzukehren! Die gesellschaftliche Situation heute unterscheidet sich von der vor einigen Jahrzehnten dadurch, dass sich zunehmend mehr Eltern überfordert und ihren Kindern gegenüber hilflos fühlen. In unseren Studien wiesen zahlreiche der teilnehmenden Eltern Symptome auf, die auf eigentlich behandlungsbedürftige Depressionen hinwiesen. Hilflosigkeit als Antwort auf das Fehlen von Autorität kann sehr gefährlich sein. Denn es fehlt ein Bild davon, wodurch der Begriff auch heute noch auf positive Weise wichtig sein könnte: die Übernahme von Verantwortung, die Klarheit der eigenen Positionierung sowie die Standhaftigkeit, sie zu vertreten und sich dafür einzusetzen.

Doch die Resonanz in verschiedenen Feldern zeigte auch, dass der Begriff »Autorität« auch in der Verbindung mit »neu« in unserem Land ein Reizwort ist. Die Kritik, die sich an unserem Konzept entzündete, hatte mit diesem selbst nur wenig zu tun. Ich war manchmal erstaunt über Argumentationen, die uns plötzlich in eine »rechte Ecke« stellten. Reizworte verführen offenbar dazu, bereits zu »wissen«, welchen semantischen Raum sie eröffnen – eine Einladung dazu, die Personen, die eben jenes Wort verwenden, in eine bereits feststehende Kategorie zu packen, zu werten, zu entwerten, ohne genau hinzuschauen oder zu fragen.

Wie gesagt, kulturelle Veränderungen sind langsam, offenbar brauchen Umdenken und Neu-Denken Zeit und viele unterschiedliche Impulse. Das vorliegende Buch stellt sich in die Reihe dieser Bemühungen, ein menschenfreundliches Verständnis von Autorität zu erarbeiten und Autorität als einen Beziehungsbegriff zu verstehen, der sich nicht im Medium »Macht« bewegt, sondern auf Empathie, affektiver Abstimmung und wechselseitiger Resonanz beruht. Die Gewaltlosigkeit bietet genau dafür ein stabiles Fundament, die Stärke der Faust wird durch die Stärke des Ankers ersetzt, der nicht an Gewinnen oder Verlieren interessiert ist, sondern daran, hartnäckig Beziehung anzubieten. Die Autoren schlagen dabei vor, die begriffliche Vieldeutigkeit des Adjektivs »neu« durch ein neues Adjektiv zu ersetzen und dieses zugleich noch expliziter in bestehenden Denkfeldern zu verorten. Das Beiwort »systemisch«, das sie vorschlagen, ist sicher geeignet, die beschriebenen Missverständnisse und Automatismen zu vermeiden, die sich so schnell wie von selbst einstellen, wenn der Begriff »Autorität« fällt. Zugleich nehmen sie in diesem Buch auf ganzer Linie eine Reihe theoretischer Vertiefungen und Anknüpfungen an neuere Forschungen vor.

Ein beeindruckend großer Fächer mit vielen Facetten wird hier aufgefaltet, dabei stellen sie die verschiedensten Bezüge her – von neuropsychologischen bis zu humanistisch-systemischen Ansätzen –, um die »systemische Autorität« in diesen Denkfeldern zu verorten.

Die Autoren haben dabei seit Beginn ihrer Tätigkeit einen besonderen Fokus auf die Wechselwirkungen zwischen dem Präsenzerleben der Erziehenden bzw. Führenden und den Situationen und Verhaltensweisen, denen sie begegnen. Die Reflexion ihres eigenen Handelns und Erlebens und die daraus abgeleiteten Handlungen zur Stärkung der Präsenz machen deutlich, auf welche Art und Weise einem Verhalten, das sich an der Logik der Macht orientiert, am ehesten zu begegnen ist. Sie verdeutlichen, in welcher Form sich das Konzept im eigenen Handeln und in der eigenen Sprache auf komplexe Weise sichtbar machen lässt. Die Haltungen des Konzepts und die daraus abgeleiteten Handlungen werden sehr anschaulich und unmittelbar praktisch nachvollziehbar vorgestellt.

Lassen Sie sich, liebe Leserin, lieber Leser, durch dieses Buch anregen. Die Bandbreite an theoretischen Perspektiven und die Vielfalt der daraus ableitbaren praktischen Umsetzungsmöglichkeiten bietet einen reichen Schatz, um »Autorität« theoretisch wie praktisch weiterzudenken.

Witten/Osnabrück, im November 2021Arist von Schlippe

Vorwort

Wir freuen uns sehr, dass wir Sie hier beim Lesen unseres neuen Buches begrüßen dürfen.

Unglaublich und doch zeitliche Realität, insofern also »wahr«: Unser Buch Neue Autorität in Haltung und Handlung ist bereits vor drei Jahren erschienen. Seitdem haben wir intensiv über unsere Darstellung und Interpretation des Konzeptes nachgedacht, reflektiert und diskutiert. Dabei ist unser Fokus wieder stärker auf Präsenz – als das Erleben von verantwortlichen Personen in sozialen Situationen und ihren Verhaltensweisen – sowie die in der Präsenz steckende Kraft des wirksamen Handelns gerückt. Intensiv haben wir uns mit den Wechselwirkungsbeziehungen in diesem Zusammenhang beschäftigt.

Gleichzeitig ist mit unserer Tagung in Hannover im April 2018 sowie der 5. Internationalen Tagung in Tel Aviv im Mai 2018 ein Austausch über den Namen des Konzeptes entstanden. Was zunächst »Systemisches Elterncoaching« oder auch »Gewaltloser Widerstand« hieß und 2010 mit dem Buch Stärke statt Macht von Haim Omer und Arist von Schlippe zum Konzept Neue Autorität wurde, sollte jetzt mit qualitativen Beschreibungen ergänzt werden. Wir beschäftigen uns damit im Kapitel 1 »Vom Elterncoaching zur Systemischen Autorität«. Arist von Schlippe hatte durch seine Vorträge in Hannover und Tel Aviv sowie seinen Artikel in Neue Autorität – Das Handbuch einen inspirierenden Anteil daran. Wie wir beschreiben, hat uns dies zum Namen »Systemische Autorität« geführt. Als wir mit dem Carl-Auer Verlag über die Frage nachgedacht haben, ob es eine neue Auflage oder ein ganz neues Buch geben soll, war schnell klar: Der Titel ist neu und der Inhalt stark weiterentwickelt – also ein neues Buch.

In dieser Zeit haben wir uns außerdem verstärkt mit der Frage auseinandergesetzt, welche »Sprache« diesem Konzept zugehörig ist. Angeregt durch Rückfragen von Seminarteilnehmerinnen sind uns dabei zunächst unsere eigenen Muster in der Begegnung mit Klienten und der Durchführung von Seminaren und Projekten in den Blick gerückt. Sprache meint in diesem Zusammenhang die Kommunikation, das gesamte Vorgehen, die Absicht – gespiegelt und reflektiert an den Grundhaltungen des Konzeptes Systemische Autorität. So nimmt dieser Teil der Beschreibung, neurobiologisch unterlegt, einen großen Teil unseres neuen Buches ein.

Nicht zuletzt ist die kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept an verschiedenen Stellen daran orientiert gewesen, welche Haltung und Werte in der Umsetzung des eigenen Handelns gezeigt worden sind. So haben wir in diesem Buch unsere Gedanken zur Umsetzung des Vorgehens beschrieben und dieses Vorgehen als komplexes Muster von »Sprache« verstanden. Die zugrunde liegende Haltung orientiert sich für uns an drei Kernwerten: Sicherheit, Verbundenheit und Autonomie. Dies haben wir »transformatives Feld« der Entwicklung genannt, weil die Orientierung an diesen Kernwerten uns hat erleben lassen, dass der daraus entstehende Resonanzraum Entwicklungen ermöglicht, die zuvor nicht mehr möglich erschienen.

Zudem haben wir uns damit gefragt, ob es eine Präsenz von komplexen sozialen Systemen, von Organisationen gibt. Präsenz als Reflexion des Erlebens haben wir somit von der persönlichen Ebene auf eine organisationale Ebene gehoben. Insofern ist das Prozessdynamische Modell, welches wir schon 2019 in Neue Autorität – Das Handbuch beschrieben haben, erweitert worden zu einem Prozessmodell einer »präsenten Organisation«.

Weiter findet sich in diesem Buch die Aktualisierung des Leitfadens, den wir als praktische Anleitungsorientierung verstehen. Verschiedene Interventionen und Erfahrungen mit diesen sind eingeflossen – vielfach von den Menschen, mit denen wir gemeinsam in Projekten tätig sein dürfen.

Oft haben wir den Eindruck, dass sich das Konzept Neue oder Systemische oder Verbindende Autorität in einer intensiven Entwicklung befindet, die mit diesem Buch lediglich einen Zwischenstand erreichen wird. Dies ist für uns allerdings ein wesentlicher Schritt!

Alles in allem musste es also ein neues Buch sein. Wir freuen uns sehr über diese Entwicklung und stehen häufig selbst staunend vor dem, was alles noch möglich erscheint.

Wir möchten intensiv Danke sagen für all die Unterstützung, die wir beim Schreiben des Buches erlebt haben.

Insbesondere gilt dieser Dank unseren Familien, vor allem unseren Partnerinnen Anne und Silvia, die ein ums andere Mal in der Freizeit auf uns verzichten mussten und dies sicherlich nicht immer gerne und doch aus intensiver Unterstützung heraus gemacht haben. Wir danken Euch sehr dafür!

Weiter möchten wir Dagmar Hoefs, Harald Kurp und Frank Baumann-Habersack danken, die uns mit ihren Ideen und Anregungen immer wieder achtsam und wachsam in der Reflexion halten. Wir erleben gemeinsam immer wieder Momente von neuer Erkenntnis und Transformation.

Arist von Schlippe gilt unser Dank, da er uns in der Entwicklung an den verschiedensten Stellen entscheidend inspiriert und gefördert hat – ohne ihn wären wir nicht an dieser Stelle. Umso mehr freuen wir uns über sein Vorwort zu diesem Buch – eine große Ehre für uns.

Danken möchten wir auch unseren Trainerinnen und Trainern, die mit uns gemeinsam das Konzept Systemische Autorität vermitteln und weitertragen. Wir wissen, dass wir sie mit unseren steten Ideen von Weiterentwicklung stark herausfordern. Umso mehr wissen wir auch ihre Loyalität zu schätzen.

Und wir danken sehr dem Carl-Auer Verlag, in dem wir einen verlässlichen und freundschaftlich verbundenen Verlag gefunden haben, der unsere Ideen fördert und in die Öffentlichkeit trägt.

Oktober 2021Martin Lemme & Bruno Körner

1Grundlagen

1.1Vom Elterncoaching zur Systemischen Autorität

1.1.1Der Weg zum neuen Namen

Seitdem das Konzept Neue Autorität (Omer u. von Schlippe 2010) bekannt geworden ist, gibt es Überlegungen, dass es eigentlich anders heißen müsste. Die Reaktionen, die wir bei Diskussionen in zahlreichen Fachkreisen zu diesem Titel erlebt haben, sind vielfältig. Zunächst störten sich viele am Begriff der Autorität und verbanden damit eher negativ geprägte Erfahrungen wie »autoritär«, »machtvoll« oder »von oben herab«. Wir beobachteten dies vor allem bei denen, die ihre berufliche Tätigkeit schon länger ausübten und in ihrer Kindheit durchaus Erfahrungen mit dem Widerspruch von autoritärer und antiautoritärer Autorität gemacht hatten. Je länger insbesondere Schulerfahrungen her sind, desto mehr wurden autoritäre Maßnahmen von gesellschaftlich anerkannten Autoritäten kritisch gesehen. Bei der Anmeldung unseres Instituts SyNA (Systemisches Institut für Neue Autorität) bekamen wir vom Vorstand der DGSF die Rückmeldung, der Name erinnere sie eher an rechtsnationale Ideen, die nicht zu unseren Inhalten und Grundlagen, vorrangig dem Gewaltlosen Widerstand, passten. Sie empfahlen uns, einen anderen Namen zu wählen.

Wir sind dennoch bei dem Namen geblieben. Neue Autorität sollte sich von bisherigen Mustern absetzen und ein Pendant zu einer »alten« oder »traditionellen Autorität« anbieten. So führten Omer und von Schlippe diesen Namen ein, als sich das Konzept des Elterncoachings bzw. des Gewaltlosen Widerstands von einem Krisenmodell zu einem umfassenderen Pädagogik-Konzept entwickelte.

Wir haben uns lange mit der Frage beschäftigt, welche inhaltliche Bedeutung der Begriff »neu« bei der Neuen Autorität hat: Welche Sinnhaftigkeit hat er möglicherweise über das andere, was sich jetzt als neu zeigt, hinaus? Diese Auseinandersetzung erzeugt einen Spannungsbogen, der von Beginn an auch die Diskussionen im Konzept selbst geprägt hat und auf den wir in diesem Kapitel zurückkommen wollen.

1999 kam Haim Omer1 auf Einladung von Arist von Schlippe2 erstmalig nach Deutschland und stellte in einem internen Kreis des Instituts für Familientherapie Weinheim (IFW) das Konzept des Gewaltlosen Widerstands im Kontext von hocheskalierten Familiensystemen vor. Von Schlippe (2019) schreibt dazu:

»In den ersten Jahren hatten wir uns intensiv und kontrovers mit der Frage auseinandergesetzt, inwieweit es auch im gewaltlosen Widerstand um das Thema ›Macht‹ gehe. Haim bestand darauf, dass es, wenn auch gewaltlos, in jedem Fall um den Kampf um Macht gehe, ich neigte eher dem Pol zu, den wir bei Bateson besonders deutlich vertreten sehe: den Glauben an den ›Mythos der Macht‹ als den zentralen erkenntnistheoretischen Irrtum der Menschheit zu sehen, der diese an den Rand des Abgrunds führt – und, wer weiß, vielleicht ja auch noch darüber hinaus« (ebd., S. 98). Und weiter: »Der Mythos der Macht besteht aus dieser Sicht in der irrigen Idee, mit Mitteln von Manipulation, Kontrolle und Macht jemals in einen befriedigenden Zustand zwischenmenschlicher Beziehungen gelangen zu können.«

Dieser Dialog führte in der weiteren Entwicklung zu Begriffen, die beides miteinander verbanden und bei Eltern wie Eltern- und Familienberaterinnen3 zu Verständnis und Zustimmung führten: Wachsame Sorge oder Ankerkonzept. Gleichwohl blieb aus unserer Sicht seitdem auch die Diskussion in den verschiedenen Umsetzungen und Publikationen sichtbar und führte zur beobachtbaren Differenzierung zwischen einerseits eher pragmatisch orientiertem Handeln nach Vorgaben (Protokollen, stärker verhaltenstherapeutisch ausgerichtet) und andererseits selbstreflexivem Handeln, bei dem die Wechselwirkungsbedingungen in den Familien wie im Beratungssetting selbst fokussiert werden. Am intensivsten zeigt sich dies für uns am Begriff der Präsenz, der in einigen Beschreibungen stärker als ein durch gewaltfreie Grundhaltungen geprägtes Handeln von Dasein und Verbindlichkeit dargestellt wird (s. »7 Säulen der Neuen Autorität« in Körner 2019, S. 21).

Wir hingegen verstehen Präsenz als ein Reflexionsinstrument für das eigene Erleben einer Situation bzw. einer Handlung (s. »Prozessdynamisches Modell der Präsenz«, Kap. 2). Diesen Spannungsbogen haben wir als Autoren des Handbuchs Neue Autorität in einem Grundlagenkapitel diskutiert. Aus dieser Selbstreflexion heraus ergeben sich fast zwangsläufig Handlungen, die die eigene Präsenz stärken, um die Verbundenheit wiederherzustellen. Sicherlich hat dieser Umstand auch damit zu tun, dass das Elterncoaching zunächst ein Krisenmodell war, welches in Familien, in denen es zu einer Gewaltumkehrung gekommen ist, den Eltern wieder mehr Handlungsmöglichkeiten liefern sollte. In diesem Zusammenhang ist der Begriff der Autorität zu sehen, da es Omer und von Schlippe um die Wiederherstellung der elterlichen Autorität ging. In unseren Darstellungen gilt die Präsenz als Quelle und Grundlage von Autorität.

Doch kommen wir zunächst darauf zurück, wie aus unserer Sicht der Entwicklungsprozess des Konzepts begonnen hat. Im April 2002 fand die erste uns bekannte Tagung mit Haim Omer an einer Fachhochschule in Würzburg statt, im Herbst 2002 die erste Tagung in Osnabrück in Kooperation der Uni Osnabrück mit dem IFW4. An dieser Stätte fanden zwischen 2002 und 2012 insgesamt 5 Tagungen statt. Gleich nach der ersten Osnabrücker Tagung kam eine Gruppe von Systemischen Therapeuten und Beraterinnen zusammen, zu der auch wir gehörten, die wir zunächst von Haim Omer weitergebildet wurden, später von Uri Weinblatt und Idan Amiel. 2004 traf sich während der Tagung eine kleinere Gruppe, die sich mit der Umsetzung des Konzeptes im System Schule beschäftigte, erste Ideen wurden bereits 2006 in der dann dritten Tagung vorgestellt. Zuvor starteten in Joint-Ventures an Modellschulen erste Experimente, die ab 2007 in Osnabrück und dem dazugehörigen Landkreis zu finanzierten Modellprojekten wurden.

Während dieser ersten Jahre gab es auch beim IFW erste Seminare (Michael Grabbe, Bruno Körner u. a.), in denen das Elterncoaching vermittelt wurde. 2006 entwickelten dann Arist von Schlippe, Michael Grabbe und wir ein Curriculum, welches im IFW u. a. von uns umgesetzt wurde. Neben den Büchern von Omer und von Schlippe entstanden in dieser Zeit mehrere Publikationen (Schlippe u. Grabbe 2007; Grabbe, Borke u. Tsirigotis 2013; Körner u. Lemme 2011) u. a. in der Zeitschrift Systhema sowie die Promotionsarbeit von Barbara Ollefs (2009).

Uns war in dieser Phase genauso wie heute besonders der Selbstreflexionsprozess im Sinne der Betrachtung von zirkulären und wechselwirkungsbedingten Zusammenhängen wichtig – sowohl in der Vermittlung an die Klientinnen als auch in der Betrachtung unserer eigenen Beratungs- und Therapierolle. Dies entstand aus unserer Praxis, in der wir erlebten, dass kein Coaching dem anderen glich und es für die Familien, Teams und Kollegien zunächst wichtig war, aus den Mustern von Machtlogik und Eskalation auszusteigen.

Während Eltern wegen ihrer in der Regel hilflosen Situation zu uns kamen und daher eher in einer hilfesuchenden Rolle waren, diskutierte man in verschiedenen Schulkollegien kontrovers über diesen Umstand. Die Idee, die eigene Präsenz zu verändern und sich in Standhaftigkeit, Beharrlichkeit und Selbstregulation zu üben, ohne Sanktionen und Strafen einzusetzen, zudem dennoch Kooperationsangebote an die Schülerinnen und Schüler zu machen, stellte manche vor eine große Herausforderung. Dazu kam sicherlich auch unser Anspruch, ein besseres – eben neues – Konzept dem weniger guten – eben alten – Konzept entgegenzustellen, es quasi auszuwechseln. Das führte zu manch herausfordernder Fortbildung mit teilweise auch weniger guten Erinnerungen.

Nach und nach verstanden wir, dass unsere Kundinnen dann profitierten, wenn wir selbst in dem, was wir vermitteln, das taten, was wir ihnen vermitteln wollten. Wir betrachteten also zunehmend nicht nur das Handeln im Vermitteln, sondern auch, welche Präsenz wir selbst in der Beziehung zu unseren Klientinnen an den Tag legen. Dies bezieht sich sowohl auf konkrete Beratungen, Therapien und Coachings wie auch auf Fort- und Weiterbildungen sowie Seminare.

2012 gründeten wir unser eigenes Institut und nannten dies schon bezeichnenderweise »Systemisches Institut für Neue Autorität«, betonten also die uns wichtige systemische Grundlage des Konzepts. In der Seminarvermittlung fiel uns auf, dass viele Teilnehmende von den bisherigen Büchern fasziniert waren, die Umsetzung aber als große Herausforderung empfanden. In der Folgezeit entwickelten wir den Leitfaden als Orientierung im Vorgehen, der vor allem die Anteile der Selbstreflexion beschreibt (s. Kapitel 4).

Schließlich entstand in unserer Beschreibung das Prozessdynamische Modell, welches als systemisches Betrachtungsmodell das Vorgehen im Konzept darstellt und die Selbstreflexion vor das (schnelle) Handeln stellt – zumindest, solange kein akuter Schutz notwendig erscheint. Das Prozessdynamische Modell stellen wir in diesem Buch in Kapitel 2 in der aktualisierten Form dar. Ein Bestandteil dieses Modells ist das transformative Feld, welches die Kernwerte der Haltung und des Handelns beschreibt und zudem eine Selbstreflexionsmöglichkeit ist.

Mit der Entwicklung dieses Modells war uns klar, dass wir uns nicht mehr im Kontext von Neuer Autorität befinden. Auf unserer 4. Tagung 2018 an der FH in Hannover stellten wir die Frage: »Neue Autorität – ein systemisches Konzept?!« Wir wollten somit auch zur Entwicklung eines neuen Namens für das Konzept anregen. Arist von Schlippe (2019) stellte sich dieser Frage sowohl auf dieser Tagung wie auf der 5. Internationalen Tagung 2018 in Tel Aviv und führte dies im Handbuch Neue Autorität aus. Er macht deutlich, dass ein Konzept, welches mit dem Kontext der Macht verbunden wird, berücksichtigen sollte, dass es verschiedene Möglichkeiten der Begegnung mit den Klientinnen gestaltet, sodass diese in ihrer jeweils eigenen Sprache angesprochen werden könnten. Diese Mehrsprachigkeit, die letztlich auf intensivem Zuhören beruht, lässt sich nach seinen Überlegungen auch durch den Begriff der Präsenz und deren Reflexion ermöglichen:

»Im Elterncoaching und weiter gefasst in aller sozialer Praxis, die sich auf den gewaltlosen Widerstand beruft, werden die Ratsuchenden, Eltern und andere (etwa Führungskräfte, vgl. Baumann-Habersack 2017), angeregt, ihre ›Präsenz‹ zu verwirklichen. Diese Präsenz, und das ist die zentrale Aussage meines Beitrages, stellt eine Kontextmarkierung dar, die es dem Kommunikationssystem erlaubt, das Medium zu wechseln, also aus dem Medium Macht in ein anderes Medium umzuschalten« (von Schlippe 2019, S. 100–101).

Die so verstandene Präsenz können wir folgerichtig nicht mehr als ein Handlungsakt verstehen, sondern sie benötigt ein Verstehen und Einfühlen, welches nur mit einer entsprechenden vorherigen (Selbst-)Reflexion möglich ist.

So haben wir uns, gemeinsam mit Dagmar Hoefs und Harald Kurp, dazu entschieden, unseren Ansatz als das Konzept Systemische Autorität zu bezeichnen. Dies soll verdeutlichen, dass die Wechselwirkungsbeziehungen im Sinne eines Selbstreflexionsprozesses im Mittelpunkt stehen.

In der internationalen Landschaft wird ebenfalls ein Wechsel des Namens erwogen, derzeit hat Eliane Wiebenga auf der 6. Internationalen Tagung im Mai 2021 »Verbindende Autorität« vorgeschlagen. Frank Baumann-Habersack (2021) nennt seine Darstellung des Konzepts »transformative Autorität«.

1.1.2Umgang mit Kritik am Konzept Neue Autorität

Ein weiterer Anstoß für die Notwendigkeit eines neuen Namens für das Konzept war die zwischenzeitliche Kritik am bestehenden Konzept Neue Autorität. In einer Hamburger Zeitschrift wurden 2016 und 2019 Artikel veröffentlicht, die sich mit diesem Ansatz kritisch auseinandersetzten. Dabei ging es den Autorinnen offensichtlich weniger um die fachliche Diskussion, sondern – so lässt sich aus dem Tonfall des Artikels schließen – um die vollständige Ablehnung dieses Konzepts, das als kinderrechtsverletzend angesehen wurde. Sowohl Arist von Schlippe als auch wir selbst bezogen uns in den Antworten wiederholt auf die Selbstreflexion als Grundlage allen Handelns, um den Kern der Vorgehensweisen verständlich zu machen.

Was diese Diskussion in nachhaltiger Weise ausgelöst hat, ist eine vertiefte Selbstreflexion vieler Personen, die dieses Konzept vertreten, sowie die Reflexion ihrer Handlungen. Folgendes wurde deutlich: Insbesondere dann, wenn es um die Wiederherstellung von Autorität ohne die Selbstreflexion der eigenen Präsenz geht, können auch Maßnahmen und Vorgehensweisen des gewaltlosen Widerstandes missbräuchlich im Sinne von Machtinteressen eingesetzt werden. Das rein pragmatische Handeln kann Gefahr laufen, im Medium von Macht gefangen zu bleiben. Grigat und Kollegen (2021) sehen diesbezüglich eine hohe Anforderung an die Persönlichkeit der Mitarbeitenden und die Notwendigkeit einer reflektierenden Auseinandersetzung. Sie kritisieren, dass insbesondere in erzieherischen Zusammenhängen systemische Methoden von den zugrunde liegenden Annahmen und Haltungen losgelöst verwendet würden (ebd., S. 188). Interessanterweise nehmen diese Autoren die Unterstützung der Eltern als einseitig wahr, was vermuten lässt, dass sie die Unterstützung nicht als die Stärkung der Verbundenheit auffassen. Dies erscheint auch uns als wichtiger Aspekt, da wir als sinngebend eben nicht die Stärkung der Autorität an sich, auch nicht die Stärkung der elterlichen Präsenz losgelöst von deren Ziel dieser losgelöst sehen, sondern Präsenz das Ziel hat, die Beziehung zwischen den verantwortlich Führenden (Eltern, Pädagoginnen, Führungskräfte) zu stärken und die Entwicklung der anvertrauten Personen zu fördern. Unterstützung und übrigens auch alle weiteren Maßnahmen sind damit nicht parteilich in Bezug auf Personen, sondern parteilich für die Verbesserung des Kontaktes zwischen ebendiesen Personen.

Insofern betrachten wir das Element der Kommunikation als Gegenstand systemischer Interventionen im Konzept Systemische Autorität. Wir werden im Folgenden noch darstellen, dass wir den systemischen Grundannahmen folgen, in denen die Elemente eines Systems aus einer entsprechenden Perspektive nicht die Personen im System sind, sondern die Beziehungen dieser Personen untereinander. Diese sind durch die Kommunikation – ihre Sprache in der komplexesten Form – zu beobachten. Insofern sind alle Handlungen in diesem Konzept auf die Stärkung, Entwicklung und Verbesserung dieser Kommunikation ausgerichtet, sodass die Verbundenheit wächst und sich alle Beteiligten im gemeinsamen Tun orientiert und sicher wissen und dabei autonom entscheiden können, wie sie sich in Bezug auf das Geschehen im System verhalten.

Ein weiterer Aspekt des Anspruchs, im Titel bereits zu verdeutlichen, dass systemische Grundprinzipien eine Rolle spielen, ist der Umstand, dass statische Darstellungen die Idee von linearen Vorgehensweisen schneller nähren, als wenn in Prozessverläufen und Handlungsfeldern zwangsläufig die Reflexion und Auseinandersetzung nachvollziehbar wird. Auch wenn manche Handlungen zur Stärkung der Präsenz von verantwortlichen Personen schlicht und einfach aussehen mögen, so ist uns wichtig zu betonen, dass sie im Kontext ihrer Bedeutung und Sinnhaftigkeit zu betrachten sind. Letztlich bekommen alle Vorgehensweisen im Modell die Perspektive einer Lösungsfokussierung, da es nicht allein um das Vermeiden von bisherigen Verhaltensmustern geht, sondern um die Entwicklung von Interaktionen, die mehr Verbundenheit, Sicherheit und Autonomie aller Beteiligten herstellen sollen.

Nach all diesen Überlegungen und Reflexionen war uns bewusst, dass wir in der Beschreibung des Konzeptes sinnstiftende und orientierende Merkmale sichtbar machen wollen.

Daher der neue Name: Systemische Autorität.

1.2Ausflug in die neurobiologischen Grundlagen5

Menschliches Verhalten, da ist sich die aktuelle Wissenschaft einig, ist darauf ausgerichtet, uns möglichst überdauernd und optimal an die Umweltbedingungen anzupassen und damit unser Überleben zu sichern (vgl. Porges 2010). Wir Menschen orientieren uns in der Begegnung mit unserer Umwelt permanent an unseren inneren sowie äußeren Wahrnehmungen – und das, ohne dass es uns zunächst bewusst ist. Unser autonomes (oder vegetatives) Nervensystem (ANS) – also derjenige Teil des zentralen Nervensystems, auf den wir keinen bewussten, willentlichen Einfluss haben – scannt unsere Umgebung über die Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Spüren, Schmecken) und unseren eigenen Körper (u. a. auch die inneren Organe) nach Signalen ab, die eine Einschätzung der Situation ermöglichen. Die Ergebnisse kategorisiert es nach dem Grad der Gefährdung bzw. der Sicherheit, der sich für uns daraus ergibt. Stephen Porges beschreibt diesen andauernden Prozess in seiner Polyvagal-Theorie (PVT) als Neurozeption (Porges 2004). Unser Nervensystem verarbeitet demnach weit vor der kognitiven Erfassung und der bewussten Reflexion einer Situation eine Vielzahl von Informationen, die bereits zu einer Verhaltenssteuerung führen, bevor wir eine bewusste Entscheidung darüber treffen. Bindungs- und beziehungsstabilisierender Austausch findet in der Regel dann statt, wenn das System der Neurozeption einen Status der Sicherheit zurückmeldet und die Verteidigungsmechanismen wie Kampf- und Fluchtverhalten sowie Immobilisation bzw. Dissoziation nicht aktiviert werden. Unter entspannten, als sicher erlebten Bedingungen können wir effektiv sozial kommunizieren und interagieren, zuhören und empathisch sein (ebd.). Damit schafft das System der Neurozeption die Voraussetzung für sozialen Kontakt und damit für menschliches Bindungsverhalten. Porges (2004, 2006, 2010, 2018) beschreibt damit ein grundlegendes Erklärungsmodell für unser (Präsenz-)Erleben – aber auch für viele andere in Psychologie und Soziologie beschriebene Phänomene wie Bindung, Gedächtnis, Embodiment, Resonanz und Empathie.

Apropos Empathie: Joachim Bauer (2020) sieht sie als tiefsten Erfahrungs- und kraftvollsten Handlungsraum, den die Menschen von der Evolution mitbekommen haben:

»Empathie hat ihren Ursprung in der zwischenmenschlichen Beziehung. Sie ist keine angeborene Eigenschaft, ihr Erwerb gehört jedoch zum Entwicklungsprogramm, welches die Natur für den Menschen vorgehen hat« (ebd., S. 12).

Dabei beschreibt er in seinem Modell, dass diese Eigenschaft auch später, im Jugend- oder Erwachsenenalter etwa, noch erlernbar ist – selbst dann, wenn die vorherigen Erfahrungen von wenig Empathie geprägt gewesen sind. Empathie benötigt ein Gegenüber, welches in gleichem Maße empathisch und orientierend eine Spiegelungs- und Resonanzreaktion zeigt, sodass sich eine gemeinsame Resonanz zirkulär entwickelt. Diese entwickeln dann die Selbst-Netzwerke weiter. Menschen, die sich begegnen und eine Bedeutung füreinander haben, erscheinen demnach neuronal verbunden. Wir werden diesem Phänomen im vorliegenden Buch wiederholt begegnen, denn es erklärt das Prozessdynamische Modell ebenso wie die entsprechend sichernde, orientierende und empathische Begegnung und praktische Umsetzung im Konzept Systemische Autorität.

Doch gehen wir der Reihe nach vor, um die Details zu erläutern.

1.2.1Menschliche Absicherung

Porges (2018) beschreibt in der PVT drei unterschiedliche neuronale Schaltkreise und Reaktionsschemata, die je nach Situationsbewertung durch die schon genannte Neurozeption aktiviert werden:

•das Social Engagement System (SES) – das soziale Aktivierungssystem als Grundlage sozialer Interaktion

•die Kampf- oder Fluchtreaktion – die Mobilisierung des Körpers

•die Erstarrungsreaktion – die Immobilisation des Körpers.

Die PVT stellt damit eine Erweiterung der bisher gängigen antagonistischen Theorie dar, in der das sympathische Aktivierungssystem und das parasympathische Entspannungssystem sich in ihrer Wirkweise abwechseln. Porges (ebd.) beschreibt innerhalb des parasympathischen Systems zwei unterschiedliche Nervenzweige: den dorsalen (rückwärtigen) und den ventralen (vorderen) Vagus. Dieser ventrale Vagus ist für das bereits erwähnte Social Engagement System (SES), also das soziale Aktivierungssystem, zuständig und stellt eine wesentliche Voraussetzung für Kommunikationsfähigkeit und Empathie dar. Wird durch den Prozess der Neurozeption ein Status der Sicherheit gemeldet, werden dieser Zweig und damit wesentliche Funktionen und Areale (s. Abb. 1) aktiviert, die wir für unsere Interaktion benötigen. Dieser Zweig ist myelinisiert, d. h. von einer isolierenden Markscheide umgeben, und daher reaktionsschneller (»smarter«, vgl. Porges 2010) als der nichtmyelinisierte dorsale Zweig.

Abb. 1: Sicherungssysteme des Menschen

Wie wohl allgemein bekannt sind die Sicherungssysteme des Menschen im Laufe seiner Entwicklung entstanden. Die Schreckstarre (Immobilisation) ist bei Reptilien zu beobachten, die zu den entwicklungsgeschichtlich ältesten Lebewesen zählen. Dort ist bereits der dorsale Vagus mit seiner Funktion der Immobilisierung zu finden, der am hinteren Kern des Hirnstamms ansetzt, also am evolutionsgeschichtlich ältesten Teil unseres Gehirns. Er steuert die überlebenswichtigen Funktionen wie Atmung, Blutdruck, Reflexe u. a. m. Diese Funktionen werden bei Gefahr heruntergeregelt, sodass das Erstarren (»Totstellreflex«) als Mittel zur Verteidigung möglich ist. Reptilien benötigen diese Funktion beispielsweise, wenn sie lange untertauchen (wie Krokodile) oder bestimmte Stoffwechseländerungen (wie Schlangen) durchlaufen müssen. Bei Menschen kennen wir dies als Schockreaktion in traumatisch erlebten oder besonderen Notsituationen. Das beginnt bei kurzen Bewusstseinsaussetzern (Dissoziation) und kann bis zur Ohnmacht führen. Dabei wird u. a. das Schmerzempfinden reduziert, was bei entsprechenden körperlichen Erlebnissen hilfreich sein kann. Über eine längere Zeit stellt dieser Zustand eine gesundheitliche Gefährdung für den Menschen dar, da der Organismus nur noch die überlebenswichtigen Funktionen versorgt, was auch eine längerfristige Unterversorgung des Gehirns bedeuten kann.

Mit der Entwicklung der Säugetiere entwickelte sich die Möglichkeit der Sicherung durch den Sympathikus, den Aktivierungsnerv, der für eine maximale Mobilisierung der Kraftressourcen sorgt. Damit wurden Kampf- und Fluchtreaktionen in dynamischer Art und Weise möglich. In lebensgefährlichen Situationen sind diese Verhaltensweisen auch für den Menschen sehr sinnvoll Sinn und ermöglichen ihm, auf eine Situation, die er als gefährlich wahrgenommen hat, intensiv und dynamisch zu reagieren. Dabei kann es passieren, dass eine Situation als so unangenehm wahrgenommen wird, dass sie zu einer entsprechenden Reaktion führt, obwohl sie von außen gesehen nicht im herkömmlichen Sinne als lebensgefährlich gilt. Dieses Phänomen kennen wir beispielsweise bei Menschen mit starker Angst oder auch intensiver Scham. Das Gefühl wird als so unangenehm erlebt, dass eine entsprechende sympathische Reaktion der Vermeidung oder der Aggression erfolgt. Das reflektierte Denken darüber ist unter der Wahrnehmung von heftigen Emotionen eben nicht oder nur schwer möglich.

Diese Überlegungen führen uns in der evolutionären Entwicklung zur Trennung des Vagusnervs in die beiden Zweige, den ventralen und den dorsalen. Der ventrale Vaguszweig ist damit der jüngste Teil im Sicherungssystem des Menschen. Säugetiere lebten zunehmend in Gruppen zusammen und entwickelten soziale Netzwerke mit entsprechenden Kommunikationsstrukturen. Diese Fähigkeit der Kommunikation als Voraussetzung für die Bildung von Netzwerken ist wohl letztlich auch der Grund für das bisherige Überleben des Menschen in der Evolution. Allerdings führt dies in der aktuellen Zeit auch zur zunehmenden ökologischen Ausbeutung der Erde, da wirtschaftliche Entwicklung und Reichtum als sicher wahrgenommen werden, viele aber die aktuelle Bedrohung für das Leben auf der Erde noch nicht als Gefahr erleben. Der ventrale Vagus führt zur Entwicklung des SES, das uns komplexe Kommunikation mit anderen und unserer Umwelt sowie die differenzierte Betrachtung von Situationsmerkmalen und Handlungsoptionen ermöglicht.

Die Nutzung der Systeme erfolgt hierarchisch in umgekehrter Reihenfolge zur evolutionären Entwicklung. Wie in Abbildung 1 dargestellt werden die Informationen, die wir über den Prozess der Neurozeption erhalten, gefiltert. Ergibt sich der Aspekt von Sicherheit, wird vorrangig das neueste System, das SES (durch den »smarten« ventralen Vagus), aktiviert. Über die sogenannte vagale Bremse, die zwischen dem Vagus und dem Sympathikus wirkt, beeinflussen sich Herz- und Atemfrequenz gegenseitig. So wird etwa die Herzrate in der Ausatemphase rhythmisch gedämpft. Das vermittelt Ruhe und Sicherheit, die Basis für soziale Verhaltensmuster wie Kontaktaufnahme, Zuhören, Empathie und Kommunizieren. So erklärt sich auch der Einsatz atmungsentspannender Möglichkeiten bei Entspannungsverfahren. Bei Überforderung angesichts einer als gefährdend bewerteten Situation erfolgt jedoch die Aktivierung des darunterliegenden Sympathikus mit seiner Mobilisierungsstrategie, einhergehend mit einer massiven Einschränkung der Kommunikationsfähigkeit und der gleichzeitigen Mobilisierung von Kampf- oder Fluchtverhalten. Wir alle kennen die Erfahrung, dass unter emotionalem Stress reflektiertes Denken weniger gut bis gar nicht mehr möglich ist. Wenn auch diese Strategie nicht mehr verfügbar ist oder nicht den gewünschten Erfolg der Emotionsregulation erbringt, tritt der dorsale, archaische Zweig des Vagus in Kraft.

Porges (2004, 2018) erklärt, warum die dorsale Reaktion der Reptilien auch für uns Menschen heute in einer angepassten Form noch wichtig ist. Säugetiere und Menschen immobilisieren sich nicht nur im Rahmen der Defensivstrategie, sondern auch für ganz wesentliche prosoziale Aktivitäten, wie beispielsweise Intimität und Sexualität, aber auch bei der Geburt, dem Stillen und der Versorgung von Neugeborenen:

»Durch den Prozess der Evolution wurden neurale Regelkreise im Gehirn, die ursprünglich am Erstarrungsverhalten beteiligt waren, modifiziert – um intimen sozialen Bedürfnissen zu dienen« (Porges 2004, S. 21).

Diese angepasste Reaktionsform des archaischen Erstarrungsmusters wird durch die Bildung von Oxytocin, dem sogenannten Bindungshormon, unterstützt. Es entwickelten sich im Lauf der Zeit spezielle Rezeptoren für dieses Neuropeptid, das u. a. während des Geburtsprozesses und beim Stillen ausgeschüttet wird, aber auch während Aktivitäten, in denen wir soziale Bindungen eingehen, wie Partnerschaften und Beziehungen.

Nehmen wir also unsere Umgebung als sicher wahr, unterstützt die Freisetzung von Oxytocin, dass wir die Begegnung genießen und uns sozusagen bis zur Bewegungslosigkeit ohne Hemmung fallen lassen können. Andersherum gilt:

»Identifiziert unser Nervensystem jemanden als gefährlich, dann wird kein Oxytocin freigesetzt, und wir wehren den Versuch einer anderen Person ab« (ebd., S. 21).

Hier zeigt sich, welche Bedeutung die PVT für bindungstheoretische Konzepte und unser Verständnis kindlicher Reaktionen auf seine Umgebung und deren Reaktionsweise und Gestaltung hat. Und auf diese Art und Weise erklärt sich, wie es möglich ist, durch die Begegnung mit einer Person als Gegenüber sowohl in der frühen wie auch in der späteren Entwicklung des Menschen Empathie zu entwickeln.

SESSystem sozialen Engagements

Augenkontakt Gesichtsausdruck Stimme, Atmung, Kommunikation, Empathie, Verstehen, Gedächtnis

Ventralparasympathischer Zweig des Vagusnervs: Innere Organe, Sinneswahrnehmungen …

Mobilisation:Kampf vs. Flucht Aggression vs. Vermeidung

Erhöhung der metabolischen Aktivität, Hyperarrousal, Kraftentwicklung, Dynamik

Sympathikus (Nervensystem der Aktivierung des Körpers)

Immobilisation:Dissoziation Erstarrung Ohnmacht

Unterdrückung der metabolischen Aktivität, dissoziiertes Kollabieren, Herunterfahren der Schmerzgrenze und Atmung

Dorsalparasympathischer Zweig des Vagusnervs: Rückenmark, nicht myelinisiert

Abb. 2: Zusammenhänge im System sozialen Engagements

Das SES (s. Abb. 2) verfügt über die strukturellen Anlagen und Möglichkeiten,

»unsere Gesichts- und Kopfmuskeln über Pfade steuern zu können, die den Kortex mit dem Stammhirn […] verbinden« (ebd., S. 22).

Damit beeinflusst das SES folgende Muskelgruppen:

•die Öffnung der Augenlider – und damit das Sehen

•die Gesichtsmuskeln – und damit unseren emotionalen Ausdruck

•die Muskeln des Mittelohres – und damit das Herausfiltern menschlicher Stimmen aus Hintergrundgeräuschen

•den Kaumuskel – und damit die Nahrungsaufnahme und Verdauung

•die Kehlkopf- und Rachenmuskeln – und damit beispielsweise die Prosodie (Sprachmelodie)

•das Zur-Seite-Neigen und das Drehen des Kopfes durch die Halsmuskeln – und damit soziale Gesten und Orientierungsreaktionen

•den Herzmuskel – und damit den Herzschlag

•die Atemmuskulatur – und damit die Atmung.

Es besteht somit eine funktionelle Verbindung zwischen dem ventralen Vagus und muskulären Strukturen insbesondere im Gesichts- und Kopfbereich, die Gesichtsausdruck, Kopfstellung, Stimmqualität und Hörfähigkeit sowie grundlegende Körperaktivitäten regulieren. Die Signale, die wir über die Neurozeption aus der Umwelt und aus unserem Körper wahrnehmen, führen also dazu, dass wir spezifische autonome motorische Reaktionen produzieren. Die Steuerung der Gesichts- und Kopfmuskeln beeinflusst die Wahrnehmung des sozialen Verhaltens anderer und ist gleichzeitig Produkt unserer eigenen Wahrnehmung des Gegenübers. So entsteht ein Kreislauf, der es uns ermöglicht, Nähe herzustellen und Distanz zu überwinden, ohne auf willentliche Bewegungssteuerung angewiesen zu sein. Dies ermöglicht auch Säuglingen, die noch nicht über willentliche Muskelsteuerfunktionen verfügen, diese Form der Sicherung.

Bauer (2020) nennt dies eine Resonanzreaktion, durch die der Säugling spürt, »dass er erkannt oder gesehen wurde« (ebd., S. 24). Es entsteht so ein »kommunikativer Tanz« gegenseitiger Resonanzentwicklung, die die Beziehung und jeden Einzelnen in der Selbstwahrnehmung stärkt. Dieser »Tanz« erfolgt ganz automatisiert dadurch, dass die Betreffenden Augenkontakt herstellen und mit einem ansprechenden Tonfall und Rhythmus vokalisieren, Gesichtsausdrücke zeigen werden und durch die Regulation der Ohrmuskulatur die menschliche Stimme von Hintergrundgeräuschen effektiver unterscheiden können. Ist der Tonus dieser Muskeln dagegen reduziert, weil neurozeptorisch eine Gefährdung (von außen z. B. in Form einer Person oder von innen in Form von z. B. Fieber oder Schmerz) signalisiert wurde, nimmt unsere Interaktionsfähigkeit deutlich ab. Es zeigen sich folgende motorische Reaktionen: Herabhängen der Augenlider, Tonabfall in der Stimme und Prosodie, weniger positive Gesichtsausdrücke, reduzierte Mimik, weniger fein ausgeprägtes Bewusstsein für den Klang der menschlichen Stimme, unregelmäßiger Atem- und Herzrhythmus sowie die Abnahme der Empfindlichkeit für das SES beim Gegenüber (Porges 2004). Die intensive Abwendung einer nahen Bezugsperson und die daraus folgende längere Nichtbeachtung (z. B. durch intensive Smartphone-Nutzung o. a. m.) bzw. das damit einhergehende Fehlen einer Resonanz erzeugen übrigens auch schon bei Säuglingen durchaus emotionalen Stress.6

Aus dieser Darstellung ergibt sich also nahezu eine Gebrauchsanleitung für das SES, wenn wir mit anderen Menschen umgehen – insbesondere, wenn diese unter emotionalem Stress stehen bzw. traumatische oder ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Die Art und Weise unserer Begegnung sichert die Situation mit einer hohen Wahrscheinlichkeit stärker ab und ermöglicht entsprechend eine Resonanzkommunikation, die zur Entwicklung der Beziehung und Empathie beitragen kann. Dies gilt in gleicher Weise für Therapeutinnen und Berater sowie Pädagoginnen. Wir kommen darauf beim Prozessdynamischen Modell und später bei den praktischen Vorgehensweisen im Leitfaden (s. Kap. 4) zurück.

1.2.2Entwicklung des Gehirns durch Beziehung und Empathie

Unser Gehirn entwickelt sich nicht aus sich selbst heraus, sondern benötigt Anregung. Die Strukturen und Verbindungen, die viel genutzt werden, werden ausgebaut und verfestigt. Dieses dynamische Modell der Hirnentwicklung beschreibt Gerald Hüther (2005):

»Alles, was die Beziehungsfähigkeit eines Menschen verbessert, ist gut für das Gehirn – und damit auch gut für das soziale System, in dem er lebt.«

Dieser Prozess ist ein lebenslanger Prozess, auch wenn die frühkindlichen Erfahrungen sich intensiver und nachhaltiger auswirken. Dieses Prinzip wird als erfahrungs- und nutzungsabhängige Plastizität beschrieben. Diese Entwicklung benötigt insofern möglichst gleichbleibende und stabilisierende Einflüsse. Destabilisierende Einflüsse können hingegen auch zu einem Rückbau führen.

»Beziehungserfahrungen strukturieren unser Gehirn« (ebd.).

Beziehungserfahrungen aktivieren das entsprechende Areal in unserem Gehirn auch dann, wenn wir sie aus der Beobachterinnenperspektive machen. Das Prinzip der Spiegelneuronen (Bauer 2006a u. b, 2019) macht entsprechend deutlich, dass ein grundsätzlich pädagogisches bzw. führungsorientiertes Vorgehen die Entwicklung auch der Beobachtenden und dadurch Teilnehmenden fördert. Dies begründet damit das transparente Vorgehen in eben der Öffentlichkeit, die von den jeweiligen Vorfällen und Erfahrungen betroffen ist. Auch das Vormachen und Vorleben von Haltungen, Werten und Handlungen beeinflusst direkt die Entwicklung der beteiligten Personen. Eine weitere wesentliche Grundlage für die funktionale Hirnentwicklung ist zudem die Sinnhaftigkeit für die Tätigen.

»Ohne Beziehung keine Motivation« (Bauer 2019, S. 156).

Die bloße übende Wiederholung von Vorgehensweisen, die keinen Sinn stiften (Sanktionen, Strafen, Drohungen, Anweisungen …), führt kaum zu Veränderungen, da sie nicht zur Motivation der betroffenen Personen beiträgt. Die eigene sinnhafte Perspektive führt hingegen unabhängig vom Schweregrad der Aufgabe zu einer deutlich höheren Motivation, das entsprechende Ziel zu erreichen. Dies geht einher mit einer entsprechenden Transmitter-Kommunikation im Gehirn. Wenn also eine Wiedergutmachung erfolgt und ein Mensch sozusagen lernt, dass eine negativ besetzte Situation und Interaktion, die Scham erzeugt hat und als Herausforderung wahrgenommen worden ist, positiv beendet und bewältigt werden kann, wird dies aller Voraussicht nach zu einem Lerneffekt und zu einer Veränderung in den Hirnstrukturen führen. Dies geht einher mit einer höheren Empathie für andere und sich selbst. Selbstvertrauen und Neugier auf weitere Herausforderungen sind die wohl natürliche Folge.

1.2.3Achtung:Ansteckungsgefahr!

Die Gegenwart anderer Menschen löst bei uns Resonanzreaktionen aus, und diese Reaktionen haben sowohl auf psychologischer wie auch biologischer Ebene Auswirkungen. Was wir also beim anderen erleben und was uns begegnet, beeinflusst und verändert auch uns und unsere Reaktion, so beschreibt Joachim Bauer (Bauer 2019, 2020) das Prinzip der sogenannten Spiegelneuronen und greift damit aus anderer Perspektive genau das gleiche Phänomen auf wie Hüther oder Porges.

Die Begegnung mit anderen, unsere soziale Interaktion, hat einen ganz wesentlichen Einfluss auf uns und unser Gegenüber – und dieser Einfluss kann zum Wohle und zur Entwicklung dienen oder diese verhindern bzw. regredieren. Spiegelungs- und Resonanzphänomene sind demnach dafür verantwortlich, dass im Gehirn eines Menschen, der einen anderen bei seiner Tätigkeit erlebt und Erfahrungen im Umgang mit dieser Person macht, die gleichen Zellen und Areale aktiviert werden wie bei dem Beobachteten selbst.

Insbesondere Kinder- und Jugendliche, aber auch Erwachsene spüren, ob sie von ihren primären Bedeutungspersonen in ihren Bedürfnissen und persönlichen Situationen wahrgenommen werden (Bauer 2019). Dies gilt für das persönliche ebenso wie für das beobachtete Erleben. Die Aktivierung der Spiegelneuronen führt zu einer Art Ansteckung (Bauer 2006b) beim Beobachter und zu spontaner Imitation. Denken sie nur an das ansteckende Gähnen oder das körperliche Miterleben von Schmerzen einer anderen Person. Spiegelungs- und Resonanzphänomene funktionieren dabei unbewusst. Wir dekodieren die wahrgenommenen Bewegungsmuster und Signale des Gegenübers, wodurch im Gehirn ein Spiegelbild dessen entsteht, was wir wahrnehmen. Dies ist wieder insbesondere in Gefahrensituationen eine wesentliche Fähigkeit zur Orientierung und Verhaltensanpassung, da es überlebenswichtig sein kann, intuitiv zu wissen, was zu erwarten ist (Porges 2018). Aber auch im Alltag sind wir

»darauf angewiesen, dass beobachtetes Verhalten uns ein sofort verfügbares, intuitives Wissen über den weiteren Ablauf eines Geschehens vermittelt« (Bauer 2006b, S. 17).

Dies ermöglicht entsprechende Reaktionen und ein schnelles interaktionelles Verständnis. Spiegelungsphänomene sind nicht nur im sozialen Zusammenhang möglich, sondern können sogar zum empathischen Miterleben von Schmerzen führen (Bauer 2019, 2020).

Bauer (2006a) geht davon aus, dass dieses Konzept auch für Emotionen gilt. Man konnte Spiegelzellen auch in den Schmerzverarbeitungszentren nachweisen.

»Was sich hier zeigte, war nicht mehr und nicht weniger als: Wir besitzen Nervenzellen für Empathie und Mitgefühl. Am Beispiel des beobachteten Schmerzes wird eine weitere, wichtige Eigenschaft der Spiegelzellen deutlich: Sie ermöglichen uns nicht nur, das Erleben oder Verhalten eines anderen Menschen zu verstehen, sondern sie haben darüber hinaus eine Tendenz, im Beobachter das wirksam werden zu lassen, was er sieht« (Bauer 2006a, S. 1).

Bauer stellt noch darüber hinausgehend die Hypothese auf, dass die Imitation auf der motorischen oder mimischen Ebene auch die damit verbundenen Gefühle erfahrbar und somit ebenfalls übertragbar macht (vgl. Bauer 2019, 2006a, 2006b).

In Bezug auf die Bedeutung der Vorgehensweise im Konzept Systemische Autorität haben wir so eine weitere Erklärung für die Funktionsweise von z. B. »schweigenden Methoden«, wenn sie zugleich mit dem Angebot von Beziehung und Empathie verbunden sind. Dies deckt sich mit den Überlegungen von Porges und Bauer in hohem Maße.

Die Funktion der Spiegelungs- und Resonanzphänomene wird ganz wesentlich von den Vorerfahrungen eines Menschen beeinflusst (vgl. Bauer 2019). Sie schafft die Grundlage für unsere Fähigkeit, Empathie zu erleben, die wir im konstruktiven sozialen Umgang benötigen. Wenn diese Fähigkeit nicht erprobt, gebahnt und verfestigt wird, dann geht sie verloren. Für eine gelungene und gesunde Entwicklung benötigt ein Kind ein spiegelndes Gegenüber, eine Person, die flexibel, verlässlich sowie konsistent ist und vor allem selbst empathisch auf seine Signale eingeht. Hierfür benötigt wiederum die Bezugsperson Ruhe und eine besondere Hingabe, die Empathie für sich selbst und der Person gegenüber, sodass es zu einer Oxytocin-Ausschüttung kommt und damit Bindung möglich wird. Angst, Stress und negativ erlebte Emotionen deaktivieren diesen Prozess. Eine verantwortliche Person wird in ihrer Präsenz entsprechend eine solche Resonanz von Empathie und Entwicklung ermöglichen. Wir kommen darauf im Zusammenhang mit dem Prozessdynamischen Modell zurück. Auf diese Art und Weise könnte auch eine Re-Bindung möglich sein, selbst wenn die Vorerfahrungen diesbezüglich ungünstig erscheinen.

Deutlich wird in jedem Fall, dass wir im jeweiligen Gegenüber durch unseren emotionalen Ausdruck etwas in Bewegung bringen, etwas zum Mitschwingen und zu einer eigenen Reaktion anstoßen. Dieses Prinzip nennt Hartmut Rosa Resonanz. Durch »Prozesse der Anverwandlung oder des wechselseitigen Einschwingens« (Rosa 2016, S. 36) aufeinander entsteht ein Erfahrungs- und Erlebensraum, der ein sinnstiftendes Element für unser Leben sein kann. Bauer (2020, S. 24) nennt dies einen »kommunikativen Tanz«, der die Entwicklung von Empathie und Persönlichkeit möglich macht. Dies ist durch ein neuronales Resonanzsystem möglich, das »System der Spiegelnervenzellen« (ebd., S. 24).

1.2.4Noch etwas zum Gedächtnis

Wenn wir Sach- und Fachwissen erlernen, speichern wir dies im sogenannten expliziten Gedächtnis, welches nur einen kleineren Teil unseres gesamten Gedächtnisses ausmacht und uns (meistens) bewusst zur Verfügung steht. Unser soziales Verhalten wird hingegen stark beeinflusst durch unsere vorherigen Erfahrungen, die uns in sozialen Situationen allerdings nicht oder nur selten bewusst sind. Wir speichern diese Erinnerungen im autonomen Nervensystem. Insofern haben sie direkte Auswirkungen auf unser Verhalten. Gleichzeitig stehen uns diese Erinnerungen nicht im Sinne von Fakten zur Verfügung, wie wir dies von einer Festplatte gewohnt wären, sondern sind durch unsere emotionalen und erfahrungsorientierten Filter beeinflusst (Levine 2016).

Demnach sind Erinnerungen wandelbar, ändern sowohl ihre Bedeutung als auch Form und unterliegen einer ständigen Interpretation und Rekonstruktion. Im menschlichen Gedächtnis werden schon bei der Wahrnehmung des erlebten Materials eine Vielzahl von Filtern aktiv, die bestimmen, was wir überhaupt realisieren, was uns bewusst wird. Die Speicherung unterliegt weiteren Verarbeitungsprozessen, in denen bewertet, gewichtet, verbunden und gelöscht wird. Entsprechend sind wir sehr anfällig dafür, unsere Erinnerungen zu verzerren, wenn wir sie abspeichern, und besonders, wenn wir sie wieder hervorholen. Wir treffen vor dem Hintergrund unseres aktuellen Befindens aus dem vorhandenen Material eine Auswahl an Bildern. Unsere Stimmung und unsere somatischen Empfindungen haben tiefgreifenden Einfluss auf diese Auswahl, und es werden unbewusst bestimmte Bilder geweckt – je nachdem, in welcher emotionalen Verfassung wir uns befinden.

Man könnte also sagen, dass unsere aktuelle Situation die Brille bestimmt, durch die wir auf Vergangenes schauen und die wir gleichzeitig für eine Einschätzung der Zukunft heranziehen. Diese Erlebnisbilder fügen wir dann beim Erinnern zu kleinen Anekdoten zusammen oder bauen neue ein. Dabei können uns auch Dinge, die wir nur erzählt bekommen haben, als lebendige eigene Erinnerungen erscheinen. In einem ständigen Anpassungsprozess werden unsere Erinnerungen wandelbar, sie werden umstrukturiert, neu sortiert, gelöscht und ergänzt. Diese Erinnerungen, so wandelbar sie auch sind, bilden das Fundament unserer Identität, sind ein »Magnetkompass für Orientierung« (ebd.). Mithilfe unserer Erinnerungen finden wir uns zurecht und bilden eine Kontinuität, einen roten Faden in unserer (Lebens-)Geschichte. Gleichzeitig erschaffen wir vor dem Hintergrund des Erlebten das Bild einer sinnvollen Zukunft, die uns lohnend erscheint, die also entweder anders ist als Bisheriges oder dem entspricht. Unser Gedächtnis stellt in erster Linie unsere Zukunft sicher, indem wir eine selektive Auswahl von Erfahrungen treffen, die sich als zielführend erwiesen haben, und diejenigen Erfahrungen vermeiden, die wir mit negativen Erlebnissen verbinden. Negative Erinnerungen bleiben dabei besonders intensiv haften und gehen mit Eindrücken aus der jeweiligen Situation einher. Sie führen zum Wunsch nach Vermeidung des Kontaktes mit allem, was uns daran erinnert.

Dies kennen wir aus dem Umgang mit erlebten traumatischen oder traumaanalogen Ereignissen. Ob man etwas als Trauma erlebt, bestimmt letztlich die subjektive Wahrnehmung der betroffenen Person. Wenn wir jedoch eine Lehre aus dem Erlebten ziehen und für uns ein Narrativ bilden, das eine Erkenntnis beinhaltet, können wir ein positives Resümee herausarbeiten. Dabei werden besonders intensive empathische Erinnerungen nachhaltige Auswirkungen auf unser zukünftiges Verhalten haben. In der Systemischen Autorität macht dies das Handeln auf verschiedenen Ebenen sinnvoll. Zum einen erklärt sich daraus, warum es zweckdienlich erscheint, Jugendlichen mit destruktiven Verhaltensmustern stabil, deeskalierend und absichernd, also trotz allem empathisch zu begegnen. Die neue Erfahrung kann zu einer neuen Interpretation alter Erinnerungen führen, die bei einer entsprechenden Wiederholung eine andere Betrachtung des früher Erlebten möglich macht. Sogar Änderungen der Perspektiven sind auf diese Weise möglich. Allerdings ist sicherlich gut vorstellbar, dass ein sehr festgeschriebenes Narrativ negativer Erinnerungen wiederholte, beharrliche und stabile positiv und empathisch erlebte Botschaften benötigt, um sie in ein neues Narrativ zu verwandeln.