Die Kraft der unscheinbaren Kleinigkeiten - Gary L. Thomas - E-Book

Die Kraft der unscheinbaren Kleinigkeiten E-Book

Gary L. Thomas

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Beschreibung

In diesem Buch lädt Gary Thomas ein, Eigenschaften wie zum Beispiel Demut, Großzügigkeit, Geduld oder Dankbarkeit neu zu entdecken und im eigenen Alltag zu kultivieren. Leicht lesbar und mit praktischen Beispielen macht der Autor Mut: Diese Herzenshaltungen gelten nicht nur seit Jahrhunderten als Kennzeichen eines reifen christlichen Lebens, sondern sie zeigen uns, was aus uns werden kann: ein Mensch, der Christus ähnlich ist.

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Gary L. Thomas

Die Kraft der

unscheinbaren

Kleinigkeiten

Vom Abenteuer, Jesusähnlich zu werden

Dieses Buch als E-Book: ISBN 978-3-86256-727-0, Bestell-Nummer 590 028E

Dieses Buch in gedruckter Form: ISBN 978-3-86256-028-8, Bestell-Nummer 590 028

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel:

Not the End but the Road. The Journey Towards a Virtuous Life

Copyright © 2004 by Gary L. Thomas. All rights reserved.

Aus dem Amerikanischen von Renate Hübsch, Gießen

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar

Umschlaggestaltung: spoon design, Olaf Johannson

Umschlagbild: © ER09/ShutterStock.com®

Satz: Neufeld Verlag

© 2012 Neufeld Verlag Schwarzenfeld

Eine frühere Ausgabe dieses Buches erschien 2006 unter dem Titel Woran sieht man, dass du glaubst? 14 Wege, den Glauben zu leben im Brunnen Verlag, Gießen

Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

www.neufeld-verlag.de / www.neufeld-verlag.ch

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Inhalt

Einführung

Kapitel 1: Auf dem Weg

Kapitel 2: Gottes Gegenwart im Alltag erfahren

Kapitel 3: Der Geschmack der Freiheit

Kapitel 4: Demut: Leben an dem Platz, der mir zukommt

Kapitel 5: Hingabe: Gelassen im Strom der Ereignisse

Kapitel 6: Gelassenheit: Freiheit von innen

Kapitel 7: Liebe: Die Energie der Seele

Kapitel 8: Keuschheit: Verlässliche Beziehungen

Kapitel 9: Großzügigkeit: Wahre Sicherheit

Kapitel 10: Achtsamkeit: Wach sein für das Leben

Kapitel 11: Geduld: Realistische Erwartungen

Kapitel 12: Geistliche Urteilsfähigkeit: Ins Herz der Dinge sehen

Kapitel 13: Dankbarkeit: Überschwänglich leben

Kapitel 14: Freundlichkeit: Das Leben liebkosen

Kapitel 15: Glaubensmut: Beherzt leben

Kapitel 16: Gehorsam: Geweitetes Leben

Kapitel 17: Bereitschaft zur Umkehr: Den Glauben erneuern

Wenn Sie die Reise beginnen

Zum Autor

Neufeld Verlag

Einführung

VIELE CHRISTEN PLAGEN SICH mit einer tiefen Unruhe oder zumindest Unzufriedenheit herum. Sie sind unzufrieden mit sich und damit, dass sie die Wirklichkeit Gottes in ihrem Leben immer weniger erfahren. Kann ich wirklich ein anderer Mensch werden? Kann ich mich ändern? Wie kann ich die Gegenwart Gottes in meinem Leben stärker erfahren?

Das Neue Testament lässt keinen Zweifel daran: Gott will uns den Platz in seiner Schöpfung zurückgeben, der ursprünglich für uns bestimmt war, den wir aber verspielten. Er will uns zu seinen Söhnen und Töchtern machen (Johannes 1,12.13). Er rettet uns nicht nur, er will uns auch im Kern unseres Wesens erneuern – dort, wo es um unsere Überzeugungen, inneren Einstellungen und Motive geht. Wir sollen wieder werden, wozu wir geschaffen sind: Ebenbilder Gottes. Wir sollen Gottes Wesen spiegeln.

Aber Gott ist unsichtbar. Woher sollen wir wissen, ob wir anfangen, ihm ähnlich zu sein – vielleicht nur in sehr wenigen Zügen?

Schauen Sie sich Jesus an. Er zeigt uns, wie Gott ist. In seiner Persönlichkeit, in seinem Charakter – in Eigenschaften wie Demut, Geduld, selbstloser Liebe … sehen wir das Wesen Gottes. Seit frühester Zeit haben die Christen sich bemüht, Jesus nachzuahmen, seinem Vorbild ähnlich zu werden (Epheser 5,1). Es ging ihnen darum, sich in ihrem Charakter verändern zu lassen und in die inneren Haltungen und Eigenschaften hineinzuwachsen, die sie an Jesus beobachteten.

Durch die Jahrhunderte hindurch haben Christen verstanden: Gott arbeitet an uns, aber unsere Sache ist es, an dieser Veränderung mitzuarbeiten. Persönlichkeit ergibt sich nicht von selbst; sie will geformt werden. Wie kann das geschehen? Indem wir täglich ganz bewusst unsere inneren Haltungen und Motive von Gott formen lassen. Indem wir unsere tief sitzende Selbstbezogenheit aufbrechen lassen und uns durch Gott und seinen Geist bestimmen lassen, der in uns die Eigenschaften hervorbringen will, die wir an Jesus sehen. Allmählich wird so in unserem alltäglichen Verhalten etwas von Gottes Wesen sichtbar werden. Wir können tatsächlich vor den Menschen „unser Licht leuchten lassen“ (Matthäus 5,16), wie Jesus es gesagt hat. Und wir werden seine Gegenwart in unserem Leben nicht mehr vergeblich suchen.

KAPITEL 1

Auf dem Weg

„Das christliche Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht ein Sein, sondern ein Werden, nicht eine Ruhe, sondern eine Übung. Wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg. Es glüht und glänzt noch nicht alles, es reinigt sich aber alles.“

MARTIN LUTHER

DIE BEKEHRUNG IST NUR der Anfang des christlichen Lebens. Die meisten von uns haben wohl naiv gehofft, dass sich in den Tagen und Wochen direkt nach diesem Glaubensschritt eine große Umwandlung ereignen würde. Aber wir haben schnell entdeckt, dass sofortige Veränderungen ausblieben, oder dass sie sich zwar kurz zeigten, uns aber ebenso schnell wieder entglitten.

Die Wahrheit ist: Erneuerung ist ein Prozess. Unsere Seele wird gründlich umgegraben und mit etwas Neuem angefüllt, bis auf dem Gelände unseres früheren Lebens ein gänzlich neues Leben errichtet ist. Wir brauchen diesen Prozess. Wir brauchen es, dass Gott uns – Menschen, die sich festgefahren haben in alten Gewohnheiten, die gefangen sind im lebendig Tot sein der Langeweile oder der Bedeutungslosigkeit, die besessen sind von ihren Besitztümern – dass er uns nimmt und uns durch ein langes Wunder der geistlichen Umgestaltung befreit. Dass er uns erlöst von uns selbst und unserer Selbstbezogenheit. Wir brauchen es, dass er die Aspekte unseres Charakters, an denen wir uns wund reiben, ausgräbt und sie durch eine wohltuende Lebendigkeit ersetzt, dass er letztendlich eine neue Persönlichkeit in uns schafft – das Leben Jesu in uns, das uns verheißen ist.

Gott hat uns geschaffen, damit wir sein Bild tragen. Jeder Mensch spiegelt einen besonderen Aspekt von Gottes ureigenem Wesen wider. Und Gott brennt darauf, uns von uns selbst zu erlösen und neue Menschen aus uns zu machen. C. S. Lewis lässt seinen Fachmann für Verführungskünste Screwtape in Dienstanweisung für einen Unterteufel feststellen: „Wenn [Gott] davon redet, dass seine Geschöpfe sich selbst verlieren sollen, dann meint er damit nur, dass sie das Geschrei ihres Eigenwillens lassen sollen. Haben sie das einmal getan, gibt er ihnen tatsächlich ihre ganze Persönlichkeit zurück und verkündet (und das aufrichtig, fürchte ich), dass sie, wenn sie erst ganz ihm gehören, mehr sie selbst sein werden als je zuvor.“1

Versuchen Sie für einen Moment, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn Sie ein Mensch wären, der mit dem Mitleid Jesu handelt, der die Geduld aufbringt, die Gott mit uns hat, der unterscheiden kann, der sanft ist, aber zugleich souverän, der nichts anderes will, als mit seinem Leben den Willen und die Absicht Gottes zu erfüllen. Dies ist genau das Leben, das Jesus Ihnen ermöglichen möchte. Er möchte Sie in einen Menschen verwandeln, der motiviert ist von dem, was schön, nicht von dem, was lustvoll ist; von dem, was großzügig, nicht von dem, was selbstsüchtig ist, von dem, was edel, nicht von dem, was unaufrichtig ist, von dem, was schöpferisch ist – nicht zerstörerisch.

Wollen Sie ein solcher Mensch werden? Wenn ja – hier ist ein bewährter und biblischer Weg, durch den dieses Bild Gottes in Ihnen wieder zum Vorschein gebracht werden kann.

Übungen wollen geübt sein

Jahrhundertelang haben die großen Lehrer der Christenheit vermittelt, wie „die Tugenden Christi“ eingeübt werden können. Sie meinten damit die innere Ausrichtung und das Verhalten, die an der Person und im Leben Jesu deutlich werden – eine Orientierung auf einen reifen Charakter. Die Väter des Glaubens gingen nicht davon aus, dass das „neue Leben“ sich plötzlich in einem Menschen zeigt, wenn er zum Glauben kommt. Sie wussten, dass es wachsen muss – in einem allmählichen Prozess der inneren Umgestaltung des Herzens.

Der Bekehrung, die einen Anfang im Glauben setzt, muss das Erlernen einer entsprechenden Geisteshaltung und Lebenspraxis folgen. Genau darauf zielt die Einübung in die Grundhaltungen, die Jesus verkörpert. Natürlich ist das Heil etwas, das uns ausschließlich aus Gottes Gnade und ohne jedes menschliche Bemühen zuteil wird (Römer 9,16): Aber „in Christus zu wachsen“ erfordert das Zusammenwirken von Gott und Mensch (vgl. 1. Johannes 3,3; Philipper 2,12.13). Athleten und Bodybuilder trainieren regelmäßig, um ihren Körper zu formen. Christen können ihren Geist „formen“, indem sie sich in christliche Grundhaltungen einüben. Frömmigkeit, ein Leben, das der Berufung durch Gott entspricht, entsteht nämlich nicht plötzlich und nicht dadurch, dass wir ein schnelles Gebet sprechen, durch das wir unser Leben Gott unterstellen.

Die christlichen Grundhaltungen – früher auch Tugenden genannt – bezeichnen innere Haltungen und Verhaltensweisen, die sich im Leben Jesu erkennen lassen. Wir handeln im Geist Jesu, wenn wir uns entscheiden, lieber zu dienen als zu herrschen oder zu manipulieren, lieber freundlich zu sein als aufbrausend. Das sind Verhaltensweisen, zu denen wir uns entscheiden können.

Das Gegenteil, früher „Laster“ genannt, ist unser natürliches „altes Leben“. Es erwächst daraus, dass das Ego den Ton angeben darf. In einem selbstherrlichen Leben regieren Zorn, Selbstsucht, Selbstüberschätzung, Anmaßung. Das Laster gibt dem Ego die Macht: „Ich tue, was ich will; ich schaffe mich selbst nach meinem Bild.“ Die Tugenden führen zu geistlicher Gesundheit; ein Leben aus dem Ego ist wie ein geistliches Krebsgeschwür, es verzehrt uns von innen heraus.

In der christlichen Tradition sah man die Tugenden von alters her als die Herzenshaltungen an, die Jesus selbst lebte. Es sind Wege, eine gelingende Beziehung zu Gott und den Menschen zu bauen. Geistliches Wachstum wurde daran gemessen, inwieweit ein Christ in seiner Persönlichkeit reifer und Christus ähnlicher wurde – nicht nur daran, wie viel theologisches Wissen er erworben hatte. Und eine wirkliche Veränderung, die von Dauer sein soll, erwächst, so wussten die Väter, nur aus einem erneuerten und umgestalteten Herzen.

Eine belastete Geschichte

Leider ist die Praxis der Einübung in christliche Tugenden oder Grundhaltungen belastet. Es gab Zeiten, in denen die Ideale christlichen Lebens nur dazu missbraucht wurden, Menschen abhängig und klein zu halten und ihnen Schuldgefühle einzupflanzen. Oder einzelne Übungen, wie Bußfertigkeit oder Demut, wurden als kirchliche Strafen verhängt. Wir kennen die Auswüchse der Selbstkasteiungen, die das Mittelalter hervorbrachte. Welch ein tragisches Missverständnis von Übungen, die keineswegs nur äußerlich praktiziert werden wollen, sondern die vom innersten Kern unseres Wesens ausgehen und es uns ermöglichen wollen, dem Gefängnis der Selbstbezogenheit zu entkommen.

In besseren Zeiten verstanden die Christen, dass der sehr konkrete Weg einer Einübung in bestimmte Grundhaltungen des Herzens ein wichtiges Werkzeug für die Vertiefung ihrer Beziehung zu Gott darstellte. Unsere Väter wussten: Wenn ein Mensch sich bekehrt, entspricht sein tatsächliches Leben und Verhalten noch längst nicht dem Ideal eines christlichen Lebens. Schon der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass schlechte Gewohnheiten nicht über Nacht verschwinden, und dass gute Gewohnheiten Zeit brauchen, bis sie uns in Fleisch und Blut übergehen.

Wenn man heute von Tugenden spricht, glauben die Leute, man rede einer freudlosen, tristen, zwanghaften Lebensweise das Wort. Das tugendhafte Leben ist nicht sehr in Mode; man versteht darunter in erster Linie etwas, was uns einschränkt: „Tugend bedeutet: Alles, was Spaß macht, ist verboten.“ Die Christen früherer Zeiten wussten dagegen: Die biblischen Tugenden ermöglichen ein gutes Leben – sie zeigen uns auf, was aus uns werden kann: ein Mensch, der Christus ähnlich ist.

Christus möchte ein neues Leben in uns entfalten. Dieses Leben gründet sich nicht auf Gebote und Verbote. Es gibt auch keinen exakten Maßstab für „geistliche Leistungen“ und „geistlichen Erfolg“ – etwa, wie oft und wie erfolgreich Sie anderen von Ihrem Glauben erzählen, wie oft und wie lange Sie die Bibel lesen, wie oft Sie zum Gottesdienst gehen. (Es gilt sogar: Wenn Sie die Einübung in geistliche Grundhaltungen nur als „Pflichterfüllung“ verstehen, dann haben Sie ziemlich anstrengende Zeiten vor sich.) Das Leben, das Christus in uns zur Entfaltung bringen möchte, ist ganz sicher nicht abhängig von unseren Bemühungen. Es geht nicht darum, sich mit anderen zu vergleichen. Sie können die besten Absichten haben – wenn es nicht Gottes Kraft ist, die Sie vorwärts zieht, dann wird Ihnen das ganze Unternehmen „geistliches Wachstum“ bald unmöglich erscheinen. Sie werden es als drückende Last empfinden.

Die christlichen Tugenden sind so etwas wie Gottes Werkzeuge, mit denen er aus dem Material unserer Persönlichkeit das Bild seines Sohnes „heraus schnitzt“. Das geht langsam, aber sicher. Wenn wir dieses Leben in uns entdecken, dann erfahren wir, was Jesus meinte, als er sagte: „Ich bin gekommen, damit du das Leben findest, das Leben in Fülle“ (Johannes 10,10).

Die christlichen Tugenden sind Gottes Werkzeuge, mit denen er aus dem Material unserer Persönlichkeit das Bild seines Sohnes „heraus schnitzt“.

GARY L. THOMAS

Anmerkung

1 C. S. Lewis, Dienstanweisung für einen Unterteufel. Brendow Verlag, Moers 1995, S. 65.

KAPITEL 2

Gottes Gegenwart im Alltag erfahren

Versuchen Sie niemals, Ihren Brüdern etwas aufzuzwingen. Die Gnade kann mehr.

QUELLE UNBEKANNT

Eine Einübung in die christlichen Tugenden ist eine Art Schnellstraße zur Erfahrung der Gegenwart Jesu in meinem Leben.

GARY L. THOMAS

ICH HATTE EINE ANSTRENGENDE VORTRAGSREISE hinter mir und freute mich auf ein bisschen Entspannung während des Rückflugs. Zunächst etwas verärgert, dass ich keinen Fensterplatz mehr bekommen hatte, zwängte ich mich in einen Sitz im Mittelgang zwischen einem recht beleibten Herrn und einer älteren Dame und holte den Roman aus der Tasche, der mir die Flugzeit verkürzen sollte. Ich hatte mich noch nicht einmal angeschnallt, als die Dame fragte: „Leben Sie in Kalifornien?“ „Nein“, sagte ich. „Es war eine Geschäftsreise.“

Sie strahlte eine tiefe Freundlichkeit aus. Eine richtig liebenswerte Großmutter. Ich war müde und schielte nach meinem Buch, das mir etwas Ablenkung versprach. Aber ich wollte nicht unhöflich sein …

„Oh, Sie wollen sicher lesen“, entschuldigte sich die Dame, die meinen Blick wohl bemerkt hatte.

Ich lächelte kurz und schlug mein Buch auf. „Ich habe nicht oft die Gelegenheit, mich zu unterhalten“, sagte sie. „Seit mein Mann vor fünfzehn Jahren starb …“

Ihre Worte trafen mich wie ein Schlag. Ich war müde, voller Selbstmitleid über einige Schwierigkeiten, in denen ich steckte, und beanspruchte selbstsüchtig, gefälligst in Ruhe gelassen zu werden. Aber … konnte es sein, dass ich nicht zufällig auf diesen engen Sitz im Mittelgang platziert worden war, der mir gar nicht behagte? War es nur ein Zufall, dass ich neben dieser alten Dame saß? War es nicht sehr gut möglich, dass Gott hier einen Auftrag für mich hatte? Da war ein Mensch, der einen anderen Menschen brauchte, der ihm zuhörte …

„Oh, es tut mir leid, dass Ihr Mann verstorben ist“, sagte ich und steckte das Buch zurück in die Tasche. „Haben Sie Kinder?“

Sie lächelte erfreut und unser Gespräch nahm seinen Lauf. Ich erfuhr eine Menge über ihr Leben, was sie beschäftigte, worum sie sich sorgte. Der Roman blieb eine Verlockung, aber ich entschied mich dafür, diese Frau neben mir zu sehen, die es gerade nötig hatte, einmal ihr Herz ausschütten zu können.

Als der Flug zu Ende ging und ich das Flugzeug verließ, geschah etwas Überraschendes. Ich stellte fest, dass mich ein ungewohntes Gefühl erfüllte – ich fühlte mich heiter, erholt, belebt und – erhaben. Ein einfacher Akt der Annahme dessen, was Gott mir in den Weg gestellt hatte, wurde zum Eingangstor in eine innere Realität, in der ich die Gegenwart Jesu fast schmecken konnte; seine Nähe war mir deutlich spürbar und das Bewusstsein seiner Gegenwart in mir war irgendwie erneuert.

Was war passiert? Ich sehe es so: Ich hatte mich der Situation überlassen, weil ich davon ausging, dass sie nicht zufällig zustande gekommen war, sondern dass Gott hier eine Aufgabe für mich hatte. Ich hatte mich entschieden, mich nicht nur von meinem persönlichen Bedürfnis nach etwas Ruhe und Ablenkung bestimmen zu lassen, sondern von einem höheren Motiv: jetzt für einen anderen Menschen zur Verfügung zu stehen. Indem ich das tat, erlebte ich die Gegenwart Jesu. Und da ich mich von ganzem Herzen nach einer tiefen Beziehung zu Jesus sehne, war es nur folgerichtig, dass diese Begebenheit mich mit einem stillen Hochgefühl zurückließ.

Dies ist nur eine von einer Reihe von Erfahrungen, die mir deutlich gemacht haben, dass eine Einübung in die christlichen Grundhaltungen eine Art Schnellstraße zur Erfahrung der Gegenwart Jesu in meinem Leben ist. Das mag für manche Leser gefährlich klingen. Aber es entspricht meiner Erfahrung. Für manche Menschen sind Kontemplation und Gebet der Weg zur Erfahrung der Gegenwart Gottes. Aber ebenso können wir seine Nähe erleben, indem wir uns einüben in die geistlichen Grundhaltungen, die wir von Jesus lernen.

Zwei Extreme

Wenn es darum geht, Gott zu erfahren, geraten wir in ein Spannungsfeld. Es gibt Christen, die Gott und seine Nähe vor allem in der Innenwelt ihrer Seele erleben, in Gebet, Kontemplation, Einsamkeit, Stille oder in der Betrachtung. Und es gibt Christen, für die Gott vor allem im gehorsamen Tun, im Dienst an anderen oder durch die Begegnung mit dem Wort Gottes erfahrbar ist.

Beide Sichtweisen sind begrenzt. Betont man einseitig das äußere Tun, wird man perfektionistische, gesetzliche Christen erziehen, Menschen, die keinen Zugang zur Gnade und Barmherzigkeit Gottes finden und zu der Kraft, die gerade darin liegt. Betont man Bibelkenntnis auf Kosten anderer Aspekte des christlichen Lebens, wird man engstirnige Dogmatiker hervorbringen, die nicht wissen, wie sie all die Richtigkeiten, die sie kennen, in konkretes Leben übersetzen sollen. Betont man zu stark die innere Erfahrung, kann das zu einer Haltung führen, die nur nach persönlicher „Erleuchtung“ sucht, aber das Bemühen um Selbstlosigkeit und die Arbeit am eigenen Charakter vernachlässigt. Losgelöst von der Autorität der Schrift wird persönliche Erfahrung zum Götzen, und der Mensch, der sich nur auf sie beruft, steht in Gefahr, sich als „besserer Christ“ zu fühlen und die Gemeinschaft mit dem weltweiten Leib Christi als einer Gemeinschaft von Dienenden zu verlieren.

Ein gutes Gegenmittel gegen diese Einseitigkeiten ist die Einübung in die inneren Grundhaltungen, die Jesus uns vorgelebt hat. Eine solche Arbeit an unserer Persönlichkeit schafft eine Verbindung zwischen der inneren Wirklichkeit, der Erfahrung der Seele, und unserem konkreten Verhalten im Alltag. Ich habe gesagt: „Okay, Gott, ich akzeptiere deinen Auftrag für mich in dieser Situation.“ Dieser Entscheidung lag eine innere Haltung zugrunde. Sie führte mich zu einem konkreten Tun: das Buch aus der Hand zu legen und ein Gespräch zu beginnen. Und das Ergebnis war, dass ich die Freude erlebte, mit Gott zusammenzuarbeiten, unter seiner Führung eine Aufgabe, die er mir in den Weg stellte, zu erledigen.

Fühlen Sie sich manchmal ausgelaugt? Langweilt Sie die ganze Sache mit dem Glauben vielleicht? Oder sind Sie erschöpft von dem Versuch, endlich ein ideales christliches Leben hinzukriegen? Wünschen Sie sich, die Gegenwart Jesu in Ihrem Leben deutlicher zu erleben? Wenn Sie in dieser Situation sind, dann kann der Weg über eine Einübung in die christlichen Tugenden eine Brücke zu dem Leben sein, nach dem Sie sich sehnen.

Die Gnade kann mehr

Das Gute an der Guten Nachricht ist die Botschaft: Wir müssen nicht Gefangene der Dunkelheit und der Schwächen bleiben, die uns anhaften. Wachstum und Veränderung sind möglich. Aber sie stellen sich nicht ohne unser Bemühen ein. Es muss allerdings die rechte Art von Bemühen sein.

„Schon wieder soll ich mich anstrengen“, winken Sie vielleicht ab. Vielleicht sind Sie es leid, zum hundertsten Mal einen erneuten erfolglosen Versuch zu machen, endlich diese eine Schwäche zu überwinden, die Sie einfach nicht loswerden. Vielleicht sagen Sie: „Ich habe mich wirklich bemüht – ich schaffe es einfach nicht.“