Die Kraft der Verantwortung - Ina Schmidt - E-Book

Die Kraft der Verantwortung E-Book

Ina Schmidt

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Beschreibung

Ob es um das Klima geht, um Politik, die Arbeit oder die Beziehung: In all unseren Lebenszusammenhängen ist verantwortungsvolles Handeln gefordert. Doch was bedeutet das, wie ist ein solches Handeln motiviert und warum stehen wir überhaupt in der Verantwortung? Und was ist zu tun, wenn unsere Verantwortlichkeiten uns überfordern oder miteinander in Konflikt geraten? Die Philosophin Ina Schmidt setzt diesen Verunsicherungen den Versuch einer Klärung entgegen. Sie begreift Verantwortung als ein uns innewohnendes Streben, das Gute zu wollen und zu tun, als eine soziale Praxis. Ihre Voraussetzung ist Freiheit – und ein zugeneigtes Verhältnis zur Welt und zu den Menschen. Damit wird Verantwortung zur Kraftquelle für das Individuum und die Gesellschaft. Wie wir im Zusammenspiel von kritischem Denken, guten Gründen und emotionalem Spürsinn die Kraft der Verantwortung nutzen können, um für eine gelingende Gegenwart und Zukunft Sorge zu tragen, zeigt Ina Schmidt in diesem so klugen wie lebensnahen Buch.

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Ina Schmidt

Die Kraft der Verantwortung

Über eine Haltung mit Zukunft

Für meine Kinder

Das ist die moderne Tapferkeit: Fortfahren im versuchenden Leben, wenn auch keine Gewissheit ist, – nicht das Ergebnis verlangen, sondern das Scheitern wagen, – das Ja zum Leben vollziehen, als werde in der Tiefe eine Hilfe sich zeigen, welche jedenfalls das bedeutet, dass das gut Gewollte nicht nichts sei, dass es am Ende einströme in das Sein.

KARLJASPERS, »ÜBERDIEBEDINGUNGENUNDMÖGLICHKEITENEINESNEUENHUMANISMUS«

Inhalt

Ein paar Worte zum Anfang

Einführung

1.Kapitel: Was heißt Verantwortung?

Verantwortung ist die Suche nach guten Antworten

Eine Frage der Moral: Das menschliche Streben nach dem Guten

Die Freiheit des modernen Menschen: Voraussetzung und Gegenstand moderner Verantwortung

Das moralische Gesetz in mir: Der gute Wille und die Folgen meines Handelns

2.Kapitel: Warum tragen wir Verantwortung?

Das Gute ist niemals gleichgültig: Der Geist des Humanismus

Verantwortung als soziales Gefühl: Der Wille zur Zuneigung

Antworten auf den anderen: Zur Verantwortung gerufen

Gemeinsame Werte als Quelle der Solidarität

3.Kapitel: Wie gelingt Verantwortung?

Eigenverantwortung im Sinne der Gemeinschaft

Macht und Machbarkeit: Grenzen der Verantwortung

Auf der Suche nach Gewissheit: Was sind wir verpflichtet zu wissen?

Spielregeln verantwortlichen Handelns

4.Kapitel: Haben wir eine Verantwortung für die Zukunft?

Die Möglichkeit der Zukunft als Gegenstand verantwortlicher Praxis

Ergibt sich jede Zukunft aus der Vergangenheit?

Der Geist menschlicher Klugheit in einer technischen Welt

Der zuversichtliche Blick in die Zukunft: Eine Aufgabe menschlicher Vorstellungskraft

Glossar

Dank

Anmerkungen

Literatur

Einführung

»We the people have the power to built a better future.«

KAMALAHARRIS, REDEVOM8.NOVEMBER2020

Egal wohin wir schauen, worüber wir nachdenken, welche Entscheidungen wir treffen oder was wir beklagen, überall wartet sie schon auf uns. Wir übernehmen oder tragen sie, können uns ihr nicht entziehen oder erwarten sie sehnsüchtig: die Verantwortung. Wir sind verantwortlich für uns selbst, unser Leben, das unserer Kinder und mittlerweile auch für das zukünftige Leben der gesamten Menschheit. Wir sind verantwortlich für das, was ist, und das, was kommen wird. Aber was heißt das genau? In welcher Situation, welcher Rolle und aus welchen Gründen ist unser Handeln wirklich verantwortungsvoll? Wie können wir verantwortlich sein für das, was ist, und inwiefern für das, was kommt – in allernächster oder in fernerer Zukunft? Der Komiker Groucho Marx, heißt es, hat einmal gefragt: »Warum sollte ich etwas für die Zukunft tun? Wann hat die Zukunft jemals etwas für mich getan?« Mehr als nur eine gelungene Pointe, sondern eine zu beantwortende Überlegung.1

Dass Verantwortung zwar auf die Gegenwart wirkt, aber auf die Zukunft gerichtet ist und wir gut daran tun, uns um die Folgen unseres gegenwärtigen Handelns zu sorgen, leuchtet den meisten von uns ein. Nicht allein im Sinne eines moralischen Appells, sondern weil wir uns die Gestaltung der Zukunft als selbst denkende und mit Vernunft begabte Wesen nicht nehmen lassen dürfen. Es geht darum, Antworten zu finden auf all die drängenden Fragen, die die Gegenwart an uns richtet, um in ihr eine Zukunft zu ermöglichen: Wir übernehmen Verantwortung, indem wir genau das tun – antworten.

Das ist ein erster Hinweis, aber eher ein Anfang und noch nicht die Klärung dessen, was Verantwortung bedeutet. Denn wie genau wollen oder sollen wir antworten – und warum? Der Begriff ist aus den gesellschaftlichen Debatten nicht mehr wegzudenken und darin doch so vielschichtig und facettenreich, dass wir ihn nur schwer zu greifen verstehen. Was macht verantwortliches Handeln aus, wie ist es motiviert und warum stehen wir überhaupt in der Verantwortung? Diesen Fragen nachzugehen, heißt nicht, dass wir am Ende eine einzige klare Antwort finden – das kann und will auch dieses Buch nicht versprechen. Vieles scheint vom Kontext abhängig, oder ist je nach Zeitpunkt anders zu entscheiden, vermischt und verwischt sich oder widerspricht sich gar selbst, sodass die Suche nach dem Wesen der Verantwortung, mit Robert Musil, durchaus etwas von einer »Kohlweißlingsjagd« an sich haben kann: »Was man zu beobachten glaubt, verfolgt man zwar eine Weile, ohne es zu verlieren, aber da aus anderen Richtungen auf ganz gleichen Zickzackwegen auch andere ganz ähnliche Schmetterlinge herankommen, weiß man bald nicht mehr, ob man noch hinter dem gleichen her sei.«2

Was also tun? Wie können wir uns sicher sein? Jagen wir noch immer dem richtigen Schmetterling nach? Oder müssen es sogar mehrere sein? – Erkenntnisse verändern sich, viele Zusammenhänge verstehen wir schon lange nicht mehr, und selbst wenn wir es versuchen, bleibt uns oft nicht mehr, als dieser oder jener Deutung zu glauben. Aber warum dieser und nicht jener? Wir fühlen uns unbehaglich in dem Wissen, etwas tun zu müssen und oftmals doch nicht genau zu wissen, was oder wie. Oder wir wissen sehr genau, was zu tun wäre, schaffen es aber nicht, unser Wissen wirklich in die Tat umzusetzen und die intention-behavior-gap3, also die leidige Lücke zu schließen zwischen dem, was wir tun sollen, vielleicht sogar wollen, und dem, was wir dann tatsächlich in die Tat umsetzen – sei es aus Gewohnheit, Bequemlichkeit oder dem Gefühl, dass es ohnehin zu nichts führen wird, jetzt und hier auf dieses oder jenes zu verzichten. Oft klingt ein mahnender Unterton mit, wenn von den diversen Verantwortungen die Rede ist, ein Appell, ausgesprochen von Menschen, die zuständig sind oder es zu sein glauben und richtig und falsch ganz klar auseinanderhalten können. Und diese Gedanken treiben uns auf vielen verschiedenen Ebenen unseres persönlichen wie gesellschaftlichen Lebens um: Was bringt es, wenn ich das Auto stehen lasse? Wenn ich auf Fleisch verzichte oder meinen Konsum einschränke? Kann man heute noch Kinder in die Welt setzen, und was bedeutet es für meine soziale und berufliche Stellung, wenn ich drei Jahre in Elternzeit gehe? Und sind das überhaupt die Fragen, die wir uns stellen sollten?

Gerade weil es auf diese Fragen keine eindeutigen Antworten gibt, ist das gefragt, was wir Verantwortung nennen. Beginnen wir also damit, zu verstehen, was wir eigentlich meinen, wenn wir von Verantwortung sprechen – und was nicht.

Die Frage der Verantwortung stellt sich in unterschiedlichen Handlungsbereichen, die verschiedene Wissensgebiete oder Werthaltungen betreffen, außerdem in unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen. Sie bezieht sich auf vollzogene Handlungen ebenso wie auf die, die noch zu tun sind, wobei nicht jedes menschliche Verhalten eine Handlung sein muss. Und darüber hinaus geraten diese Verantwortlichkeiten oft genug miteinander in Widerspruch: Die Verantwortung, die wir für die Zukunft unseres Planeten tragen, ist eine andere als die, die heute eine Ärztin für ihre Patienten trägt, oder die, die ein Vater für die Zukunft seiner Tochter zu übernehmen hat. Und was, wenn uns hin und wieder ein Gefühl beschleicht, verantwortlich zu sein, obwohl wir gar nicht so recht wissen, warum?

Dieses Buch begegnet der Frage nach dem, was verantwortliches Handeln nicht nur aus-, sondern auch notwendig macht, mit dem Versuch einer Klärung, um dem inneren Unbehagen und der Verunsicherung etwas entgegensetzen zu können. Es macht sich auf die Suche. Diese Suche ist eine Möglichkeit, der Verwirrung, der Verantwortungsdiffusion zu begegnen. Das wird nicht immer zu einer inhaltlichen Lösung führen, aber bei einer Suche geht es nicht allein darum, am Ende etwas zu finden, sondern auch darum, einen Weg kompetent und gut vorbereitet gehen zu können.

Was genau können wir tun, aus welchen Gründen und bis zu welchen Grenzen? Was steht in unserer Macht und wo müssen wir Grenzen ziehen, um bestmöglich handeln zu können? – Vor dem Hintergrund drängender gesellschaftlicher, aber auch ganz persönlicher Fragen an die eigene Lebensführung steht letztlich nicht weniger als der Fortbestand unserer Zukunft auf diesem Planeten auf dem Spiel. Diese längst nicht mehr nur theoretische globale Zukunftssorge steht im Mittelpunkt meines Buches.

Das klingt uns tatsächlich oft eine Nummer zu groß, wenn wir gerade vor der konkreten Entscheidung stehen, ob wir morgens das Fahrrad nehmen oder bei dem Regen doch schnell ins Auto springen, ob wir unsere kranke Tante im Pflegeheim besuchen sollen oder doch lieber beim Fußballspiel des Jüngsten zuschauen sollten, aber es ist schon ein Anfang gemacht, wenn dieser Zweifel zur Selbstverständlichkeit wird.

Menschliche Verantwortung soll hier nicht als moralische Einschränkung eines bestehenden Sittengesetzes oder strenge Pflichterfüllung qua Regelkatalog verstanden werden, die wir uns mühsam über Reflexion und kognitive Erkenntnisse erarbeiten müssen, sondern als ein uns innewohnendes Streben, das Gute zu wollen. Von dieser Überzeugung sind die folgenden Kapitel getragen, auch wenn es uns oft genug schwerfällt, an ein solches Streben zu glauben. Aber ohne diese Überzeugung wird es nicht gelingen, uns Menschen als verantwortliche Wesen anzusprechen, die nicht nur ihre Pflicht tun oder einem Gesetz folgen, sondern aus guten Gründen das Richtige zu tun versuchen und aus dieser Haltung Kraft für konkrete Handlungen schöpfen.

Vier Leitfragen sollen den Weg durch die unterschiedlichen Aspekte von Verantwortung weisen und uns die Augen für einen eigenen, vielleicht einen anderen Blick öffnen: Was ist Verantwortung? Warum tragen wir Verantwortung? Wie gelingt verantwortliches Handeln? Und was folgt daraus für unseren verantwortungsvollen Umgang mit der Zukunft?

Im ersten Kapitel geht es darum, eine Klärung der Begriffe vorzunehmen. Das verschafft uns das theoretische Rüstzeug für das, was uns das Abwägen guter Gründe ermöglicht, die wiederum nötig sind, um Entscheidungen zu treffen. Was hat Verantwortung mit Moral und Ethik zu tun, und gibt es so etwas wie das universale Gute, das uns den Weg weist? Schränkt verantwortliches Handeln unsere Freiheit ein? Wie kommen wir von Tatsachen, von Erkenntnissen und Erklärungen zu moralischen Schlussfolgerungen? Welche Werte sollen unser Handeln leiten? Welche Haltung also wollen wir einnehmen? In diesem ersten Abschnitt steht bereits die durchaus umstrittene Überzeugung im Vordergrund, dass der Mensch als vernunftbegabtes Wesen in der Lage ist, verantwortlich mit seiner Freiheit umzugehen, sofern er sich sowohl seiner individuellen Autonomie versichert als auch als Teil einer sozialen Gemeinschaft über sich hinaus zu denken versteht. Eine Überzeugung, die zu diskutieren sein wird.

Im zweiten Kapitel geht es daran anknüpfend um die Verantwortung als ein soziales Phänomen, ein Streben, das nicht nur aufgrund gut durchdachter Argumente, sondern als emotionale Regung – als Betroffenheit, Mitleid oder Zuneigung – ausgeprägt wird. Ein Verantwortungsgefühl begründet unser Handeln auf andere Weise, als es Faktenwissen und rationale Erkenntnis können, setzt aber auch andere Bedingungen voraus. Lässt sich ein solches Gefühl hervorrufen bzw. stärken, und warum fühlen wir uns als Menschen überhaupt verantwortlich? In diesen einfach klingenden Fragen geht es letztlich um unser humanistisches Menschenbild, zu dem wir uns verhalten, für das wir uns entscheiden müssen.

Der dritte Teil des Buches entwickelt vor diesem Hintergrund die Rahmenbedingungen einer denkbaren Praxis der Verantwortung, die sich den Möglichkeiten wie den Grenzen verantwortlichen Handelns zu stellen versucht. Kann es so etwas geben wie einen Imperativ der Verantwortung – auf der Basis guter Gründe, egal ob faktisch, emotional oder beides? Die Frage, wie wir uns um etwas sorgen können, das zeitlich oder räumlich in weiter Ferne liegt, uns also meist nicht unmittelbar betrifft, kann nur durch Regeln und Vereinbarungen beantwortet werden, die sich auf grundlegende Werte eines verantwortlichen Miteinanders beziehen müssen. Dabei tragen wir Verantwortung, indem wir Regeln setzen und überprüfen, weniger, indem wir ihnen aus Gewohnheit folgen.

Diese Überlegungen werden im vierten Kapitel noch einmal zeitlich ausgerichtet und auf die ganz großen Aufgaben bezogen: Wie können wir für eine Zukunft verantwortlich sein, von der wir noch nicht einmal wissen, wie sie aussehen wird? Welche Regeln brauchen wir, um von Verantwortung für das Kommende sprechen zu können? Verantwortliches Handeln, das sich eine gelingende Zukunft zum Ziel setzt, ist ein anderes als das, das wir gewohnt sind, wenn wir nach schnellen und wirksamen Lösungen suchen, die so dringend notwendig sind – es geht darüber hinaus.

Der Philosoph Hans Jonas hat Ende der 1970er eine ethische Weitwinkelperspektive auf die Zukunft gefordert,4 die die Welt der Natur nicht als zu nutzende Ressource für die Fortsetzung eines Lebens in Wohlstand versteht, sondern die die Umwelt als Gegenstand verantwortlicher Praxis ernst nimmt. Und mit dieser Umwelt ist sowohl der persönliche Kontext gemeint, in dem es einen Unterschied macht, welche Haltung ich einnehme, als auch der große organische Zusammenhang, der sich aus einem ökologischen Gleichgewicht ergibt und den es wiederum durch politische Institutionen und klare Entscheidungen zu schützen gilt – unabhängig von den Interessen Einzelner.

Das Ende des Buches greift die Forderung von Hans Jonas auf und reflektiert sie, um die Kraft der Verantwortung als ein Zusammenspiel aus kritischem Denken, guten Gründen und emotionalem Spürsinn voller Tatkraft zu nutzen. Mit dieser Kraft lässt sich das Unbehagen der eigenen Überforderung vielleicht nicht vollständig überwinden, aber doch annehmbar machen, sodass wir handlungsfähig bleiben. Nur dann können wir in der Gegenwart wirksam werden und Sorge für eine Zukunft tragen, die über uns hinausgeht. Eine gelingende Zukunft wird sich nur aus einem wachsamen Umgang mit einer Gegenwart ergeben, für die wir alle verantwortlich sind: eine Gegenwart, in der wir gut und gern leben wollen. Indem wir für die Gegenwart sorgen, machen wir eine Zukunft mit offenen Perspektiven und guten Aussichten möglich – anstatt sie zu verhindern. Und das sollten wir auf die bestmögliche Weise tun: aus dem guten Grund, dass wir als Menschen dazu in der Lage sind.

Ina Schmidt

Reinbek, Dezember 2020

1.KAPITEL

Was heißt Verantwortung?

»Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten.«

ROGERWILLEMSEN, »WERWIRWAREN. ZUKUNFTSREDE«

Wie aber fangen wir an? Warum fällt es uns so schwer, das Richtige im Möglichen zu erkennen, und selbst wenn wir es erkennen, warum tun wir es dann nicht einfach?

Manche Dinge sind leichter richtig zu machen als andere. Wir übernehmen Verantwortung, wenn wir unsere Kinder pünktlich zur Schule bringen, unsere Arbeit gewissenhaft erledigen und das Billigfleisch im Supermarkt liegen lassen. Aber vielleicht könnten unsere Kinder auch ganz allein zur Schule gehen, unsere Arbeit könnte sich noch viel wichtigeren Fragen des Lebens widmen und den Supermarkt sollten wir eigentlich ganz links liegen lassen und auf den Bioladen eine Querstraße weiter umsteigen. Was ist wie verantwortungsvoll, was ist genug und was eigentlich nur eine bequeme Ausrede? Verantwortung kommt irgendwie immer darauf an – aber worauf eigentlich? Das Richtige ergibt sich oftmals aus dem Zusammenhang, sodass man nicht auf eine einfache Handlungsanweisung hoffen kann. Also brauchen wir als Individuen die Fähigkeit herauszufinden, worauf es ankommt, um verantwortlich zu handeln.

Erkenntnis ist in vielen Fällen nicht das Problem: Die Einsicht, dass es im Hinblick auf eine ganze Reihe von Herausforderungen dringend an der Zeit ist, verantwortlich zu handeln, ist wahrlich nicht neu und alles andere als überraschend. Seit Jahrzehnten mahnen Forscher und Wissenschaftlerinnen unterschiedlichster Disziplinen, dass wir auf begrenztem Raum mit begrenzten Ressourcen leben, und dieses Wissen hat mittlerweile jeden von uns erreicht. Kohle wächst nicht nach und Bienen fressen keine Steine.1 Manche Dinge sind sehr einfach. Daten und Fakten sprechen eine eindeutige Sprache, und wir können uns kaum mit dem Hinweis auf die Komplexität eines Zusammenhangs herausreden. Denn so komplex die Antworten sein mögen, die wir finden müssen, um Lösungen zu entwickeln, die die globalen Probleme unserer Gegenwart in den Blick nehmen, so einfach ist die Erkenntnis, dass wir nicht so weitermachen können wie bisher.

Also was ist zu tun und wer entscheidet darüber? Eben hier beginnt die Uneinigkeit. Verantwortungen werden willig übernommen oder hin- und hergeschoben, europäische Lösungen sollen gefunden werden, während andere nationale Alleingänge anstreben, und globale Einigungen sind oftmals in weiter Ferne oder unmöglich. Daran lässt sich wunderbar verzweifeln, und wir alle kennen die Gespräche unter Freunden oder Kollegen, bei denen die Köpfe über die Entscheidungen »der Politik« oder dieser oder jener Institution geschüttelt werden. Verantwortung scheint in solchen Situationen viel mit Ämtern, Rollen und Zuständigkeiten, mit gesetzlichen Vorgaben und Einzelinteressen zu tun zu haben. Wir, die wir vielleicht kein Amt bekleiden und keiner Institution angehören, glauben dann, uns darauf beschränken zu können, uns in solchen Gesprächen über den bedauerlichen bzw. bedrohlichen Zustand der Welt auszutauschen. Aber sofern wir die Idee ernst nehmen wollen, dass jede und jeder von uns ein zur Verantwortung begabtes Wesen ist, das Zusammenhänge herstellen und aus Alternativen wählen kann, gehen die Möglichkeiten, die wir haben, darüber hinaus.

Der Philosoph Karl Jaspers, der im letzten Jahrhundert mahnende Worte beim Aufbau der jungen Bundesrepublik fand, war sicher, dass Verantwortung nur im Handeln, in ganz konkreten Momenten der Entscheidung sichtbar wird, dann also, wenn wir uns in einem bestimmten Moment, aus gutem Grund für etwas entscheiden, das wir für richtig halten. Und wir, das ist jeder von uns.2 Allerdings – und dieser Einwand ist so ebenso einfach wie richtig: Wir wissen nicht, ob das, was wir für richtig halten, uns auch an das Ziel führt, das wir für notwendig halten. Wenn wir also darüber sprechen, wer warum welcher Verantwortung nicht nachgekommen sein mag, sein Amt einfach niedergelegt hat oder unverantwortlich mit Steuergeldern umgegangen ist, fangen wir bereits im diskursiven Akt an, ganz konkret zu werden. Worum geht es, was verstehen wir im zur Diskussion stehenden Zusammenhang unter Verantwortung und welche Alternative wäre aus welchen Gründen die bessere gewesen? Wie können wir etwas beurteilen, welches Wissen ist vonnöten und wo liegen die Grenzen dessen, was wir verantwortungsvoll zu regeln versuchen? Verantwortung ist nur so lange eine Art Selbstverständlichkeit, solange wir nicht nachfragen. Aber erst dann wird es konkret, und wir können herausfinden, worauf es wirklich ankommt.

Verantwortung ist die Suche nach guten Antworten

Beginnen wir mit einer konkreten Situation, in der, wie wir von Karl Jaspers gehört haben, verantwortungsvolles Handeln erst zum Ausdruck kommen kann – hier vielleicht in einer besonders dramatischen Form: Die Kapitänin Carola Rackete, die im Juni 2019 mit dem Seenotrettungskreuzer Seawatch 3 nach wochenlangem Warten dreiundfünfzig libysche Flüchtlinge auf die italienische Insel Lampedusa brachte, entschied sich zu dieser Handlung entgegen der Auflagen der italienischen Behörden. Die Flüchtlinge hätten Italien nicht betreten dürfen. Carola Rackete machte sich strafbar, indem sie die Menschen ans sichere Land brachte, und übernahm dafür die persönliche Verantwortung. Was aber bedeutet das in diesem Fall genau? Rackete war als Kapitänin zuständig; sie war qua ihrer Führungsrolle diejenige, die eine Entscheidung treffen musste; zudem war sie kompetent und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte und damit in der Lage, den Bruch gesetzlicher Vorgaben ins Verhältnis zu dem zu setzen, was ihrer Vorstellung nach das Richtige war. In einem Interview mit der ARD am 5.Juli 2019,3 das aufgrund von Drohungen an einem geheimen Ort in Sizilien geführt werden musste, erklärte sie, dass sie diese Entscheidung auf Basis der Expertise der Crewmitglieder, die die Geflüchteten versorgten, abgewogen hätte, gemeinsam mit dem medizinischen Personal, das den Zustand der Geflüchteten als sehr besorgniserregend eingeschätzt hatte (es gab Androhungen von Hungerstreiks und Suizidgedanken). Gleichzeitig hätten offizielle Stellen wie die libysche Küstenwache erst spät und sehr zögerlich auf E-Mail-Anfragen reagiert, sodass sie ihrer Pflicht hätte nachkommen müssen, Menschen in Not zu helfen. Carola Rackete spricht von einer »Mauer des Schweigens«, auf die sie getroffen sei.

Rackete hat also auf verschiedenen Ebenen Verantwortung übernommen: eine Rollen- und Handlungsverantwortung, die sie ihrer Eigenschaft als Kapitänin in der konkreten Situation ohnehin trug; aus ihrer Entscheidung resultierend eine rechtliche Verantwortung, die dazu führte, dass sie die Konsequenzen eines Gesetzesbruchs zu tragen hatte; und eine moralische Verantwortung, die sie offenbar dazu bewogen hat, eine solche Entscheidung zu treffen. Rackete hat auf eine problematische Aufgabenstellung eine Antwort gefunden, die auch hätte anders ausfallen können, aber für sie die einzig richtige gewesen ist.4

Während Carola Rackete also in einer Kaskade unterschiedlicher Verantwortungsanforderungen eine (für sie) richtige Entscheidung getroffen hat, können wir am Beispiel eines anderen Kapitäns sehen, dass selbst die grundlegende Handlungs- bzw. Rollenverantwortung nicht selbstverständlich erfüllt wird. Kapitän Francesco Schettino war 2012 der verantwortliche Schiffsführer bei der Havarie des Kreuzfahrtschiffs Costa Concordia vor der italienischen Insel Giglio, bei der er schnellstmöglich das eigene Schiff verließ, bevor für die Sicherheit der Passagiere und Mannschaften gesorgt war. Zweiunddreißig Menschen starben bei diesem Unglück, und ein italienisches Gericht zog Schettino zu der Verantwortung, die er nicht hatte tragen wollen: Er wurde zu sechzehn Jahren Haft wegen fahrlässiger Tötung verurteilt.5

Verantwortliches Handeln ist also keine Selbstverständlichkeit – es versteht sich nicht von selbst und bezieht sich auf verschiedene Ebenen des eigenen Tuns. Der Unterschied im Handeln von Carola Rackete und Francesco Schettino scheint offensichtlich: Die eine hat das Richtige getan, der andere nicht. So weit, so klar. Aber was genau bedeutet: das Richtige? Rein rechtlich hat Rackete etwas Verbotenes getan, dass es damit aber nicht notwendig auch das Falsche war, ist der Punkt, an dem die Sache interessant wird. Die Reaktionen auf die Entscheidung Racketes zeigen jedenfalls, dass es offenbar auch moralisch so einfach dann doch nicht ist, schließlich wurde sie sowohl verurteilt als auch bejubelt. Wie also finden wir heraus, was daran gut, was das Richtige ist und wer dieses Urteil fällen kann?

Zunächst können wir festhalten: In Situationen, in denen wir verantwortlich sind, müssen wir – aufgrund von Rolle, Zuständigkeit oder Kompetenz – in der Lage sein, eine Entscheidung zu treffen (also hier: die Befehlsgewalt der Kapitänin), eine Antwort zu geben oder gegenüber Institutionen, der Öffentlichkeit, dem eigenen Umfeld Gründe anzuführen und uns zu rechtfertigen (die humanitäre Verpflichtung, die Flüchtlinge sicher an Land zu bringen).

Wir sind also – das Beispiel des Flüchtlingsschiffes hat es in besonders dramatischer Weise gezeigt – in einer konkreten Situation immer verantwortlich für etwas oder jemanden und gegenüber (mindestens) einem anderen, sodass sich jede Verantwortlichkeit als eine mindestens dreistellige Relation (X ist verantwortlich für Y gegenüber Z) zum Ausdruck bringen lässt, möglicherweise sogar als vier- oder fünfstellige, wenn in diese Relationen die Normen, unter denen verantwortliches Handeln entsteht, bzw. die Adressaten, an die es gerichtet ist, hineingenommen werden (dann wäre X für Y gegenüber Z verantwortlich aufgrund von A und vor B).6 Zusammengefasst bedeutet das Hinzunehmen der beiden letzten Instanzen für unser Beispiel, dass wir unser Handeln mit einem möglicherweise idealen »Sollen« (hier: eine Welt, in der Flüchtlinge nicht im Mittelmeer ertrinken müssen) abgleichen und vor der Öffentlichkeit als Praxis vertreten, die auf guten Gründen beruht. Darin können diese Gründe unterschiedlich sein, wenn wir z.B. davon ausgehen, dass für den einen die Beseitigung der Fluchtursachen im Vordergrund steht und für den anderen die Aufnahme von Geflüchteten in Drittländern. Beides kann den Kriterien einer verantwortungsvollen Praxis genügen, auch wenn die Handlungen, die daraus folgen, sehr unterschiedlich sind.

Mit der Differenzierung dieser verschiedenen relationalen Ebenen sind wir also schon einen Schritt weiter im Verständnis dessen, was wir mit Verantwortung meinen. Jeden Tag erleben wir aber im eigenen Alltag genauso wie in Politik und Gesellschaft, dass sich diese Ebenen im Ringen um Verantwortung vermischen, unklar und diffus werden. Der Anspruch einer eindeutigen Definition ist schwer zu erfüllen, wenn nicht ganz klar ist, wem welche Zuständigkeit, Rolle oder Kompetenz zuzuschreiben ist, und welche Folgen welchen Handelns eigentlich die sind, die wir für richtig halten oder zumindest wünschen. Oft zu schnell, unaufmerksam und intuitiv fällen wir Urteile, kritisieren, sind empört oder nicken zustimmend. Menschen treffen unbequeme Entscheidungen, nehmen Einschnitte vor, ziehen Grenzen oder müssen ganz konkret z.B. das Wohl ihrer Patienten im Auge behalten – und können dabei ebenso verantwortungsvoll wie verantwortungslos vorgehen. Aber wo können und sollten wir wirklich von Verantwortung sprechen? Ein Politiker beantwortet diese Frage anders als eine Kapitänin, ein Arzt anders als eine Mutter oder eine Richterin, und in Zeiten von globalen Aufgaben und Krisen ist offenbar jeder von uns gefragt, sich zu überlegen, wie er oder sie ein verantwortungsbewusster Teil der zivilen Gemeinschaft sein kann. Es kommt also wieder darauf an.

Muss es aber in all dem nicht auch eine universale Vorstellung des Guten geben, damit nicht jeder einfach das als das Richtige absegnen kann, was er oder sie will? Es kann doch nicht jeder Grund ein guter sein, jedes Interesse oder jede Kompetenz die Möglichkeit verantwortlichen Handelns in sich tragen, denn schließlich sind manche Haltungen und Handlungen vielleicht richtiger als andere. Diese Überzeugung – gleichwohl in der Philosophie seit der Antike nicht unumstritten – bildet die Prämisse der folgenden Überlegungen: Nur wenn es grundsätzlich möglich ist, das Gute vom Schlechten zu trennen, ist es sinnvoll und notwendig, ein Verantwortungsbewusstsein auszuprägen. Könnten wir uns immer damit herausreden, dass es letztlich doch alles irgendwie relativ ist und von jedem selbst abhängt, was er oder sie für gut und richtig hält, wäre die Rechtfertigung des eigenen Handelns immer vom Wohlwollen und ein Stück weit der Willkür meines Gegenübers abhängig. Dass es sich bei verantwortlichem Handeln um eine relationale Praxis handelt, heißt aber nicht, dass es sich nach Belieben drehen und wenden kann, sondern es zeichnet sich durch den Bezug zu dem, was darin als das allgemein gültige Gute gilt, verbindlich aus. Verantwortung hat immer etwas damit zu tun, in der Unterschiedlichkeit der Kontexte ernsthaft nach der (kontextabhängig) bestmöglichen Antwort auf eine Frage oder eine Handlungsaufforderung zu suchen, die für andere nachvollziehbar sein muss.

Um sich in diesen beweglichen, aber nicht beliebigen Kontexten orientieren zu können und eine eigene Perspektive auf das eigene Handeln zu entwickeln, hilft es uns nicht nur weiter, dass wir in der Lage sind, Möglichkeiten abzuwägen, sondern auch wahrhaft gute Gründe für die Möglichkeiten anzugeben, die wir anderen vorziehen. So schreibt der Philosoph Julian Nida-Rümelin in seinem Traktat zur Verantwortung, dass der eigentliche Kern der Übernahme von Verantwortung in jedem nur erdenklichen Kontext mit der menschlichen Fähigkeit zu tun hat, »sich von Gründen leiten zu lassen«.7 Diese Gründe lassen sich ganz unterschiedlich herleiten, um die verschiedenen Relationen und Ebenen von Verantwortung abbilden zu können: rechtlich, moralisch, wissenschaftlich, politisch etwa oder ganz persönlich. Und all diese Ebenen ziehen eigene Praktiken nach sich, vermischen sich und müssen pfadabhängig geklärt werden.

Worauf also gründet unser Handeln? Der Karlsruher Philosoph Hans Lenk spricht von der Intention, die unserem Handeln eine Richtung gibt und damit entscheidend dafür ist, wie wir unsere Handlungen begründen. Wir sind als Menschen in der besonderen Lage, dies tun zu können, und werden nur so einer moralischen Würde gerecht, so Lenk – eine Einsicht, die uns noch beschäftigen wird.8 In der Idee einer solchen Würde sind wir also mit der Gabe zur Verantwortung ausgezeichnet und gleichzeitig aufgerufen, eben weil wir unser Handeln von Gründen leiten lassen können. Manche dieser Gründe sind individuell und gelten nicht für jeden, andere stehen in einem sozialen Kontext schlicht nicht zur Verhandlung, sondern haben einen unmittelbaren Bezug zu dem, was wir als das Gute begreifen.

Hier tut sich nun die schwierige Frage auf, ob wir »das Gute« als relativ oder universal auffassen können bzw. wollen – ein Streit, der seit Jahrhunderten nicht beizulegen ist. Eine Studie der Universität Oxford aus dem Jahr 2019 gelangt hier zu ein paar richtungsweisenden empirischen Ergebnissen. Der Anthropologe Oliver Scott Curry, der die groß angelegte Untersuchung mit weltweit über sechshunderttausend Teilnehmern aus sechzig Kulturen leitete, kommt zu der schlichten Überzeugung: »Überall auf der Welt teilen Menschen einen gemeinsamen Moralkodex.« Das Forscherteam von der School of Anthropology & Museum Ethnography ist überzeugt, dass diese moralischen Verhaltensregeln sich überall etabliert haben, wo menschliches Zusammenleben gelingen soll – unabhängig von kulturellen oder religiösen Besonderheiten. Sieben Grundsätze werden in der Studie genannt, die immer als moralisch gut bewertet werden: Unterstützung der Familie, Unterstützung der eigenen sozialen Gruppe, sich für Gefälligkeiten erkenntlich zu zeigen, sich zu revanchieren, mutig zu sein, Respekt vor Vorgesetzten zu haben, Ressourcen gerecht zu verteilen und das Eigentum bzw. den Besitz anderer zu respektieren.9 Diesen moralischen Verhaltensregeln liegt offenbar etwas zugrunde, was wir als eine grundsätzliche Orientierung am Guten nicht infrage gestellt wissen wollen, so unterschiedlich das daraus folgende Handeln sein mag – so die Studie.

Diese Haltung findet sich auch in der Moralphilosophie. Der britische Philosoph Derek Parfit etwa ist davon überzeugt, dass es Sachverhalte gibt, über die man nicht unterschiedlicher Ansicht sein könne. So könne es z.B. keinen guten Grund für den Klimawandel geben oder für die Gewalt an unschuldigen Menschen. 10 Hieraus ergeben sich laut Parfit »Tatsachen«, die als Gründe für unser Handeln anzuführen sind und die nicht von den Werten oder gar Wünschen eines Einzelnen abhängig gemacht werden können. Und diese Tatsachen gelten auch in sehr individuellen Entscheidungsmomenten, die nicht auf das große Ganze gerichtet sind.

In seinem Werk On What Matters beschreibt Parfit ein prägnantes Beispiel, um den Unterschied zwischen Gründen und Wünschen deutlich zu machen: Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem brennenden Hotelzimmer eingeschlossen und müssen aus dem Fenster in einen Kanal springen, um ihr Leben zu retten. Würde ein Beobachter die Szene beurteilen, wäre er sicher, dass Sie einen guten Grund hatten, aus dem Fenster zu springen, auch wenn es sicher nicht Ihr Wunsch war, dies zu tun. Der Grund ist die Bedrohung Ihres Lebens, und dieser Grund ist stärker als jeder Wunsch. – Aus diesem Bild ergibt sich etwas für uns sehr Wichtiges, nämlich ein anderes Verständnis von Rationalität, weil diese Gründe nicht zwingend unserem Verstand zugänglich sein müssen. Ein Grund ist damit mehr als die Ursache eines Sachverhalts, nämlich auch die nicht immer herzuleitende oder erklärbare innere oder äußere Motivation für das, was wir uns wünschen. Das heißt nach Parfit, dass unsere Wünsche aus Gründen resultieren, damit es überhaupt Wünsche sein können – und eben diese tieferen Gründe gilt es herauszufinden.11

Die wichtige Frage hier ist, ob es – und Parfit bejaht dies – Gründe gibt, die, wie er es nennt, »objektgegeben« sind und damit Maßstäbe dafür bieten, dass etwas wichtig ist und nicht nur von uns für wichtig gehalten wird. Es sind diese Gründe, die uns zur Verantwortung aufrufen, wie etwa die Wahrung der Zukunft unseres Planeten oder die Aufgabe, sich um das Wohl und Wehe geflüchteter Menschen zu sorgen. In dieser Objektgegebenheit liegt für Derek Parfit die Grundlage dafür, dass es nicht nur nicht wünschenswert, sondern auch nicht vernünftig sein kann, nur das zu tun, was wir uns als einzelner Mensch wünschen oder was unser persönliches Wohlergehen steigert: »Unser eigenes zukünftiges Wohlergehen ist nicht das höchste rationale Anliegen.«12 Es geht um mehr, und es gilt, das eigene Wohlbefinden und die eigenen Wünsche zurückzustellen, um etwas anderes möglich zu machen, hin und wieder um aber fast paradoxerweise auch das eigene Wohlbefinden absichern zu können.

Bleiben wir bei dem Bild des Hotelzimmers. Natürlich springen wir nur aus dem Fenster, um unser mögliches zukünftiges Wohlergehen abzusichern, eine Bedrohung für Leib und Leben abzuwenden, aber übertragen wir dieses Verhalten z.B. auf den gegenwärtigen Umgang mit dem Klimawandel, verhalten wir uns eher so, als würden wir in diesem Hotelzimmer noch eine Party feiern, weil wir Angst haben, uns um die Annehmlichkeiten des Zimmerservice zu bringen, wenn wir raus in den Kanal springen.

Es geht also bei der Überlegung, wie wir uns in unserem verantwortlichen Handeln von Gründen leiten lassen, darum, die unmittelbaren Folgen des eigenen Tuns mit den langfristigen Wirkungsmöglichkeiten abzugleichen: Risiko beim Sprung in den Kanal, im Falle des Gelingens aber Sicherung des eigenen Überlebens. In diesen Abwägungen spielt die Vorstellung, dass wir die Auswirkungen unseres Handelns im Guten wie im Schlechten erleben werden, eine nicht unwichtige Rolle. Habe ich die Verantwortung dafür, dass es mir und meinen Lieben heute gut geht? Oder bezieht sich meine Verantwortung auch auf eine Zukunft, die vielleicht meinen Enkelkindern zugutekommt, heute aber Verzicht und Beschränkung notwendig macht? Das vierte Kapitel wird sich dieser Frage ausführlich widmen.

Es zeigt sich also, dass wir mit diesem skizzierten Geflecht einer notwendigen Verantwortungspraxis ebenfalls verantwortungsvoll umgehen müssen. Wir haben es mit einer konkreten kommunikativen Form des Handelns – einem diskursiven Akt, der je nach Gestaltung soziale Auswirkungen hat – zu tun, die nach Antworten auf komplexe Fragestellungen sucht, nach Antworten, die zwar auf guten Gründen basieren, sich aber nicht allein als rational erklärbare Vernunfterwägungen beschreiben lassen (ein wichtiger Gedanke, den wir im zweiten Kapitel intensiv verfolgen wollen). Dabei richtet sich verantwortliches Handeln auf die Vergangenheit, wesentlich aber auf die Gegenwart und die Zukunft, mit dem Ziel, nach einem Prozess der Abwägung Handlungsoptionen aufzuzeigen, die sich das Gute bzw. das Richtige zum Kompass für die eigene Entscheidung machen.

Diese Zusammenfassung ist zugleich ein Ausgangspunkt, denn aus den beschriebenen Einsichten ergeben sich immer weitere Fragestellungen – ein Umstand, der verantwortliche Praxis ausmacht und sie von äußerer Pflichterfüllung oder Gehorsam abgrenzt. In seinem beständigen Bezug zu guten Gründen unterscheidet sich verantwortungsvolles Handeln auch von einer rein instinktiven Reaktion, die wir ähnlich wie andere Tiere ausführen, ohne darüber nachzudenken,13 ebenso aber von reinem Funktionieren oder strategischen Überlegungen, die andere Kriterien für das eigene Handeln anlegen. Wir können nach dem Guten streben, und wenn wir Verantwortung übernehmen, verpflichten wir uns selbst, dies auch zu tun – weil wir durch unsere Rolle zuständig, rechtlich daran gebunden oder moralisch dazu aufgerufen sind (oder alles gleichzeitig). Denken wir an die Kapitänin Rackete, dann macht es sich jemand, der Verantwortung trägt und übernimmt, niemals leicht, sucht also nicht nach einer bequemen Antwort, sondern nach einer, die im Sinne des Guten tragfähig und vertretbar sein kann. Tut sie oder er dies nicht, handelt die Person auch auf irgendeine Weise, aber eben nicht verantwortlich. Es geht darum, eine Antwort finden zu wollen, sich also gedanklich mit den bestehenden Möglichkeiten zu befassen, sie abzuwägen, um eine Wahl zu treffen, die sich sprachlich begründen, also auch diskursiv verteidigen lässt. Das Wort »Verantwortung«, übertragen aus dem lateinischen respondere, meint die menschliche Möglichkeit und Fähigkeit, eine Antwort geben zu können – ganz ähnlich wie der englische Begriff responsibility oder das französische responsabilité. Eine solche Antwort muss allerdings bestimmten Kriterien genügen, die wir oft unausgesprochen daran messen, ob sie sich am Guten und Richtigen orientieren, bzw. daran, gut und richtig handeln zu wollen, möglicherweise auch entgegen den eigenen Interessen.

Verantwortung ist also immer eine normative Haltung, sie ist darauf ausgerichtet, eine Verbesserung zum Guten wirksam werden zu lassen, die nichts mit dem eigenen Wohlbefinden zu tun haben muss. Stellen wir also für den Moment fest: Jeder Versuch, verantwortungsvoll zu handeln, ist ein normativer Aufbruch, um einen gesollten Zustand herstellen zu wollen, den wir sprachlich begründen und vor einer dritten Instanz vertreten können: Rette ich Menschenleben oder befolge ich Gesetze? Rette ich mein eigenes Leben oder sorge ich für das der anderen? Sichere ich meinen Wohlstand oder verzichte ich auch zugunsten zukünftiger Generationen? Fragen, die nach Antworten suchen – immer wieder aufs Neue.

Wichtig ist an diesem Punkt, antworten zu wollen und nicht zu sollen. Die Suche nach Antworten bedeutet nicht, dass wir immer eine finden können oder müssen, die eindeutig oder unbestreitbar ist und uns so zweifelsfrei vorgibt, was zu tun ist – nicht weil wir das nicht wollten, sondern weil es nicht immer möglich ist. Damit sind wir als Verantwortliche nicht verpflichtet, eine Lösung oder ein Ergebnis zu präsentieren, sondern eine Entscheidung zu treffen, die wir im Sinne des Guten begründen können.

Fassen wir noch einmal zusammen: Verantwortung tragen wir immer im Rahmen eines Kontextes alternativer Möglichkeiten, der über uns hinausgeht, den wir interpretieren und sprachlich fassbar machen müssen und den wir in unserem Verhalten ausdrücken bzw. vor anderen rechtfertigen können müssen. Das heißt, dass jede Form verantwortlichen Handelns in Beziehung zu etwas stehen muss, das konkret an den Moment der Handlung gebunden ist: Verantwortung ist damit immer relational (was nicht heißt, dass sie relativistisch oder willkürlich ist, wie wir bereits gehört haben). Verantwortliche Praxis bedarf der Abwägung und der eigenen Entscheidungskraft, wurzelt aber gleichzeitig in begründbarem Wissen und einem Referenzrahmen, auf den sich alle Teile der Relation verständigen können und der auch über diesen Rahmen hinaus nachvollziehbar sein muss.

Aber selbst wenn es möglich wäre, dass wir uns vor jeder wichtigen Entscheidung zwei Tage einschließen und all diese Punkte gründlich überdenken, wären sie nicht konsequent eindeutig zu klären. Wir alle kennen die liebe Not, wenn es zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten zu wählen gilt, die alle auf etwas Gutes oder Richtiges hinweisen. Arbeitsplätze oder Umwelt? Familie oder Beruf? Die Dilemmata lassen sich nahezu beliebig fortsetzen.

Bleiben wir aber bei unserem Beispiel: Welche Entscheidung treffe ich als Kapitänin, wenn die Lage komplizierter ist, ich z.B. Menschen in einem Sturm aus dem Mittelmeer retten könnte, dafür aber die Sicherheit derjenigen aufs Spiel setzen muss, die bereits an Bord sind? Der Schriftsteller und Jurist Ferdinand von Schirach führt in seinem Theaterstück Terror (in dem verhandelt wird, ob es strafbar ist, ein Passagierflugzeug abzuschießen, mit dem ein Terroranschlag auf ein Stadion verübt werden soll) den Fall des amerikanischen Steuermannes Holmes an, der 1842 in den USA anhängig war.14 Nach einem Schiffsunglück musste Holmes entscheiden, welche Menschen ins Rettungsboot durften und welche zurückbleiben mussten. Ihn selbst eingeschlossen. Das Gericht entschied, dass er sich als Verantwortlicher selbst retten durfte, um die anderen Menschen retten zu können. Hier geht also der Kapitän ebenfalls von Bord, aber anders als Francesco Schettino nicht, um seine eigene Haut zu retten, sondern um sicherzustellen, dass er die Haut anderer retten kann. Auch wenn das heißt, dass in dem Rettungsboot ein Platz weniger für eine zu rettende Person ist. Hätte das Gericht auch anders entscheiden können? – Gewiss, denn die Uneindeutigkeit macht eben das Dilemma aus.15