Die Kraft der Versöhnung - Steve Volke - E-Book

Die Kraft der Versöhnung E-Book

Steve Volke

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Beschreibung

Der Vater von Vital Nsengiyumva wird 1994 im Genozid in Ruanda getötet, der Mörder kam aus der Nachbarschaft. Vitals Mutter war traumatisiert, setzte aber alles daran, dass die Familie überlebte. Der Abstieg vom gehobenen Mittelstand hin in die Armut folgte in kürzester Zeit. Trotzdem absolvierten sieben der neun Geschwister später ein Universitätsstudium und die gesamte Familie fand wieder zu einem guten Leben zurück. Die Versöhnung mit dem Mörder war für die Familie ein langer Prozess, bei dem der Glaube eine zentrale Rolle spielte. Vital war Patenkind bei Compassion, lebt heute mit seiner Familie in Stuttgart und engagiert sich ehrenamtlich in dem Verein.

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STEVE VOLKE

DieKRAFTderVERSÖHNUNG

Ruanda: die unglaubliche Geschichte von Vital Nsengiyumva

Über den Autor:

Steve Volke (Jg. ’61) lebt in Marburg, ist verheiratet mit Anke und Vater von 4 erwachsenen Töchtern. Der Journalist, Referent und Fotograf ist in seinem Hauptberuf CEO des Kinderhilfswerks Compassion (Marburg). Volke ist Autor von über 35 Titeln, von denen sechs in anderen Sprachen und Ländern veröffentlicht wurden.

Die Bibelstellen sind der Übersetzung „Hoffnung für alle“ entnommen (Hfa) ©1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis.

©2022 Brunnen Verlag GmbH, Gießen

Lektorat: Stefan Loß

Umschlagfoto: Steve Volke, Marburg

Umschlaggestaltung: Carla-Annabell Muntean, Marburg

Satz: Brunnen Verlag

ISBN Buch 978-3-7655-3655-7

ISBN E-Book 978-3-7655-7669-0

www.brunnen-verlag.de

Inhalt

1 Ruanda – die blühende Perle Ostafrikas

2 Ein Tag fürs Geschichtsbuch

3 Der Tag, an dem alles anders wurde

4 Eine Kindheit mit Kühen

5 Die Kommandozentrale des Teufels

6 Was Deutsche und Belgier verursacht haben

7 Eine Familie auf der Flucht

8 Wie Kirchen zu Komplizen wurden

9 Weiterleben mit dem Schmerz

10 Es braucht ein ganzes Dorf …

11 Auf der Suche nach Gerechtigkeit

12 Bildung für ein besseres Leben

13 Die Brückenbauer der Versöhnung

14 Wenn Mitgefühl ins Leben kommt

15 Die Welt gehört in Kinderhände

16 Eine Entscheidung in einer anderen Welt

17 Lustig ist das Studentenleben – von wegen

18 Mein Weg nach Deutschland

19 Dorrit – eine Liebesgeschichte

20 Versöhnung – was sonst?

21 Ruanda – ein Land mit Zukunft

22 Mein Engagement für eine bessere Welt

23 Zum guten Schluss (ein Nachwort)

Kinder aus Armut befreien

1

Ruanda – die blühende Perle Ostafrikas

Ruanda – das „Land der tausend Hügel“ in Ostafrika. Eine echte Perle mit wunderschönen Landschaften und unzähligen Tee- und Kaffeeplantagen. Kleine Dörfer zwischen Hügeln, atemberaubende Schönheit. Ruanda ist ein Binnenstaat zwischen Uganda, Tansania, Burundi und der Demokratischen Republik Kongo gelegen.

Ruanda – das Land der Berggorillas, Elefanten, Flusspferde, Schimpansen, Löwen, Leoparden – und jeder Menge Kühe, Ziegen und Schafe. Atemberaubende Landschaften, eine Natur voller Tierreichtum und nebelverhangener Berge der Ur- und Regenwälder. All das prägt Ruanda und hat dem Land bei Europäern den Ruf der „Toskana Ostafrikas“ eingebracht.

Ein Traum, wäre da nicht auch die andere Seite des Landes, die Ruanda 1994 fast in Schutt und Asche gelegt hätte: der Völkermord an den Tutsi. Knapp eine Million Menschen verloren ihr Leben. Hass breitete sich aus. Freunde wurden zu Feinden, Nachbarn zu Gegnern, Jugendliche zu Mördern, Priester und Kirchen zu Verrätern, Weltpolitiker zu ignoranten Versagern, die Vereinten Nationen (UN) zu Feiglingen, Frankreich, Belgien und Deutschland zu üblen Mittätern aus der Ferne.

Wer wissen will, wie Hass geboren wird und was er bewirken kann, muss sich die Geschichte Ruandas anschauen.

Mittendrin ein vierjähriges Kind, das mit seinen Eltern und acht Geschwistern über Nacht zum Flüchtling wird: Vital Nsengiyumva. Eine andere Geschichte. Eine Geschichte von Verrat unter Nachbarn, von Mord und Totschlag, von existenziellen Ängsten, aber auch von der Kraft der Versöhnung, die ein Land, ein Dorf, eine Familie ergreift – und die doch noch lange nicht zu Ende ist.

Versöhnung muss gelebt werden. Hass, Rachegedanken und Vergeltung versuchen immer wieder neu die Oberhand zu gewinnen. Dennoch: Versöhnung kann geschehen, wenn wir die Kraft der Liebe Gottes durch uns hindurchfließen lassen. Das hat Auswirkungen auf unser ganzes Leben – auch darüber werden wir in diesem Buch sprechen.

Ich habe mich auf den Weg gemacht, um Vital in seine alte Heimat zu begleiten. Das Dorf Magu liegt etwa anderthalb Stunden entfernt im Süden der Hauptstadt Kigali. Hier ist Vital aufgewachsen, hier hat er seine Kindheit verbracht. Als wir losfahren, lichtet sich der Nebel langsam über dem Tal. Aufgesogen von der Kraft der Sonne. Es ist noch früh am Morgen und ich sitze im Mini-Van. Es geht über hügelige Straßen, vorbei an tiefen Tälern und im wahrsten Sinn über Stock und Stein.

Nach gut anderthalbstündiger Fahrt haben wir unseren Zielort erreicht: Magu Village. Das Dorf, in dem 1994 alles begann: Vitals Vater wurde im Genozid getötet, der Mörder kam aus der Nachbarschaft. Seine Mutter war traumatisiert, setzte aber alles daran, dass die Familie überlebte. Der Abstieg der Familie vom gehobenen Mittelstand hin zur Armut folgte in kürzester Zeit, trotzdem werden sieben der neun Geschwister später ein Universitätsstudium absolvieren und die gesamte Familie wird zu einem guten Leben zurückfinden.

Dabei hätte alles ganz anders kommen können,

wenn da nicht eine aufopferungsvolle Mutter gewesen wäre, die ihre Familie mit viel Gottvertrauen, Entschlossenheit und Liebe durch eine sehr dunkle Zeit gebracht hätte.

wenn es im nahen Ruyumba nicht eine Kirchengemeinde gegeben hätte, die sich um die Entwicklung der Kinder kümmerte und eine wichtige Rolle im Versöhnungsprozess spielte.

wenn es nicht in einem anderen Teil der Welt Menschen wie Tanner Green gegeben hätte, die durch die Vermittlung des Kinderhilfswerkes Compassion Verantwortung für Kinder aus ärmsten Verhältnissen übernahmen.

wenn es keine Menschen gegeben hätte, für die Worte wie Vergebung und Versöhnung trotz eigener schmerzvoller Erlebnisse und Erfahrungen keine Fremdworte waren.

wenn es keinen Gott geben würde, dem Vital wichtig war und der sich um seinen Lebensweg gekümmert hat.

Und wenn …

… es da nicht die junge Frau aus Deutschland gegeben hätte, die ein Freiwilliges Soziales Jahr in Ruanda absolvierte und in die sich Vital wenige Wochen vor seiner Abreise zum Auslandsstudium in Deutschland Hals über Kopf verliebte. So viel sei verraten: Ihre Kinder sagen heute „Papa“ zu Vital. Aber das ist nicht die einzige Geschichte, die dieses Buch erzählt.

„Ikaze“, sagen die Menschen in Ruanda, wenn sie jemanden herzlich willkommen heißen.

Und dann fangen sie an zu erzählen …

„Ikaze!“

2

Ein Tag fürs Geschichtsbuch

Der 6. April 1994 sollte ein besonderer Tag werden, einer dieser Tage, die in die Geschichtsbücher eingehen würden. Der Tag des Triumphs am Ende eines schmerzhaften Friedensprozesses sollte so etwas wie ein neuer Feiertag für Ruanda werden. Das wurde er auch, aber ganz anders als gedacht.

Den ganzen Tag haben sie verhandelt, diskutiert und schließlich ihre Unterschriften unter ein Abkommen gesetzt, das einen über vier Jahre anhaltenden Bürgerkrieg beenden oder zumindest befrieden sollte. Die Verhandlungen bis zu diesem Tag waren langwierig, schwierig und kontrovers, aber nun war es endlich geschafft: Der Präsident von Ruanda, Juvénal Habyarimana, sein Präsidenten-Kollege aus Burundi, Cyprien Ntaryamira, und Vertreter der ruandischen Bevölkerungsgruppen der Hutu sowie der Tutsi trafen sich auf neutralem Boden im tansanischen Dar es Salaam, um die Menschen in ihrem Heimatland in eine friedliche Zukunft zu führen.

Den ganzen Tag über wurden in Einzeltreffen von verschiedenen Delegationen die Bedingungen und der Rahmen für ein friedliches Miteinander besprochen. Und schließlich ist es so weit: Ein Vertrag liegt auf dem Tisch, der von allen unterzeichnet wird. Auf Filmdokumenten wird später ein äußerst zufriedener Präsident Habyarimana zu sehen sein. Umarmungen aller Beteiligten. Zufriedene Gesichter. Erleichterte Stimmung macht sich im Verhandlungsraum breit. Ein Tag für das Geschichtsbuch.

Selbst auf dem Flugplatz in Dar es Salaam ist die hoffnungsvolle Stimmung mit Händen zu greifen. Kurz nach 17.00 Uhr dreht sich Habyarimana auf der Treppe ins Flugzeug noch einmal um und lächelt zufrieden, wenn auch etwas müde in die Kameras. Es ist nicht das Lächeln eines Siegers, mehr das verhaltene Lächeln eines Mannes, dem etwas gelungen ist, das nicht einfach war. Er hebt kurz seine Hand, dreht sich um und verschwindet im Inneren der Präsidentenmaschine.

Habyarimana konnte wirklich zufrieden sein mit dem Ergebnis der Reise. Ein Etappenziel auf dem Weg in eine friedliche Zukunft für Ruanda schien heute erreicht zu sein. Jetzt würde es nach Hause gehen. Nach Hause in ein Land, das bald so ganz anders aussehen würde als in der Vergangenheit. Frieden! Endlich! Natürlich würde es noch sehr viel Arbeit geben, aber der Grundstein für ein versöhnliches Miteinander war jetzt gelegt.

Mit Habyarimana besteigen der Präsident Burundis als Verhandlungsleiter sowie sieben Delegationsbegleiter die Maschine. Sie werden von den drei Besatzungsmitgliedern freundlich in Empfang genommen. Dann schließt sich die Tür, alle Plätze sind besetzt. Aufatmen und Ausatmen nach einem anstrengenden Tag.

Was muss das für ein Gefühl gewesen sein? Ein glückliches Ende langwieriger Verhandlungen. Jetzt erleichtert und zufrieden nach Hause kommen, den Abend im Kreis der Familie genießen. Ein Kuss der Ehefrau, vielleicht ein Telefonat mit den Kindern, ein Gläschen Champagner oder mindestens ein großes Bier. Vielleicht rufen auch Freunde an, wollen kurz wissen, wie es gelaufen ist. So bringt man erfolgreiche Tage zu Ende. Selbst abgeklärte Politiker werden am Abend solcher Tage zu Menschen aus Fleisch und Blut. Ein inneres Schulterklopfen für sich selbst und dann in aller Ruhe mal endlich wieder zufrieden und lange schlafen.

Doch es sollte anders kommen.

Es ist 18.00 Uhr, als die Falcon 50 der ruandischen Regierung in die Dunkelheit über Dar es Salaam startet. Die Insassen ahnen nicht, was ihnen bevorsteht. Gestartet im Dunkeln, gelandet in der Hölle!

Wäre es ein Flug wie so viele andere gewesen, wer hätte sich später noch darum gekümmert? Doch dieser Flug wird in den nächsten Tagen und Jahren immer wieder untersucht und in allen Einzelheiten seziert. Bis heute gibt er Anlass zu unterschiedlichsten Spekulationen, denn immer noch verbergen sich die Ereignisse dieses Abends hinter einer Nebelwand. Die unbestrittenen Fakten sind:

Um 18.05 Uhr erhält der Fluglotse Patrice Muguneza am Airport Kigali die Nachricht, dass die Maschine des Präsidenten in Tansania gestartet sei. Die Ankunft in Kigali ist für 20.26 Uhr geplant. Etwa anderthalb Stunden später funkt der Pilot, dass das Flugzeug sich nun im ruandischen Luftraum befindet und mit einer planmäßigen Landung zu rechnen sei. Ein Trugschluss, wie sich bald herausstellte.

Um 20.10 Uhr erscheint die Maschine auf dem Radar des Flughafens Kigali. Etwa eine Viertelstunde später wird der Fahrer Futuna Makuba die Limousine des Präsidenten bereit machen, um das Gepäck möglichst schnell im Auto verstauen zu können. Der Präsident möchte gewöhnlich keine Zeit verlieren, wenn es auf den Weg nach Hause geht. Deshalb hat Makuba sein Fahrzeug bereits neben der Landebahn geparkt.

Er wird später zu Protokoll geben, er habe das Flugzeug des Präsidenten schon im Anflug gesehen, als plötzlich wie aus dem Nichts ein gelber Feuerball in der Luft auftauchte und die Maschine traf. Eine Rakete, gefolgt von einer weiteren, die das Flugzeug endgültig zum Absturz brachte.

Es sind solche Schockmomente, die sich bis ans Ende des Lebens ins Gedächtnis eingraben: Die lähmende Stille nach dem Knall, gefolgt von Tausenden Gedanken, die wild durch den Kopf fegen: Was zum Kuckuck war das? Was ist passiert? Wo ist das Flugzeug? Wer war das?

Später werden mehrere Versionen des Geschehens die Runde machen. Aber eins wird in diesem Moment allen Beobachtern klar geworden sein: Das war’s! Das Flugzeug des Präsidenten ist mit zwei Raketen abgeschossen worden. Niemand hat das überlebt!

Dieser Tag, der 6. April 1994, geht tatsächlich in die Geschichtsbücher ein. Es ist der Startschuss für einen der größten Völkermorde der Menschheitsgeschichte. Innerhalb der nächsten drei Monate bis Mitte Juli werden 800.000 bis 1 Million Menschen ihr Leben verlieren. Schätzungen gehen davon aus, dass in dieser Zeit etwa 75 Prozent der in Ruanda lebenden Tutsi ermordet worden sind.

Ein Datum, das das Ende des seit 1990 tobenden, aktuellen Bürgerkrieges markieren sollte, wurde zum Startpunkt eines Völkermordes unvorstellbaren Ausmaßes.

Warum? Wer war für den Abschuss verantwortlich? Die einen wollten zwei französische Soldaten in Khaki-Anzügen vom Flughafen fliehen gesehen haben. Andere wiederum hatten angeblich Geheiminformationen über eine Tutsi-Gendarmerie, die als Spezialkommando extra für dieses Attentat ausgebildet worden sei. Wieder andere fanden heraus, dass die beiden Raketen russische SA-16-Raketen gewesen seien, die zum Beutegut der US-Armee aus dem zweiten Golfkrieg gehörten.

Im Jahr 2012, also 16 Jahre nach dem Attentat und dem darauffolgenden Genozid, fand eine durch die Tutsi mit der Untersuchung beauftragte Kommission heraus, dass die Raketen mit größter Wahrscheinlichkeit vom Kanombe-Hügel in der Nähe des Flughafens von Kigali abgefeuert worden waren. Dort befand sich das Hauptquartier der Präsidentengarde von Habyarimana.

Klar ist auch, dass die Ergebnisse der Verhandlungen von Dar es Salaam nicht allen gefallen haben. Der Vertrag sah vor, dass die Macht zwischen Hutu und Tutsi geteilt werden sollte. Die in früheren Bürgerkriegen ins benachbarte Ausland vertriebenen Tutsi sollten zurückkommen dürfen, ihnen sollten ihr Besitz und ihr Land zurückgegeben werden. Das hätte einen versteckten Sieg für die Ruandische Patriotische Front (RPF) bedeutet, die sich aus im Ausland lebenden Tutsi rekrutiert. Hutu-Extremisten aus dem engsten Kreis des Präsidenten sahen in dem Abkommen eine existenzielle Bedrohung und einen massiven Verlust an Macht für die Hutu.

Diese Männer waren nicht nur gegen den Versöhnungsprozess, sondern hatten eigentlich die totale Ausrottung der Tutsi im Sinn. Und dieses Ziel wollten sie nicht aufgeben, selbst nicht, wenn das die Ermordung ihres eigenen Präsidenten bedeuten würde.

Eine unrühmliche Rolle soll dabei einer der engsten Vertrauten des Präsidenten gespielt haben, Oberst Bagosora. Er war mit den Reiseplänen bestens vertraut und stand am 6. April in ständiger Verbindung mit seinen Leuten. In der Nacht vor dem Attentat hatte er die Zusammensetzung der Delegation noch ändern können und so Spitzel im direkten Präsidenten-Team platzieren können. Die informierten ihn über Abflugzeit und Verlauf des Fluges. Außerdem stellte er sicher, dass einer seiner größten Widersacher, Generalstabschef Déogratias Nsabimana, ebenfalls zur Verhandlungsdelegation des Präsidenten gehörte. Auch er kam bei dem Attentat ums Leben, wie alle anderen zwölf Flugzeuginsassen.

Mindestens eine der Raketen hatte die linke Tragfläche und den Rumpf getroffen. Das führte dazu, dass das Flugzeug auf das Gelände der Präsidentenresidenz in Kanombe stürzte.

Der Hutu-Präsident ist nach Hause gekommen. Zum letzten Mal.

3

Der Tag, an dem alles anders wurde

Wie groß war eigentlich deine Schultüte am ersten Schultag und was war drin? Wo musstest du während der Führerscheinprüfung langfahren? Was hattest du bei deiner Abschlussprüfung an der Uni an? Was hast du an dem Tag der Geburt eures ersten Kindes zu Mittag gegessen. Es sind diese kleinen Dinge, die uns später ziemlich egal sind, obwohl es sich um wichtige Tage in unserem Leben handelt.

Andere Situationen vergessen wir niemals, obwohl sie sehr wahrscheinlich viel weniger mit unserem eigenen Leben zu tun haben:

Wo warst du, als die Flugzeuge beim Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 in New York in die Türme geflogen sind? Die meisten von uns wissen das.

Wo und wie hast du erfahren, dass die Berliner Mauer geöffnet wurde? Selbstverständlich weiß ich das noch sehr genau. So etwas vergisst man doch nie!

Fußball-WM 2014. Deutschland wird in Brasilien nach ’54, ’72 und ’90 zum vierten Mal Weltmeister. Und du warst wo? Na klar, weiß ich das noch!

„Vital, wo warst du eigentlich, als der Genozid losbrach?“ Und schon merke ich, wie dumm meine Frage ankommen muss. Vital war damals gerade mal vier Jahre alt. Trotzdem kann er sich heute noch an diese Zeit erinnern – zumindest schemenhaft. An den Tag, an dem die Hölle losbrach und der Teufel das Regime übernommen zu haben schien. Der Tag, an dem „Gott das Land verließ“, wie ein Filmtitel über den Genozid es später formuliert.

Regenzeit 1994. April-Tage in der Village Magu. „Normalerweise werden wir da nicht gerade draußen auf dem Feld gewesen sein“, antwortet Vital auf meine Frage. Natürlich nicht. Andere Überlebende des Genozids werden später berichten, dass sie bis heute zur Regenzeit immer sehr traurig werden. Die Erinnerungen schmerzen immer noch.

„Es war so gegen 4 Uhr nachmittags am Tag nach dem Attentat auf den Präsidenten“, beginnt Vital sich zu erinnern. Seine Stimme stockt immer wieder, wenn er von dem Tag erzählt, der sein bis dahin junges, zufriedenes und glückliches Leben grundlegend verändern würde. „Mein Bruder Pascal kam ins Haus gelaufen und berichtete aufgewühlt von Kämpfen, die er im Nachbarort gesehen hatte. Soldaten hatten auf einem Hügel in der Nähe, dem ‚Ku nkambi‘, aufeinander geschossen.“

Geistesgegenwärtig forderte er die Familie auf zu fliehen. Pascal rannte zur Weide und versuchte, das Schloss am Tor zu öffnen, um die Kühe rauszulassen. Weil er den Schlüssel in der Hektik nicht fand, brach er das Schloss auf und trieb die Kühe aus dem Verschlag. „Ich weiß noch, wie wir schnell unsere Sachen im Haus zusammenpackten und uns innerhalb von Minuten mit dem Allernötigsten auf die Flucht begaben. Wir sahen schlimme Szenen. Mir wurde selbst als kleiner Junge schlagartig bewusst, dass etwas sehr Böses im Gang sein musste.“

Vital hält ein wenig inne, um sich die damalige Situation so vor Augen zu holen, wie er sie erinnert. Einiges ist ihm auch später immer wieder erzählt worden, sodass die eigenen Erinnerungen des damals Vierjährigen mit denen seiner Geschwister sicher ineinanderfließen: „Die Idee von Pascal war, die Kühe in Sicherheit zu bringen. Er wollte sie zu einem Freund bringen, der auf einem anderen Hügel lebte. So ging Pascal vor. Unsere Familie würde ihm wenig später folgen.“

Als zweitältester Sohn hatte Pascal damals schon eine besondere Stellung in der Familie. „Wir wollten zu unserem anderen Haus, um zu sehen, ob wir dort in Sicherheit wären. Als wir ankamen, war Pascal mit den Kühen auch dort. Seine Freunde hatten ihr Zuhause verlassen und so war er auch zu unserem anderen Haus gegangen.“

Wie war es in der eigenen Verwandtschaft? Waren viele Familienmitglieder in die Kämpfe verwickelt? „Ja, leider. Aus meiner Familie sind über 100 Menschen im Genozid umgekommen. In Afrika gibt es einen sehr engen Familienzusammenhalt. Und so kamen auch in der Nacht unserer Flucht viele Verwandte auf unser Grundstück. In den umliegenden Dörfern tobten bereits die Kämpfe zwischen Hutu und Tutsi. Es war böse, schrecklich, unmenschlich, ja es war teuflisch. Die Leichen stapelten sich auf den Straßen, in den Gebäuden, auf den Marktplätzen, selbst auf den Kirchplätzen und vor allem in den Kirchen wurden Blutbäder von unglaublichem Ausmaß angerichtet.“

Vitals Vater, so erzählt er, habe immer versucht, zu beschwichtigen und den Hass nicht zu schüren. Er selbst war Hutu, Vitals Mutter war Tutsi. „Spielte das in eurer Familie irgendwann mal irgendeine Rolle?“, will ich wissen. „Nein, nie! Wer Tutsi oder Hutu war, das war uns ziemlich egal. Es hatte keine Auswirkungen darauf, wie meine Eltern die Menschen sahen oder behandelten. Meine Eltern waren Christen. Das bestimmte ihre Sichtweise auf das Leben und auf andere Menschen.“

Vielleicht spielte dabei zusätzlich noch die Bildung eine Rolle. Denn Vitals Vater, Manasse Gahakwa, hatte eine höhere Schulbildung, seine Mutter, Alphonsine Mukandoli, hatte die Grundschule abgeschlossen. Das mag nicht besonders klingen, aber in einem Land, wo zum damaligen Zeitpunkt Frauen eher gar keine Schulbildung bekamen, war das bereits eine Besonderheit.

Vitals Familie gehörte zur Mittelschicht. Der Vater arbeitete als Grundschullehrer, die Mutter betrieb an ihrem Haus eine gut gehende Boutique für das Dorf mit unterschiedlichen Dingen des täglichen Bedarfs. „Unser Leben war bis dahin sehr gut“, erzählt Vital. „Wir hatten keine Probleme, unser Leben zu bewältigen. Meine Eltern besaßen Kühe und sehr viel Land, wir hatten Fahrräder und Motorräder. Allein damit gehörten wir eigentlich zur Oberschicht im Dorf, denn das wurde als Luxus angesehen. Auch unser Haus war deutlich größer und viel besser ausgestattet als die meisten anderen Häuser in der Gegend. Meine Eltern sorgten auch für Bildung und eine gute Erziehung. Logisch, wo mein Vater selbst ja eine Hochschulausbildung hatte und Lehrer war.“

1972 hatten sie geheiratet. Vitals Vater lernte seine Frau kennen, als er in einer Schule in der Nähe von Alphonsines Familie arbeitete. Alphonsine war bei der Hochzeit 16 Jahre alt. Beide Familien gingen regelmäßig zur Kirche und lebten als Christen. Dieser Glaube sollte sich als wichtiger Faktor für die Familie erweisen. In den Wirren des Genozids und bis heute.

4

Eine Kindheit mit Kühen

Welcher Geruch erinnert dich an deine Kindheit? Eine beliebte Kennenlern-Frage für gesellige Abende im Freundeskreis. Selten müssen die Teilnehmer lange überlegen – und auch Vital fällt sofort etwas dazu ein: „Kuhscheiße“.