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Die Kraft des Kreuzes E-Book

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Beschreibung

In dem Sammelband "Die Kraft des Kreuzes" herausgegeben von Frauke Bielefeldt, geht es um ein umstrittene Kernfrage des christlichen Glaubens: die Bedeutung des Todes Jesu am Kreuz. Was ist dort auf Golgatha geschehen? Ging Jesus freiwillig in den Tod? Wie hat er selbst seinen Tod verstanden? Und was bedeutet dies alles für Christen heute? Die Autorinnen und Autoren greifen aktuelle Kontroversen auf, z.B. die Frage, ob Gott wirklich ein blutiges Opfer braucht, damit Schuld gesühnt werden kann (Sühnetheologie). Wie passt das zum Gott der Liebe? Vor allem aber zeigen sie, welche Kraft und welche neuen Lebensmöglichkeiten für Christen im Kreuz Christi liegen: die Kraft der Vergebung, die Befreiung von Schuld und die Solidarität und Identifikation Gottes mit uns angesichts des Leids. Dieses Buch schlägt die Brücke zwischen fundierter Theologie und dynamischer Praxis. Mit Beiträgen von Tillmann Krüger, Swen Schönheit, Christoph Stenschke, Michael Bendorf, Carsten Friedrich, Uwe Swarat, Guido Baltes, Siegbert Riecker, Maximilian Zimmermann, Heinrich Christian Rust, Frauke Bielefeldt, Waldemar Justus, Thomas Greiner, Markus Schaller, Jonathan Walzer, Stefan Vatter, Richard Aidoo.

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Frauke Bielefeldt (Hrsg.)

Die Kraft des Kreuzes

Warum der Tod Jesu die größte Chance unseres Lebens ist

Die Bibelzitate in diesem Buch sind, wenn nicht anders angegeben, nach der Neuen Genfer Übersetzung, NT+PS: © 2011 Genfer Bibelgesellschaft, Romanel-sur-Lausanne, Schweiz; Gen-Dtn: © 2020/21 Genfer Bibelgesellschaft Romanel-sur-Lausanne, Schweiz; Brunnen Verlag GmbH Gießen; Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, wiedergegeben (NGÜ).

Sonst:

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (LUT); Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R. Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen (ELB);Schlachter-Übersetzung. © 2000 Genfer Bibelgesellschaft (SLT).

Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © 2016 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart (EIN); Gute Nachricht Bibel, durchgesehene Neuausgabe, © 2018 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (GNB).

In Zusammenarbeit mit der Geistlichen Gemeindeerneuerung (GGE) im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG)

2. Auflage 2024

© Brunnen Verlag GmbH, Gießen 2024

www.brunnen-verlag.de

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul

Lektorat und Satz: Uwe Bertelmann

ISBN: 978-3-7655-2164-5

ISBN E-Book: 978-3-7655-7853-3

„‚Er hat mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst …‘

– So beantwortet der Heidelberger Katechismus die Frage nach der Bedeutung der Hinrichtung Jesu am Kreuz. Kann oder muss man das heute noch so sagen? Oder was ist eine zeitgemäße Deutung des Kreuzestodes?

Wer diese Fragen spannend findet und selbst biblisch-theologisch verantwortlich über das Kreuz denken und lehren will, für den ist dieses Buch ein echtes Muss.

Gerade durch die Vielstimmigkeit der Beiträge und die Vielfältigkeit der Perspektiven zeigt es einen Weg, das Kreuz als Zentrum von Glaube und Verkündigung neu zu entdecken und den Reichtum einer lebendigen ‚theologia crucis‘ für uns hier und heute neu zu entfalten.“

Roland Werner, Dr. phil. Dr. theol.

Ergänzende Informationen zu diesem Buch finden Sie unter https://www.gemeindeerneuerung.de/kraft-des-kreuzes

Inhalt

Navigator: Was steht wo?

Geleitwort

(Matthias Lotz)

Einleitung

(Frauke Bielefeldt)

Teil 1: Kreuz

1.

Einer für alle:

Dimensionen des Todes am Kreuz (2Kor 5,14-21)

(Tillmann Krüger)

2.

Christus, der „totale Heiland“:

Jesus in den Evangelien

(Swen Schönheit)

3.

„Da fühlte ich mich wie neu geboren …“

Martin Luther und die Wiederentdeckung des Evangeliums

(Martin P. Grünholz)

4.

„Jesus ist die Antwort!“ – Was ist das Problem?

Paulus und die menschliche Erlösungsbedürftigkeit

(Christoph Stenschke)

5.

Gott zerreißt sich für uns:

Das Kreuz und die Schechina Gottes

(Michael Bendorf)

6.

„… nur der leidende Gott kann helfen“

Dietrich Bonhoeffers letzte Gedanken über das Kreuz

(Carsten Friedrich)

Teil 2: Kontroverse

7.

Notwendige Abschiede?

Theologische Kontroversen um den Sühnetod Christi

(Uwe Swarat)

8.

Mit Jesus gegen Judentum und Reformation?

Stellvertretung und Sühnetod in den Worten Jesu

(Guido Baltes)

9.

Verstörende Grausamkeit, primitives Gottesbild?

Die Opfer im Alten Testament

(Siegbert Riecker)

10.

Eine Frage der Ehre?

Anselms Satisfaktionslehre im Vergleich mit der biblischen Sühnelehre

(Maximilian Zimmermann)

Teil 3: Kraft

11.

„Wen der Sohn frei macht, der ist wirklich frei!“

Jesus Christus erlöst aus der Macht Satans

(Heinrich Christian Rust)

12.

Jesu Leiden und unser Leid

Solidarität, Identifikation und eine persönliche Kreuzesmystik

(Frauke Bielefeldt)

13.

Wenn Schuld belastet:

Die befreiende Kraft der Vergebung

(Waldemar Justus)

14.

Jesus für mich:

Wie meine Predigten neue Kraft bekamen

(Thomas Greiner)

15.

Das Kreuz für Ehepaare:

Wenn Liebe Macht ersetzt

(Markus Schäller)

16.

Das Kreuz für Kids:

Erfahrungen aus der Kinder- und Jugendarbeit

(Jonathan Walzer)

17.

Das Kreuz für Führungskräfte

Überraschende Begegnungen mit Verantwortungsträgern

(Stefan Vatter)

18.

„Den Deutschen predige ich die Liebe Gottes“

Interview mit Richard Aidoo

(Frauke Bielefeldt)

Geleitwort

Das Kreuz ist das zentrale Symbol des christlichen Glaubens. Jesus ist der Gekreuzigte und Auferstandene, das besingen Lieder nicht nur an Ostern, darum geht es in Predigten und Büchern in allen christlichen Kirchen. Schaut man genauer hin, wird allerdings deutlich, dass mit diesem Kreuz unterschiedliche Botschaften verbunden sein können. Seit Jahrzehnten gibt es sowohl im anglo-amerikanischen Raum als auch in Deutschland vermehrt Stimmen, die von einem klassischen Verständnis des Kreuzes Abstand nehmen und den Tod Jesu neu deuten wollen.

Als Geistliche Gemeindeerneuerung (GGE) sind wir eine Bewegung im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG), die der Fülle des Heiligen Geistes auf der Spur ist. Dazu gehört untrennbar auch die Fülle des „Wortes“, die ganze Heilige Schrift. Deshalb haben wir in den letzten Jahren an verschiedenen Stellen zum Thema der Kreuzestheologie Bezug genommen. Wir glauben, dass das Leben, Sterben und Auferstehen Christi das Fundament des christlichen Glaubens bilden. Für uns ist der stellvertretende Tod Jesu ein notwendiger Bestandteil des Evangeliums, der guten Nachricht von Jesus Christus. Durch diese Botschaft werden Menschen frei und kommen in eine persönliche Beziehung zu Gott und damit auch zu einem erfüllenden Leben. Ein Evangelium, in dem Jesus nicht mehr für unsere Sünden gestorben ist, hätte seine zentrale Wahrheit eingebüßt.

Innerhalb des BEFG läuft seit 2022 der „Dialog zum Kreuz“, ein thematischer Prozess, um sich über gemeinsame Grundlagen der Kreuzestheologie in unserem Gemeindebund zu verständigen. Dieses Buch soll einen substanziellen Beitrag dazu leisten. Wir wollen darstellen, warum wir trotz aktueller Einwände am stellvertretenden Sühnetod Jesu festhalten und welche vielschichtigen Facetten in diesem biblischen Ansatz enthalten sind. Die Deutung des Kreuzes darf nicht in einer Verbeugung vor dem Zeitgeist aufgehen. Und als GGE wollen wir nicht bei der theologischen Lehre stehen bleiben, sondern deutlich machen: Dieses Geschehen am Kreuz hat auch heute noch die Kraft wie vor 2000 Jahren, geistliche Erneuerung hervorzubringen, für den Einzelnen wie auch für unsere Gemeinden.

Wir brauchen den Schatz des Kreuzes, um den Reichtum von Gemeinde gestalten zu können. Oft merken wir selbst, wie wenig selbstverständlich es ist, gut vom Kreuz zu sprechen und die Themen der Gemeinde auf diesem Grund anzugehen, der in Jesus Christus gelegt ist (1Kor 3,11). Auch wer entschieden am Sühnetod festhält, braucht immer wieder neue Aha-Erlebnisse und -Erkenntnisse, wie dieser Tod alles im Leben verändert. Und auch wer dies in seinem Leben erlebt, braucht Inspiration, wie er davon so reden kann, dass andere es verstehen und angesteckt werden können.

Wir sind dankbar für alle Autoren, die unserer Einladung zu diesem Gemeinschaftsprojekt gefolgt sind. Ihre Beiträge spiegeln etwas wider von der Fülle des Kreuzes. Einige von ihnen kommen aus unserer Mitte, andere sind uns seit Langem verbunden oder stehen unseren Anliegen nahe. Dank auch an Frauke Bielefeldt, die in unserem Netzwerk GGE.Theologie mitarbeitet und als freiberufliche theologische Lektorin und Übersetzerin dieses Projekt auf ihren Schreibtisch genommen hat.

Allen Leserinnen und Lesern wünschen wir viel Freude beim Lesen und viele Entdeckungen, die den Kreuzestod Jesu noch tiefer ausloten, seine Bedeutung für unseren Glauben klären und unser Leben in Kontakt bringen mit der Kraft seines Kreuzes.

Im Namen der Geistlichen Gemeindeerneuerung im BEFG, Matthias Lotz (Vorsitzender)

Einleitung

frauke bielefeldt

Da kommt Jesus ein letztes Mal mit seinen engsten Vertrauten zusammen und feiert mit ihnen das Passafest. Es muss beklemmend für sie gewesen sein, als er sagt: „Wie sehr habe ich mich danach gesehnt, dieses Passamahl mit euch zu feiern, bevor ich leiden muss“ (Lk 22,15). Er teilt mit ihnen das Brot, das eigentlich an den Auszug Israels aus Ägypten erinnert, und sagt: „Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird“ (V. 19). Er hebt den Weinbecher und spricht feierlich: „Das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele zur Vergebung der Sünden vergossen wird“ (Mt 26,28). Ganz offensichtlich geht Jesus hier bewusst in seinen Tod und versteht ihn als Gabe an die Welt.

Paulus, der damals selbst noch nicht dabei war, wird die Abendmahlsworte später so an seine Gemeinden weitergeben: „Dieser Becher ist der neue Bund, besiegelt mit meinem Blut. Wenn ihr künftig aus dem Becher trinkt, dann ruft euch jedes Mal in Erinnerung, was ich für euch getan habe!“ (1Kor 11,23). In der ein oder anderen Form ist dieses Abendmahl die Mitte christlicher Kirchen, in dem der Kern christlichen Glaubens nachvollzogen wird: „Christus ist – in Übereinstimmung mit den Aussagen der Schrift – für unsere Sünden gestorben“, wie Paulus einige Absätze weiter im 1. Korintherbrief schreibt, gefolgt von der zweiten Säule des Glaubens: „Er wurde begraben, und drei Tage danach hat Gott ihn von den Toten auferweckt“ (15,3-4).

Das ist nicht seine Privatbotschaft, sondern die „Botschaft, die ich so an euch weitergegeben habe, wie ich selbst sie empfing“ (V. 3). Paulus nennt sie in diesem Zusammenhang „Evangelium“ – gute Botschaft – und attestiert den Korinthern: „Ihr habt diese Botschaft angenommen, sie ist die Grundlage eures Lebens geworden, und durch sie werdet ihr gerettet“ (V. 1-2). Zu Beginn seines Briefes schreibt er, dass sich denen, die sich von Gott ansprechen lassen, diese Botschaft „als Gottes Kraft und Gottes Weisheit erweist“ (1,24). In Kreuz und Auferstehung stecken Kraft und Weisheit, die über alles Menschliche hinausgehen!

In Kreuz und Auferstehung stecken Kraft und Weisheit, die über alles Menschliche hinausgehen!

Kollisionen

Doch schon damals war diese Botschaft über „Christus, den gekreuzigten Messias“ nicht jedem plausibel und wurde auch nicht allseits für „gut“ befunden, wie Paulus direkt vorher anmerkt: „Für die Juden ist diese Botschaft eine Gotteslästerung und für die anderen Völker völliger Unsinn“ (1,23).

Damit ist die Botschaft vom „Kreuz“ in die Mitte der Christenheit gepflanzt wie ein knorriger, alter Baum – und ebenso der Anstoß, den diese seltsame Botschaft erregt. Während es für die Juden (heute wie damals) schlicht nicht hinnehmbar war, dass ein offensichtlicher Mensch gleichzeitig Gott gewesen sein sollte, tadellos, sodass sein Leben als Opfer vor Gott gelten konnte, machte es im Reigen griechisch-römischer Götterwelten und allerlei ägyptisch angereicherter Mysterienreligionen einfach nichts her. Dass eine erbärmliche Kreuzigung irgendeinen bleibenden Wert hervorgebracht haben sollte, erschien lächerlich.

Heute sind die Kollisionen mit den religiösen Vorstellungen der Zeitgenossen anderer Natur, aber nicht weniger fundamental.

Heute sind die Kollisionen mit den religiösen Vorstellungen der Zeitgenossen anderer Natur, aber nicht weniger fundamental: ein Opfer zur Erlösung – echt jetzt? Hat Gott etwa Gefallen am Gemetzel? Ist er beleidigt, will er Blut sehen, wäre das nicht das Bild eines grausamen Sadisten? Und was soll die ganze Rede vom „Zorn Gottes“, der irgendwie durch ein Opfer gestillt werden soll; sind das nicht primitive religiöse Vorstellungen, die in unserer Zivilisation längst überwunden sind? Warum sollte man dieses „Narrativ“ Menschen auferlegen und sie damit unnötig beschweren; ist es nicht „toxisch“, also potenziell schädlich für die seelische Gesundheit?

Solche Zerrbilder der „guten Botschaft“ sind im Umlauf und lassen es immer weniger zu, sich in einer frommen Nische einzurichten. Im Gegenteil: Die Dekonstruktion des Evangeliums ist auch unter Christen voll angekommen und lässt lange für tragend gehaltene Glaubensüberzeugungen in neuem Licht erscheinen. Der Baum wird analysiert; manche Zweige können bleiben, andere erscheinen vertrocknet und sollten schleunigst abgeschnitten werden.

Ein Berg an Missverständnissen

So ist ein Unbehagen an klassischen Positionen zum Tod Jesu entstanden. Die Evangelische Allianz in Deutschland, die viele verschiedene Kirchen und Gemeinden im evangelischen Raum vereint, formuliert diese prägnant in ihrer „Basis des Glaubens“, die schon 1846 erstellt und kürzlich (2018) überarbeitet wurde:

„Jesus Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes, ist stellvertretend für alle Menschen gestorben. Sein Opfertod allein ist die Grundlage für die Vergebung von Schuld, für die Befreiung von der Macht der Sünde und für den Freispruch in Gottes Gericht.“1

Damit kann so mancher christlicher Impulsgeber nicht mehr mitgehen, auch in Freikirchen und vormals klassisch „evangelikalen“ Milieus. So rückte 2003 ein britischer Baptistenpastor die klassische Botschaft, dass der Sohn Gottes die Strafe für die Sünden der Menschheit auf sich genommen hat, in die Nähe eines „kosmischen Kindesmissbrauchs“ und löste damit im angelsächsischen Raum eine enorme Debatte aus.2 2004 sorgte ein evangelischer Theologe im deutschsprachigen Raum mit seinem Buch Notwendige Abschiede für ähnlichen Wirbel und fand viel Zustimmung für seine Forderung nach einem „Abschied vom Verständnis der Hinrichtung Jesu als Sühnopfer und von dessen sakramentaler Nutzung in einer Opfermahlfeier“3.

Seitdem gewinnen diese Verschiebungen im Verständnis vom Kreuz breiten Raum. So erklärt ein Worthaus-Vortrag von 2012, dass die Versöhnung am Kreuz „symbolisch“ gemeint sei. „Jesu Tod an sich ist sinnlos“ gewesen; „erlösend ist nicht der Tod am Kreuz, […] aber im Leiden und Sterben des Gerechten aus Nazareth zeigt sich uns in besonderer Weise die Liebe Gottes“.4

2021 erschien das Buch glauben/lieben/hoffen, das von leitenden Jugendreferenten aus mehreren Gemeindebünden verantwortet wurde und als eine Art neuer Jugendkatechismus angekündigt wurde. Der Autor, der sich mit dem Sterben Jesu beschäftigt, führt das klassische christliche Verständnis vom stellvertretenden Opfertod Jesu auf eine mittelalterliche Fehldeutung zurück:

„In der christlichen Tradition war allerdings über Jahrhunderte ein anderes Verständnis von Opfer leitend, welches auf Anselm von Canterbury (1033–1109) zurückgeht. Dieses Opferverständnis sieht – vereinfacht gesagt – Jesu Tod als wirksame Opferhandlung an, bei der die menschliche Schuld vor Gott bezahlt wird.“5

Das vom Autor angestrebte Opferverständnis sieht dagegen so aus: „Durch die Opferhandlung soll der Mensch daran erinnert werden, dass Gott ihm schon immer gnädig begegnet.“ So kommt er zu dem Schluss: „Um die Sünde der Menschen hinwegzunehmen, braucht es eigentlich kein Opfer und keinen Geopferten.“ Er sieht sich dabei im Einklang mit der Bibel, da das Alte Testament „die Vorstellung einer automatisch wirksamen Opferhandlung scharf kritisiert. Beim Opfern richtet man sich neu auf Gott aus, weil Gott vergibt, und gerade nicht, weil er durch das geschlachtete Tier angemessen bezahlt würde.“

Sühnevorstellungen – wirklich ein Produkt des Mittelalters?

Dies ist ein gutes Beispiel für den „Berg an Mißverständnissen“ (Bernd Janowski)6, der sich in der Debatte um den Sühnetod Jesu aufgehäuft hat: Sind Sühnevorstellungen wirklich ein Produkt des Mittelalters? Ist Anselms Satisfaktionslehre (= Lehre von der Genugtuung Gottes) tatsächlich gleichzusetzen mit klassischer Opfertheologie? Ist es nicht gerade der rote Faden der in der Bibel geschilderten Geschichte Gottes mit den Menschen, dass alles darauf hinausläuft, dass der Sohn Gottes als Messias (Christus) in die Welt kommt, um das auf sich zu nehmen, was die Menschheit von Gott trennt? Ist nicht genau das mit „Sühne“ gemeint (und keine magischen Vorstellungen primitiver Blutriten, die eine wutschnaubende Gottheit besänftigen sollen)? Ist nicht genau die Annahme dieses Geschehens im Glauben das Beziehungsgeschehen (statt eines Heilsautomatismus), das der Autor oben fordert? Ist dies nicht wirklich „gute Botschaft“, für die man nicht mit der Hölle drohen muss und auch nicht jede menschliche Fähigkeit zum Guten verleugnen muss? Und ist nicht genau diese Stellvertretung die Quelle des Heils, die den Zugang zum „Heiligtum“, zum neuen Leben in der Gegenwart Gottes freigelegt hat, aus dem ganz neue Möglichkeiten von Freiheit, Versöhnung, gelebter Gerechtigkeit usw. erwachsen?

Ein integrativer Ansatz

Diese neuen Möglichkeiten der Freiheit, Versöhnung und Gerechtigkeit sind der Grund dafür, sich leidenschaftlich für diesen knorrigen, alten Baum zu engagieren: Er ist der Baum des Lebens; sich an ihm festzumachen und unter seinen Zweigen Zuflucht zu suchen, schafft wirklich einen neuen Lebensraum, den man niemandem vorenthalten will. Deshalb ist der Tod Jesu das Beste, was uns passieren konnte. Die Definition der Ev. Allianz (s.o.) zeigt diese Vieldimensionalität auf: „für die Vergebung von Schuld, für die Befreiung von der Macht der Sünde und für den Freispruch in Gottes Gericht“.

Im integrativen Ansatz, den dieses Buch verfolgt, sind diese verschiedenen Aspekte keine „alternativen Deutungen“, sondern gehören zusammen und bauen aufeinander auf. „Sein Opfertod allein ist die Grundlage …“ heißt es in der obigen Definition: D. h., die Hingabe Jesu am Kreuz für uns ist die Quelle und Voraussetzung für die vielen anderen kostbaren Auswirkungen des Kreuzes. Es macht keinen Sinn, den Stamm gegen die Zweige auszuspielen. Ohne die reale Kraft des Kreuzes wären alle Debatten um eine adäquate Kreuzestheologie nicht wirklich von Bedeutung. Niemand würde eine Hochzeit auf ihre „juristische Dimension“ reduzieren und beim Festessen oder Tanz über neue Kontenführung und gemeinsam veranlagte Steuererklärungen sprechen. Aber jedem im Saal ist klar: Dies ist ein besonderes Fest, weil hier zwei Menschen einen gewichtigen, offiziellen Schritt vor einer staatlichen Behörde getan haben, aus dem all die wunderbaren Seiten des Lebens entstehen können, die dem Brautpaar als gute Wünsche mitgegeben werden.

Wie ein solcher integrativer Ansatz aussehen kann, soll in den einzelnen Beiträgen aus Theologie und Praxis sichtbar werden. Echte an der Bibel orientierte Theologie ist nicht trocken oder weltfremd und reduziert das Meer der biblischen Aussagen und Zugänge nicht auf zwei oder drei „Grundwahrheiten“, sondern sucht nach den lebendigen Zusammenhängen, in denen sich Menschen von heute wie zu allen anderen Zeiten tatsächlich bewegen können.

Die Beiträge in diesem Buch

Die Autoren dieses Buches wollen sich einmischen. Sie wollen zeigen, dass dieser knorrige, alte Baum immer noch das Beste ist, was uns passieren konnte; dass er der Fluchtpunkt biblischer Theologie ist und eine wunderbare Baumkrone hervorbringt, die in 2000 Jahren nichts an Reichtum verloren hat, sondern sich mit jedem Zeitalter weiter ausdehnt.

In

Teil 1

geht es um die Botschaft des KREUZES:

Tillmann Krüger

zeigt auf, wie Versöhnung, Sühne und Stellvertretung zusammenhängen;

Swen Schönheit

stellt Christus als den umfassenden Heiland der Evangelien vor;

Martin P. Grünholz

schildert, wie Martin Luther dieses Evangelium wiederentdeckte;

Christoph Stenschke

beschreibt das Problem der menschlichen Existenz, auf das Jesus mit Kreuz und Auferstehung antwortet;

Michael Bendorf

beleuchtet die Gottverlassenheit im Kreuz und

Carsten Friedrich

zeigt Auswirkungen für den Umgang mit menschlichem Leid auf, die Bonhoeffer in seiner Haftzeit ausgelotet hat.

In

Teil 2

werden Einwände aus den aktuellen KONTROVERSEN aufgegriffen:

Uwe Swarat

zeichnet die Linien nach, die theologische Debatten um den Sühnetod Christi seit der Aufklärung bestimmen;

Guido Baltes

widmet sich neuen Deutungen des Kreuzestodes in der aktuellen Vortrags- und Podcast-Szene, die an den Selbstaussagen Jesu im Neuen Testament und ihren Hintergründen in Altem Testament und Judentum vorbeigehen;

Siegbert Riecker

greift Anfragen an die Opferpraxis im Alten Testament auf und

Maximilian Zimmermann

beschäftigt sich mit der Rückführung von Sühnetheologie auf die Satisfaktionslehre bei Anselm von Canterbury.

In

Teil 3

soll die lebensverändernde KRAFT des Kreuzes sichtbar werden:

Heinrich Christian Rust

beleuchtet die Dimension der Befreiung von übernatürlichen Mächten;

Frauke Bielefeldt

taucht in die Verbindungen zwischen Jesu Leiden und unserem Leid ein;

Waldemar Justus

berichtet, wie die Kraft der Vergebung Menschen in seiner Gemeinde verändert hat;

Thomas Greiner

schildert, wie eine vertiefte Erkenntnis der Stellvertretung Jesu seine Predigten auf den Kopf gestellt hat;

Markus Schäller

zeigt, was das Kreuz für Ehepaare bedeuten kann;

Jonathan Walzer

gibt Erfahrungen aus der Kinder- und Jugendarbeit weiter und

Stefan Vatter

zeigt, wie diese Botschaft vom Kreuz bei Führungskräften ankommt. Im abschließenden Interview mit

Richard Aidoo

wird deutlich, wie diese Botschaft im interkulturellen Kontext ihre Kraft entfaltet.

Ich bin sehr dankbar für die kompetente Autorenrunde aus Theologie und Praxis, die sich eingefunden hat, um gemeinsam aufzuzeigen: Das Kreuz muss nicht umgedeutet werden, um auch für uns heute plausibel und relevant zu sein. Aber wir brauchen Klärungen für manche Sackgassen in den Debatten rund um den „Sühnetod“ Jesu. Hat man den Sühnegedanken erst einmal von allerlei Gestrüpp befreit, leuchtet Jesu Opfertod als Heil, das uns den Weg zu Gott frei gemacht und uns in Zeit und Ewigkeit mit ihm versöhnt hat, wieder hell in unsere Welt. Er ist immer noch das „Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt“ (Joh 1,29), wie es jede evangelische Abendmahlsliturgie und jede katholische Messfeier besingen. Sein Tod ist wirklich die größte Chance unseres Lebens. Diese klassische Botschaft vom Kreuz ist in 2000 Jahren Kirchengeschichte immer wieder angefochten, aber auch wieder freigelegt worden. Sie verengt nicht den Blick, sondern schafft Raum für viele Dimensionen.

Es scheint an der Zeit zu sein, sich über die Grundlagen des christlichen Glaubens neu zu verständigen. Angesichts mancher aktueller theologischer Verschiebungen wird dazu gehören, sich von einigen Missverständnissen und Versuchen der Neudeutung zu distanzieren, damit der alte Baum am Ende nicht versehentlich mit Stumpf und Stiel abgeschlagen wird und man sich dann wundert, warum die guten Zweige nicht mehr so recht austreiben mögen. Angesichts eines veränderten gesamtgesellschaftlichen Umfeldes wird dazu aber auch gehören, sich weiter um echte Sprachfähigkeit zu bemühen und gemeinsam weiter zu entdecken, welchen Unterschied der Tod Jesu am Kreuz für die Fragen, Wünsche und Nöte von heute tatsächlich macht. Hier sind wir alle Lernende.

„Denn bei dir ist die Quelle des Lebens; und in deinem Lichte sehen wir das Licht.“7

Frauke Bielefeldt arbeitet als freiberufliche theologische Lektorin und Übersetzerin. Sie ist Teil des Netzwerks GGE.Theologie.

Anmerkungen

1

Evangelische Allianz Deutschland, vgl.

https://www.ead.de/basis-des-glaubens

.

2

Steve Chalke mit Alan Mann in:

The Lost Message of Jesus, Grand Rapids, Zondervan 2003, S. 182

. Mehr dazu im Kasten zum „Cosmic Child Abuse“ am Ende von Teil 2.

3

So der Titel von Kap. 8 bei Klaus-Peter Jörns,

Notwendige Abschiede: Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum

(Gütersloher Verlagshaus 2004).

4

Thomas Breuer,

Die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu aus heutiger Perspektive

(Worthaus 2.4.1 vom 9.6.2012, aufgerufen am 23.8.2023), 1:06:40-54 und 1:13:20–1:14:12. „Er ging nicht nach Jerusalem, um zu sterben, aber irgendwann in Jerusalem musste er wissen: Das Ganze wird wahrscheinlich kein gutes Ende finden“ (1:09:12-22). Sühne sei ein „Sprachspiel, was damals seine Berechtigung hatte …, aber was wir heute lieber lassen sollten“ (1:08:23-33).

5

Matthias Drodofsky in Frage 24 „Was heißt Jesus starb für mich‘?“; in: Volkmar Hamp, Johannes Krupinski, Andreas Schlüter, Simon Werner (Hrsg.),

glauben/lieben/hoffen: Grundfragen des christlichen Glaubens verständlich erklärt

(Witten 2021), S. 69, auch im Folgenden.

6

Bernd Janowski zur von Klaus-Peter Jörns,

Notwendige Abschiede

, ausgelösten Debatte, in:

Ein Gott, der straft und tötet? Zwölf Fragen zum Gottesbild des Alten Testaments

(3. Aufl.: Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2018), S. 296–297, vgl. Beitrag 9.

7

Psalm 36,10 nach LUT.

Aus dem „Dialog zum Kreuz“

Sünde, Zorn und das Kreuz

„Das Kreuz ist das zentrale Identifikationsmerkmal des christlichen Glaubens, deshalb bedarf es einer guten Erklärung. Ohne das Kreuz gibt es keine Freiheit von Sünde, kein reines Gewissen vor Gott und kein ewiges Leben. Technisch gesagt: Der sündlose Gottessohn leistet ein Opfer stellvertretend für die Schuld aller Menschen. Ich finde den „fröhlichen Wechsel“ von Luther hilfreich: Dass meine komplette Sündhaftigkeit ans Kreuz genagelt wird und ich dafür die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes zugesprochen bekomme, die er gelebt hat und in der er gestorben und zu der er auferstanden ist.“

Jonathan (Jhonny) Walzer, Pastor der EFG Landshut, davor GJW Bayern

„Auch im Alten Testament ist das wesentliche Charaktermerkmal Gottes Gnade und Barmherzigkeit. Das ist sein Wesenskern. Man darf sich aber durchaus auch den schwierigen Seiten Gottes stellen. Auch im Neuen Testament ist vom Zorn Gottes die Rede. Ich finde es nicht leicht, in meinem Gottesbild zuzulassen, dass Gott auch ein zorniger Gott ist. Besonders im Alten Testament ist der Zorn Gottes ganz stark damit verbunden, dass er über Ungerechtigkeit zornig wird, wenn Menschen einander Übles antun. Der Zorn Gottes gehört oft zu seinem Eintreten für die Schwachen, zu seinem Sich-Dagegenstellen, was wir Menschen einander so antun können. Es macht Gott klein, wenn man alles abschleift, was irgendwie stören könnte.

Brauchte Gott das Kreuz? Nein, wir brauchen das Kreuz. Und es ist Gottes Gnade, dass er Mensch geworden ist und in Jesus alles auf sich genommen hat und den Weg wieder frei gemacht hat. Das „Es musste so sein“ im Neuen Testament verstehe ich als „Es war notwendig“; Menschen sehen im Nachhinein ein, dass Jesus sich bewusst darauf eingelassen hat.

Das Verständnis von Sühne im AT heißt auch: Da wird ein Tier geschlachtet und Blut an den Altar gesprengt, als Zeichen dafür, dass das Leben jetzt ganz Gott hingegeben wird – eine stellvertretende Lebenshingabe. Das Ziel von Sühne ist die Wiederherstellung der Beziehung. Es geht nicht um die Übertragung von „Sachen“ – meine Schuld –, sondern um das Ganze, Personale; mein Leben wird stellvertretend hingegeben und jetzt ist die Beziehung zwischen Gott und mir wiederhergestellt.

Man kann nur vom Kreuz reden, wenn man auch von Sünde redet und dass Sünde das Scheitern der Beziehungen ist – zwischen Gott und uns, aber dann auch untereinander. Es geht nicht darum, dass wir Gott gnädig stimmen müssen, sondern dass da wirklich etwas kaputt ist, das der Heilung bedarf.

Jesaja 53 wird im Neuen Testament auf Jesus bezogen: Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen … Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten …‘ Jesus leidet und nimmt dabei auch unsere Krankheiten und Schmerzen auf sich, unsere Ohnmacht und unser Gefühl, dass alles am Ende ist. Sünde ist auch das Erlittene, die schuldhaften Verstrickungen, das, worunter wir leiden. Das ist das Wunder der Stellvertretung, dass das, was zu unserem Schicksal gehört, jetzt einen anderen trifft, der es aus Liebe freiwillig auf sich nimmt.“

Dr. Deborah Storek, Pastorin und Dozentin für Altes Testament an der TH Elstal

Die Auszüge aus der Podcast-Reihe sind stark gekürzt. Mehr zum „Dialog zum Kreuz“ im BEFG unter www.befg.de, „Akademie im Gespräch“.

teil1: kreuz

1. Einer für alle

Dimensionen des Todes am Kreuz (2Kor 5,14-21)

Tillmann Krüger

Als Jesus auf Golgatha stirbt, wird es mitten am Tag drei Stunden lang stockdunkel. Etwas von kosmischer Bedeutung geschieht: Gott selbst lässt sich ans Kreuz schlagen. Die Evangelien lassen keinen Zweifel daran, dass dies kein Unfall ist, sondern der Zielpunkt von Jesu Leben auf der Erde: Alle Schilderungen führen auf die Woche in Jerusalem hin, in der er als Messias einziehen, dann als Verbrecher gekreuzigt und dann als Herr auferstehen wird. Sein Lebensweg ist gesäumt von Menschen, die göttliche Einblicke in das Ziel seiner Sendung geschenkt bekommen (z.B. in Lk 1–2), und er selbst spricht gegen Ende immer häufiger und offener darüber.1 Der Tiefpunkt am Kreuz entpuppt sich als Höhepunkt seiner Sendung, wie sein Ausruf am Ende seines Todeskampfs zeigt: „Es ist vollbracht!“ (Joh 19,30).

Das Zentrum des Glaubens

Was ist dort geschehen, was wurde „vollbracht“? Warum war das nötig, warum ist es auch heute noch so relevant? Diese Frage ist zentral für den christlichen Glauben; das Kreuz ist nicht zufällig zum weltweiten Symbol der Christenheit geworden. Karfreitag und Ostern waren seit Beginn der Kirche die höchsten christlichen Feiertage; „Kreuz und Auferstehung“ sind zum Zentrum des christlichen Glaubens geworden, das alle großen Konfessionen teilen. Dieses Zentrum findet sich schon bei Petrus, dem Leiter der ersten Christen, der davon schreibt, dass Jesus uns „freigekauft“ hat durch „das kostbare Blut eines Opferlammes“ und „unsere Sünden an seinem eigenen Leib ans Kreuz hinaufgetragen hat“; in Anlehnung an Jesaja 53 schließt er: „Ja, durch seine Wunden seid ihr geheilt“ (1Petr 1,18-19; 2,24-25). Auch Johannes, ein weiterer Jünger der ersten Stunde, bestätigt diese Sicht, wenn er Jesus etwa schon am Tag nach seiner Taufe als „Lamm Gottes“ bezeichnen lässt (Joh 1,29) oder davon schreibt, dass es auf das von Jesus am Kreuz vergossene „Blut“ ankommt, das uns „reinigt von aller Sünde“ (1Joh 1,7).

In immer neuen Wendungen beschreiben die Verfasser der neutestamentlichen Schriften, was Jesus am Kreuz „vollbracht“ hat und warum es für uns so wichtig ist. Dabei betonen sie, dass das zugrunde liegende Motiv in der Liebe Gottes zur Menschheit liegt und dass dies der größte Akt der Liebe ist, der je auf unserem Planeten vollbracht wurde: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat“ (Joh 3,162); „Hierin ist die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsere Sünden“ (1Joh 4,103).

Als der in der jüdischen Theologie bestens ausgebildete Saulus von Tarsus4 zum Nachfolger Jesu wird, fällt es ihm wie Schuppen von den Augen: Dieser Jesus ist der lang ersehnte Messias! So fügt sich zu seiner hervorragenden theologischen Bildung noch die Offenbarung des Sohnes Gottes hinzu (siehe Gal 1,16). Und Paulus wird von einem Verfolger des Christentums zu seinem größten Verfechter. Viele Jahre später schreibt er von „dieser Botschaft, die ich so an euch weitergegeben habe, wie ich selbst sie empfing […]: Christus ist – in Übereinstimmung mit den Aussagen der Schrift – für unsere Sünden gestorben. Er wurde begraben, und drei Tage danach hat Gott ihn von den Toten auferweckt – auch das in Übereinstimmung mit der Schrift“ (1Kor 15,3-4). So will er nun alle „Aufmerksamkeit einzig und allein auf Jesus Christus lenken“, und zwar, wie er nachsetzt, „auf Jesus Christus, den Gekreuzigten“ (1Kor 2,2).

Gott greift in die gestörte Beziehung zu seiner Schöpfung ein.

Paulus schließt sich der reichhaltigen Predigt der „guten Nachricht“ (= Evangelium) an und fügt ihr weitere Begriffe hinzu: „Versöhnung“ und „Rechtfertigung“. Gott greift in die gestörte Beziehung zu seiner Schöpfung ein; er tut das, was nötig ist, um den Menschen aus seiner Verlorenheit zu befreien und die Beziehung des Menschen zu Gott wiederherzustellen. Die Begriffe „Versöhnung“ und „Recht-fertigung“ stehen nicht für alternative „Deutungen“, wie manchmal gesagt wird, sondern zeigen verschiedene Dimensionen auf: „Versöhnung“ beschreibt die Beziehungsebene, „Rechtfertigung“ erklärt das Geschehen mit juristischer Sprache (der Mensch vor Gott, seinem Richter). Trennt man sie voneinander, löst sich das Heilsgeschehen in Fragmente auf, die alleine nicht mehr plausibel sind oder keine Kraft mehr entfalten können.

Wie diese unterschiedlichen Dimensionen miteinander verbunden sind, möchte ich am Beispiel von 2. Korinther 5,14-21 zeigen. In diesem Text arbeitet Paulus vor allem mit den Kategorien von Versöhnung, Sühne und Stellvertretung:

„14Bei allem ist das, was uns antreibt, die Liebe von Christus. Wir sind nämlich überzeugt: Wenn einer für alle gestorben ist, dann sind alle gestorben. 15Und er ist deshalb für alle gestorben, damit die, die leben, nicht länger für sich selbst leben, sondern für den, der für sie gestorben und zu neuem Leben erweckt worden ist. […] 17Wenn jemand zu Christus gehört, ist er eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen; etwas ganz Neues hat begonnen! Das alles ist Gottes Werk. 18Er hat uns durch Christus mit sich selbst versöhnt und hat uns den Dienst der Versöhnung übertragen. 19Ja, in der Person von Christus hat Gott die Welt mit sich versöhnt, sodass er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnet; und uns hat er die Aufgabe anvertraut, diese Versöhnungsbotschaft zu verkünden. 20Deshalb treten wir im Auftrag von Christus als seine Gesandten auf; Gott selbst ist es, der die Menschen durch uns zur Umkehr ruft. Wir bitten im Namen von Christus: Nehmt die Versöhnung an, die Gott euch anbietet! 21Den, der ohne jede Sünde war, hat Gott für uns zur Sünde gemacht, damit wir durch die Verbindung mit ihm die Gerechtigkeit bekommen, mit der wir vor Gott bestehen können.“

1. Versöhnung

„Versöhnung“ bzw. „versöhnen“ (katallagē/katallasso) taucht im Neuen Testament nur bei Paulus auf, vor allem im Römerbrief (5,10-11; 11,15) und hier in 2. Korinther 5. Eine weitere Stelle in 1. Korinther 7,11 zeigt, wie ernsthaft die Ausgangslage ist, wenn „Versöhnung“ nötig ist: Hier geht es um die Möglichkeit, sich nach einer Scheidung wieder zu „versöhnen“. Im Hintergrund steht also ein kompletter Beziehungsabbruch.

Das Lexikon Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG, 4. Aufl.) definiert:

Versöhnung setzt „einen Abbruch der Beziehungen unter Streitparteien voraus, der zu ihrer Verfeindung geführt hat. In dieser Situation ist ein überlegtes Vorgehen zur Wiederherstellung der Beziehungen erforderlich, das üblicherweise durch die Partei initiiert wird, welche den Konflikt verursacht hat.“5

Die Verse in 2. Korinther machen deutlich, dass in diesem Fall Gott der Handelnde ist: „Er hat uns durch Christus mit sich selbst versöhnt … Ja, in der Person von Christus hat Gott die Welt mit sich versöhnt“ (V. 18-19). Die Richtung ist entscheidend: Nicht wir wurden aktiv, sondern Gott hat das Heft in die Hand genommen.

Dabei sind am Kreuzesgeschehen alle drei Personen der Trinität beteiligt. Jürgen Moltmann beschreibt das Kreuzesgeschehen als einen trinitarischen Akt: Gott, der Vater, ergreift die Initiative. Er sendet Jesus in die Welt. Er liebt die Menschheit so sehr, dass er das Kostbarste, das er hat, für sie einsetzt: seinen Sohn. Der Sohn wiederum willigt bewusst ein in diesen „Auftrag“ (Joh 10,18) des Vaters. Und er ist bereit, diesen schweren Weg bis zum Ende zu gehen. Seine letzten Worte werden im Lukasevangelium so wiedergegeben: „Vater, in deine Hände gebe ich meinen Geist!“ (Lk 23,46). Der Heilige Geist kommt dann in der Auferstehung hinzu: „Nun ist ja der Geist, der in euch wohnt, der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat“ (Röm 8,11a; ebenso 1Petr 3,18). Für Moltmann ist deshalb die Trinitätslehre „nichts anderes als die Kurzfassung der Passionsgeschichte Christi“.6

Die Versöhnung, die Gott durch Christi Tod am Kreuz für die Menschheit bewirkt hat, ist dabei nach Paulus kein Automatismus: Jesus ist „für alle gestorben“ (V. 14), aber nun kommt es darauf an, dieser Einladung auch zu folgen: „Nehmt die Versöhnung an, die Gott euch anbietet!“ (V. 20, wörtlicher in der Elberfelder Bibel: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“). Gott hat alles getan, aber es ist an jedem einzelnen Menschen, dieses Geschenk auch anzunehmen.

Gott liebt die Menschheit so sehr, dass er das Kostbarste für sie einsetzt.

Warum kann uns der Tod Jesu mit Gott versöhnen? Hier kommt die Dimension der Sühne ins Spiel. Im Deutschen sind die Worte sogar sprachlich miteinander verwandt: „Sühne“ kommt vom mittelhochdeutschen süene, suone („Versöhnung“, „Schlichtung“, „Friede“) und vom althochdeutschen suona („Urteil“, „Gericht“, „Versöhnung“).7

2. Sühne

Paulus erklärt, wie Gott die Versöhnung möglich machen konnte: indem er „ihnen ihre Verfehlungen nicht anrechnet“ (V. 19). Und in V. 20-21 fährt er fort: „Nehmt die Versöhnung an, die Gott euch anbietet! Den, der ohne jede Sünde war, hat Gott für uns zur Sünde gemacht, damit wir durch die Verbindung mit ihm die Gerechtigkeit bekommen, mit der wir vor Gott bestehen können.“

Sühne: Jesus wird zur Sünde in Person, damit wir vor Gott bestehen können.

Jesus trägt unsere Sünde, wird sogar zur Sünde in Person8, damit wir vor Gott bestehen können – das ist Sühne. Dahinter steht die Überzeugung, dass der Mensch erlösungsbedürftig ist. Die angeführten Stellen aus dem Neuen Testament wiederholen es wie einen Refrain: Der Mensch braucht Erlösung von seinen Sünden. Sünde ist Trennung von Gott (vgl. das dt. „Sund“, ein großer Wassergraben). Menschen sind nicht „gerecht“ (vgl. V. 21). Durch Sünde wird die Beziehung zu Gott nicht nur gestört, sondern zerstört. Sünde ist „Rebellion gegen Gott“ und „Entfremdung von Gott“ (Horst Georg Pöhlmann).9 Am Anfang der Bibel werden Adam und Eva des Paradieses verwiesen, d.h. aus der Gegenwart Gottes entfernt, weil sie sich gegen Gott aufgelehnt haben. Sie haben sein Gebot übertreten, obwohl sie wussten, dass sie dann (geistlich) sterben mussten (1Mose 2,17). Nun ist eine unüberbrückbare Distanz zu Gott in der Welt, die alles Leben von Geburt an bestimmt. Diese Distanz beschreibt Paulus an anderer Stelle, in Römer 1–5, ausführlich und greift dazu auch auf die Paradieserzählung zurück.

Im Sühnetod am Kreuz kommt nun Gott für den „Lohn der Sünde, den Tod“ (Röm 6,23) auf und überbrückt damit den tiefen Graben der Trennung. „Gesühnt werden heißt, dem verdienten Tod entrissen zu werden“ (Hartmut Gese).10 Wer die Schwere der Sünde verharmlost, wird sich immer am Sühnebegriff stören und nicht nachvollziehen können, warum Gott nicht „einfach so“ vergeben kann.

„Sühne ist Stiftung der Möglichkeit neuen Lebens durch die Dahingabe anderen Lebens, das für mich – an meiner Stelle und mir zugute – dahingegeben wird.“ (H. Hempelmann)11

Wenn wir über „Sühne“ sprechen, müssen wir aber nicht nur nach „hinten“ gucken – warum also überhaupt Sühne notwendig wurde –, sondern auch nach „vorne“ – nämlich, was sie ermöglicht. Ralf Stolina schreibt in seinem RGG-Artikel der Sühne in ihrer Bedeutung zwei Momente zu – und zwar ein exklusives und ein inklusives Moment:

„Das exklusive Moment: Von sich aus hatte der Mensch keine Möglichkeit, seine Gottlosigkeit zu überwinden und die Gemeinschaft mit Gott in heilvoller Weise neu aufzunehmen. Gott überlässt den Menschen nicht den zerstörten Lebensverhältnissen, sondern handelt, wo der Mensch nicht handeln kann, in Jesus für ihn. […] Das inklusive Moment: Das Sterben Jesu für uns […], an unserer Stelle und zu unseren Gunsten, eröffnet ein Leben mit ihm, in dem der Mensch real in das Christusgeschehen einbezogen ist.“12

Der Mensch kann sich nicht selbst erlösen. Er braucht Erlösung von außen, von Gott her. Dieses exklusive Handeln Gottes – anstelle des Menschen – wird hier in 2. Korinther 5 beschrieben. Und es führt zum inklusiven Erleben der Gemeinschaft mit Christus: „Wenn jemand zu Christus gehört, ist er eine neue Schöpfung.“ (2Kor 5,17) Doch dieses zweite Moment setzt das erste notwendigerweise voraus. Man könnte sagen: ohne Sühne keine Gemeinschaft mit Christus.

Denn der Sühnetod Jesu „reinigt uns von aller Sünde“ (1Joh 1,7). Deshalb ist es nun möglich, dass Gott Sünden nicht mehr „anrechnet“ (V. 19), sondern ein erneuertes Leben möglich wird. Martin Luther hat in seiner Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen