22,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Von den antiken Anfängen der Medizin bis in die Gegenwart, von der »wandernden Gebärmutter« bis zur Entdeckung von Autoimmunerkrankungen und Endometriose: Die englische Feministin Elinor Cleghorn präsentiert eine bahnbrechende und aufwühlende Kulturgeschichte über das Verhältnis von Frauen, Krankheit und Medizin. Elinor Cleghorn, selbst an der Autoimmunerkrankung Lupus erkrankt, hat sich nach einer nervenaufreibenden Diagnose-Odyssee auf die Suche nach den Wurzeln der patriarchalen Mythen begeben, die unsere westliche Medizin bis heute prägen. Anhand einer Fülle von historischem Material rekonstruiert sie, wie stark die Medizin als Wissenschaft und Institution von kulturellen und gesellschaftspolitischen Umständen beeinflusst ist. Denn die Tatsache, dass Frauen als das schwächere Geschlecht galten und auf die soziale Aufgabe der Mutterschaft reduziert wurden, formte auch den medizinischen Blick auf Frauen und Weiblichkeit über die Jahrhunderte. Von der »wandernden Gebärmutter« über die »Hysterie« bis hin zum sich nur äußerst langsam wandelnden Verständnis für Menstruation und Menopause – all diese Diagnosen und Entwicklungen zeugen von einer männlich geprägten, nicht selten sexistischen Medizin. Feminist:innen erheben seit Langem ihre Stimme gegen diesen patriarchalen Zugriff auf ihren Körper und kämpfen für eine bessere Aufklärung über weibliche Gesundheit. Wer verstehen will, warum dieser Kampf wichtig und notwendig ist, findet in Elinor Cleghorns augenöffnendem Buch die Antwort.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 634
Veröffentlichungsjahr: 2022
Elinor Cleghorn
Wie Sexismus, Mythen und Fehldiagnosen die Medizin bis heute beeinflussen
Buch lesen
Titelseite
Über Elinor Cleghorn
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Dr. Elinor Cleghorn ist promovierte Kulturhistorikerin und Feministin. Sie arbeitete an einem medizinisch-geisteswissenschaftlichen Forschungsprojekt der Universität Oxford, ehe sie motiviert durch persönliche Erfahrungen mit der Recherche zu »Die kranke Frau« begann. Heute lebt und arbeitet sie als Autorin in Sussex.
Dr. Anne Emmert, (1965–2024) promovierte Anglistin und Amerikanistin, übersetzte Sachbücher und erzählende Texte aus dem Englischen, u. a. Ayaan Hirsi Ali, Christopher Hitchens, Garri Kasparow, Kitty Kelley, Nelson Mandela, Ewan McGregor und Michael Moore. Für ihre Arbeit wurde sie 2024 mit dem Übersetzerpreis »Rebekka« ausgezeichnet.
Judith Elze ist in Italien aufgewachsen, hat Sprachen studiert und lange im Kulturbereich gedolmetscht. Heute lebt und arbeitet sie im Kaiserstuhl als Übersetzerin englischer, italienischer und russischer Literatur.
zur Kurzübersicht
Elinor Cleghorn, selbst an der Autoimmunerkrankung Lupus erkrankt, hat sich nach einer nervenaufreibenden Diagnose-Odyssee auf die Suche nach den Wurzeln der patriarchalen Mythen begeben, die unsere westliche Medizin bis heute prägen. Anhand einer Fülle von historischem Material rekonstruiert sie, wie stark die Medizin als Wissenschaft und Institution von kulturellen und gesellschaftspolitischen Umständen beeinflusst ist. Denn die Tatsache, dass Frauen als das schwächere Geschlecht galten und auf die soziale Aufgabe der Mutterschaft reduziert wurden, formte auch den medizinischen Blick auf Frauen und Weiblichkeit über die Jahrhunderte.
Von den antiken Anfängen der Medizin bis in die Gegenwart, von der »wandernden Gebärmutter« bis zur Entdeckung von Autoimmunerkrankungen und Endometriose: Die englische Feministin Elinor Cleghorn präsentiert eine bahnbrechende und aufwühlende Kulturgeschichte über das Verhältnis von Frauen, Krankheit und Medizin.
Widmung
Motto
Einleitung
Vom antiken Griechenland bis ins 19. Jahrhundert
Gebärmutter auf Wanderschaft
Besessen und befleckt
Unter der Haut
Strapazierte Nerven
Unter Schmerzen
Virulente Freuden
Bluten wie verrückt
Ruhe und Resistenz
Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1940er-Jahre
Suffragetten und Suppression
Schmerzlose Geburt und Empfängnisverhütung
Strahlende Weiblichkeit
Die Regel beherrschen
Gewissenhaft und gehorsam
Kontrolle und Bestrafung
Von 1945 bis in die Gegenwart
Öffentliches Gesundheitswesen, privater Schmerz
Mutters kleine Helferinnen
Unser Körper, unser Selbst
Autoimmun
Glaubt uns!
Dank
Anmerkungen zum Quellenmaterial
Für Dorothy,
meine geliebte unpässliche Frau
Die Geschichte der Krankheiten ist nicht die Geschichte der Medizin – es ist die Geschichte der Welt –; und die Geschichte davon, einen Körper zu haben, könnte gut auch die Geschichte davon sein, was den meisten von uns im Interesse weniger zugemutet wird.
Anne Boyer, Die Unsterblichen (2019)
[…] man muss die Geschichte dieser wunderbaren Funktionen und Schicksale erforschen, die zu erfüllen ihre [der Frau] geschlechtliche Natur erlaubt, und die wundersamen und geheimen Einflüsse, welche die [weiblichen] Organe durch deren nervöse Konstitution und ihre Funktionen, durch ihre Beziehung zur gesamten Lebenskraft einer Frau, in Krankheit oder Gesundheit, ausüben können, nicht nur auf ihren Körper, sondern auch auf das Herz, den Geist und sogar die Seele.
Charles D. Meigs, MD, »Lecture on Some of the Distinctive Characteristics of the Female« (1847)
Wissen Sie, er glaubt gar nicht, dass ich krank bin!
Was kann man da machen?
Wenn ein hochangesehener Arzt und noch dazu der eigene Ehemann Freunden und Verwandten versichert, es sei nichts weiter als eine vorübergehende nervöse Depression – eine leichte hysterische Neigung –, was soll man da machen?
Charlotte Perkins Gilman, Die gelbe Tapete (1892)
Medizin sei die Kunst, die Rätsel des Körpers zu lösen, heißt es. Und von der Medizin als Wissenschaft erwarten wir, dass sie den Prinzipien der Evidenz und der Objektivität folgt. Unser Arzt, unsere Ärztin soll uns zuhören und uns als Menschen wertschätzen. Wenn es Beschwerden, Fieber, Schmerzen oder Erschöpfung einzuordnen gilt, möchten wir, dass das vorurteilsfrei geschieht. Wir dürfen eine faire und anständige Behandlung erwarten, die von Gender oder Hautfarbe unabhängig ist. Doch hier wird es kompliziert, denn die Medizin schleppt die Bürde ihrer eigenen beunruhigenden Geschichte mit sich herum. Die Geschichte der Medizin und der Krankheiten ist mindestens so stark von gesellschaftlichen und kulturellen Einflüssen geprägt wie von wissenschaftlichen. Sie handelt nicht nur von Ärztinnen und Chirurgen, Klinikern und Forscherinnen, sondern auch von Patient:innen, ihrem Körper und ihrem Leben. Und der medizinische Fortschritt findet nicht nur in Laboren, Lesesälen und Lehrbüchern statt, sondern spiegelt auch seit jeher Veränderungen in der Welt und in der Sicht des Menschen wider.
In jeder Phase ihrer langen Geschichte hat die Medizin gesellschaftlich konstruierte Geschlechterdifferenzen aufgenommen und konserviert, denn sie sind tief in das Menschsein hineingewoben. Nach traditioneller Aufteilung standen Macht und Herrschaft den Männern zu. Was Politik, Besitz und Bildung angeht, wurde Frauen von Anfang an eine untergeordnete Stellung zugeschrieben. Unter genau diesen Bedingungen hat sich die moderne Medizin im Laufe der Jahrhunderte als Beruf, Institution und wissenschaftliches Fachgebiet entwickelt. Die männliche Dominanz – und mit ihr die Überlegenheit des männlichen Körpers – ist seit der griechischen Antike ein fester Bestandteil der Medizin. Schon damals galt die Frau aufgrund ihrer anatomischen Unterschiede zum Mann als medizinisch fehlerhaft, unvollkommen und ungenügend. Aber Frauen besitzen ein biologisch – und gesellschaftlich – höchst wertvolles Organ: die Gebärmutter. Die Erforschung der weiblichen Biologie konzentrierte sich daher auf die Fähigkeit und Pflicht zur Fortpflanzung. Die weibliche Biologie bestimmte und beschränkte das Frausein, und das Frausein verschmolz mit dem weiblichen Geschlecht und wurde darauf reduziert. Diese gesellschaftlichen Determinanten validierte die Medizin, indem sie einen Mythos schuf, nach dem die Frau aus ihrer Biologie bestand, von ihr beherrscht und geleitet wurde, ihr vollkommen ausgeliefert war. Ihre Krankheiten und Leiden wurden durchweg auf die »Geheimnisse« und »Merkwürdigkeiten« der weiblichen Fortpflanzungsorgane zurückgeführt. Die sagenumwobene Gebärmutter, hieß es in der Antike, beeinflusse jede denkbare Störung und Erkrankung von Körper und Geist. Seither gelten Frauen in der Medizin als anfällig für bestimmte Leiden und Krankheiten, sind medizinische Erkenntnisse geprägt und verzerrt von dem Vorurteil, dass die Gebärmutter uns Frauen eine untergeordnete Stellung in der von Männern und für Männer gemachten Welt zuweist.
Natürlich haben nicht alle Frauen einen Uterus, und nicht alle Menschen, die einen Uterus besitzen oder menstruieren, sind Frauen. Aber über weite Strecken der Medizingeschichte wurde das biologische Geschlecht mit der Genderidentität eines Menschen gleichgesetzt. Viele Jahrhunderte lang bestimmte die patriarchalische Vorstellung von der Frau und ihrer Weiblichkeit das medizinische Wissen von den »weiblichen« Organen und Körpersystemen. Wann immer die Medizin ihre Erkenntnisse zur weiblichen Biologie erweiterte und entwickelte, spiegelte und bestätigte sie auch die herrschenden sozialen und kulturellen Erwartungen an Frauen: wer sie sind, was sie denken, fühlen und wünschen sollen und vor allem was sie mit dem eigenen Körper tun dürfen. Wie man heute weiß, bestimmt die Biologie nicht über die Genderidentität. Seit Jahrhunderten kämpft der Feminismus dagegen an, dass Menschen aufgrund biologischer Faktoren in ihrem Leben eingeschränkt werden. Doch die Medizin hat ein Genderproblem geerbt: Medizinische Mythen über Geschlechterrollen und Verhaltensweisen, aus denen Fakten konstruiert wurden, ehe sich die Disziplin zu einer evidenzbasierten Wissenschaft entwickelte, wirken bis heute auf verheerende Weise nach. Mythen über den weiblichen Körper und seine Krankheiten halten sich weiterhin mit großer Hartnäckigkeit. Noch immer sind solche Geschlechtermythen als Vorurteile tief verwurzelt und stehen der Versorgung, Behandlung und Diagnose aller Menschen, die sich als Frauen begreifen, im Wege.
Bis heute lassen Medizin und Gesundheitssystem Frauen mit ihren Schmerzen, besonders mit chronischen Schmerzen, allein. Vorurteilsbehaftete »Gendererwartungen« nehmen unmittelbar Einfluss darauf, als wie echt, ernst zu nehmend und behandlungswürdig Schmerzen bewertet werden. Frauen erhalten seltener Schmerzmittel und stattdessen häufig schwache Beruhigungsmittel und Antidepressiva. Frauen erhalten nicht so oft eine Überweisung für eine weiterführende diagnostische Untersuchung wie Männer. Und ihre Schmerzen werden eher auf eine emotionale oder psychische als auf eine körperliche oder biologische Ursache zurückgeführt. Frauen leiden besonders häufig an chronischen Krankheiten, die mit Schmerzen beginnen. Doch ehe Schmerzen als Symptome einer möglichen Krankheit ernst genommen werden können, muss das Gegenüber im Behandlungszimmer sie erst einmal zur Kenntnis nehmen und glauben. Das verbreitete Misstrauen gegenüber Frauen und ihren Schmerzen ist seit Jahrhunderten fest in die Medizin eingeschrieben. Die historische – und hysterische – Vorstellung, dass sich exzessive Emotionen tiefgreifend auf die körperlichen Befindlichkeiten einer Frau auswirken und umgekehrt, steht wie ein Fotonegativ hinter dem heutigen Bild der aufmerksamkeitsheischenden, hypochondrischen Patientin. Die herrschenden gesellschaftlichen Stereotypen darüber, wie Frauen Schmerzen erleben, beschreiben und ertragen, sind keine modernen Phänomene, sondern haben sich im Lauf der Geschichte tief in die Medizin eingegraben. Die Überreste alter Geschichten, Irrtümer, Mutmaßungen und Mythen trüben bis heute das biomedizinische Wissen.
Seit einigen Jahren erreicht die Kritik an Genderstereotypen der medizinischen Forschung und Praxis auch die Mainstream-Presse. Schlagzeilen wie »Warum glauben Ärzte Frauen nicht?«, »Die Medizin lässt Frauen mit chronischen Krankheiten im Stich« und »Frauen werden häufiger falsch diagnostiziert als Männer« liest man regelmäßig. Missachtung und Fehldiagnosen beschäftigen immer häufiger die Öffentlichkeit. Wir erfahren, dass medizinischer Sexismus verbreitet und systemimmanent ist und dass er Frauen krank macht. Frauen bilden aber keine einheitliche Kategorie. Inwieweit geschlechtsspezifische Vorurteile Gesundheit – und Leben – einer Frau beeinträchtigen, hängt davon ab, wer sie ist. Ich habe eine chronische Krankheit, bin mir aber meiner Privilegien wohl bewusst. Ich bin weiß und cisgender und wirke hinreichend fit, um als »gesund« durchzugehen. Außerdem kann ich auf die staatlich finanzierte medizinische Versorgung des britischen National Health Service zurückgreifen. Die Diskriminierung ist ungleich größer, wenn Patientinnen beispielsweise als Schwarz, asiatisch oder indigen gelesen werden, wenn ihnen das Gesundheitssystem verschlossen ist oder wenn sie sich nicht mit den Gendernormen identifizieren, die der biologischen Weiblichkeit in der Medizin zugeschrieben werden.
In den USA haben etwa Schwarze Frauen oder Frauen asiatischer Herkunft große Schwierigkeiten, an eine angemessene Gesundheitsversorgung, an Behandlung und medizinische Dienstleistungen oder überhaupt an eine Krankenversicherung zu kommen. Struktureller Rassismus verbindet sich auf perfide Weise mit genderspezifischen Vorurteilen: 22 Prozent der Schwarzen Frauen in den USA geben an, bei einem Arztbesuch oder Klinikaufenthalt schon Diskriminierung erfahren zu haben.[1] Als weiße Frau kann es mir passieren, dass meine Schmerzen als hysterisch abgetan werden, aber manch Schwarze Frau muss darum kämpfen, dass ihre Schmerzen überhaupt zur Kenntnis genommen werden. Wie eine Studie aus dem Jahr 2016 ergab, ziehen Mythen über biologische »Rassenunterschiede« in der medizinischen Schmerztherapie eine massive Ungleichbehandlung Schwarzer Menschen nach sich. Das falsche, aber sich hartnäckig haltende Vorteil, Schwarze Frauen empfänden weniger Schmerzen, weil sie eine »dickere Haut« und »unempfindlichere Nervenenden« hätten, geht auf entmenschlichende historische Unwahrheiten zurück, die verbreitet wurden, um die grauenhafte Misshandlung versklavter Schwarzer durch Weiße zu rechtfertigen.[2] Aufgrund dieser rassistischen Herabsetzung physischer und psychischer Schmerzen werden Schwarzen Frauen weniger Schmerzmittel verschrieben, ihre Krankheiten häufiger falsch oder viel zu spät diagnostiziert. Und diese Ungleichbehandlung bringt sie um.
In Großbritannien sterben Schwarze Frauen fünfmal häufiger an Komplikationen in der Schwangerschaft und bei der Geburt als weiße. In den USA liegt die Mütter- und Säuglingssterblichkeit in der Schwarzen Bevölkerung höher als in sämtlichen Industrieländern der Welt. Und viele Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen, an denen Schwarze Frauen sterben, wären vermeidbar.[3] Die Schwangerschaftsvergiftung oder Präeklampsie, eine mit Bluthochdruck einhergehende Erkrankung, die plötzlich auftreten kann, trifft Schwarze Frauen in Großbritannien zu 50 Prozent und in den USA zu 60 Prozent häufiger als weiße. Das Risiko einer Präeklampsie ist bei Frauen mit chronischen Vorerkrankungen wie Lupus, Diabetes und Nierenleiden stark erhöht, Krankheiten, die sowohl in Großbritannien als auch in den USA unter Schwarzen Frauen deutlich häufiger vorkommen. Wird die Präeklampsie nicht behandelt, kann sie sich zu einer Eklampsie auswachsen, die potenziell tödliche Krampfanfälle, Herz-, Nieren- und Leberschäden, Blutgerinnsel, Lungenödeme, Wachstumsstörungen des Fötus wie auch den Tod von Kind und Mutter nach sich ziehen kann. Die Frühwarnzeichen einer Präeklampsie – erhöhter Blutdruck, Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen, Sehstörungen, Sodbrennen und Schwellungen an Füßen, Knöcheln, Gesicht und Händen – können leicht mit »normalen« Begleiterscheinungen einer Schwangerschaft verwechselt werden. Schwarze Frauen erfahren, wenn sie von ihren Schmerzen berichten, nicht genügend Respekt, Aufmerksamkeit und Empathie. Ihre Aussagen darüber, was mit ihnen und ihrem Körper geschieht, finden allzu oft kein Gehör. Für eine Schwarze Frau kann es gefährlich werden, wenn sie wahrheitsgemäß Auskunft über ihre Schmerzen gibt. Es reicht nicht aus, wenn die Medizin die rassistischen Vorurteile ausräumt, die diesen entsetzlichen Mangel an Fürsorge und Empathie herbeiführen. Sie muss gezielt antirassistisch werden, das heißt zum Beispiel, sie muss sich ihrer Mitschuld an der historischen Missachtung Schwarzer, asiatischer und anderer Frauen, die als nicht-weiß gelesen werden, stellen.
Schwarze Frauen erleben, wenn sie sich krank fühlen, Unsichtbarkeit nicht nur in Notaufnahme, Klinik oder Arztpraxis. Ignoranz und Fehlbehandlung erwachsen aus impliziten – manchmal auch expliziten – Vorurteilen einzelner Mediziner:innen, sind aber keinesfalls ein ausschließlich individuelles Phänomen. Vielmehr sind sie historisch bedingt, liegen im System und durchdringen Wissen und Forschung ebenso wie Versorgung und Behandlung. Ich glaube nicht, dass die große Mehrheit der Behandelnden bewusst über diese Frauen hinweggeht. Die wenigsten, das hoffe ich jedenfalls, missachten die gesundheitlichen Probleme Schwarzer Frauen vorsätzlich und aus explizit rassistischen Gründen. Vielmehr ist die Diskriminierung kranker Frauen, die bis heute andauert, einem Schatten geschuldet, der seit Jahrhunderten über der Medizin liegt, über das Unbewusste und Individuelle weit hinausgeht und den Blick auf die Frauen sowie die Beurteilung ihrer Krankheiten stark verzerrt. »Frauenkrankheiten«, zumal solche, die etwa bei Schwarzen Frauen anders und häufiger auftreten, hatten historisch betrachtet keine Priorität. Infolgedessen klafft im medizinischen und klinischen Wissen in Hinblick auf Gender und Race eine tiefe Lücke. Bis in die 1990er-Jahre wurden Frauen von klinischen Studien und Beobachtungsstudien ausgeschlossen, und auch bei Herzkrankheiten, bestimmten Krebsarten und Aids/HIV fehlen Studien dazu, wie sie sich spezifisch auf den weiblichen Körper auswirken. So wurden jahrzehntelang medizinische Fortschritte gemacht, die Frauen nicht berücksichtigten. Angesichts einer steigenden Zahl diagnostisch anspruchsvoller unheilbarer Krankheiten, die Frauen in aller Welt heimsuchen, ist es dringend erforderlich, diese Kultur der Missachtung zu korrigieren.
Bisweilen stellt der Frauenkörper die Medizin vor echte Rätsel. Schmerzen und Müdigkeit sind die häufigsten »medizinisch unerklärten« Symptome. Unter ebendiesen Symptomen leiden tagtäglich Frauen mit mysteriösen chronischen Erkrankungen, deren Existenz in der medizinischen Zunft oft umstritten ist. Vom Chronischen Erschöpfungssyndrom und der Fibromyalgie sind bekanntermaßen mehr Frauen als Männer betroffen, doch wurde nicht annähernd genug Ursachenforschung betrieben. Behindert wird das Verständnis solch komplexer und diagnostisch anspruchsvoller Krankheiten durch medizinische Missverständnisse und gesellschaftliche Vorbehalte gegenüber Frauen und der Art, wie sie körperliche Empfindungen zum Ausdruck bringen. Geht eine Patientin mit einer rätselhaften Erkrankung zum Arzt, diagnostiziert dieser in seiner Ratlosigkeit nicht selten eine psychische Ursache. Seit den 1950er-Jahren tragen psychosomatische Diagnosen der Tatsache Rechnung, dass sich die Psyche in körperlichen Symptomen äußern kann. Diese anerkannten Diagnosen werden jedoch gern mit der irrigen Vorstellung vermengt, Frauen bauschten ihre Symptome auf oder täuschten sie vor. Besonders deutlich kommt diese Haltung im Zusammenhang mit »Frauenbeschwerden« wie gynäkologischen Erkrankungen und Störungen zum Tragen, die seit jeher von Scham, Heimlichtuerei und Mythen begleitet werden.
Endometriose, eine chronische unheilbare Krankheit, bei der Endometriumgewebe außerhalb der Gebärmutter entsteht und sich im Körper ausbreitet, ist ein Musterbeispiel für die historischen Misserfolge einer von Männern dominierten Medizin. Die Krankheit erhielt ihren Namen in den 1920er-Jahren, wird aber seit Jahrhunderten in der medizinischen Literatur erwähnt. Eine Vielzahl repressiver und frei erfundener Legenden wurde im Lauf der Geschichte auf Blut und Schmerz der Frauen projiziert. Die Symptome – unter anderem qualvolle Becken-, Rücken- und Bauchschmerzen, Beschwerden beim Geschlechtsverkehr und starke Blutungen – wurden immer wieder als körperliche Manifestationen seelischer Not pathologisiert. Im 19. Jahrhundert machte man Becken- und Bauchschmerzen wie auch »Menstruationsstörungen« mit aggressiven blutigen Operationen den Garaus, beschuldigte die Betroffenen der Hysterie oder steckte sie in eine Nervenheilanstalt. Noch heute werden Frauen oft als neurotisch, überängstlich, depressiv, hypochondrisch oder gar hysterisch abgetan, wenn sie über die ersten Symptome einer Endometriose klagen. Menstruelle und gynäkologische Schmerzen werden schon viel zu lange als »natürliche« und unvermeidliche Begleiterscheinung des Frauseins verniedlicht.
Heute betrifft Endometriose weltweit schätzungsweise jede zehnte Frau. Im Schnitt dauert es sechs bis zehn Jahre bis zur korrekten Diagnose. Da die Forschung nicht annähernd genug Geld und Zeit aufgewendet hat, um den Ursachen dieser höchst belastenden Krankheit auf den Grund zu gehen, bleiben den Betroffenen die verdiente Fürsorge und der nötige Respekt oft versagt. Nachteilig wirkt sich auf die Erkrankten auch ein verbreiteter Mythos aus: Seit Ende der 1940er-Jahre kultiviert die Medizin ein Bild, nach dem die typische Endometriose-Kranke eine weiße überdurchschnittlich gebildete, sozial und wirtschaftlich privilegierte junge Frau sei, die sich dem biologischen Gebot des Kinderkriegens widersetzt. Und da es bis in die 1970er-Jahre hieß, die Krankheit betreffe Schwarze Frauen gar nicht, wurde bei ihnen häufig die Fehldiagnose einer Beckenentzündung gestellt, also einer bakteriellen, sexuell übertragbaren Infektion. Rassistische Vorurteile über Sexualität und Schmerzempfindlichkeit Schwarzer Frauen erschwerten auch die Erforschung anderer gynäkologischer Krankheiten wie Uterusmyome, Gebärmutterhalskrebs und das Polyzystische Ovarialsyndrom, die sie häufiger und mit anderen Symptomen als weiße Frauen ereilen. Erst 2012 wies ein Forscherteam in Detroit nach, dass bei Schwarzen Frauen das Endometriumgewebe oft stärker und an anderen Stellen im Körper wuchert als bei weißen.[4]
Die Entwicklung von Medizin und Gesundheitswesen ist nicht nur ein Kernstück des sozialen Fortschritts, sondern auch immer zutiefst politisch. Die systematische Vernachlässigung gynäkologischer Leiden Schwarzer Frauen wurzelt in der Ausbeutung versklavter und entrechteter Menschen im Namen der medizinischen und chirurgischen Forschung seit dem 19. Jahrhundert. Schwarze Frauen galten als bloße medizinische Objekte, als Versuchsmaterial. Unablässig sprach man ihnen ihre Schmerzen und ihre Menschlichkeit ab.
Dass Frauen nicht zu Wort kommen, nicht gehört werden, gehört zu den Bedingungen der männergemachten Welt. Die Medizin ist ein Konstrukt dieser Welt, sie ist androzentrisch. Das heißt, der männliche Körper gilt als Standard, männerdominiertes Wissen erfreut sich höchster Wertschätzung. Das heißt aber auch, dass Merkmale, die Mannsein und Männlichkeit bestimmen, privilegiert sind. Seit jeher wurde in der Medizin die Ansicht vertreten, Frauen seien aufgrund ihrer unvollkommenen, unzulänglichen, unmäßigen und ungebärdigen Biologie nur für die unterjochte »weibliche« Sphäre geeignet. Heute kommt uns das lächerlich vor, aber Ärzte haben tatsächlich einmal geglaubt, die Nerven einer Frau seien zu angespannt, als dass sie eine Ausbildung durchhalten könnte, und die Eierstöcke würden sich entzünden, wenn sie zu viel las. Solche empörenden Mythen halten sich aber hartnäckig in einer Welt, in der manch einer immer noch Menstruation und Menopause als Erklärung dafür heranzieht, dass Frauen keine politischen Machtpositionen bekleiden sollten. Wenn Frauen in der klinischen Forschung von Studien heute noch ausgenommen werden, weil die weiblichen Hormone mit ihren großen Schwankungen die Ergebnisse angeblich verzerren, so zementiert die medizinische Kultur nur den jahrhundertealten Mythos, Frauen seien biologisch unberechenbar und daher unnütz und unbrauchbar.
Im Androzentrismus haben Männer nicht nur sämtliche Macht und allen Einfluss, die Menschen werden zudem rein »aus männlicher Perspektive und nach männlichen Maßstäben« bewertet.[5] Der Begriff »androzentrisch« wurde 1903 von dem amerikanischen Soziologen und Frauenrechtler Lester Frank Ward eingeführt. Acht Jahre später sezierte die amerikanische Schriftstellerin, Dozentin, Feministin und Aktivistin Charlotte Perkins Gilman in ihrem Buch Die Kultur der Männer die androzentrische Welt. Perkins Gilman prangerte in aller Entschiedenheit an, dass Frauen von der Medizin körperlich und geistig unterdrückt und diskriminiert wurden. Sie engagierte sich im Kampf für das Frauenwahlrecht, der auf beiden Seiten des Atlantiks tobte. In diesem Kampf ging es nicht nur darum, den Frauen ein Stimmrecht zu verschaffen. Die Bewegung hatte, so Perkins Gilman, »wirtschaftliche und politische Gleichheit«, »Freiheit und Gerechtigkeit« und vor allem die »Menschwerdung von Frauen« auf der Agenda.[6] Wer Frauen allein unter androzentrischen Weiblichkeitskriterien behandle und bewerte, reduziere sie auf einen biologisch determinierten Geschlechtermythos. Eine androzentrische Medizin, die kranke Frauen verunglimpft, ignoriert, herabsetzt und schwächt, beschwört bewusst oder unbewusst eine historische Sicht von Körper und Seele einer Frau herauf, die einst entwickelt wurde, um den patriarchalen Status quo aufrechtzuerhalten. Perkins Gilman schrieb zu einer Zeit, als in Medizin und Wissenschaft der Glaube herrschte, Frauen seien »ein Geschlecht«, schlimmer noch, »eine Unterart, die man nur zur Reproduktion abkommandiert«.[7] Ihr grundlegendes Argument, mit der Betonung ihrer »Femininität« und »Weiblichkeit« spreche man den Frauen die Menschlichkeit ab, hat an Relevanz erstaunlich wenig eingebüßt.
Perkins Gilman war eine von vielen Frauen, die tapfer Front machten gegen die androzentrische Medizin und ihre Ansprüche auf Körper, Geist und Leben der Frauen. Es änderte sich erst wirklich etwas, als Frauen im Namen ihres Körpers und dem anderer Frauen die Stimme erhoben, als sie Wissen ansammelten, indem sie anderen Frauen zuhörten, als sie repressive Vorurteile widerlegten, als sie widersprachen und sich widersetzten. Wenn sich Frauen nicht mehr den Mund verbieten lassen, büßt die androzentrische Kultur an Macht ein.
Seit den 1960er-Jahren gehen Feminist:innen innerhalb wie außerhalb des medizinischen Establishments unermüdlich gegen die Unterschlagung von Medikamentennebenwirkungen ebenso an wie gegen die systemimmanente frauenfeindliche und rassistische Schieflage in der klinischen Forschung. So konnten sie allerlei grundsätzliche Änderungen in der Gesetzgebung und in der medizinischen Praxis herbeiführen. Dank ihrer Bemühungen wurde auch die Sicherheit von Medikamenten einschließlich der Antibabypille und der Hormonersatztherapie verbessert.
Der Feminismus in der Medizin blickt auf eine lange, faszinierende und inspirierende Geschichte zurück, in der sich Frauen aus der Deckung wagten, um repräsentiert, richtig behandelt und gehört zu werden. Ab dem 18. Jahrhundert prangerten feministische Sozialreformer:innen die in der Medizin verbreitete Mär von der »natürlichen« Unterlegenheit der Frau an. In den 1970er-Jahren ermächtigten feministische Graswurzelbewegungen Frauen, ihren Körper der Mystifizierung durch die männergemachte Medizin zu entreißen, und sammelten Wissen von Frauen für Frauen. In den Jahrzehnten beziehungsweise Jahrhunderten dazwischen setzten sich Feminist:innen in Medizin und Forschung, in sozialistischen Kreisen und in Reformbewegungen für körperliche Rechte und Freiheiten von Frauen ein: von der Entpathologisierung der Menstruation über das Ausleben der sexuellen Lust und die Legalisierung von Empfängnisverhütung bis hin zu reproduktiver Autonomie.
Die #MeToo-Bewegung schließlich ermächtigte Frauen, ihre Erfahrungen mit sexistischem und frauenfeindlichem Machtmissbrauch in allen Bereichen der Gesellschaft zu schildern. Da derzeit autoritäre politische Ideologien weltweit auf dem Vormarsch sind, das Recht der Frauen auf ihren Körper eingeschränkt und geleugnet wird und Betroffene kein Gehör finden, hat sich die Medizin erneut zu einem Schlachtfeld entwickelt, auf dem Frauen darum kämpfen müssen, dass man ihnen zuhört und glaubt. Immer mehr Frauen berichten mutig von der geschlechtsbedingten und rassistischen Diskriminierung, der sie begegnen, und besonders häufig geht es dabei um chronische, unheilbare oder noch unerforschte Krankheiten. In Essays und Zeitungsartikeln, Memoiren, Romanen und Kurzgeschichten, Filmen, Dokumentationen, Blogbeiträgen und Chats berichten Frauen einander, wie sie mit ihren schwer diagnostizierbaren Erkrankungen in der Medizin marginalisiert werden. Wenn Frauen den eigenen Körper zum Thema machen, so ist das zutiefst feministisch. Das Trauma der Schmerzen wieder wachzurufen zeugt von Großzügigkeit und Mut, eine radikale Geste in einer Kultur, die Frauen immer noch oft mit Zweifel und Unglauben begegnet. Es ist ein Risiko, aber auch ein Akt des Widerstands gegen die Machtstrukturen in einer von Männern gemachten Welt, die uns den Mund verbieten will.
Wenn Frauen persönliche intime Erfahrungen schildern und sich darüber austauschen, wie es ist, eine Frau mit gesundheitlichen Problemen zu sein, so entsteht dadurch auch wertvolles Wissen, das im objektiven evidenzbasierten Diagnosemodell oft nicht vorkommt. Seit Jahrhunderten heißt es in der Medizin, eine Frau und ihr Leben würden durch ihren Körper und ihre Biologie definiert. Doch Frauen wurden nie als zuverlässige Zeuginnen der Vorgänge, die ihrem Körper widerfahren oder widerfahren sind, ernst genommen. Uns wurde jegliche Wirkmacht verwehrt, weil in der von Männern gemachten Welt sanktioniertes Expertenwissen immer mehr zählt als unsere Gedanken und Gefühle. Im Krankheitsnarrativ der ärztlichen Profession ist kein Platz für die individuellen Erfahrungen von Frauen.
Aus mir selbst wurde vor zehn Jahren eine »unpässliche Frau«. Schon vorher war ich oft krank gewesen, aber erst im Oktober 2010 wurde endlich die Ursache der merkwürdigen Beschwerden gefunden, die mich jahrelang geplagt hatten. Nach zehn Tagen Krankenhausaufenthalt diagnostizierte ein Rheumatologe systemischen Lupus erythematodes, eine chronische Autoimmunerkrankung. Zuvor waren meine Symptome sieben Jahre lang als harmlos abgetan und wenig hilfreiche Fehldiagnosen gestellt worden. Wie die meisten Autoimmunerkrankungen ist Lupus unheilbar, und bis heute sind die Ursachen der Krankheit ein Rätsel. Einige Wochen nach der Diagnose fuhr ich ins St. Thomas’ Hospital in London, wo ich einen Termin in der Fachklinik für Lupus und verwandte Krankheiten hatte, der größten dieser Art in Europa. Mit meinem drei Monate alten Baby, das ich mir im Tragetuch vor die Brust gebunden hatte, stand ich an der Rezeption und nannte meinen Namen. Ich war kurzatmig, nachdem mich eine Herzentzündung fast das Leben gekostet hätte. Mein Puls raste, die Nerven flatterten. Die Sprechstundenhilfe führte mich in einen langen Flur, der als Wartebereich diente. Mehrere Stühle standen drei verschlossenen Sprechzimmertüren gegenüber. Neben jeder Tür stand ein Rollwagen mit Patientenakten. Hin und wieder kam eine Ärztin oder ein Arzt heraus, schnappte sich eine Akte, öffnete sie und rief den Namen auf. Der Wartebereich war voll, und so gut wie alle, die an diesem Nachmittag dort saßen, waren Frauen.
Wir saßen alle dort, weil man uns in der Hausarztpraxis oder im Krankenhaus in die Fachklinik überwiesen hatte. Alle hatten wir Schmerzen, Erschöpfung, Fieber, Hautausschläge, Blutgerinnsel, Schwangerschaftserkrankungen und andere Leiden hinter uns, für die es auf den ersten Blick keine Ursache gab. Jede der Akten enthielt eine klinische Geschichte. Meine hatte knapp zwei Monate vorher begonnen, als ich mich in die Hausarztpraxis schleppte und klagte, dass ich keine Luft mehr bekäme.
In den Jahren, die seither vergangen sind, habe ich gelernt, mit meiner unberechenbaren, unsteten Krankheit zu leben und die Medizinhistorie nach Informationen darüber durchforstet. Wie Matrjoschkas tauchten immer mehr an Lupus erkrankte Frauen aus den Annalen der Medizin auf. Alle hatten eine ähnliche klinische Laufbahn erlebt: Kinderkrankheiten, jahrelange Schmerzen, rätselhafte Symptome, eine Fehldiagnose nach der anderen. Diese Frauen waren Teil meiner Geschichte. Sie hatten mit ihrem Körper zu den medizinischen Erkenntnissen beigetragen, denen ich es verdanke, dass sich mein Körper erholen konnte und meine Krankheit in den Griff zu bekommen war. Doch die Aufzeichnungen von Störungen und Symptomen in den klinischen Studien verrieten so gut wie nichts über die Lebensgeschichte der Betroffenen. Die Notizen offenbarten manches über ihren Körper, nicht aber, wie es war, darin zu leben. Ich versuchte mir vorzustellen, wie diese Frauen mit einer Krankheit kämpften, die sich zum jeweiligen Zeitpunkt der Geschichte dem medizinischen Verständnis vollkommen entzog. Ich fühlte mich aufs Engste mit ihnen verbunden. Wir hatten wesentliche Bestandteile unserer Biologie gemein. Verändert hatte sich seither nicht der weibliche Körper, sondern nur das medizinische Wissen darüber.
Seit ich mit Lupus lebe, frage ich mich oft, ob die chronischen Krankheiten von Frauen wohl weniger rätselhaft wären, wenn sich in der Medizin die Einsicht durchsetzte, dass sie sich nicht ausschließlich über biologische Evidenz erklären lassen. Für uns Betroffene ist unsere Krankheit durchaus nicht schwer zu fassen. Aber anscheinend hat sie den Hang, der medizinischen Forschung auf Schritt und Tritt Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Vielleicht erwächst diese klinische und biomedizinische Verunsicherung aber auch nur aus dem Versäumnis der Medizin, an den richtigen Stellen nach Antworten zu suchen. Vielleicht illustrieren unsere Krankheiten lediglich, dass Frauenkörper anders kommunizieren und dass man Frauen anders zuhören muss.
Das vorliegende Buch schrieb ich zu weiten Teilen im Frühjahr und Frühsommer 2020 während der COVID-19-Pandemie. Eine Woche, nachdem die britische Regierung im März 2020 den Lockdown verhängt hatte, fragte mich eine liebe Freundin per SMS: »Wie geht es dir denn jetzt, wo dein Buch zum Leben erweckt wird?« Ich musste erst überlegen, was sie meinte: Alle sozialen und kulturellen Gegebenheiten rund um den Themenkreis Krankheit und Gender, die sich bis dahin eher im Verborgenen manifestiert hatten, waren auf einmal für alle zur gemeinsamen Realität geworden. Das Leben mit einer Krankheit, die mit Ungewissheit und Spekulationen einhergeht, die das Arbeiten, das Denken, die Bewegungsfreiheit, den Umgang mit anderen beeinflusst, war nun plötzlich für alle Menschen Alltag. Jede und jeder musste unter der ständigen Gefahr einer möglichen Ansteckung die Verantwortung für Erwerbs- und Sorgearbeit neu austarieren. In einem der vielen intensiven Gespräche, die ich in den letzten Monaten geführt habe, sagte eine andere gute Freundin: »Ich höre immer wieder diesen Satz: ›Wir befinden uns in einer beispiellosen Situation.‹ Dabei ist diese Situation gar nicht beispiellos. Jedenfalls nicht, wenn wir mal überlegen, dass in der Pandemie die Frage ›Wem steht Gesundheit zu?‹ enorm an Gewicht gewinnt.« Und damit hat sie recht. COVID-19 wirft ein Schlaglicht auf bestehende systemische und strukturelle Ungleichheiten im Gesundheitswesen. Bevölkerungsgruppen, die sozial, wirtschaftlich und medizinisch ohnehin benachteiligt sind, tragen auch das höchste Risiko einer Ansteckung und Erkrankung. In Großbritannien weisen Schwarze, asiatische und andere als nicht-weiß gelesene Menchen, in den USA Schwarze, Indigene und Latinx die höchsten Infektions- und Todesraten auf. Auf viele, deren gesundheitliche Probleme bereits zuvor unbeachtet und unbehandelt geblieben sind, hat das Virus eine verheerende Wirkung.[8] Und es ist unbestritten, dass manche Reaktion und Einstellung von medizinischem Fachpersonal gerade in Hinblick auf Frauen nach wie vor die Neigung offenbaren, Krankheitssymptome kleinzureden, zu ignorieren und abzutun.
Weltweit sterben nach Schätzungen doppelt so viele Männer wie Frauen an COVID-19. Zwar sind die Gründe dafür noch unklar, doch in der Forschung wird spekuliert, dieser »COVID Gender Gap« könnte mit biologischen Variablen im männlichen und weiblichen Immunsystem zusammenhängen. »Frauen haben etwas, das sie schützt, auch in der Schwangerschaft«, so die Intensivmedizinerin Dr. Sara Ghandehari vom Cedars-Sinai Medical Center in Los Angeles. »Deshalb denken wir an Hormone.«[9] In der New York Times berichtete Roni Caryn Rabin von Studien im Cedars-Sinai sowie an der Renaissance School of Medicine, Long Island, in denen männlichen und weiblichen COVID-19-Erkrankten die »weiblichen« Sexualhormone Östrogen und Progesteron verabreicht wurden. Beide Hormone sollen entzündungshemmend wirken und immunologischen Schutz bieten. Frauen, so nimmt man an, haben ein robusteres Immunsystem als Männer. Die stärkere Immunantwort der weiblichen Biologie könnte aber auch erklären, warum mehr Frauen an Autoimmunerkrankungen leiden. Faszinierend ist der Gedanke, dass ausgerechnet die erratischen Hormone, wegen derer Frauen oft von klinischen Studien ausgenommen werden, nun plötzlich geschätzt und genutzt werden, um eine Viruserkrankung zu behandeln, die mehr Männer krank macht.
Das Thema COVID-19 und Geschlechterprävalenz hat eine Flut von Kontroversen und Debatten ausgelöst. Viele bestreiten, dass die biologische Männlichkeit ein unmittelbar entscheidender Faktor ist. Oft heißt es, bei Männern führten eher soziale Faktoren und der Lebensstil, etwa der höhere Anteil von Rauchern, zum Tod als grundlegende biologische Eigenschaften. Die Fokussierung auf das biologische Geschlecht scheint die lebenswichtige Forschung zu genderrelevanten Aspekten von COVID-19 eher zu behindern als zu befördern. »Achten Sie im Zweifel nicht auf biologische, sondern auf soziale Faktoren«, schrieben auch die drei Direktorinnen des GenderSci Lab an der Universität Harvard in der New York Times.[10]
Im Laufe der Medizingeschichte hat die Fixierung auf die weibliche Biologie als angebliche Determinante für das Frausein das Verständnis der Krankheiten, die Frauen befallen, tatsächlich eher getrübt. Dieses Buch befasst sich mit der Medizinkultur insbesondere in den USA und in Großbritannien, in deren Gesundheitssystemen die »westliche« Medizin dominiert. In der Medizinhistorie wurden die Grundlagen für das Wissen gelegt, das heute an medizinischen Fakultäten gelehrt wird; ihre Erkenntnisse beeinflussen die Entscheidungen über Körper und Seele von Frauen, die in Kliniken und Praxen, in Laboren und Operationssälen getroffen werden. Dieses Wissen kann heilen, kann Gesundheit wiederherstellen und Leben retten. Aber die westliche Medizin ist auch ein Machtsystem, das in seiner langen Geschichte stets Erkenntnisse und Expertise von Männern privilegiert und binäre Geschlechter- und Gendergegensätze forciert hat.
In Die kranke Frau durchstreifen wir diese faszinierende und streckenweise höchst unerfreuliche Geschichte und sehen uns genauer an, wie die androzentrische Medizin biologische und anatomische Gegebenheiten, die als »weiblich« kategorisiert wurden, erforscht, bewertet und definiert hat. Weil ich den Fokus auf die rigorose Pathologisierung der »Weiblichkeit« und damit auch gleich aller Frauen richte, bleiben Erfahrungen, die transgeschlechtliche, nicht binäre und nicht genderkonforme Menschen im Lauf der Geschichte gemacht haben, unberücksichtigt. Die Genderidentität wird meiner Ansicht nach keinesfalls durch das biologische Geschlecht bestimmt. Doch die Medizin hat, wie ich zeigen werde, seit ihren Anfängen diskriminierende Mythen über angeblich binäre Geschlechterunterschiede fest in ihre jeweils neuen Erkenntnisse eingewoben. Von den medizinischen Theorien über die Krankheiten der Frau in der Antike und ersten Hysterie-Legenden bis zur Professionalisierung der Gynäkologie, den Anfängen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Entwicklung der Biomedizin waren medizinische Kultur, Praxis und Forschung auf perfide Weise untrennbar mit patriarchalen Ideologien verbunden. Noch heute wirkt sich diese Mythologisierung auf Gesundheit und Leben aller Frauen aus. Sie ist spürbar, wenn unsere Schmerzen kleingeredet, Symptome verworfen oder Krankheiten falsch diagnostiziert werden, wenn man unserem Körper misstraut und unseren Aussagen nicht glaubt. Dieses Buch führt durch die Geschichte kranker Frauen und zeigt letztlich auch auf, was es aus historischer Sicht bedeutet, als Frau in einer von Männer gemachten Welt zu leben. Die Medizin beteiligt sich seit vielen Jahrhunderten daran, Frauen zu bestrafen, mundtot zu machen und zu unterdrücken. Frauen haben aber auch Wissen generiert und den Status quo infrage gestellt, sie haben sich zur Wehr gesetzt, Forderungen erhoben, Gesetzesreformen erzwungen, Rechte erobert. Frauen treten in diesem Buch nicht nur als Opfer der männerdominierten medizinischen Orthodoxie auf, sondern sie sind auch mächtige, mutige und bisweilen streitbare Anwältinnen der Hoffnung und des Wandels.
Die Medizin arbeitet beständig an der Verbesserung von Praxis und Leitlinien, schleppt aber in Hinblick auf physische und psychische Erkrankungen von Frauen ein langlebiges Erbe mit sich, das sie erst noch zerstören muss. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass dieses Erbe bis heute eine effektive und rasche Versorgung, Diagnose und Behandlung verhindert. In den 1970er-Jahren läuteten engagierte Menschen in der Forschung, im Gesundheitssystem, auf der Straße und in der großen und kleinen Politik das Ende der historischen Übervorteilung und Pathologisierung von Frauen durch die Medizin ein. Ihr Weckruf ist heute noch ebenso relevant wie damals. Es ist höchste Zeit, dass die wechselvolle Vergangenheit einer Zukunft weicht, in der die weibliche Erfahrungswelt Akzeptanz und Respekt erfährt. Ich empfinde es als Privileg, anhand der reichhaltigen und packenden medizinhistorischen Annalen von Leid, Resilienz, Ausdauer und Aktivismus der Frauen erzählen zu dürfen. Nur wenn wir aus der Geschichte lernen, können wir der Kultur aus Mythen und Fehldiagnosen, die der Medizin den Blick auf Frauen verstellt, ein Ende bereiten. In der von Männern gemachten Welt wurde die Unterdrückung der Frauen in erster Linie mit ihrer physischen und psychischen Konstitution legitimiert. Um dieses schmerzvolle Vermächtnis in Wissen und Praxis der Medizin überwinden zu können, müssen wir zunächst genau eruieren, wo wir stehen und wie wir dahin gekommen sind. Kranke Frauen dürfen nicht auf ein paar Notizen, klinische Beobachtungen oder Einzelfallstudien in einem staubigen Archiv reduziert werden. Die Medizin muss sich anhören, was sie zu sagen haben, nicht als Frauen, eingeengt von den Mythen des Patriarchats, sondern als Menschen. Die Medizin muss dem, was wir über unseren Körper berichten, Gehör und Glauben schenken und Kraft, Zeit und Geld darauf verwenden, die ungeklärten medizinischen Rätsel unserer Krankheiten endlich zu lösen. Die Antworten liegen im weiblichen Körper und in den Geschichten, die er schon immer geschrieben hat.
Teil 1
Kapitel 1
Vor vielen Jahrhunderten erkrankte auf der griechischen Insel Kos ein Mädchen. Sie war seltsam schwach, die Brust fühlte sich schwer und eng an. Bald bekam sie Schüttelfrost, das Herz tat ihr weh, schreckliche Halluzinationen schwirrten ihr durch den Kopf. Sie irrte durch die Straßen und wollte sich, gequält von innerer Glut und Pein, schon das Leben nehmen. Sich in einen Brunnen zu stürzen oder an einem Baum aufzuhängen wäre eine Wohltat gewesen, verglichen mit den Qualen, die Körper und Geist erfasst hatten. Ihr Vater rief einen Arzt, also einen in der Heilkunst ausgebildeten Mann. Dem Arzt war diese Krankheit schon bei anderen Mädchen begegnet, die menstruierten, aber noch nicht verheiratet waren. Solange sie sich noch in der Pubertät befanden, brauchten sie das reichlich vorhandene weibliche Blut für das Wachstum, so der damalige Wissensstand. Sobald sie aber zur Frau gereift waren, sammelte sich das Blut in der Gebärmutter, aus der es jeden Monat abfloss. Wie jeder Arzt damals wusste, bewahrte sich der weibliche Körper auf diese Art seine Gesundheit. Dieses Mädchen aber ertrank im eigenen Blut, da das Blut keine Möglichkeit hatte abzufließen. Vielmehr ströme es von der Gebärmutter zurück in die Adern, betäube das Herz und vergifte die Sinne. Der Arzt empfahl dem Vater des Mädchens, sie unverzüglich zu verheiraten. Der Geschlechtsverkehr werde den Körper öffnen, sodass das Blut abfließen konnte, und mit einer Schwangerschaft werde sie wieder völlig gesund werden.[11]
In einer anderen Familie auf Kos wurde eine ältere Frau von gewaltigen Zuckungen geschüttelt. Die Augäpfel rollten nach hinten, die Zähne knirschten, aus dem Mund trat schäumender Speichel. Die Haut war kalt wie der Tod, der Unterleib verkrampfte sich vor Schmerzen. Der Ehemann der Kranken rief den Arzt. Diese Krankheit befiel häufig Frauen ihres Alters, die keinen Geschlechtsverkehr mehr hatten und keine Kinder mehr gebaren. Der Arzt musterte die sich krümmende und schluchzende Frau und bemerkte ihre feucht-kalte Haut. Die Gebärmutter der Frau sei – leer und trocken, weil sie nicht mehr gefüllt wurde – auf der Suche nach Feuchtigkeit zur Leber gewandert. Dort blockiere sie das Zwerchfell und raube der Frau den Atem. Die Frau werde von ihrer eigenen Gebärmutter erstickt. Der Arzt hoffte nun, Schleim werde aus dem Kopf hinabfließen, die Gebärmutter befeuchten und wieder nach unten drücken. Er hörte den Bauch der Frau nach den Gurgelgeräuschen einer Gebärmutter ab, die an ihren angestammten Platz zurückkehrt. Falls das Organ zu lange in der Nähe der Leber verharrte, würde die Frau ersticken. Hätte sie nur regelmäßig Geschlechtsverkehr gehabt, so wäre ihr dieses Elend erspart geblieben.[12]
Frauen wie diese geistern durch das Corpus Hippocraticum, eine Sammlung medizinischer Texte, die dem Hippokrates von Kos zugeordnet werden. Der griechische Arzt, der als Vater der Medizin gilt, lebte im vierten und fünften Jahrhundert vor unserer Zeit. Als Lehrer und Arzt revolutionierte er die Heilkunst und widerlegte den jahrhundertealten Aberglauben, nach dem Krankheiten eine von rachsüchtigen Göttern verhängte Strafe seien. Er führte Krankheiten auf Ungleichgewichte im Körper zurück und entwickelte das Instrument der Fallstudie, für die er die Symptome und den Krankheitsverlauf seiner Patient:innen sorgfältig notierte. Als Therapie verordnete er Kräutermischungen. Er schwor, sämtliche Krankheiten aller Menschen nach bestem Wissen zu behandeln und den Körper eines Mannes oder einer Frau niemals zu missbrauchen. Und er versprach, den Menschen, die er behandelte, egal, ob sie frei geboren oder versklavt waren, keinen Schaden zuzufügen: Der Hippokratische Eid wurde zum Grundpfeiler der Patientenethik und wird noch heute von angehenden Ärztinnen und Ärzten geleistet.
Hippokrates zufolge mussten Körper und Krankheiten von Frauen völlig anders behandelt werden als die von Männern. Die Ärzte, betonte er, müssten ihren »Krankheitserscheinungen« auf den Grund gehen, indem sie »geradewegs die Ursache der Krankheit erfragen«. Viele Frauen, merkte er an, müssten leiden und sterben, weil der Arzt ihre Krankheiten wie »Männerkrankheiten« behandele.[13] Hippokrates erkannte somit zwar an, dass »Frauenkrankheiten« besondere und spezifische Heilmethoden erforderten, doch das Recht von Frauen auf körperliche Autonomie und aufgeklärte medizinische Entscheidungen war ihm eher fremd. Die hippokratischen Schriften wurden zu einer Zeit verfasst, in der die meisten Frauen kaum Bürger- oder Menschenrechte besaßen. In der patriarchalen Gesellschaftsordnung des antiken Griechenland gehörten Mädchen ihrem Vater, Frauen ihrem Ehemann. Sie besaßen kein Land, kein Hab und Gut, kein Geld und konnten nicht einmal über den eigenen Körper verfügen. Sie galten als schwächere, trägere, kleinere Version des männlichen Menschenideals, als unvollkommen und unzulänglich, eben weil sie anders waren als Männer. Allerdings besaßen Frauen in diesem Anderssein das nützlichste und rätselhafteste aller Organe: den Uterus. Da Frauen einzig dazu bestimmt waren, Kinder zu gebären und großzuziehen, wurde ihre Gesundheit ausschließlich vom Uterus bestimmt. Diese medizinischen Vorstellungen reflektierten und legitimierten die Kontrolle der Gesellschaft über den weiblichen Körper und seine kostbare Fortpflanzungsfähigkeit. Gleich zu Beginn der westlichen Medizingeschichte reduzierte man kranke Frauen in den Schriften, die sich später zur Grundlage der wissenschaftlich-medizinischen Debatte und Praxis entwickelten, auf eine anonyme Masse pathologischer Gebärmuttern.
Die hippokratischen Schriften gründeten auf den Lehren des Hippokrates, wurden jedoch auch von anderen Ärzten, die ihm nachfolgten, festgehalten. In Abhandlungen wie Über die Frauenkrankheiten, Über die Natur der Frau und Über die Krankheiten der Jungfrauen beschrieben die hippokratischen Ärzte zahlreiche Symptome, die Frauen von der Pubertät und den Anfängen der Menstruation über Empfängnis und Schwangerschaft bis hin zur Menopause heimsuchten. Heute mutet es wie eine frauenfeindliche Verschwörung an, dass im antiken Griechenland sämtliche Krankheiten bei Frauen mit den Fortpflanzungsfunktionen verknüpft wurden. Doch damals gründete die gesamte gesellschaftliche Existenz von Frauen auf ihrer Gebärmutter, und so war es nur folgerichtig, dass dies auch für Erkrankungen und Funktionsstörungen von Körper und Geist galt. Die Verfasser der hippokratischen Schriften konnten sich kaum auf handfeste wissenschaftliche Erkenntnisse stützen. Da die Leichenöffnung verboten war, wussten sie nicht genau, wo die Organe lagen, wie das Blut zirkulierte oder wie die Atmung ablief. Sie wussten nichts von Zellen, Hormonen oder Neuronen. Nach ihrem Verständnis der weiblichen Physiologie besaßen Frauenkörper wegen des vielen Blutes ein Übermaß an Flüssigkeit; zu diesem Schluss gelangten sie, weil Frauen menstruieren.
Warum eine Frau krank war, konnten Ärzte nur aus dem schließen, was sie sahen, hörten und tasteten. Aus diesem begrenzten Wissen und unter dem Einfluss herrschender gesellschaftlicher Einstellungen entwickelten sie ihre Theorien zum Einfluss der Gebärmutter auf sämtliche Aspekte der weiblichen Gesundheit. Manchmal war die Gebärmutter selbst krank, ein andermal verursachte sie Krankheiten in anderen Körperteilen einschließlich des Gehirns. Der Uterus diente als Kanal wie auch als Gefäß, und eine Frau war gesund, wenn er Flüssigkeit enthielt oder abgab. Die hippokratische Uterus-Pathologie – vom Wahnsinn durch »verhaltenen Monatsfluss« bis hin zum grauenhaften »Ersticken der Gebärmutter« – war ebenso gesellschaftlich wie medizinisch bedingt. Die Heirat, idealerweise im Alter von vierzehn Jahren, regelmäßiger Geschlechtsverkehr mit dem Ehemann – der meist um die dreißig war – und viele Schwangerschaften: »Ich behaupte, dass eine kinderlose Frau durch die Regel schwerer und rascher leidet als eine Frau, welche geboren hat«, schrieb der Verfasser der ersten Abhandlung über Frauenkrankheiten.[14] Denn die Gebärmutter bereite stets Probleme, wenn durch Jungfräulichkeit der Abfluss eingeschränkt sei, sie mangels männlicher »Samen« austrockne oder nicht vom Gewicht eines Kindes nach unten gedrückt werde.
Im antiken Griechenland hatten die Frauen nicht mehr Verfügungsgewalt über ihren Uterus als über jeden anderen Lebensbereich. Die Gebärmutter, hieß es, habe einen Hunger nach Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft, der sich dem Einfluss der Frau, in deren Körper sie sich befand, entzog. Die Ärzte bestimmten das biologische Schicksal von Frauen mit der Parole: Die Gebärmutter will, was die Gebärmutter will. Aus dem »Ersticken der Gebärmutter« und anderen hippokratischen Diagnosen entwickelte sich die Vorstellung eines unerfüllten, unbeschäftigten Uterus, der auf Wanderschaft ging, die Organe, die er erreichte, etwa Herz und Leber, schädigte und eine erstaunliche Vielzahl an Symptomen auslösen konnte: Zuckungen, die epileptischen Anfällen glichen, Wahnvorstellungen, Atemnot, Schmerzen und Lähmungserscheinungen.
Einige Zeit nach Entstehung der hippokratischen Schriften beschrieb Mitte des dritten Jahrhunderts v.u. Z. der große Athener Philosoph Platon die Gebärmutter als lebendiges Gebilde, das »in Aufregung und Ungeduld versetzt wird«, wenn sein Wunsch nach Schwangerschaft unerfüllt bleibe. In seinem berühmten Dialog Timaios über die Welt, das Universum und alles, was sich darin befindet, verband Platon den biologischen Zweck der Frau mit ihrem angeblich unbezähmbaren Sexualtrieb zum Mythos einer Gebärmutter, die ihre Säfte »überallhin durch den Körper« treibt, »die Kanäle der Luft verstopft« und so »die äußersten Beängstigungen und allerlei Krankheiten verursacht«.[15]
Um das zweite Jahrhundert u.Z. führte Aretäus in der römischen Provinz Kappadokien die hippokratische Lehre vom »Ersticken« weiter. Er schrieb, der Uterus verhalte sich »beim Weibe wie ein Wesen im Wesen«. Weil er »überall umher« schweife und auf angenehme wie auch üble Gerüche reagiere, schrieb ihm Aretäus Gelüste und Neigungen zu. Oft wurden Kräuterdämpfe eingesetzt, um eine wandernde Gebärmutter wieder an ihren angestammten Platz zu locken. Das »beseelte« Organ galt als unberechenbar, seine Bewegungen kamen plötzlich und heftig. Es konnte »aus eigenem Antriebe bald nach dieser, bald nach jener Weiche hin« wandern. Wenn es einer Frau die Eingeweide »mit Gewalt« verdrängte oder die Kehle zuschnürte, verlor die Betroffene alle Kraft. Die Knie gaben nach, der Kopf schmerzte, Schwindel setzte ein, die Blutgefäße in der Nase pulsierten schmerzhaft. Wurde eine Frau von ihrer Gebärmutter erstickt, verlangsamte sich der Puls, sie verlor die Stimme und bekam keine Luft mehr. Die Betroffenen »sterben sehr rasch, aber man glaubt es anfangs nicht, dass sie todt sind, denn das Antlitz hat nichts leichenhaftes: die Gesichtsfarbe ist lebhaft, ja sogar […] etwas röther als gewöhnlich«.[16]
In den medizinischen Schriften der griechischen und römischen Antike finden sich verschiedenste Ansichten über die Wanderschaft der Gebärmutter. Doch alle spiegelten die Vorstellung, dass der Uterus als beherrschende Kraft zahlreiche Krankheiten, Störungen und Symptome auslöst. Die männliche Vorherrschaft über die Frauen wurde vom medizinischen Diskurs legitimiert, denn danach war der Frauenkörper den Launen eben jenes Organs unterworfen, das ihre soziale Aufgabe bestimmte. Ob diese Ärzte von der Wanderschaft der Gebärmutter wirklich überzeugt waren oder diese nur mutmaßten: Die Vorstellung, dass alle Frauen mit Uterus jederzeit krank werden konnten, weil ihr Körper auf Gedeih und Verderb Babys produzieren wollte, hielt sich noch viele Jahrhunderte.
Als der Mensch in das Mittelalter eintrat, wanderte die Gebärmutter mit. Während ab dem ersten Jahrhundert u.Z. die christliche Theologie und Mythologie, interpretiert und verbreitet durch die Lehren des Paulus, in der gesamten westlichen Welt Fuß fassten, entstanden neue repressive Ansichten über Frauen und ihren Körper. Die alten Griechen hatten die Schuld für sämtliche Krankheiten Pandora, die in der griechischen Mythologie als erste Frau auf Erden beschrieben wird, zugeschrieben: Pandora, so heißt es, konnte der Versuchung nicht widerstehen, die Büchse, die mit allen Übeln der Welt gefüllt war, zu öffnen.[17] Das Christentum ersann eine andere Geschichte, um Frauen und ihre Körper für sämtliche Sünden der Welt verantwortlich zu machen. Das erste Buch Mose erzählt, dass Eva, von Anbeginn unvollkommen und unvollständig – ein Anhängsel, Adams Rippe entsprungen –, mit ihrer Triebhaftigkeit und ihrem Eigensinn nichts als Verderben brachte. Medizinische Schriften, die den Niedergang Roms überlebt hatten, fanden den Segen der Kirche, und so kam es, dass dieselben Männer, die die grundsätzliche Abartigkeit der Frau predigten, auch die Verbreitung von Texten betrieben, nach denen der weibliche Körper minderwertig, fehlerhaft und stets von den Launen der Gebärmutter abhängig war.
Lateinische Übersetzungen antiker Texte über Frauenkrankheiten wurden in Klosterbibliotheken verwahrt; aus ihnen lernten männliche Ärzte – medici –, wie sich die Gebärmutter auf die Krankheiten der Frauen auswirkte. Im einfachen Volk ließen sich die meisten Frauen im Frühmittelalter von Heilerinnen und Hebammen behandeln, die ihnen bei Erkrankungen zur Seite standen, Heilmittel verabreichten und bei der Entbindung halfen. Wenn eine Frau aber einen Medicus aufsuchte, schrieb der ihre Symptome meist den »zahlreichen und vielfältigen« Kräften der Gebärmutter zu.[18] Zum Glück vermittelten zumindest einige wenige Quellen eine weniger dramatische Sicht der Dinge. Eines der beliebtesten Handbücher der Zeit war Die Gynäkologie, ein umfangreiches Werk, das Soranus von Ephesus zugeschrieben wird, einem griechischen Arzt, der im ersten und zweiten Jahrhundert u.Z. in Rom praktizierte; im sechsten Jahrhundert wurde der Text erstmals ins Lateinische übersetzt. In der Gynäkologie, teils praktische Anleitung für Hebammen, teils Abhandlung über die zahlreichen und diversen Störungen der Gebärmutter, offenbart sich Soranus’ ganzheitliche Sicht der menschlichen Gesundheit.[19] Er verwarf die Ansicht, Frauen seien aufgrund ihrer biologischen Andersartigkeit von Natur aus minderwertige und mangelhafte Kreaturen, und entfernte sich von der hippokratischen Vorstellung, dass für sie ein völlig eigener Strang der Medizin nötig sei. Daher empfahl er auch nicht Menstruation, Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft als Allheilmittel für Frauenkrankheiten. Er war allerdings überzeugt, dass die Behandlung von Frauen ein tiefes Verständnis gynäkologischer Beschwerden voraussetze.
Soranus betrachtete Krankheit als eine universelle menschliche Befindlichkeit, die durch unterschiedliche Entspannungs- und Kontraktionszustände in den Organen und Systemen des Körpers verursacht wurde. Ihm leuchtete die Vorstellung einer wandernden Gebärmutter nicht ein: »Nicht wie ein Thier aus seiner Höhle kriecht die Gebärmutter hervor.«[20] Wer der Gebärmutter solche Impulse zuschreibe, behindere das Gesunden der Frau. Die Lehre der Altvorderen, nach der die Gebärmutter an ihre angestammte Position zurückkehren werde, wenn man eine Frau üblen Gerüchen wie Zedernharz, verbrannten Haaren oder Wollflocken, erloschenem Kerzendocht, verkohltem Hirschhorn oder zerquetschten Wanzen aussetzte, hielt er für lächerlich. Und auch dem Vorschlag des griechischen Philosophen Xenophon, der um die Zeit des Hippokrates angeregt hatte, »auf kupferne Kessel« zu schlagen, damit die Gebärmutter, erschreckt von dem Lärm, den Rückzug antrat, konnte er nichts abgewinnen. Krankheiten wie die von der Gebärmutter verursachten »Erstickungsanfälle« entstanden seiner Ansicht nach, wenn Menstruationsstörungen, Schwierigkeiten bei der Geburt, Fehlgeburten und die Menopause bewirkten, dass der Uterus durch eine Entzündung »kontrahirt wird«. Daraus könnten sich starke Schmerzen im Unterbauch, Fieber, Gliederschwäche und ein »krampfhaftes Zusammenziehen der Extremitäten« entwickeln. Doch Frauen gerieten dadurch nicht in eine epilepsie- oder schlaganfallähnliche Raserei, wie von Hippokrates behauptet. Soranus zufolge rief das Einatmen von Dämpfen Symptome wie die Lethargie, die den von der Gebärmutter verursachten Erstickungsanfällen zugeschrieben wurden, überhaupt erst hervor. Therapien wie »das Hineinstecken eines Blasebalgs in die Scheide und die Aufblähung« schadeten eher, als dass sie nützten, denn sie »reizen sofort die entzündeten Stellen«. Soranus’ therapeutische Vorschläge klangen da schon deutlich vernünftiger. Er empfahl, die betroffene Frau in einen hellen, warmen Raum zu betten, ihr »wärmende Umschläge« auf den Bauch zu legen und die verkrampften Gliedmaßen sanft zu strecken. Dauerte der Anfall an, schickte er die Frau nicht etwa zur Pflichterfüllung ins Ehebett zurück, sondern empfahl für die Genesung »Bewegung, Spazierengehen, Lesen und lautes Reden, […] Salben, gymnastische Übungen, Bäder« und später den »Genuss scharfer Speisen«.[21]
Die christlichen Moralgesetze des Mittelalters verboten den medici die körperliche Untersuchung von Frauen. Der weibliche Körper war von Heimlichtuerei und Scham umgeben, und das galt nicht nur für Augen und Hände männlicher Ärzte. Auch Frauen hätten es nicht gewagt, Männern intime Vorgänge in ihrem Körper zu schildern. Diese Haltung spiegelt sich auch in einigen medizinischen Texten der Zeit, etwa wenn die gynäkologischen Beschwerden einer Frau als »Schande« bezeichnet werden.[22] In den hippokratischen Grundlagenschriften zu den Frauenkrankheiten hieß es, die Scham der Patientinnen, besonders wenn sie jung und unerfahren seien, verhindere oft eine angemessene Fürsorge und Behandlung. So rieten die Autoren den Ärzten zwar, Frauen nach der »Ursache« ihrer Krankheiten zu befragen, allerdings dürfe man die Aussagen wegen des Schamgefühls der Frauen und ihrer Unwissenheit in medizinischen Dingen nicht als verlässliche Quelle für die Vorgänge im eigenen Körper betrachten. »All diese Krankheitserscheinungen […] sind aber gefährlich […] und nicht leicht zu verstehen, aus dem einfachen Grunde, weil die Frauen in Krankheiten verfallen sind und zuweilen selbst nicht wissen, was ihnen fehlt«; zudem schämten sich die Frauen, »es zu sagen, selbst wenn sie es wissen, und sie meinen infolge ihrer Unerfahrenheit und Unkenntnis, dass das für sie eine Schande sei«.[23]Ohne intensive Befragung, wie sie nur der Respekt einflößende männliche Arzt zuwege bringe, könne die Krankheit einer jungen Frau unheilbar werden. Wenn sie dagegen älter sei und »die durch die Regel hervorgerufenen Krankheiten kennengelernt« habe, könne man ihre Aussage auch ernst nehmen.[24] Letztendlich aber entschied das Wissen der Männer, wie Frauen geheilt werden konnten, auch wenn diese Männer den Körper einer Frau nicht berühren durften.
Soranus’ Gynäkologie enthielt umfangreiche Anleitungen für Hebammen, die einen direkteren Zugang zum Frauenkörper hatten. Und ganz offenbar wollte er Schmerz und Leid der Frauen lindern, statt sie mit abwegigen »Heilmethoden« zu bestrafen, die auf noch abwegigerem religiösem und kulturellem Aberglauben fußten. Doch seine Werke wurden in einer Zeit übersetzt und gelehrt, in der Frauen den Männern untertan waren und vor allem anderen heiraten und Kinder kriegen sollten. Krankheiten galten als Strafe für Sünde, der Frauenkörper und seine Fortpflanzungsorgane als Ursprung dieser Sünde. Dank der medizinischen Überlieferungen aus dem antiken Griechenland, die von den körperlichen Defiziten der Frauen und ihrer Neigung zu geistiger Verwirrung berichteten, setzten sich auch im Mittelalter finsterste Ansichten über die weibliche Biologie fort. Obwohl sich im Laufe der Jahrhunderte neue Erkenntnisse über die alten schichteten, prägte der repressive Mythos von der wandernden Gebärmutter auch weiterhin die Einstellungen zur Krankheitsanfälligkeit der Frau, zu ihrem Körper und ihrem Leben.
Ab dem 11. Jahrhundert entwickelte sich die süditalienische Stadt Salerno zum wichtigsten Zentrum medizinischer Lehre und Gelehrsamkeit seit der Zeit des Hippokrates. In der Schule von Salerno wurden auch erstmals Frauen für den Arztberuf ausgebildet. Die Meister und Meisterinnen von Salerno leiteten ihre frauenmedizinische Lehre aus verschiedenen Quellen ab. Neben den Schriften von Hippokrates, Soranus und Galen von Pergamon, dem einflussreichsten Arzt des Römischen Reichs, dienten auch Übersetzungen medizinischer Handbücher und Enzyklopädien aus dem Arabischen als Grundlage.[25] Die berühmteste Ärztin in Salerno war Trota, die gegen Mitte des 12. Jahrhunderts lebte. Sie gilt als Autorin des dreibändigen Werks Trotula über Symptome und Behandlung von Frauenkrankheiten, das sich im gesamten Mittelalter großer Beliebtheit erfreute und ausgiebig genutzt wurde. Zu Beginn des ersten Buchs über die Symptome der Frauenkrankheiten Liber de sinthomatibus mulierum erklärt die Autorin, dass Frauen es »aufgrund ihrer zarten Verfassung, aus Scham und Befangenheit nicht wagen, die Pein ihrer Krankheiten (die an solch geheimen Stellen auftreten) einem Manne zu offenbaren«.[26]
Die Trotula, die auf der Lektüre und Interpretation von Werken des Hippokrates und Galen gründet, weicht nicht von der damals vorherrschenden Ansicht ab, nach der Frauen physiologisch schwach, biologisch minderwertig und wegen ihres Fortpflanzungsapparates permanent krankheitsanfällig seien. Die Autorin folgt Galens Humoralpathologie, nach der Krankheiten aus einer Unausgewogenheit der vier Körpersäfte schwarze Galle, gelbe Galle, Schleim und Blut entstehen, und legt dar, dass Frauen menstruieren, weil sie nicht genügend Wärme erzeugen können, um schädliche und überschüssige Säfte abzuleiten. Sie beschreibt die Symptome exzessiver, unterdrückter und verhaltener Menstruation ebenso wie das altbekannte und beliebte »Ersticken der Gebärmutter«, geht allerdings nicht davon aus, dass dieses Leiden Frauen dazu verleiten würde, sich in Brunnen zu stürzen, zu halluzinieren oder den Verstand zu verlieren. Zur wandernden Gebärmutter schreibt sie, der Uterus könne so weit aufsteigen, dass er Bauchschmerzen hervorrufe und sich im Falle eines Gebärmuttervorfalls senken, betont aber, dass er sich nicht frei im Körper bewege und daher auch nicht an allen möglichen Stellen Verheerungen anrichten könne.
Im zweiten Buch der Trotula über die Therapien, De curis mulierum, in dem Trota selbst als Ärztin in Erscheinung tritt, geht es unter anderem um eine junge Frau, die mutmaßlich an einer Uterus- oder Darmruptur leidet. Trota wurde als »Meisterin für diesen Eingriff« ins Haus der Patientin gerufen, »um im Geheimen die Krankheitsursache festzustellen«. Der jungen Frau blieb jedoch das Skalpell erspart, denn Trota diagnostizierte »Winde« in der Gebärmutter. Sie verordnete ausgiebige Kräuterbäder, Massagen der Gliedmaßen sowie warme Packungen aus Ackerrettichsaft und Gerstenmehl für die Vagina, »um die Inflatio zu beseitigen«.[27] Die junge Frau wurde geheilt.
Trotas praktische und menschenfreundliche Behandlungsmethoden zielten nicht darauf ab, Frauen zu bestrafen und zu verdammen, sondern sie zu heilen. In einer Zeit, in der Betroffene starben, weil der Blick der Gesellschaft und der Frauen selbst auf den weiblichen Körper mit tiefer Scham verbunden war, warfen die Trotula-Bücher ein Licht auf die Geheimnisse der Krankheiten von Frauen. Leider zahlten sich Trotas Bemühungen zumindest in den folgenden Jahrhunderten nicht aus. Im 14. Jahrhundert wurde in ganz Europa Ärztinnen das Praktizieren untersagt. Die Medizin fiel vollständig in die Hände christlich geprägter Männer, die den Glauben verbreiteten, der weibliche Körper sei ein Gefäß der Sünde. Religiöser Aberglaube, der Krankheit als Gottesstrafe verstand, vermischte sich mit medizinischen Vorurteilen über das zerstörerische Potenzial von Frauenkörpern. Bewaffnet mit der religiösen Rechtfertigung, dass Frauen Schmutz und Verderben brächten, nahmen Faszination und Furcht der Mediziner angesichts der Geheimnisse der weiblichen Biologie eine unheilvolle Wendung. Das hatte für allzu viele Frauen entsetzliche Folgen.
Kapitel 2
Im Paris des Jahres 1405 hatte Christine de Pisan, die einzige Gelehrte Frankreichs, genug von den »teuflische[n] Scheußlichkeiten«, die Männer über Frauen und deren Körper verbreiteten. De Pisan war angesehen und erfolgreich. Sie wirkte als Dichterin am Hof König Karls VI. und hatte für die Mitglieder der französischen Königsfamilie Balladen und andere Gedichte verfasst. Auch war sie eine geschätzte Historikerin, eine brillante politische Vordenkerin und eine feministische Visionärin. Ihr Leben lang hatte sie die Beiträge von Frauen auf allen Gebieten der Forschung studiert, und ihr missfiel, dass männliche Philosophen, Dichter und Redner die »Frauen und ihre Lebensumstände« als unzulänglich und zerrüttet darstellten. In ihrem Buch von der Stadt der Frauen beschrieb sie einen fiktiven Ort, an dem Heilige und Prophetinnen, Schriftgelehrte, Dichterinnen, Erfinderinnen, Künstlerinnen und Kriegerinnen aus der Ödnis der Geschichte gerettet und für ihre Verdienste gepriesen wurden.[28]
De Pisan beklagt, das weibliche Geschlecht sei »wie ein Feld ohne Hecke« allzu lang »ungeschützt« gewesen. Es sei höchste Zeit, die Frauen zu behüten und zu verteidigen, besonders vor gewissen männlichen Dichtern, die den weiblichen Körper als lasterhaft und verdorben diffamierten. Einer dieser Autoren war Francesco Stabili, bekannt als Cecco d’Ascoli, ein notorisch frauenfeindlicher italienischer Arzt, Dichter und Astrologe des 13. Jahrhunderts. Cecco d’Ascoli schrieb enzyklopädische Gedichte über Himmel und Erde, in denen er unter anderem besang, dass der Körper der Frau dem des Mannes unterlegen und von Natur aus unvollkommen sei, weil er blute; Frauen seien ungläubiger als wilde Tiere, dumm und untätig und vergifteten die Herzen der Männer. Als Christine de Pisan ihr Buch schrieb, war Cecco d’Ascoli bereits als Häretiker auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, weil er ein Horoskop Jesu Christi erstellt hatte; er habe »seinen wohlverdienten Lohn« erhalten, so de Pisan.[29]
Cecco d’Ascolis Ansichten zum Frauenkörper waren weder ungewöhnlich noch neu. Mittelalterliche Ärzte und Naturphilosophen meinten zu wissen, dass die weibliche Biologie aufgrund ihrer Unterschiede zum männlichen Ideal grundsätzlich schwach und minderwertig sei. Doch zu de Pisans Lebenszeit im Spätmittelalter ließen die männlichen Mediziner die alten Lehren in einem neuen theologischen Licht erscheinen. Da alle Frauen Töchter Evas seien, müssten sie sich als Strafe Gottes ihrem Ehemann unterwerfen und die Schmerzen der Geburt ertragen. De Pisan war eine gläubige Christin. Am Beginn des Buchs von der Stadt der Frauen fragte sie, warum ihr Gott, dem sie vertraute, denn eigentlich den schrecklichen Fehler begangen hatte, die Schöpfung der Frau zuzulassen? Dabei lag das Problem, wie sie wusste, nicht bei Gott, sondern bei den sterblichen Männern, die den Schöpfungsmythos des Christentums manipulierten, um die gesellschaftliche Unterwerfung der Frau zu rechtfertigen.
Eines der schamlosesten Beispiele für frauenfeindliche Pseudomedizin war laut de Pisan »ein anderes Büchlein in lateinischer Sprache; es nennt sich Secreta Mulierum und verbreitete eine Menge fehlerhafter Ansichten über die Beschaffenheit des weiblichen Körpers«.[30]Secreta Mulierum (Geheimnisse der Weiber) war eine beliebte Abhandlung, die Ende des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts von einem unbekannten Anhänger des deutschen Bischofs und Mönchs Albertus Magnus verfasst worden war. Der Autor, der auch als »Pseudo-Albertus« bezeichnet wird, schrieb sein Buch im Stil und in der Tradition eines »Secretum secretorum«: Solche Kompendien mit Geheimwissen, die im Mittelalter recht beliebt waren, erklärten den unterschiedlichsten Menschen vom Haushaltsvorstand bis hin zum Gelehrten, Priester und Arzt die Rätsel des Lebens. Am verwirrendsten, aber fundamentalsten war das Geheimnis, wie Kinder gezeugt werden – und das schlummerte im 13. Jahrhundert an einem Ort, der in Scham und Aberglauben gehüllt war: im weiblichen Körper. Offiziell sollte Secreta Mulierum Kirchenmänner in Dingen der Fruchtbarkeit, Empfängnis und Schwangerschaft unterrichten, ohne dass diese sich die Hände schmutzig machen mussten. Doch nebenbei verfestigte es in einem neuen System aus ärztlichem und religiösem Wissen herabwürdigende Ansichten über Frauen und ihren Körper, die fast 2000 Jahre zuvor niedergeschrieben worden waren.
Der Autor von Secreta Mulierum ergötzte sich an der Behauptung, alle Frauen seien, weil sie menstruierten, schwach, schlecht und heimtückisch. Er behauptete, der Menschheit einen großen Dienst zu erweisen, wenn er die unerquickliche und unglaubliche Wahrheit darüber enthüllte, was sich in den finstersten Winkeln des weiblichen Körpers abspielte. Dabei hatte er ein spezifisches Publikum im Sinn, nämlich Mönche und Priester im Zölibat. Er spricht seine Freunde »in Christo« an und führt aus, man habe ihn gebeten, das Geheimwissen über die Natur der Frauen aufzuschreiben.[31]
Nach einer scheinbar demütigen Selbstbeweihräucherung verliert der Autor keine Zeit, zum Kern der Sache vorzudringen. Frauen seien Monster, ihre Schwächen Ursache für alle möglichen Sünden, denn die Menstruation sei die Wurzel aller weiblichen Übel. Eine menstruierende Frau könne mit einem einzigen Blick Tiere vergiften, Kinder in der Wiege krank machen, mit ihrem grauenhaften Bild den saubersten Spiegel verschmutzen und Männer mit Lepra und Krebs infizieren. Priester müssten über solche Dinge informiert sein, um Übel zu verhindern. Wenn eine schwache Frau eine fleischliche Sünde beichte, müsse ihr Priester genau wissen, welcher körperliche Vorgang sie dazu veranlasst habe, um eine angemessene Strafe zu verhängen. Secreta Mulierum zielte somit nicht darauf ab, Frauen das Verständnis ihres Körpers zu erleichtern, sondern war vielmehr als Leitfaden für ihre Bestrafung konzipiert.
Das Buch handelte sämtliche Grundlagen ab: wie Embryonen entstehen, wie sich die Empfängnis unterstützen oder verhindern lässt, wie sich Samen bildet, woran man eine Jungfrau erkennt, wie die Gebärmutter wandert und eine Frau daran ersticken kann, wie der Fötus durch die Position der Planeten und andere himmlische Einflüsse geformt wird, wie eine göttliche Empfängnis zustande kommt und warum Monster geboren werden. Offensichtlich handelt es sich hier nicht um ein Hebammenhandbuch.