Die Kunst zu leben - Stefanie von Rossek - E-Book

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Stefanie von Rossek

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Beschreibung

Brad glaubte schon, dass er eingeschlafen war, da fragte Antonio ihn plötzlich: "Willst du dich mit mir gemeinsam umbringen?" - Eine Geschichte über Freunde, die alle ihre ganz eigenen Probleme haben.

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Stefanie von Effenberg

Die Kunst zu leben

Für Fabian.BookRix GmbH & Co. KG80331 München

DIE KUNST ZU LEBEN

Antonio saß am Boden, hatte die Beine an seinen Körper angewinkelt und das Kinn auf die Knie abgestützt. Die braunen, langen Haare hingen strähnig herab und verdeckten damit teilweise das schöne, androgyne Gesicht. Seine Augen waren geschlossen. Es schien fast so, als würden die dichten Wimpern die Wangen streicheln, so wie sein ganzer Körper den Eindruck machte, mit sich im Einklang zu sein.

Draußen peitschte der Wind den Regen gegen die Fensterscheibe und manchmal konnte man ein Donnern hören, das Grollen des Himmels.

Aber Antonio saß ruhig in der Dunkelheit des Raumes, als würde er den Launen des Wetters hingebungsvoll lauschen.

Brad glaubte schon, dass er eingeschlafen war, da fragte Antonio ihn plötzlich: „Willst du dich mit mir gemeinsam umbringen?“

Brad seufzte auf. Er war gerade damit beschäftigt gewesen, eine neue Glühbirne in die Deckenlampe einzusetzen und hörte nun wieder auf damit, um seinem Nachbarn in die unergründlich düsteren Augen zu schauen, die jener inzwischen wieder geöffnet hatte. Goldfarbene Sprenkel hausten darin und nahmen ihn völlig gefangen.

„Wie lange denkst du schon darüber nach, mir diese Frage zu stellen?“, fragte Brad langsam und fuhr sich mit der Hand durch sein schwarzes, kurz geschnittenes Haar. Antonio lächelte überrascht.

„Schon seit Wochen“, gestand er.

Er lehnte mit dem Rücken an die Wand und blickte mit müden Augen zum Fenster hinaus, in dem ihm eine graue Eintönigkeit begegnete. Das Einzige, das man von seinem Blickwinkel aus sehen konnte, war das gegenüberliegende, schmutzige Mietgebäude. Ein greller Blitz krachte am Fenster vorbei, aber keiner der Männer zuckte zusammen.

„Ich würde mich nie mit dir umbringen“, meinte Brad schließlich, „Und auch nicht alleine. Einfach gar nicht.“

Enttäuscht zog Antonio seine Augenbrauen nach unten.

„Verstehst du denn nicht?“, flüsterte er, „Alleine würde ich mich auch nicht trauen, aber wir wären zusammen! Wenn es nach dem Tod etwas gibt, würden wir es gemeinsam erleben. Oder gegebenenfalls gemeinsam bestraft werden.“

„Tut mir leid, aber ich hänge zu sehr an meinem Leben“, wehrte Brad gequält ab.

„Du solltest dringend was gegen deine Depressionen tun.“

In diesem Moment roch es auf einmal nach Holz und Blei in dem düsteren Raum. So wie der Inhalt eines Spitzers. Es hatte aufgehört zu regnen, doch der Himmel zeigte sich immer noch von einer farblosen Dunkelheit.

„Du hast ja keine Ahnung, von wegen Depressionen“, widersprach Antonio und grinste überheblich, „Ich hab mich noch nie so befreit und glücklich gefühlt. Egal, was ich tue, egal, was für ein Problem ich habe, ich habe immer die Möglichkeit, allem ein Ende zu setzen. Durch den Tod! Und ich wäre darauf vorbereitet und könnte es mir angenehm machen und…schmerzlos.“

„Das ist doch alles Scheiße!“, stieß Brad angewidert aus. Inzwischen hatte er eine neue Glühbirne eingesetzt und marschierte aus der Wohnung, ohne sich zu verabschieden. Die Haustür knallte er allerdings nicht zu, denn er wusste, Antonio konnte das nicht leiden. Stattdessen schloss er sie sacht und stieg langsam die Stufen zu seiner eigenen Wohnung hinauf.

„Ich würde es nie ohne dich machen!“, schrie Antonio plötzlich durch das Treppenhaus und seine schöne Stimme hallte von den Wänden wider. Offensichtlich hatte er die Tür wieder geöffnet.

„Das weißt du doch!“, fuhr er fort, als Brad nicht antwortete, „Ich könnte es nicht! Ich würde mich alleine nicht trauen!“

„Willst du, dass dich alle Nachbarn hören?“, fragte Brad unfreundlich und machte die Tür geräuschvoll hinter sich zu. Der Geruch von vegetarischer Pizza schlug ihm entgegen, als er durch die helle, modern eingerichtete Wohnung schlenderte. Im Gang hingen überall Bilder, die er gemalt hatte, und nun war es ihm, als blickten sie erwartungsvoll und spöttisch auf ihn herab, als er an ihnen vorbeikam.

Eigentlich hielt er es für stillos und aufdringlich, seine eigenen Gemälde bei sich aufzuhängen, aber Christine wollte es so.

Seine Freundin pflegte immer zu sagen, dass er viel zu bescheiden war und dass es doch eigentlich nichts Tolleres für einen Mann geben musste, als seine Werke und Fähigkeiten anderen stolz zu präsentieren.

Antonio legte allerdings auch keinen Wert darauf, Anerkennung für seine überragenden Künste als Pianist zu erhalten. Und Brad wusste, dass er gut malen konnte.

Aber so wie es ihm klar war, dass er kein hässlicher Mann war, Antonio aber in einem vollkommenen Körper steckte, so war ihm auch klar, dass man das Klavierspielen des Jungen mit nichts vergleichen konnte.

Er malte ganz gut, aber die Musik, die durch Antonios schlanke Finger entstand, hüllte einen in Licht ein. Sie war Schönheit, Wahrheit, Liebe.

Allein der Gedanke daran trieb einem die Tränen in die Augen.

Christine kaute gerade an ihrer halben Pizza herum, als er die Küche betrat. Die andere Hälfte der Gemüse-Pizza lag auf seinem Teller auf dem kleinen Esstisch. Das kurze, strohblonde Haar seiner Freundin stand zerzaust in alle Richtungen ab und kaum, dass er ihr ins Gesicht sah, zog sie ihre schmalen Lippen zu einem Schmollmund zusammen.

„Warst du bei Antonio?“, erkundigte sie sich mit gefährlich eisigem Unterton.

„Ja“, gab Brad zu, „Er wollte, dass ich ihm eine Glühbirne einsetze.“

„Kann er das nicht selber?“

„Es ist eine Deckenlampe. Da kommt er nicht hoch.“

„Hat er keine Stühle?“

Eine Weile aß Brad schweigend seine Pizza. Der Himmel hatte sich noch mehr verfinstert, aber bei ihnen zu Hause waren alle Lampen und Lichter an. Christine konnte dunkle Zimmer nicht ausstehen. Bei ihr musste es immer hell sein, wie in einer Wüste bei Tag. Die ganze Küche strahlte so, dass es unmöglich war, irgendeinen unreinen Makel, den man vielleicht an sich aufwies, zu verbergen. Schatten waren noch nie Christines Gefährten gewesen.

„Was ist denn los?“, fragte Brad und goss sich Saft ein.

Seine Freundin erhob sich unruhig und spazierte auf und ab, am Herd und an den Schränken vorbei. Er wusste, dass sie jetzt am liebsten ihre Zigarette rauchen wollte, aber sie hatten nun einmal ihre Kompromisse geschlossen. Sie rauchte nicht in der Wohnung und es gab kein Fleisch, und dafür durfte sie die Bilder an den Wänden hängen lassen und immer alle Lampen anschalten.

„Vielleicht bin ich ja eifersüchtig“, sagte Christine und blieb am Fenster stehen, um auf die Straße hinabzuschauen. Kein Mensch war dort; nicht einmal ein Auto, das vorbeifuhr. Als ob sie die einzigen lebenden Personen wären, die es noch gab…

„Er ist nur ein freundschaftlicher Nachbar“, sprach Brad beschwichtigend auf sie ein und vertilgte den letzten Rest von seiner Pizza.

„Aber manchmal“, entgegnete Christine stur, „Da tust du so, als wäre er dein Lover!“

„So ein Quatsch!“, sagte Brad nur und verließ rasch die Küche, auch wenn er wusste, dass dies wie eine Flucht aussah.

Im hell erleuchteten Wohnzimmer ließ er sich auf ihr altes, braunes Sofa fallen; das einzige Möbelstück, das über zehn Jahre alt war, von allen, die sie besaßen. Es gefiel ihnen zwar nicht, aber es war ein Geschenk von Christines reichem Patenonkel gewesen und sie wollten ihn nicht beleidigen, da er auch ihre Wohnung bezahlte.

Brad dachte über Christines Vorwurf nach. Er war sich sicher, dass sie ihm nie unterstellen würde, mit Antonio etwas zu haben, wenn dieser nicht so hübsch aussehen würde.

„Es ist zum Kotzen!“, fluchte sie, während sie zu ihm ins Wohnzimmer schlurfte. Ihre Füße verursachten dabei auf dem hellgrauen Teppichboden ein kratzendes Geräusch. Das hinderte Christine allerdings nicht daran, sich weiterhin auf diese Art fortzubewegen. Geradezu provozierend rutschte sie auf ihren Fersen zum Fenster, um das Rollo herunterzulassen. Es war noch nicht Nacht geworden, doch da in ihrer Wohnung sämtliche Lampen brannten, war es den Nachbarn auf der gegenüberliegenden Straßenseite möglich, sie genauestens durch die Fenster zu beobachten.

„Wenn man arbeitslos und ordentlich ist, hat man einfach nichts zu tun!“, fuhr Christine fort und blickte sich gereizt im ganzen Zimmer um.

Kam man zur Tür herein, befanden sich gleich daneben ein schlichter, runder Tisch und vier Stühle aus demselben, holzähnlichen Material. Jedes der Möbelstücke war schnörkellos und leer. Es war nur eine Ecke ihrer Wohnung und doch gab sie den Gesamteindruck ihres Zuhauses wieder.

Alles sah so aus, als wären sie gerade erst eingezogen. Manchmal konnte Brad sogar verstehen, warum Christine unbedingt die Bilder an den Wänden hängen haben wollte.

„Wozu hab ich eigentlich BWL studiert?“, schimpfte sie und ließ sich neben ihn auf das Sofa sinken, „Weißt du, ich hab das Bewerbungsschreiben so satt! Was hältst du davon, wenn wir demnächst mal ne Party geben?“

Brad zuckte nur verwirrt mit den Achseln, doch das reichte Christine schon als Zustimmung.

„Super!“, rief sie enthusiastisch und sprang wieder auf. Manchmal wechselte sie ihre Launen so schnell, dass Brad sich dabei ertappte, sie für oberflächlich zu halten.