Die Sache mit Adrien - Stefanie von Rossek - E-Book

Die Sache mit Adrien E-Book

Stefanie von Rossek

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Adrien ist tot. Oder doch nicht? Seine besten Freunde lassen nacheinander Revue passieren, warum Adrien verschwunden ist. Dabei hat jeder von ihnen seine Geheimnisse...

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Stefanie von Rossek

Die Sache mit Adrien

Für die Freunde meiner KindheitBookRix GmbH & Co. KG80331 München

Bericht von Daniel Rehneke

Kevin hatte mich angerufen und mir die Nachricht überbracht. Es war eine regnerische Nacht gewesen. Vermutlich spielt das keine Rolle, denn seitdem regnet es nur noch für mich und die Nacht wird vom Tag nicht mehr abgelöst. Ich bin durch die stillen Straßen gerannt, an neonleuchtenden Geschäften vorbei, und in den nächstbesten McDonalds eingekehrt, auf den ich traf. Dort kaufte ich mir so viel Junkfood, dass mir im Nachhinein beim Essen davon schlecht wurde. Im Moment war dies nämlich mein einziger Wunsch, mich so voll zu stopfen, nur damit ich etwas anderes fühlen würde als diese lähmende Traurigkeit. Ich konnte gar nicht mehr denken und wenn ich etwas dachte, dann war es Adrien. Mein Kopf war völlig ausgefüllt von ihm. Nichts anderes hatte mehr Platz. Kein Mensch hätte uns für beste Freunde gehalten, obwohl ich durch die Lüfte geschwebt war, als gebe es keinen Boden mehr, sobald ich ihn traf. Mein Cousin Kevin, der rein äußerlich genauso blass und unscheinbar war wie ich, nur dass er braunes statt blondes Haar hatte, war Adriens offizieller bester Freund. Ich war und bin mir sicher, dass Kevin in der riesigen Gesamtschule, auf die wir alle gingen, ohne jegliche Rettung untergegangen wäre, wenn sein Kumpel nicht der Mädchenschwarm schlechthin gewesen wäre. Adrien hatte tiefschwarze Haare, die ihm bis auf die Schultern fielen, und einen Pony, der sein halbes Gesicht verdeckte. Er sah hübsch aus, wenn er seinen Mund ernst verschloss, doch die meiste Zeit lief er mit einem provokant breiten Lächeln herum.

 

 

Wenn ich es mir jetzt überlege, hatte er eigentlich nicht viele Freunde unter den Jungen. Die meisten waren der Ansicht, dass man ihn nicht ernst nehmen konnte und viele beneideten ihn um seinen Erfolg bei den Mädchen. Es war einfach klar, dass er jede haben konnte. Na ja, alle, bis auf Verena, vielleicht... Außerhalb der Schule sah ich Adrien jedenfalls fast nur in dem kaum möblierten Seehaus, welches Frank Stettner, ein wahnsinnig reicher Schulkamerad, mit ihm, Kevin und mir teilte. Meine Gedanken kreisen um dieses Haus und landen schließlich bei einem ganz bestimmten Abend. Ich weiß alles noch ganz genau. Wie ein leuchtender Wächter stand der Mond hoch über dem schimmernden, dunklen See. Das Wasser lag ganz ruhig, als wäre es glatte Seide, ohne verhängnisvolle Tiefen und ohne Geheimnisse, die schon seit langer Zeit versunken waren. Es war ein Bild düsterer Unschuld, voller Schönheit, von der man gefangen werden konnte, und doch auch ein Bild von aufdringlicher Verlogenheit. Harmonie wurde einem vorgegaukelt, als ob dieses Element nicht schon beim kleinsten Windhauch Wellen schlagen würde... Die Aussicht auf dem kleinen, schimmligen Balkon faszinierte mich immer wieder. Es war eine warme Nacht und ich war, wie jeden Sommer, melancholisch. Ich erinnerte mich, dass ich als kleiner Junge gerne Steine gesammelt hatte. Es waren für mich unfassbare Kostbarkeiten gewesen und ich hatte mir nicht vorstellen können, dass man sie nicht kaufen musste, sondern sie sich einfach nehmen durfte, als wären sie nicht das Geringste wert.

 

Dieser Strand vor dem See war zu sandig und grasig, um gute Steine herzugeben. Außerdem bedeuteten mir Steine inzwischen überhaupt nichts mehr. Manchmal hatte ich fast ein schlechtes Gewissen, dass meine kindliche Begeisterung für sie so abgekühlt war. Aber ich war nun einmal nicht mehr der unwissende Knabe von einst, mit dem kurz geschnittenen, blonden Schopf. Mein Haar war länger geworden, es legte sich weich und lässig um meine Schultern. Diese Frisur und eine schwarz umrandete, eckige Brille gaben mir die Erscheinung eines ernsthaften Intellektuellen. Mir war schon seit langem aufgefallen, dass sich die Leute vorzugsweise an mich wandten, wenn sie auf sachliche Informationen oder geistige Vorträge aus waren. Sie wurden oft von meinen knappen, gefühlvoll angehauchten Antworten enttäuscht, aber das hinderte sie nicht daran, mich dennoch als einen Intellektuellen zu bezeichnen, wenn man sie nach meinem Wesen befragte. Im Großen und Ganzen störte mich das nicht. Wir waren alle viel zu oberflächlich, wenn es um andere ging, als dass wir es jemandem vorwerfen dürften. Und es machte das Leben auch leichter, jedem ein Etikett zu verpassen, um ihm dann immer mit diesem zu begegnen. Die Welt an sich war rätselhaft genug und einen Menschen in all seinen Facetten und Lebenslagen kennen zu lernen einfach nicht möglich.

 

„Daniel, du bist schon seit über einer Minute dran“, erklang hinter mir Adriens gelassene Stimme. Noch während ich in den Zauber der schlafenden See versunken war, stellte ich mir vor, wie er konzentriert vor dem runden Tisch saß, auf dem das Schachbrett lag. Schwarze Ponyfransen waren ihm in das Gesicht gefallen, Augen blickten auf die einzelnen Figuren, Augen so tief, wie das Innere eines Brunnens... „Jetzt sind es schon zwei Minuten“, informierte er mich, mit einer leisen Spur Ungeduld in seiner melodischen Stimme. Schach war zu unserer großen Leidenschaft geworden. Sobald es nur irgendwie möglich war, spielten wir. Anfangs hatten wir es getan, um uns in unserer Intelligenz zu messen. Wir hatten diese Möglichkeit, als Gegner gegeneinander anzutreten, mit geradezu wilder Besessenheit an uns gerissen. Es war zweifellos ein aufregendes Gefühl, eine Person, die man liebte, vernichten zu wollen... Inzwischen befanden wir uns schon lange im dichtesten Strudel der Sucht, es war nicht mehr möglich, sich auch nur einen Tag zu denken, an dem wir uns nicht gegenüber saßen und die Figuren des anderen studierten. Sobald ich aus der Schule in dieses Haus kam, führten mich meine Schritte automatisch zu dem kleinen Tisch und ich verrückte einen Bauern, einen Turm oder besonders gern ein Pferd. Eine Zeit lang hatte ich mich gesorgt, Adrien könnte befürchten, das Schachspiel mache uns alt oder langweilig. Aber dem war nicht so. Er hatte mich schon gelegentlich am Handy angerufen und mir mitgeteilt, dass ihm bei sich zu Hause eine neue Strategie eingefallen sei, mit der er mich fertig machen würde. Verständnisvoll setzte ich mich schließlich auf den freien Stuhl und musterte die Konstellation auf dem Brett vor mir. „Ich weiß nicht, warum du mich so drängst“, bemerkte ich schadenfroh, „du bist nämlich gleich schachmatt.“ Provozierend langsam schob ich meine Dame auf ein Feld, um ihm zu demonstrieren, dass er verloren hatte. Adrien betrachtete mich mit böse funkelnder Miene. Wie immer gönnte er es mir überhaupt nicht, dass ich gewonnen hatte.

 

Sein weißes Hemd raschelte geräuschvoll, als er sich erhob und sich mit seinem Arm nach vorne beugte. Ich konnte meinen Augen nicht trauen, als er nach meiner Dame griff und sie mit ausdruckslosem Gesicht aus dem Fenster warf. Vergeblich lief ich auf den Balkon und blickte auf die sandige Wiese hinab. Es war unmöglich, in der Dunkelheit einer fast sternenlosen Nacht eine schwarze Schachfigur auf dem Boden auszumachen. Anfangs hatten Adrien und ich aus irgendeinem Grund beide die schwarzen, statt die weißen Figuren haben wollen, bis ich mich durchgesetzt hatte. Das erschien mir nun so unwichtig, es ging doch nur ums spielen, spielen, spielen... „Ich hoffe, dir ist klar, dass du dich absolut lächerlich unreif verhältst?“, fragte ich ihn betont herablassend, aber auch geduldig, weil ich ihn ja doch schon zu lange kannte. Er betrachtete kurz seine Schuhe, als wäre er ein verschämtes, kleines Mädchen, dann schaute er zu mir auf und schlug vor: „Lass uns ein neues Spiel anfangen.“ Manchmal wünschte ich, ich könnte seine schwarzen Stirnfransen bei Seite schieben und dadurch in seinen Kopf gelangen. Das ganze Leben lang hatten wir mit Menschen zu tun und wir formten gewöhnlich unsere Vorstellung von ihnen so lange, bis wir sie verstanden. Wenn wir dazu nicht in der Lage waren, lehnten wir sie ab. Ich bildete mir gerne ein, tolerant und verständig zu sein, aber Adrien war und blieb für mich ein einziges Rätsel. Er wirkte auf mich, wie ein kunstvoll verarbeitetes Spinnennetz, verworren, fein und mit einem bestimmten Sinn auf der Welt. Seufzend fuhr ich mir mit einer Hand durch mein dunkelblondes Haar und schloss die Balkontür, was ich eigentlich schon längst aufgrund diverser Mücken hätte tun sollen.

 

„Ich habe keine Dame mehr“, erwiderte ich letzten Endes auf Adriens Aufforderung. „Ich such sie schon wieder“, meinte er achselzuckend, „Nimm solange eine Münze.“