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Denis leidet heimlich an der Neurose, sich ständig die Hände waschen zu müssen. Als der neue Schüler Richard Wedekind das bemerkt, fängt er an, Denis zu erpressen. Er muss seinen schwulen Freund spielen, sonst würde Richard allen von der Neurose erzählen. Ein Katz-und-Maus-Spiel voller Geheimnisse und Intrigen nimmt seinen Lauf...
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Ich musste es wieder tun, sie waren einfach so dreckig.
Gewiss, eines Tages würde ich es schaffen, eines Tages würden sie sauber sein, aber manchmal fragte ich mich, wann dieser Zeitpunkt sein würde.
Wann würde es mir gelingen, all den Schmutz von meinen Händen zu bekommen?
Vermutlich nie, wahrscheinlich nie, denn egal wie lange ich sie scheuerte, mit Seife abrieb, sie mir aufrieb, bis sie bluteten, sie wurden einfach nicht rein. Niemals. Das war keine Reinheit!
Ich dachte eigentlich, dass ich mich alleine in der Jungentoilette befand, während ich verzweifelt vor dem Waschbecken stand und meine Hände unter dem fließenden Wasser verkrallte. Deswegen zuckte ich auch erschrocken zusammen, als ich plötzlich eine leise Stimme hinter mir hörte: „Das ist ja eine richtige Manie.“
Wer auch immer der Träger dieser Worte war, er klang herablassend und keineswegs besorgt. Beunruhigt drehte ich mich um, in der Erwartung, Florian Stürmer zu sehen, doch statt diesem blieben meine Augen an dem neuen Schüler des Jungeninternats hängen, diesem Richard Wedekind. Ich wusste im Prinzip noch gar nichts von ihm, außer dass er sehr gut in der Schule war. Egal, in welchem Unterricht ich ihn schon erlebt hatte, er hatte sich immer meisterhaft geschlagen. Mit seinem tiefschwarzen Haar und den intensiven, blau-grünen Augen sah er unglaublich attraktiv aus, was mich zu meinem Ärger erröten ließ. Er hob seine Mundwinkel leicht an, ein arrogantes Lächeln in seinem markanten Gesicht.
„Du sagst es doch keinem?“, stammelte ich, entsetzt über seine unerwartete Präsenz. Dann besann ich mich und fügte rasch hinzu: „Ich meine...eigentlich gibt es ja nichts zu sagen! Ich hab mir nur die Hände gewaschen!“
Langsam, fast bedrohlich, kam er auf mich zu und meinte gelassen: „Ich verspreche dir, nichts über deine Neurose zu verraten, Denis...Brandauer? Aber im Gegenzug kannst du mir auch einen Gefallen tun.“
Im ersten Moment dachte ich an Geld. Ich war mir ganz sicher, dass dies auf eine finanzielle Erpressung hinauslaufen würde.
„An diesem Internat ist es üblich, sich einer Gruppe anzuschließen, hab ich Recht?“, eröffnete er dann überraschenderweise, „Und du gehörst der Gruppe der Schwulen an, nicht wahr?“
Ich nickte stumm. Von meinen Händen tropfte Wasser auf den steinernen Boden.
„Nun, ich bin nicht schwul“, fuhr er zu meiner Enttäuschung fort, „Aber es wäre mir ein Bedürfnis, nach außen hin so zu erscheinen und eurer Gruppe anzugehören, verstanden?“
Eigentlich verstand ich überhaupt nichts von dem, was er da sagte.
„Damit mich deine Kameraden in Ruhe lassen, wirst du so tun, als wärst du mit mir zusammen“, erklärte er mir mit eindringlichem, strengem Blick, „Dafür werde ich nie ein Wort über deine Hände verlieren. Betrachte es einfach als eine Art Pakt zwischen uns.“
„Warum?“, stieß ich ratlos aus und schob schließlich meine nassen Hände in die Hosentaschen. Sofort fühlte ich wieder den Schmutz und verspürte das dringende Bedürfnis, mich ohne zu zögern erneut dem Waschbecken zuzuwenden.
„Das musst du nicht wissen“, entgegnete er unwirsch, „Also, dann. Wir werden uns schon verstehen, mein Schatz!“
Augenzwinkernd bewegte er sich aus der Toilette. Er hatte einen federnden, zielbewussten Gang; es dürfte gar nicht so schlecht sein, offiziell einen Freund wie ihn zu haben, aber trotzdem erschien mir das alles mehr als bedenklich. Bis jetzt hatte ich in meinem Leben schon ein paar Homosexuelle kennen gelernt, die so tun wollten, als wären sie Heten. Aber noch nie war mir der umgekehrte Fall untergekommen. Und wie stellte er sich das vor, den anderen vorzutäuschen, wir wären ein Paar? Ich war nicht gerade der beste Lügner aller Zeiten. Für einen Moment befürchtete ich, das hier war alles nur ein übler Scherz, den Stürmer sich ausgedacht hatte.
Aber diese Geschichte war viel zu verrückt für einen phantasielosen Menschen wie ihn. Und warum sollte Wedekind das für ihn tun?
Das verlangende Kribbeln in meinen Händen wurde immer stärker und letztendlich gab ich ihm nach und seifte sie unter kochendem Wasser ein.
„Dieser Richard Wedekind hat vorhin ganz fest darauf bestanden, dass er unbedingt mit dir in ein Zimmer will!“, informierte mich Thomas mit vor Sensationsgier leuchtenden Augen, sobald ich ihm zufällig in der Aula begegnete.
Es war sogar untertrieben, zu behaupten, das Internat wäre eine große Anlage.
Allein der Park, den Schüler und Lehrer benutzten, um Muße zu bekommen, konnte an einem Tag nicht wirklich abgelaufen werden. Zudem gab es drei weiträumige, hochstockige Gebäude, die durch zweiminutenlange Wege miteinander verbunden waren. Eines davon war das Haus, in dem die Lehrer mit ihren Frauen wohnten, falls sie eine hatten. In dem zweiten hingegen befanden sich unzählige Zimmer, in denen jeweils zwei Schüler hausten. Und das letzte imposante Gebäude war die Schule, in der es im Prinzip nur die Klassenzimmer, die Mensa und die Aula gab.
Thomas konnte sich überall aufhalten und ich könnte ganz woanders sein, aber irgendein Wille des Schicksals führte uns immer wieder zusammen und jedes Mal schien er alles von mir zu wissen, auch wenn ich es erst in der letzten Stunde erlebt hatte.
„D-das überrascht mich nicht“, stotterte ich, „Wir sind nämlich...jetzt zusammen. Ein Paar, jawohl.“
Er starrte mich mit solch glotzenden Augen an, dass ich schon befürchtete, sie müssten ihm aus dem Kopf fallen.
„Was, Wedekind ist schwul?“, kreischte er, woraufhin ein paar kleinere Jungen sich kichernd zu uns herumdrehten, „Darauf wäre ich in meinem Leben nicht gekommen!“
Ich hatte keine Ahnung, woher Thomas Tinkelmann immer diese Gewissheit nahm, sofort erkennen zu können, ob jemand eine Hete war oder nicht. Er selbst trug mit Vorliebe rosafarbene Pullover, machte aus seinem hellbraunen Haar vornehme Löckchen und klimperte gerne mit den Wimpern. Jeder an der Schule wusste über ihn Bescheid, vom ersten Augenblick an. Aber die anderen, die sich unserer Gruppe anschlossen, die den Mut gefunden hatten, sich unserer Gruppe anzuschließen und sich damit immerhin vor den Schülern zu outen, die waren ganz normal. Ganz normale, nette Jungen, mit denen man sich nicht über Mädchen unterhalten musste, oder über Autos oder sonst irgendetwas Langweiliges.
„Und seit wann läuft das?“, bohrte Thomas nach, „Wieso weiß ich nichts von dieser Blitz-Beziehung?“
„Ähm, es ist noch ganz frisch, ganz jung, ganz frisch, also...“, gab ich nervös zur Antwort. So sehr ich mich auch bemühte, in diesem Augenblick fiel mir keine einzige Lügengeschichte ein, wie aus Wedekind und mir ein Paar hätte werden können; nicht einmal eine unglaubwürdige Behauptung kam mir in den Sinn. Mein Kopf war wie leer gefegt.
„Auf jeden Fall find ich’s toll, wenn er zu mir ins Zimmer kommt“, wandte ich rasch ein, „Ich hab es ja auch alleine, seit...seit...na, du weißt schon.“
Für einen Moment blickten wir schweigend auf den blanken Marmorboden, er mit betretener Miene, ich in unglaublichem Entsetzen darüber, dass ich fast etwas gesagt hätte. Es war mein Glück, dass gerade jetzt Richard Wedekind das Tor aufstieß und triumphierend zu uns herübermarschierte.
„Ich habe mit dem Hausvater gesprochen“, klärte er mich auf, an Thomas verschwendete er keinen Blick, „Und es hat funktioniert! Ich kann noch heute bei dir einziehen!“
Ich quälte mich zu einem halbherzigen Lächeln und hoffte, dass es so wirkte, als könnte ich seine Meldung nicht glauben, vor Glück. In Wirklichkeit spürte ich lähmende Angst in meinem Inneren. Es gab nun jemanden, der von meinem Geheimnis wusste und von dem ich deshalb gezwungen wurde, mit ihm eine Lüge zu leben. Nur seine Motive für diesen Unsinn waren mir nicht bekannt.
„Knutschen in der Öffentlichkeit ist wohl nicht drin, was?“ bemerkte Thomas und grinste aufs Höchste amüsiert. Immer wenn er anfing, Paare zu provozieren oder Angewohnheiten von ihnen zu analysieren, war er richtig neidisch. Thomas war so leicht zu durchschauen.
„Kümmere dich um deine eigenen Probleme!“, knurrte Wedekind ihn an und seine herrscherische Stimme troff vor Verachtung.
„Ich hab keine Probleme“, erwiderte Thomas leichthin.
„Er ist schon okay!“, warf ich hastig ein, „Er gehört zu uns.“
Als ob man das nicht sofort hätte erkennen können...
Irritiert streiften meine Augen meinen angeblichen Partner und ich fragte mich, ob es reines Glück für ihn gewesen war, meine Schwäche herauszufinden, um mich dann damit erpressen zu können. Was hätte er gemacht, wenn ich mein Geheimnis besser gehütet hätte? Hätte er sich jemand anderen gesucht?
Immerhin war ich nicht der hübscheste Junge in unserer Gruppe. Mein dunkelblondes Haar mit der altmodischen Ponyfrisur und die feinen Gesichtszüge ließen mich immer sehr jämmerlich und schüchtern erscheinen.
Und das Schlimme war, im Prinzip war ich auch irgendwie jämmerlich und schüchtern. Einer Person war das leider nur zu bewusst und sie nutzte es immer zu ihrem eigenen Vergnügen aus.
Soweit ich das beurteilen konnte, war Florian Stürmer der Mensch, den ich am allerwenigsten leiden konnte. Er gehörte zu der Gruppe der Reichen. Es gab viele von ihnen und sie hatten alle nichts anderes als Geld. Die meisten von ihnen waren total eingebildet und arrogant und niemand wollte mit ihnen etwas zu tun haben. Aber Stürmer mochte ich wirklich am wenigsten.
Merkwürdigerweise sah er mir ziemlich ähnlich; er hatte auch dieses sandblonde Haar, seines war nur länger und welliger, als meines; und auch seine Gesichtszüge waren von einer gewissen Zartheit bestimmt. Allerdings war er ein bisschen jünger als ich – ungefähr ein Jahr – und er sah viel schöner aus. Mit seinem blendenden Äußeren konnte er es locker mit Wedekind aufnehmen. Gott sei Dank war er nicht schwul. Ich war mir sicher, es hätten sich alle um ihn gerissen.
„Erde an Brandauer!“, holte Thomas mich wieder in die Realität zurück. Er grinste unverschämt und wippte mit seinen Füßen auf und ab, was einen aufgeregten Eindruck machte.
„Dein Schatzi ist ein richtiger Träumer“, erzählte er Wedekind und erntete dafür einen vernichtenden Blick.
„Komm, Denis!“, forderte mich dieser auf, „Gehen wir in unser Zimmer!“
Als wir draußen über den knirschenden Kiesweg schritten, bemerkte er mit jeglicher fehlenden Begeisterung: „Ich hoffe mal, nein, ich gehe davon aus, dass wir uns zukünftig nicht immer mit solchen Leuten, wie Tinkelmann, abgeben müssen. Es ist eigentlich gar nicht unnatürlich. Schließlich sind wir nach Meinung der anderen gerade ein Paar geworden, da will man lieber erst mal für sich sein.“
Vorsichtshalber erwiderte ich nichts darauf. Ich hatte eigentlich nicht vor, meine Freunde alle für ihn fallen zu lassen. Ein eisiger Wind durchwehte uns und brachte mich zum Frösteln. Der Winter war bereits hereingebrochen, aber geschneit hatte es zum Glück noch nicht. Als Wedekind bemerkte, wie ich mich vor Kälte schüttelte, legte er wärmend einen Arm um mich. Das war eine ziemlich freundliche Geste, vor allem weil ich nirgends einen Menschen sah, der uns in diesem Moment beobachten könnte. Sobald wir unser Zimmer erreicht hatten, begann er seine Sachen aus dem Koffer in den Schrank zu räumen, als hätte er meine Anwesenheit vergessen.
„Ich geh mal auf die Toilette“, bemerkte ich verunsichert. Langsam blickte er auf und seine Augen streiften mich in einem herabwürdigenden Leuchten.
„Das denk ich mir“, meinte er lächelnd.
Jeden Mittwochnachmittag hatten wir Tanzunterricht und zu diesem Zweck kamen sämtliche Mädchen einer nahe gelegenen Schule zu uns, die als unsere Übungspartnerinnen fungierten, gleichzeitig aber auch selbst die Tänze lernten. Die meisten Jungen waren dann immer ganz aufgeregt und tauschten sich den gesamten Vormittag darüber aus, wer es mit welcher heute probieren wollte. Bis auf die recht ereignislosen Begegnungen mit den Frauen der Lehrer hatten wir es so gut wie nie mit weiblichen Wesen zu tun.
Jedenfalls kam eine Stunde vor Unterrichtsbeginn immer die Tanzlehrerin zu uns und suchte vier Jungen aus, die dieses Mal die Halle putzen sollten, bis sie glänzte. Insgeheim wünschte sie sich wohl, dass wenigstens ein paar von uns auf dem viel zu glatten Boden ausrutschen würden und damit zukünftig unfähig sein würden, weiterzutanzen. Doch das passierte uns nie.
Auch dieses Mal erschien ihre imposante, breitschultrige Gestalt in der Mensa und warf uns einen gebieterischen Blick zu. Ihr Körper und das kurze, rotgefärbte Haar ließen sie eher wie einen Mann aussehen, aber vielleicht wollte sie das ja.
„Artur Vessner, Denis Brandauer, Markus Echenhaus und Thomas Tinkelmann – Halle putzen!“, bellte sie mit weit aufgerissenem Mund.
Wir vier erhoben uns stöhnend und setzten uns lustlos in Bewegung. Es war kein weiter Weg von der Mensa bis zur Tanzhalle, trotzdem brauchten wir eine halbe Ewigkeit bis dorthin. Beide Räume waren nicht nur im selben Haus, sondern auch im selben Stock, nämlich im Erdgeschoss. Markus Echenhaus blieb weiter zurück, vermutlich beunruhigte ihn die Tatsache, dass zwei Schwule dabei waren.
Er war ein Freund von Stürmer, ebenfalls in der Gruppe der Reichen, und glaubte seltsamerweise, wir würden uns alle nur zu gern auf ihn stürzen, obwohl er mit seiner Fettleibigkeit und dem kahlen Kopf alles andere als attraktiv war. Wenn ich mich wirklich einmal gerne auf jemanden gestürzt hätte, dann war das Artur Vessner.
Er würde vermutlich auch dieses Mal wieder nicht mittanzen, weil die Tanzlehrerin es lieber hatte, er spielte auf dem Klavier für uns einen Walzer, auf den wir üben sollten. Vessner war der beste Pianist, den man sich nur vorstellen konnte.
Wenn er spielte, erwachte jedes noch so tote Lied zum Leben. Er gehörte natürlich der Gruppe der Künstler an, obwohl er genug Geld hätte, um bei den Reichen mitzumischen, und eigentlich eher sportlich aussah. Um sein schulterlanges, braunes Haar hatte er immer ein rotes Band gewickelt und er lief bevorzugt in weiter, heller Kleidung herum. Er war muskulös, aber nicht auf eine ungehobelte, raue Art, sondern so vollkommen, dass er in seinen Bewegungen geschmeidig und gleichzeitig lässig wirkte. Artur Vessner war der einzige Junge der Schule, in den ich jemals verliebt gewesen war. Ich mochte auch seine Lieder, die immer etwas Heiteres und irgendwie Leichtes an sich hatten. Wenn man ihm zuhörte, fühlte man sich gleich besser und verspürte das Bedürfnis, etwas Unsinniges zu tun oder einfach nur glücklich zu sein.
Nur ein einziges Mal hatte es sich anders verhalten. Irgendjemand hatte gesagt, dass er Liebeskummer hatte, weil seine Freundin mit ihm per Brief Schluss gemacht hatte. Es passte zu dem, was mir in der Zeit passiert war.
Aus irgendeinem Grund war ich abends noch durch den Gang gelaufen, an der Halle vorbei, deren Tür weit offen stand. Zu meiner Überraschung entdeckte ich ihn, wie er am Klavier saß und plötzlich so fest in die Tasten schlug, dass ich zusammenzuckte. Er spielte ein grausames, niederdrückendes Lied, es tat mir weh, ihm zuzuhören. Jeder einzelne Klang war wie ein Schlag ins Gesicht und dann auch wieder wie eine verzweifelte Träne, die sich ihren Weg durchs Unglück bahnte.
Als ich genauer hinsah, merkte ich, dass er tatsächlich weinte.
Er selbst registrierte mich überhaupt nicht, er hatte mir sein Profil zugewandt und dabei die Augen halb geschlossen. Jedes Mal, wenn er wie ein Besessener auf die Klaviertasten hämmerte, zitterten seine Lippen.
Mein Gott, dachte ich, welches Mädchen hat dir das angetan?
Damals war ich fest davon überzeugt, er würde nie wieder so cool werden, wie er es einmal gewesen war. Ich hätte darauf geschworen, dass er von nun an immer so herumlaufen würde: Verletzt und heulend.
Aber bereits am nächsten Tag hatte er sich vor den anderen so verhalten, wie immer schon. Ich hatte ihn natürlich besonders genau beobachtet und er hatte sich nicht das Geringste anmerken lassen. Als wäre der rasende Junge am Klavier am Abend zuvor jemand ganz anderes gewesen...
Ich hätte ihn zu dieser Zeit so unglaublich gerne getröstet, aber vermutlich hätte er das ohnehin nicht gewollt. Er war gewöhnlich recht nett zu mir, behandelte mich wie einen normalen Menschen und ging mir nicht demonstrativ aus dem Weg. Nur seit der ganzen Sache mit Paul Dankoren betrachtete er mich manchmal mit einem gewissen Runzeln der Stirn, so wie viele andere Leute auch. Ich bemühte mich immer, so zu tun, als fiele mir das nicht auf.
„Wie viel Erfahrung hat er?“, raunte mir Thomas zu, während wir uns der Halle näherten.
„Was, Vessner?“, zischte ich erstaunt.
Der Junge in dem pinken Sweatshirt warf mir einen langen Blick zu. Dieser Blick sollte mir normalerweise bedeuten, dass ich mich gerade besonders dumm anstellte.
„Nein, komisch, den meine ich nicht“, flüsterte er schließlich sarkastisch, „Schon mal an Wedekind gedacht, deinen Freund?“
„Ach, We...äh, Richard!“, rief ich zögernd aus, „Nun, das weiß ich nicht. Ich meine, so weit sind wir noch nicht.“ Mein Gesicht lief ganz heiß an und es war mir durchaus bewusst, dass ich jetzt wie eine einzige Tomate aussah.
„Gott, Denis! Tu nicht immer so unschuldig!“, wisperte Thomas in gespieltem Ärger und stolzierte hüftenschwingend in die Halle.
„Ich würd mal sagen“, ordnete Vessner kaugummikauend an, sobald wir endlich alle den Saal erreicht hatten, „Echenhaus räumt die Stühle da in ein anderes Zimmer, Tinkelmann richtet die Vorhänge und Brandauer und ich wischen den Boden.“ Niemand hatte etwas dagegen.
Jeder von uns war eigentlich keine führende, dominante Persönlichkeit, wir fügten uns alle lieber den Entscheidungen von anderen.
Vessner vielleicht am wenigsten, deswegen war es nicht weiter verwunderlich, dass er sich um die Aufgabenverteilung gekümmert hatte. Echenhaus schien mit seiner Arbeit ganz zufrieden zu sein.
Jedes Mal kam er in die Halle wie ein geölter Blitz geschossen, würdigte uns beim Abtransport der Stühle keines Blickes und zischte sofort wieder hinaus, nur um dann eine ganze Weile wegzubleiben. Es war nicht sehr heldenhaft von ihm, den armen Artur Vessner so alleine in den Fängen zweier Schwuler zu lassen!
Thomas dachte anscheinend in die gleiche Richtung wie ich, denn er grinste mir verschwörerisch zu, während er da oben auf dem Fensterbrett stand. Sofort riss ich erschrocken meine Augen auf und zuckte in offensichtlichem Schauder zusammen. Thomas biss sich auf die Lippen, sprang sogleich von seiner erhöhten Position hinunter und kam auf mich zugelaufen.
„Ich hab es nicht so gemeint, Denis“, beschwor er mich und fasste mich behutsam am Arm, „Das wird nie wieder passieren, das weißt du doch! Du weißt es, oder?“
Ich nickte nur. Aber gleichzeitig spürte ich den kalten Schweiß auf meiner Haut.
„Hey, Jungs“, wandte sich Vessner an uns, „Macht lieber mal hinne, sonst dreht der Drachen noch durch!“
Der Drachen war unsere „feminine, zarte“ Tanzlehrerin. Sie hatte diesen Spitznamen nicht nur wegen ihrer Charakterverwandtschaft mit jenem Fabelwesen erhalten, sondern sie hieß auch wirklich so. Frau Drachen. Ihr Mann war derjenige, der sich um sämtliche organisatorischen Dinge kümmerte, wie zum Beispiel die Umverteilung eines Jungen in ein anderes Zimmer, aber er wurde von allen nur der „Hausvater“ genannt. Möglicherweise war er die einzige erwachsene Person der gesamten Internatanlage, die von den Schülern gemocht wurde. Ich wischte noch träumend den Boden, da tauchten bereits der Drachen und ungefähr zehn Mädchen auf.
„Ist das nicht witzig!“, brummte unsere Tanzlehrerin, „Obwohl ihr extra eine Stunde braucht, um hierher zu kommen, seid ihr immer vor den Jungen da!“
Die Mädchen kicherten gehorsam und betrachteten Vessner und mich mit unverhohlener Neugier. Sie hatten uns bestimmt schon einmal gesehen, auch wenn nicht jedes Mal die gleichen Mädchen oder die gleichen Jungen Tanzunterricht bekamen. Der Drachen teilte das ein, scheinbar nach einem System, dem jegliche Logik oder Gerechtigkeit fehlten. Jedenfalls hatte Thomas, der auch jetzt wieder einmal verschwunden war, noch nie Tanzunterricht gehabt. Er selbst war der Ansicht, das hinge mit seinem eigenen Geschick, der ganzen Prozedur zu entkommen, zusammen. Aber ich konnte mir auch vorstellen, dass es dem Drachen peinlich war, den Mädchen einen Jungen zu präsentieren, der sich so unmännlich anzog und so unmännlich benahm.
Aus irgendeinem Grund begann mein Herz schneller, fast schmerzhaft, zu schlagen, als schließlich andere Schüler, unter ihnen Wedekind, die Halle betraten. Wedekind betrachtete desinteressiert die Wand, so als ginge ihn das alles hier nichts an. Florian Stürmer hingegen war sofort zu einem bestimmten brünetten Mädchen gelaufen, welches angeblich seine Freundin war. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn wir beide Tanzunterricht hatten, denn er tanzte zwar nicht gut, aber immer noch besser als ich, was er mich bei jeder Gelegenheit merken ließ.
Lustlos räumte ich mit Vessner das Putzzeug auf. Als wir den Wischmob in den kleinen, dafür vorgesehenen Raum stellten, trafen wir auf Markus Echenhaus, der sich soeben davon machen wollte.
„Hey, was ist mit tanzen?“, erkundigte sich Vessner bei ihm. Echenhaus zuckte die Schultern und schüttelte so wild den Kopf, dass seine dicken Backen mitzuschaukeln schienen.
„Muss ich nicht“, antwortete er gleichmütig und entfernte sich.
„Komisch“, bemerkte der Pianist, „Die Halle soll er putzen, aber mittanzen darf er nicht.“ Ich erwiderte nichts darauf. Thomas Tinkelmann hatte er wohl vergessen.
Wie sich bereits wenige Minuten später herausstellte, war Richard Wedekind der mit Abstand beste Tänzer im Raum. Keiner bekam es hin, ein Mädchen so elegant zu führen, wie er.
Gibt es eigentlich irgendetwas, was du nicht kannst?, dachte ich verdrießlich und versuchte meine Partnerin im Kreis zu drehen, die mir dabei mehrere Male auf den Fuß trat. Nach außen hin gab ich Vessner die Schuld, ich behauptete vor dem Mädchen, dass er viel zu schnell spiele. Aber nur ein kurzer Blick auf Wedekind bewies mir, dass das Tempo des Liedes genau richtig war und ich dafür ein Lügner.
Der Drachen war ganz entzückt von ihm.
„Schaut euch alle Richard Wedekind an, der macht das perfekt!“, rief sie mit zufriedenem Klang, als wäre das ihr Verdienst.
„Ich will auch mal mit ihm tanzen!“, flüsterte meine Tanzpartnerin und gab mir damit das Gefühl, nicht vorhanden zu sein. Sämtliche Mädchen des Zimmers betrachteten ihn voller Sehnsucht. Gegen Ende der Stunde kochte ich vor Wut.
Ohne eine von Stürmers hämischen Bemerkungen wahrzunehmen, die sich auf eine vom Drachen geäußerte Kritik bezogen, rannte ich aus dem Raum. Ich lief den ganzen Gang entlang und die Treppen hinab und sogar durch die Aula.
Erst als ich nach draußen gelangte, schnürte mir der kalte, beißende Wind die Luft ab und ich wurde gezwungen, mich wieder gemächlich vorwärts zu bewegen. Es hatte noch immer nicht geschneit, aber alles roch so nach Winter. Nicht nach Weihnachten, denn das würde einen Duft von Orangen und Zimt und Kerzen verlangen, aber nach Winter. Kalt und ungemütlich. Niemand wollte mehr im Park spazieren gehen. Und man war heilfroh, wenn man das Haus, in das man wollte, erreicht hatte. Erleichtert betrat ich dieses finstere, altmodische Gebäude und begab mich in den ersten Stock, in welchem sich mein Zimmer befand. Die einzelnen Flure waren immer recht abgedunkelt und überaus unpersönlich schlicht. Ich hatte sie noch nie leiden können. Sobald ich in meinem Zimmer angekommen war, stürmte ich an das Waschbecken und rieb meine Hände mit schäumender Seife ein. Denn sie waren wieder so dreckig, so unglaublich dreckig, so unrein, so schmutzig, so...
Ich wusch sie lange und grünlich, bis ich mich wieder halbwegs beruhigt hatte und mich erschöpft aufs Bett setzte. In diesem Augenblick riss Wedekind die Tür auf und funkelte mich unheilvoll an.
„Was hast du dir dabei gedacht?“, fauchte er, nachdem er die Tür wieder zugeschmissen hatte.
„Denkst du nicht auch, dass ein Paar zusammen eine Veranstaltung verlässt, möglichst Arm in Arm, und nicht, dass der eine sich ganz plötzlich aus dem Staub macht?“
In nahezu demütiger Haltung ließ ich meine Schultern sinken und musste auf einmal weinen. Ich wusste selbst nicht genau, warum, mir gefiel nur die ganze Wendung nicht, die mein Leben nun angenommen hatte. Außerdem hatte ich das Gefühl gehabt, auf Wedekind wütend sein zu müssen, und nun benahm er sich so, als wäre er wütend auf mich.
„Oh, nein“, murmelte er. Es war das erste Mal, dass er sich nicht herablassend anhörte. Langsam kam er zu mir, setzte sich auf mein Bett und legte einen Arm um mich.
„Das musst du nicht“, sprach er beschwichtigend auf mich ein, „Mir ist ja klar, dass das alles ungewohnt für dich ist.“
„Es ist eine Lüge“, brachte ich zitternd hervor.
Sofort erhob er sich und entgegnete kalt: „Du weißt, um was es hier geht, nicht wahr? Ich behalte dein Geheimnis für mich und du spielst bei meinem Spiel mit.“
Stöhnend ließ ich mich auf mein Bett sinken und kroch unter die warme, tröstende Decke. Was würde er nur von mir verlangen, wenn er über alles Bescheid wüsste? Über solch düsteren Gedankengängen schlief ich ein.
Ich hatte nie versucht, herauszufinden, ob es anderen genauso erging. Vielleicht war es ganz natürlich. Aber auf jeden Fall war es immer irgendwie schön.
Manchmal passierte es mir, dass ich der erste war, der die Mensa betrat, dass noch nicht einmal das Licht brannte, aber in der nebenan liegenden Küche bereitete der Hausvater bereits das Frühstück vor. Dies konnte man nicht sehen, man nahm höchstens den schmalen Lichtstreifen unter der Tür wahr und ein gewisses, reizvolles Geschirrgeklapper. Durfte man so etwas zugeben, dass man zu den wundervollsten Empfindungen des Lebens diesen einen Moment zählte, in welchem man aus einem bestimmten Abstand mitbekam, wie jemand für einen ein Essen zubereitete?
Da war die glücksverheißende Frage, ob es sich um die Lieblingsmahlzeit handeln würde und wann der Koch endlich verkünden würde, dass es angerichtet sei. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, fast so wie Weihnachten.
Während ich mich behaglich auf einem der harten Stühle in der Mensa niedergelassen hatte, erschienen Stürmer und Echenhaus und blieben wie erstarrt stehen, sobald sie mich erblickten. Beide schauten sich erst hastig um, ob außer mir noch jemand anwesend wäre, bevor sie sich wieder mir zuwandten.
„Schon so früh auf, Brandauer?“, erkundigte Stürmer sich bei mir und warf mir einen gehässigen Blick zu. Ich wagte nicht zu antworten. Alles, was ich sagen würde, würde er als Provokation auffassen, er gab mir immer das Gefühl, ein Verräter zu sein. Und dabei hatte es so gut angefangen...
Florian Stürmer war nicht schon von vornherein bei uns gewesen, er war erst als Neuer aufgetaucht, kurz nachdem es Paul Dankoren im Internat nicht mehr gab. Sofort hatte ich registriert, was für ein hübscher Junge er war, welch sanfte Gesichtszüge er hatte und so leuchtende, warme Augen.
Doch Kontakt hatte ich noch keinen zu ihm gehabt. Erst eines Morgens, als ich in der noch bestehenden Dämmerung spazieren ging, traf ich ihn überraschenderweise im Park. Er saß auf einer Bank, in einem weichen, braunen Mantel und mit gedankenverlorenem Blick.
„Hallo“, murmelte ich zögernd, um ihn auf mich aufmerksam zu machen. Langsam drehte er sich zu mir um, mit erstaunt aufgerissenen Augen und leicht geöffneten Lippen.
In jenem Moment erkannte ich, dass er der schönste Junge der Schule war; für mich nicht so anziehend wie Artur Vessner, aber um ein wesentliches strahlender.
„Oh, wie viel Uhr ist es?“, fragte er verwirrt.
„Weiß nicht“, entgegnete ich freundlich, „Ich bin notorischer Frühaufsteher.“
„Ich auch!“, rief er und dies war für mich das Zeichen, mich zu ihm zu setzen. Wir verstanden uns sehr gut.
Schon nach wenigen Minuten hatten wir beschlossen, den Hausvater zu bitten, uns zusammen in ein Zimmer zu stecken.
„Dann stören wir immerhin keinen Langschläfer!“, bemerkte Stürmer zufrieden. Es hätte der Beginn einer wundervollen Freundschaft sein können...
Er erzählte mir in jener kühlen Morgenstunde, dass er eigentlich keine Lust gehabt hatte, auf ein Internat zu gehen, dass er lieber auf eine gemischte Schule gegangen wäre, und wenn schon, dann bitte auf ein teures Privatinternat. Aber seine Eltern hatten ihn in diese seltsame, staatliche Anlage geschickt und deswegen war er sehr böse auf sie. Ihm gefiel unsere Schule nicht, aber sein Vater hatte sie ebenfalls besucht und dort sehr gute Erinnerungen gesammelt.
Ich erzählte ihm, dass ich im Waisenhaus aufgewachsen war und auf Grund dessen zu den gänzlich mittellosen Menschen gehörte. Allerdings war meine Mutter im Waisenhaus selbst, kurz nach der Geburt, gestorben und hatte den Erziehern nicht nur die Information hinterlassen, dass mein Vater bereits tot war, sondern auch bestimmt, dass man ihr gesamtes Vermögen darauf verwenden solle, mir einen Gang zu ebendiesem Internat zu bezahlen.
„Also haben uns beide unsere Eltern gezwungen, in diesen Misthaufen zu kommen“, stellte Stürmer fest, worauf wir richtig lachen mussten.
Ich war mir sicher gewesen, dass wir uns noch an diesem Abend das Zimmer teilen durften und dort dann unsere Freundschaft vertiefen würden. Doch am späten Nachmittag lief Stürmer in einem der Gänge plötzlich auf mich zu und meinte: „Hey, Brandauer! Ich hab gesehen, wie du dich vorhin mit diesem Tinkelmann unterhalten hast und ich denke, ich muss dich warnen. Also, du weißt doch, dass er schwul ist?“
„Na, und?“, erwiderte ich unbeeindruckt, „Ich bin auch schwul.“
Ich wusste, dass ich niemals den Moment vergessen würde, wie Stürmer nach meiner Aussage reagierte. Erst weiteten sich seine Augen in unglaublichem Entsetzen, über sein Gesicht huschte eine fürchterliche Mischung aus Abscheu und einer tief sitzenden Angst. Langsam wich er einen Schritt vor mir zurück. Er schien nicht sicher zu sein, ob er sich lieber aggressiv gegen mich richten sollte oder einfach davon rennen sollte, und zwar so schnell er konnte. Also entschied er sich für einen Kompromiss.
„Das hast du mir nicht gesagt!“, rief er anklagend, „Du hast mich reingelegt!“
Dann raste er davon.