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Die ganze Londoner Gesellschaft rätselt über die überstürzte Hochzeit zwischen der hübschen Abigail Nash und dem vermögenden Jasper Brigston. Auch sein Bruder Morgan, der Marques of Brigston, wird nicht schlau aus dem Paar. Sollte eine frischgebackene Braut nicht viel mehr strahlen? Als Jasper durch einen tragischen Umstand stirbt, scheint auch der letzte Funke Freude in der ehemals so lebensfrohen Abby erloschen.
Morgan kümmert sich fortan aufopfernd um seine Schwägerin. Und zwischen den beiden entwickeln sich Gefühle, die nicht sein dürfen. Denn das Gesetz verbietet ihnen die Heirat ...
Für Leserinnen und Leser von Julia Quinn, Bridgerton und Georgette Heyer. Ein wahrer Lesegenuss für alle, die sich nach historischen Liebesromanen verzehren und in die Zeit des Regency wegträumen möchten.
"Lady Abigail und der ehrenwerte Marquess" ist der zweite Band der romantischen Regency-Reihe von USA-Today-Bestsellerautorin Rachael Anderson.
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Seitenzahl: 336
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Widmung
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Epilog
Liebe Leser*innen
Danksagung
Über Rachael Anderson
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Die ganze Londoner Gesellschaft rätselt über die überstürzte Hochzeit zwischen der hübschen Abigail Nash und dem vermögenden Jasper Brigston. Auch sein Bruder Morgan, der Marquess of Brigston, wird nicht schlau aus dem Paar. Sollte eine frischgebackene Braut nicht viel mehr strahlen? Als Jasper durch einen tragischen Umstand stirbt, scheint auch der letzte Funke Freude in der ehemals so lebensfrohen Abby erloschen.
Morgan kümmert sich fortan aufopfernd um seine Schwägerin. Und zwischen den beiden entwickeln sich Gefühle, die nicht sein dürfen. Denn das Gesetz verbietet ihnen die Heirat …
RACHAEL ANDERSON
DIELADYSVONLONDON
LADY ABIGAIL UNDDER EHRENWERTE MARQUESS
Aus dem Englischen vonFreya Rall
Für meine LieblingskinderBrighton, Kennedy, Devon & Taycee
Hab euch lieb!
Musik durchdrang den überfüllten Ballsaal und trug die Tanzenden durch die Quadrille, während die Zuschauer sich um das Parkett herum in dichten Trauben drängten – redend, lachend, an ihrem Punsch nippend und … beobachtend.
Morgan Campbell, Marquess of Brigston, beschränkte sich auf Letzteres. Er hatte sich einen Platz nahe der Tür zu einem kleinen Balkon gesucht, wo er wenigstens ab und an einen leichten Luftzug verspürte. Obgleich das zwar die Hitze im Saal erträglicher machte, konnte die geöffnete Tür mit weiteren Vorteilen nicht aufwarten. Man befand sich nun einmal nicht auf dem Lande, und die Londoner Luft hätte niemand je als frisch bezeichnen können, nicht einmal am Grosvenor Square. Dazu trabten zu viele Pferde einher, schoben sich zu viele Leiber durch die Straßen und verströmten dabei zu viele unappetitliche Gerüche.
Nur noch einen Monat, bis Morgan seine parlamentarischen Pflichten ruhen lassen und in seine Heimat zurückkehren konnte: das Küstenstädtchen Cawley in Hampshire. Die meisten Leute betrachteten das Landleben als langweilig, doch Morgan blühte dort erst richtig auf. Das Zwitschern der Vögel, die salzige Brise, der Frieden, der ihn erfüllte, wann immer er sich dort an der frischen Luft bewegte – Oakley Grange belebte ihn, wie kein anderer Ort es konnte. Es war London, das ihn ermüdete, zumindest die endlosen gesellschaftlichen Verpflichtungen. Belangloses Geschwätz war ihm zuwider. Es schrillte in seinen Ohren und bereitete ihm Kopfschmerzen.
Ein Diener bot Morgan etwas zu trinken an, doch er lehnte ab. Seine Aufmerksamkeit wandte sich dem Zentrum des Ballsaals zu, wo sein jüngerer Bruder Jasper mit einer Schönheit tanzte, wie sie im Buche stand. Ihre blauen Augen funkelten, ihr goldenes Haar glänzte, und ihr saphirfarbenes Seidenkleid schimmerte im Schein der Kristalllüster. Sie bewegte sich mit einer Anmut und Eleganz, die von einer hervorragenden Erziehung kündete.
Es überraschte ihn nicht, dass sie die Augen seines Bruders auf sich gezogen hatte. Jasper hatte es schon immer zu schönen Frauen hingezogen, besonders zu denen mit hellem Haar. »Engelsgleich« nannte er sie. Er tanzte mit ihnen, lud sie zu Ausfahrten in den Hyde Park ein und verwöhnte sie mit hübschen Blumensträußen – zumindest bis sein Interesse schwand oder er sich einem anderen blauäugigen und blond gelockten Wesen zuwandte. Nach diesem Muster ging es bereits seit Jahren, schon seit Jasper Eton verlassen hatte. Mit seinem guten Aussehen und diesem besonderen Charisma hatte er es schon immer verstanden, Frauen zu bezaubern.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte ihre Mutter Jasper gefragt, ob er auch irgendwann zur Ruhe zu kommen gedachte. Daraufhin hatte ihr jüngerer Sohn nur geschnaubt, als sei schon die bloße Vorstellung einer Heirat lachhaft, um anschließend mit Nachdruck zu bekunden, dass er nicht vorhabe, sich in absehbarer Zeit dem Ehejoch zu unterwerfen.
Und doch tanzte er nun mit seiner Ehefrau, frisch zurückgekehrt aus Gretna Green.
Seiner Ehefrau.
Jasper war schon immer ein voreiliger, impulsiver Mensch gewesen, doch diese jüngste Kapriole hatte selbst Morgan überrumpelt. Durchzubrennen nach Gretna Green? Zu welchem Zweck, und warum ausgerechnet mit diesem blauäugigen Engel und nicht mit einem der zahlreichen anderen? Noch vor zwei Monaten hatte Jasper nicht einmal von Miss Abigail Nashs Existenz gewusst.
»Einen Schilling für deine Gedanken«, erklang überraschend die leise Stimme seiner Mutter neben ihm. Er hatte sie nicht kommen sehen.
Sie wedelte sich mit einem Fächer Luft in das erhitzte Gesicht. Selbst hier an der offenen Tür wurde die Temperatur im Saal langsam unerträglich.
Morgan entging nicht, dass sich einige neue Fältchen um ihre Augen und ihren Mund, ja, sogar ein paar tiefere Runzeln auf ihrer Stirn gebildet hatten. Das Leben hatte ihr in jüngster Zeit einiges abverlangt. Seit dem Tod seines Vaters manifestierten sich die Zeichen ihres Alters zunehmend. Im Glanz der Kronleuchter entdeckte Morgan einige graue Strähnen im satten Braun ihres Haars.
Mit erhobener Augenbraue sah sie zu ihm empor und wartete geduldig auf eine Antwort.
Morgan richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die beiden Tanzenden. »Mir ging eben durch den Kopf, dass Jasper und Miss Nash ein schönes Paar abgeben.«
»Das tun sie«, stimmte sie ihm zu. »Er ist ein gut aussehender Mann und sie wirklich bezaubernd. Und aus gutem Hause noch dazu … mit einer beachtlichen Mitgift. Ihr Vater weilt zurzeit auf dem Kontinent. Ich hatte gehofft, er würde zum Ball erscheinen, aber er lässt sich entschuldigen. Zuletzt hat sie bei Lord und Lady Knave gewohnt, die ihre Einführung in die Gesellschaft begleitet haben.«
Morgan nickte – der familiäre Hintergrund seiner frischgebackenen Schwägerin war ihm längst bekannt. Er hatte es selbst auf sich genommen, ein wenig Detektivarbeit zu leisten, obgleich auch das keine Erleuchtung gebracht hatte. Wenn überhaupt, hatten seine Erkenntnisse seine Verwirrung angesichts dieser Entwicklung nur verstärkt.
»Warum Gretna Green, Mutter? Es gab keinen Grund durchzubrennen. Beide können eine exzellente Abstammung vorweisen, Jasper ist gut situiert, und sie verfügt über die bereits erwähnte beachtliche Mitgift. Weder ihre noch unsere Familie hätte irgendetwas gegen die Verbindung einzuwenden gehabt.«
»Seit wann braucht Jasper einen Grund für seine Launen?«, entgegnete Lady Brigston trocken. »Wahrscheinlich hat er eines Abends ein Glas zu viel genossen, sich einen neuen Streich überlegt und dem armen Mädchen eingeredet, Gretna Green würde ein großartiges Abenteuer abgeben.«
»Möglich.« Morgan musste zugeben, dass das die einzig sinnvolle Erklärung war, doch alles erklärte es nicht. Sein Bruder hatte die Ehe stets wie eine Falle betrachtet, und eine Heirat in Gretna Green war nichts, was man schätzte – selbst wenn es sich um einen Liebling der feinen Gesellschaft, wie Jasper einer war, handelte. Trotz seiner leichtfertigen Art hatte sein Bruder doch stets Wert auf seinen guten Ruf gelegt.
Dazu waren noch Miss Nashs Beweggründe in Betracht zu ziehen. Warum hatte sie sich auf den Plan eingelassen? Es waren keinerlei Vereinbarungen zu ihren Gunsten getroffen, keine Verträge geschlossen worden. Damit fiel nun ihre gesamte Mitgift an ihren Gatten – einen Mann, der sie auf der Rennbahn, in den Spielhöllen, in Newmarket oder bei seinem Schneider verschleudern würde. Natürlich würde Jasper auch seine Frau versorgen – herzlos war er schließlich nicht –, doch ihm fehlte jeglicher Geschäftssinn. Er würde sich nicht darum kümmern, das Geld anzulegen oder anderweitig zu vermehren. Stattdessen würde er es mit vollen Händen ausgeben, und wenn nichts mehr da war, wie es bei ihm immer irgendwann der Fall war, würde er von Morgan Nachschub erwarten.
Verflixt, würde seine Braut vielleicht ebenso töricht sein?
»Gut, dass die Saison nahezu vorüber ist«, bemerkte seine Mutter. »Im Januar wird sich kaum noch jemand dieses Fauxpas entsinnen. Einschließlich meiner Wenigkeit, hoffe ich.«
Morgan musste nicht fragen, was sie bedrückte. Der Ursprung ihrer Sorge lag vierzehn Tage zurück, als Jasper während des Dinners mit einer errötenden Miss Nash ins Speisezimmer gerauscht war. Ohne Einleitung hatte er verkündet, die reizende Frau an seiner Seite sei nun als Lady Jasper Campbell anzureden. Sie seien gerade aus Gretna Green zurückgekehrt, hatte er mit einem Lachen hinzugefügt, als hätte er bloß mit seinen Freunden einen Tag auf der Rennbahn verbracht.
Jasper hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihr Kommen anzukündigen und seine Mutter vorzuwarnen, noch hatte er irgendjemandem gegenüber angedeutet, was er im Schilde führte. Er war schlicht für einige Tage verschwunden, wie er es öfter tat, bloß dass er diesmal nicht mit Unmengen von Geschichten von seinen diversen Abenteuern und Streichen zurückgekehrt war. Diesmal hatte er eine Ehefrau mitgebracht.
Lady Brigston hatte stoisch die Fassung gewahrt, zumindest bis Jasper und Miss Nash – beziehungsweise Lady Jasper – sich für den Abend zurückgezogen hatten. Erst dann hatte sie händeringend ihren verstorbenen Gatten dafür verflucht, dass er sie mit der Aufgabe, ihres gedankenlosen Sohnes Herr zu werden, allein gelassen hatte, und sich schließlich an Morgans Schulter ausgeweint. Er hatte sie getröstet, so gut es ihm gelingen wollte, und dabei im Stillen seinen Bruder verflucht.
Irgendwann war sie zu Bett gegangen, um tags darauf – Gott sei Dank – resolut in den Frühstückssalon marschiert zu kommen und sich an die Planung eines opulenten Balls zu machen, mit dem die Heirat ihres Sohnes mit Miss Abigail Nash gefeiert werden sollte.
Und hier waren sie nun – Gastgeber des besagten Balls –, in der Hoffnung, der feinen Gesellschaftdamit zu zeigen, dass Familie Campbell sich nichts aus dem Durchbrennen der beiden machte und die ehrenwerte Lady Jasper mit offenen Armen aufnahm. Allem Anschein nach war es ein voller Erfolg. Freunde, Verwandte und Bekannte waren in Scharen gekommen. Doch es brauchte keine besondere Beobachtungsgabe, um zu erkennen, dass die meisten von ihnen nicht erschienen waren, um zu feiern. Sie waren hier, um zu spekulieren.
Warum Gretna Green? Warum Miss Abigail Nash?
Morgan konnte ihnen aus ihrer Neugier keinen Vorwurf machen – da es ihm nun einmal genauso erging.
»Sie hat nicht dieses Strahlen an sich, das man von einer frischgebackenen Braut erwarten würde«, stellte Lady Brigston fest.
Als Morgan sich das Pärchen genauer besah, wurde ihm bewusst, dass seine Mutter recht hatte. Zwar lächelte, lachte und plauderte Lady Jasper mit ihren Tanzpartnern, doch es lag auch etwas Gezwungenes in ihrer Miene. Seltsam. Ursprünglich schien sein Bruder es ihr sehr angetan zu haben.
Der Abend ihrer ersten Begegnung war Morgan noch gut im Gedächtnis. Jasper hatte darauf bestanden, sein Bruder solle ihn zu Almack’s begleiten, um Sally Jersey zu besänftigen, die es gar nicht gern sah, dass Morgan sich dort so selten blicken ließ. Jasper hatte all seine Überredungskünste aufwenden müssen – Morgan verabscheute dieses hochtrabende Umfeld –, doch am Ende hatte der Ältere sich darauf eingelassen, wenn auch nur, damit sein Bruder endlich Ruhe gab. Keine zehn Minuten nach ihrem Eintreffen hatte Jasper Miss Nash erspäht, Sally angefleht, sie einander vorzustellen, und mit ihr den ersten Walzer des Abends getanzt.
In jenem Augenblick hatte Miss Nash tatsächlich gestrahlt, ebenso wie später am Abend, als Jasper sie um einen zweiten Tanz gebeten hatte. Einige Tage darauf war sie zart errötet, als Jasper sich bei Lady Mosleys Hauskonzert über ihre Hand gebeugt hatte, und eine Woche später bei einer Ausfahrt im Hyde Park hatte sie selig gelächelt, als Morgan dem glücklichen Paar begegnet war.
Doch wenn man sie nun betrachtete, war da kein Glanz um sie. Stattdessen wirkte die junge Frau, als wäre sie in Gedanken bei einer fernen, unangenehmen Erinnerung. Sie verbarg es gut – Morgan bezweifelte, dass es sonst jemandem aufgefallen war –, doch nun, da seine Mutter ihn darauf hingewiesen hatte, sah er es deutlich.
Wahrscheinlich hatte sie die Oberflächlichkeit hinter dem Charme ihres Gatten entdeckt und bereute nun ihr impulsives Handeln. Vielleicht trauerte sie auch der rauschenden Hochzeit nach, die sie nun niemals feiern würde. Zu Beginn mochte es nach einem aufregenden Abenteuer geklungen haben, nach Gretna Green durchzubrennen, doch mittlerweile musste der Reiz des Ganzen deutlich nachgelassen haben.
Morgan schüttelte den Kopf. Eine Heirat nach so kurzer Bekanntschaft – und dann auch noch in Gretna Green?
Welch eine Torheit.
»Vielleicht ist sie müde«, sinnierte seine Mutter, doch ihr Stirnrunzeln strafte die Worte Lügen.
»Das muss es sein«, pflichtete Morgan ihr trotzdem bei und hoffte, ihre Sorgen auf diese Weise wenigstens ein bisschen zu besänftigen. Seit dem Tod seines Vaters lasteten genug andere Bürden auf den Schultern seiner Mutter. Da brauchte sie nicht auch noch die Befürchtung, ihr jüngerer Sohn könnte sich in ein furchtbares Dilemma hineinmanövriert haben – besonders jetzt nicht, da ohnehin nichts mehr daran zu ändern war. Lord und Lady Jasper hatten ihre Entscheidung gefällt. Nun blieb der Familie nur noch übrig, gute Miene zu machen, diesen Glückwunschball auszurichten und ihre neue Tochter und Schwester willkommen zu heißen, so gut es ihnen gelang.
»Sie macht einen liebenswürdigen Eindruck«, äußerte seine Mutter.
»Ja.«
»Und sie hat etwas Intelligentes an sich. Vielleicht bringt sie ihn ein wenig zur Ruhe.«
Darauf hatte Morgan nichts zu erwidern. Wenn die einstige Miss Nash sich von Jasper zum Durchbrennen hatte überreden lassen, wie gefestigt und intelligent konnte sie schon sein? Allem Anschein nach glichen die beiden sich sehr – gut aussehend, impulsiv und … töricht.
Nun richtete Lady Brigston ihren scharfsinnigen Blick auf Morgan, der das so gar nicht schätzte. Nach einer Weile seufzte sie. »Wenigstens hat Jasper endlich geheiratet. Ich war mir nicht sicher, ob es je dazu kommen würde. Warum tanzt du nicht, mein Junge?«
»Die Quadrille ist für mich ein ermüdender Tanz.«
»Ebenso wie der Cotillon?«, hakte sie nach, in deutlichem Bezug auf den Tanz vor der Quadrille, den er ebenfalls ausgelassen hatte.
»Ja.«
»Es muss doch wenigstens eine junge Dame hier dein Interesse wecken.«
Nur mit Mühe hielt Morgan sich davon ab, die Augen zu verdrehen. Dieses Gespräch hatten sie schon öfter geführt. »Zu Beginn der Saison habe ich mich wirklich bemüht, das weißt du. Ich habe mit zahlreichen jungen Damen getanzt, mehreren meine Aufwartung gemacht und einige sogar zu einer Ausfahrt eingeladen.«
»Das ist mir durchaus bewusst«, entgegnete sie.
»Dann dürfte dir auch bewusst sein, dass keine von ihnen es mir besonders angetan hat.«
»Vielleicht wäre es einer gelungen, hättest du ihr eine ernsthafte Chance gegeben.«
Morgan stieß sich von der Wand ab, um dieser Diskussion über sein Verhalten zu entfliehen. Während sein Blick über die Menge schweifte, fingerte er abwesend an seinen Manschetten herum und blieb schließlich an Miss Parker und ihren schelmisch blitzenden Augen hängen. Ein Schmunzeln verhieß einen unterhaltsamen Flirt und ermunterte ihn, zu ihr zu gehen.
»Vielleicht stellt sich Miss Parker für den nächsten Tanz zur Verfügung. Würde das deine Zustimmung finden, Mutter?« Dabei wusste Morgan genau, dass dem nicht so war. Der verwitwete Vater der jungen Damen hatte versucht, Lady Brigston zu umwerben, während sie noch Halbtrauer getragen hatte, und diese Impertinenz hatte sie ihm noch nicht verziehen.
»Nun bestrafst du mich«, warf sie ihm ärgerlich vor.
»Nein, ich rufe dir nur ins Gedächtnis, warum ich mich noch nicht für eine Braut entschieden habe. Miss Parker ist die interessanteste Debütantin, der ich in dieser Saison begegnet bin.«
»Papperlapapp.«
Morgan zog seine Handschuhe zurecht und senkte die Stimme zu einem Raunen: »Es war nicht sie, die versucht hat, dir den Hof zu machen, Mutter. Es war ihr Vater.«
»Auf ihre Ermunterung hin, zumindest hat man mir das berichtet.«
Er hob eine Augenbraue. »Du hast doch noch nie etwas auf derlei Geschwätz gegeben.«
»Es ist kein Geschwätz, wenn es aus dem Munde einer engen Freundin stammt, die nicht zur Übertreibung neigt.«
Morgan verzichtete auf den Hinweis, wie jung und schön seine Mutter noch immer war. Da war es nur natürlich, dass ein Mann wie Mr Parker ihr den Hof machen wollte. Nun gut, damit hätte er tatsächlich warten sollen, bis ihre Trauerzeit vorüber war, doch es gab Schlimmeres.
»Warum sollte Miss Parker ihren Vater ermuntern, dich zu umwerben?«, fragte Morgan.
Der Blick, mit dem seine Mutter ihn nun bedachte, ließ deutlich erkennen, dass er das selbst wissen sollte. »Ist das nicht offensichtlich? Sollte ich ihren Vater heiraten, wäre diese junge Dame in einer weit besseren Position, dich in ihre Fänge zu bekommen. Es ist kein Geheimnis, dass sie ein Auge auf dich geworfen hat. Den ganzen Abend späht sie schon zu dir herüber.«
Morgan sah noch einmal zu Miss Parker. Sobald ihre Blicke sich trafen, trat ein kokettes Funkeln in ihre Augen, bloß dass ihr Lächeln nun eher durchtrieben als schelmisch wirkte.
Plötzlich fühlte Morgan sich von seiner Halsbinde eingeengt und rückte unbehaglich daran nestelnd näher zur Tür.
»Ha, siehst du?«, kommentierte Lady Brigston in amüsiertem Tonfall. »Du willst dich ebenso wenig einwickeln lassen wie ich.«
Morgan zwang sich, die Hand sinken zu lassen, und verfluchte den scharfen Blick seiner Mutter. Mit jeder Saison fühlte der ganze Heiratszirkus sich mehr an wie ein taktisches Spiel, in dem Mütter und Töchter mit raffinierten Winkelzügen seine Abwehr zu durchbrechen und ihn in die Ecke zu treiben versuchten. Es war nervtötend. Er wollte keine hinterlistige Ränkeschmiedin heiraten. Er wollte eine Frau, die echt war. Der er vertrauen konnte. Die seine Gesellschaft ebenso genoss wie er die ihre.
Vor Miss Parker musste er allerdings den Hut ziehen. Sie war deutlich subtiler vorgegangen als die anderen. Bis eben hatte Morgan sie als nichts weiter denn eine unterhaltsame Tanzpartnerin betrachtet. Nun wusste er es besser.
Die Quadrille kam zum Ende, und Morgan traf eine Blitzentscheidung. »Vielleicht bitte ich lieber meine neue Schwägerin um einen Tanz.«
»Wie feige von dir«, neckte ihn seine Mutter.
»Nicht feige. Wohlüberlegt«, konterte er, ehe er sich aufmachte, wenigstens die Hand einer Frau zu beanspruchen, die ihn nicht in ihr Netz treiben wollte. Wie Miss Nash das allerdings bei seinem Bruder gelungen war, blieb die große Frage.
Zeitgleich mit ihm kamen auch Lord und Lady Knave auf Lady Jasper zu. Die beiden waren ein attraktives Paar, das selbst einiges Getuschel hatte erdulden müssen – Lady Knave soll ihrer Schwester den Verlobten ausgespannt haben. Oder hatte Lord Knave die jüngere der Gifford-Schwestern geheiratet, weil die ältere ihn verschmäht hatte? Was nun eher der Wahrheit entsprach, wusste Morgan nicht, noch interessierte es ihn. Wie auch immer ihre Verbindung zustande gekommen war: Es schien eine glückliche Ehe zu sein. Er wollte bloß wissen, warum sie die junge Frau in ihrer Obhut nicht besser im Auge behalten hatten.
»Lord und Lady Knave.« Nacheinander nickte Morgan den beiden zu. »Wie ich sehe, sind Sie mit meiner neuen Schwägerin bereits bekannt.«
Lady Knave hakte sich bei Lady Jasper unter. »Ihr Bruder hat mir meine beste Freundin entführt, Sir, und ich kann mich nicht entscheiden, ob ich darüber nun glücklich oder wütend sein soll.«
»Diese Wirkung hat Jasper wohl leider auf die meisten Menschen«, entgegnete Morgan trocken.
Jasper nahm die Hand seiner Gattin und führte sie an seine Lippen. »Sie können ganz beruhigt glücklich sein, Lady Knave. Ich vergöttere diese Frau und konnte keinen Tag länger warten, sie zu der Meinen zu machen. Welch ein Glückspilz ich doch bin, dass sie sich darauf eingelassen hat.«
Lady Jasper stieg eine bezaubernde Röte in die Wangen. »Der Glückspilz bin ich, Mylord.« Es war keinerlei Ironie aus ihrem Tonfall herauszuhören, doch zugleich lag eine gewisse Zögerlichkeit darin. Als meine sie die Worte ernst und irgendwie auch wieder nicht.
Wie überaus seltsam.
»Lord Brigston, wenn Sie gekommen sind, um Lady Jasper um einen Tanz zu bitten, sind Sie zu spät«, unterbrach Lady Knave seine Gedanken. »Für das Menuett hat mein Gatte sich bereits ihre Hand gesichert.«
Das schien sowohl ihren Gatten als auch Lady Jasper zu überraschen, die ihre Verwunderung jedoch sofort hinter einem Lächeln verbargen.
Jasper bemerkte davon offenbar nichts. Gutmütig nahm er die Nachricht auf, indem er die Hand seiner Gattin besitzergreifend in seine Armbeuge legte. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich von meiner Liebsten trennen kann, selbst wenn Sie es sind, Lord Knave. Musst du unbedingt mit ihm tanzen, meine Liebe?« In seinen Augen lag ein Funkeln, als er zu ihr hinuntersah. Sie war einen Kopf kleiner als er, was bedeutete, dass Morgan ihr nur einen halben Kopf voraushätte. Sein Bruder hatte schon immer die »raumgreifendere« Persönlichkeit besessen, und irgendwann in ihrer Jugend hatte er Morgan auch körperlich überholt.
»Es ist nicht en vogue, für seine eigene Frau zu schwärmen, Mylord«, sagte Lady Jasper.
»Durchzubrennen ist auch nicht en vogue, und doch stehen wir nun hier, frisch zurück aus Gretna Green.«
»Ein weiterer Grund, den Klatschmäulern nicht noch mehr Munition zu liefern.« Sanft löste sie sich von ihm und knickste vor Lord Knave. »Es wäre mir eine Ehre, mit Ihnen zu tanzen, Mylord.«
»Früher hast du mich noch Knave genannt«, bemerkte der, als er ihr seinen Arm reichte.
Ihr Lächeln wirkte müde. »Entschuldige, Knave. Ich bin heute Abend nicht ganz bei mir.«
»Würdest du dich für diesen Tanz lieber ausruhen? Du siehst ein wenig blass aus.« Besorgt runzelte er die Stirn.
»Und mir die Gelegenheit entgehen lassen, mit einem hochgeschätzten Freund zu tanzen? Sicher nicht.«
Morgan behielt die beiden im Auge, als sie in Richtung Tanzfläche gingen. Er konnte nicht leugnen, dass seine Schwägerin an der Seite von Lord Knave eine anmutige Figur machte. Der verlockende Schwung ihrer Hüften, ihre aufrechte Haltung und der elegante Bogen ihres Halses würden wohl die meisten Männer reizen. Um seines Bruders willen hoffte Morgan, dass sie mehr mitbrachte als bloß Schönheit.
»Lord Jasper«, zog Lady Knave die Aufmerksamkeit seines Bruders – und die von Morgan – zurück auf sich. »Wären Sie wohl so freundlich, mir einen Punsch zu kredenzen? Mir ist plötzlich die Kehle so trocken.«
»Ihr Wunsch ist mir Befehl.« Galant verbeugte Jasper sich und entschuldigte sich.
Sobald er außer Hörweite war, trat Lady Knave zu Morgan und fasste ihn beim Arm. »Lord Brigston, ich habe Sie heute Abend viel beobachtet und bin zu dem Schluss gekommen, dass diese überstürzte Heirat Sie ebenso verwirrt und besorgt wie mich. Liege ich richtig mit meiner Einschätzung?«
Er zögerte nur kurz, ehe er zugab: »Ja, durchaus.«
Sie nickte. »Ich versichere Ihnen, wir hatten keinen Schimmer davon, dass die beiden miteinander durchbrennen wollten. Lord Jasper hatte einen gemeinsamen Besuch des Feuerwerks in den Vauxhall Gardens in großer Runde arrangiert, und wir waren davon ausgegangen, dass ihr Ruf bei ihm sicher wäre. Erst am folgenden Morgen hat er uns über ihr wahres Ziel informiert. Zu dem Zeitpunkt war es zu meinem Leidwesen schon zu spät, die Verfolgung aufzunehmen.« Stirnrunzelnd warf sie einen Blick zu Jasper hinüber, der stehen geblieben war, um sich mit einer älteren Dame zu unterhalten. »Ich kenne Ihren Bruder nicht besonders gut, aber er scheint mir ein anständiger Mensch zu sein. Bitte sagen Sie mir, dass ich auch in dieser Annahme rechtgehe.«
So unverblümt hatte noch nie eine Frau mit Morgan gesprochen, die er kaum kannte. So erfrischend diese Ehrlichkeit im Gegensatz zu all dem aufgesetzten Gehabe der feinen Gesellschaftauch sein mochte, brachte sie ihn doch in Verlegenheit.
»Was führt Sie zu der Annahme, dass Sie meinem Urteil vertrauen können, Lady Knave?«, entgegnete er.
Sie hielt seinen Blick fest. »Meinem Schwiegervater zufolge vertreten Sie Ihre Ansichten im Oberhaus klar und intelligent. Ich hoffe, mit mir werden Sie ebenso verfahren.«
Ihnen blieben nur wenige Augenblicke, ehe Jasper zurückkehren würde, doch Morgan wusste nicht, was er ihr antworten sollte. Er konnte seinen Bruder wohl kaum als Narren bezeichnen, doch lügen wollte er auch nicht.
Folglich wählte er seine nächsten Worte mit Bedacht. »Jasper ist impulsiv, bisweilen gedankenlos, und zieht es vor, im Hier und Jetzt zu leben, ohne sich groß mit den Konsequenzen seines Tuns zu befassen. Dafür ist er stets frohgemut, und er hat ein gutes Herz. Ich glaube, er wird einen bewundernswerten Gatten für Ihre Freundin abgeben.« Das konnte Morgan nur hoffen. Jasper hatte durchaus das Zeug zu einem guten Ehemann, wenn er sich in diese Rolle einzufinden beschlösse.
Langsam nickte Lady Knave, während sie seine Antwort überdachte. Schließlich schien sie mit dem Gesagten zufrieden zu sein. »Ich danke Ihnen für Ihre Ehrlichkeit, Lord Brigston. Mir war bekannt, dass Ihr Bruder es Abby durchaus angetan hatte, doch was sie zu einer derart überstürzten Heirat bewogen hat, ist mir schleierhaft. Wie sie eben schon sagte, ist sie seit ihrer Rückkehr nicht ganz sie selbst, nicht einmal mir gegenüber. Es herrscht eine gewisse Distanz zwischen uns, die es zuvor nie gab, und ich verstehe nicht, was der Grund sein könnte.«
»Ich wünschte, ich könnte Ihnen da weiterhelfen, Mylady.«
Stirnrunzelnd zupfte sie an den Fingerspitzen ihrer Handschuhe. »Nun, was geschehen ist, ist geschehen, und es nimmt mir eine Last von der Seele zu wissen, dass sie einen guten Mann geheiratet hat. Ich hoffe, die beiden werden glücklich miteinander, das hoffe ich wirklich.« Sie presste die Lippen aufeinander, ehe sie hinzusetzte: »Ich kann sie nicht zwingen, sich mir anzuvertrauen, doch sollte sie irgendwann die Hilfe einer Freundin brauchen, seien Sie versichert, dass ich augenblicklich zur Stelle wäre.«
»Das glaube ich Ihnen«, antwortete Morgan, beeindruckt von ihrer Scharfsichtigkeit und Fürsorglichkeit. Lady Jasper musste zumindest einige Qualitäten an sich haben, die für sie sprachen, wenn sie eine so hingebungsvolle und loyale Freundin ihr Eigen nennen konnte. Jaspers Freunde waren definitiv nicht von solchem Kaliber.
Da Lady Knave noch immer an ihren Handschuhen herumnestelte, berührte Morgan sie tröstend an der Schulter. »Ich bin mir sicher, Ihre Sorge ist unbegründet, Mylady.«
»Dafür kann ich nur beten«, murmelte sie.
Als Sekunden später Jasper mit dem von ihr gewünschten Glas Punsch erschien, verschwanden jegliche Sorgenfalten um ihre Augen wie von Zauberhand und sie empfing ihn mit einem gewinnenden Lächeln. »Sehr gütig von Ihnen, Sir. Und so schnell.«
»Eine so reizende Dame würde ich niemals warten lassen, schon gar nicht in diesem stickigen Saal.« Er fächelte sich mit einer Hand Luft zu. »Bin ich der Einzige, der es hier unerhört warm findet?«
Lady Knave nippte an ihrem Getränk. »Ich hoffe, es ist Ihnen nicht zu warm zum Tanzen, Lord Jasper. Mir ist zu Ohren gekommen, Sie seien ein … bewundernswerter Partner.« Dabei warf sie Morgan einen bedeutungsvollen Blick zu, ehe sie seinem Bruder gegenüber ihre Grübchen aufblitzen ließ.
Jasper nahm ihr das halb leere Glas ab und reichte es einem zufällig vorübergehenden Diener. »Wenn Morgan Ihnen den Eindruck vermittelt hat, meine Tanzkünste seien bloß bewundernswert, dann hat er Sie in die Irre geführt. Sie werden in diesem Saal keinen zweiten Mann finden, der die Schritte des Menuetts mit solcher Geschicklichkeit und Finesse auszuführen weiß wie ich.«
Mit erheitert funkelnden Augen nahm sie den ihr dargebotenen Arm. »Das werden wir ja sehen, Mylord.«
Als die beiden davongingen, konnte auch Morgan ein Lächeln nicht unterdrücken. Irgendetwas ließ ihn ahnen, dass sein Bruder mit Lady Knave keine Belanglosigkeiten austauschen würde. Sie hatte es sich zur Mission gemacht, sich zu vergewissern, dass ihre Freundin gut aufgehoben war, und Morgan hätte viel Geld darauf gesetzt, dass seinem Bruder eine eingehende Befragung und Beurteilung bevorstand. Womöglich gar eine ermahnende Belehrung.
Nun, niemand hätte es mehr verdient.
Zwei Monate später
Auf ein Klopfen hin schaute Morgan von den Kontenbüchern des Anwesens auf. Er warf einen raschen Blick auf seinen Verwalter, Mr Decker, der ihm gegenübersaß. Ein klein gewachsener, recht verhärmter Mann, der kaum je lächelte, seine Pflichten jedoch hervorragend erfüllte. Auf seinen weisen Rat verließ Morgan sich seit dem Tod seines Vaters sehr.
»Herein«, rief Morgan.
Die Tür ging auf und Smithson, sein Butler, kam herein. Durch die eindrucksvolle Körpergröße des Mannes wirkte der Raum plötzlich kleiner. Da er sich für gewöhnlich hüten würde, seinen Dienstherrn bei einem Geschäftstermin zu stören, musste er einen wichtigen Grund für die Unterbrechung haben.
»Was gibt es, Smithson?«, fragte Morgan.
»Verzeihen Sie die Störung, Mylord, aber Ihre Mutter bat mich, Sie in den Salon zu rufen. Lord und Lady Jasper sind eingetroffen.«
Diese Nachricht musste Morgan einen Moment lang verdauen. Jasper? Hier? Jetzt?
Weshalb?
Sein Bruder verabscheute Oakley Grange. Im dörflichen Cawley war die adlige Gesellschaft überschaubar und ließ Jasper zufolge sehr zu wünschen übrig. Während der Saison zog er das bunte Treiben Londons vor und verbrachte den Rest des Jahres in Brighton und auf diverse Hausgesellschaften. In den vergangenen fünf Jahren war Jasper ganze zweimal nach Oakley Grange zurückgekehrt. Einmal, um eine Jagdgesellschaft auszurichten, und das andere Mal zur Beerdigung ihres Vaters. Nicht dass Morgan sich darüber hätte beschweren wollen. Nur zu oft brachte Jaspers Anwesenheit die geregelten Abläufe seines Lebens durcheinander, und während er sich in London seinem Bruder gegenüber in Geduld übte, zog er es auf Oakley vor, in Frieden gelassen zu werden.
»Hat mein Bruder erwähnt, wie lange er zu bleiben beabsichtigt?« Morgan wusste, dass man von ihm erwarten würde, seinen Bruder zu unterhalten, mit der Familie zu speisen und kostbare Stunden mit gesellschaftlichem Umgang zu vergeuden. Er hatte weder die Zeit noch das Verlangen, sich derlei Aktivitäten zu unterziehen.
»Nein, Mylord«, antwortete der Butler, »aber sie führen mehrere Truhen Gepäck mit sich.«
Mit anderen Worten: Sie waren auf einen längeren Aufenthalt eingestellt. Verflucht.
Morgan erhob sich und ging zum Fenster, um auf den westlichen Teil seiner Ländereien hinauszublicken. Es gab viel zu tun in den kommenden Monaten – und so wenig Zeit dafür. Kurz nachdem sein Vater verstorben war und er den Titel des Marquess of Brigston geerbt hatte, war Morgan zu dem Schluss gekommen, dass es höchste Zeit war, die langen, schmalen Flurstreifen zu größeren Einheiten zusammenzufassen und jene Felder durch Weißdornhecken und kleine Gehölze voneinander abzugrenzen. So war bereits mit vielen anderen Anwesen verfahren worden, und die Besitzer hatten daraus immense Vorteile gezogen. Auf diese Weise wäre die Bewirtschaftung der Flächen effizienter, und es gäbe eigens für die Viehbeweidung vorgesehene Flächen – eine weitere Investition, die Morgan in naher Zukunft anzugehen beabsichtigte.
Leider erforderten seine Pläne einen bedeutenden Aufwand an Kapital und Zeit – Letzteres sehr zum Missfallen seiner Mutter. Erst gestern hatte sie ihm wieder vorgeworfen, sich zu sehr in seine neue Rolle hineinzustürzen und dabei ebenso wichtige Pflichten aus den Augen zu verlieren: beispielsweise, eine Partnerin zu finden und eine Familie zu gründen. Doch Morgan verspürte noch kein Interesse daran, eine Frau zu umwerben oder gar zu heiraten. Er war daran interessiert, das Familienerbe zu sanieren und es so schnell wie nur irgend möglich ins neunzehnte Jahrhundert zu überführen.
Doch nun, da Jasper hier war, begannen sich Morgans Hoffnungen, seine Vorhaben vor der nächsten Sitzungsperiode des Parlaments in die Tat umzusetzen, in Luft aufzulösen.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er allzu lange bleiben wird«, setzte Smithson hinzu – vermutlich, da er die Frustration in der Miene seines Dienstherrn sah. »Ihr Bruder verweilt nicht gern auf dem Land.«
»Es sei denn, er hat ein paar seiner Kumpanen auf eine Hausgesellschaft eingeladen«, murmelte Morgan in sich hinein und betete, dass ihm das erspart bleiben möge. Er wandte sich vom Fenster ab und sah ein letztes Mal auf seine Bücher, wünschte, er könnte seinen Bruder ignorieren und sich wieder an die Arbeit machen. Doch das würde seine Mutter ihm nie verzeihen.
Morgan seufzte. »Mr Decker, wie es scheint, müssen wir unsere Sitzung auf ein anderes Mal verschieben. Bitte entschuldigen Sie mich.«
»Aber natürlich, Mylord.«
Morgan trat auf den Korridor und folgte dem Klang der Stimmen zum Salon. Sein Bruder war dabei, eine Geschichte zu erzählen, vermutlich ein Ereignis von der Reise nach Oakley. Jasper hatte immer eine Geschichte zu erzählen.
Vor der Tür hielt Morgan inne und wartete darauf, dass sein Bruder zum Ende kam.
»… hat uns eine Herde Kühe den Weg versperrt und das Weiterkommen unmöglich gemacht. Unser Kutscher hat gerufen und mit den Armen gewedelt, doch ohne Erfolg. Die sturen Biester wollten sich nicht rühren. Während ich mich also auf die Suche nach einem hübschen Fleckchen unter ein paar Bäumen machte, wo Lady Jasper und ich die Wartezeit angenehmer als in der Kutsche hätten verbringen können, hatte sie andere Pläne. Sie besorgte sich einen langen Ast und machte sich daran, diesen vermaledeiten Kühen die Hinterteile zu versohlen und ihnen zuzurufen, sie mögen das Weite suchen.« Jasper kicherte. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich eine so resolute Frau geehelicht hatte, aber ob du es glaubst oder nicht: Die Biester haben sich tatsächlich in Bewegung gesetzt. Selbst unser Kutscher konnte sein Erstaunen nicht verbergen. In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nicht so köstlich unterhalten gefühlt.«
»Grundgütiger«, erklang die Stimme von Lady Brigston, die eher schockiert als erheitert klang.
Morgan unterdrückte sein Lächeln und betrat den Raum, um sich mit einem Räuspern bemerkbar zu machen.
»Da bist du ja, Morgan.« Seine Mutter warf ihm einen dankbaren Blick zu. »Sieh nur, wer hier ist. Ist das nicht wundervoll?«
»Ja.« Er nickte den Neuankömmlingen zu.
Jasper war ganz der gepflegte Gentleman, doch die Haube seiner Gattin war leicht verrutscht, aus ihrer Frisur hatten sich einige Strähnen gelöst, und der Saum ihres staubigen blauen Rocks wies einige Schlammspritzer auf. Offenbar war es den Kühen gelungen, es ihr wenigstens ein bisschen heimzuzahlen.
»Herzlich willkommen, Jasper und … Lady Jasper.« Morgan war sich nicht sicher, ob er sich je an diesen Namen gewöhnen würde.
»Bitte nennen Sie mich Abby«, sagte sie flehend. »Schließlich sind wir jetzt Bruder und Schwester. Da würde ich auf derlei Förmlichkeiten lieber verzichten.«
Jasper nahm besitzergreifend ihre Hand und lächelte schelmisch. »Mir hat sie dieselbe Bitte angetragen, aber ich weigere mich standhaft. Sie ist durch und durch eine Lady, und mit einem geringeren Titel kann ich sie nicht ansprechen.«
»Eine viehtreibende Lady?«, entgegnete sie ironisch. »So etwas ist mir ja noch nie zu Ohren gekommen.«
Nun musste Morgan lachen, maskierte den Laut jedoch hastig mit einem Husten. Es mochte sein, dass er seine Schwägerin noch nicht besonders gut kannte, doch es gefiel ihm, dass sie sich – und ihren neuen Titel – nicht allzu ernst nahm.
Jasper drückte einen Kuss auf ihre Finger. »Nur eine Lady würde so die Initiative ergreifen wie du, meine Liebe. Ich war zutiefst beeindruckt.«
»Nun übertreibst du aber.« Ihr stieg eine leichte Röte in die Wangen und sie verlagerte unbehaglich ihr Gewicht. »Was mich zum Handeln bewegt hat, war reine Ungeduld. Ich hatte keine Lust, auf der Wiese zu hocken und einfach abzuwarten.«
Morgan wäre es ähnlich gegangen. Im ersten Moment mochte es romantisch erscheinen, unter einem Baum zu verweilen, doch in Wahrheit wären der Boden uneben und hart, das Gras kratzig und die Insekten nervtötend gewesen. Er allerdings hätte – statt mit einem Stock den Tieren zu nahe zu treten – eins der Zugpferde losgemacht, sich die Peitsche des Kutschers ausgeborgt und die Herde vom Rücken des hochgewachsenen Tieres aus zum Weiterziehen ermuntert.
»Hatten Sie denn keine Angst, zu Tode getrampelt zu werden?«, fragte Lady Brigston.
Abby schüttelte den Kopf. »Mein Vater besaß eine Rinderherde, deshalb habe ich mich an die Tiere gewöhnt. Bisweilen durfte ich unseren Viehhüter begleiten, wenn er etwas auf den Weiden zu begutachten hatte. Das hat mir immer großes Vergnügen bereitet.«
Lady Brigstons Augen wurden mit jeder Sekunde größer. »Ihr Vater hat Ihnen gestattet, mit dem Gesinde das Vieh zusammenzutreiben?«
Nun errötete Abby wirklich und sah aus, als bereute sie ihre offenen Worte. »Äh … nein. Nicht direkt. Er war oft geschäftlich unterwegs und … Nun, sagen wir, wovon er nichts wusste, dafür konnte er mich auch nicht maßregeln.«
Jasper lachte, während ihre Mutter ihr Erstaunen hinter einem gequälten Lächeln zu verbergen suchte. Sie war schon immer sehr auf Regeln und Konventionen bedacht gewesen. Hätte sie je eine Tochter zur Welt gebracht, hätte ein Nachmittag auf der Kuhweide sicher nicht zur Diskussion gestanden, dessen war Morgan sich sicher.
Abby nestelte an ihren ledernen Reisehandschuhen herum, die sie mittlerweile auf dem Schoß hielt. Da Jasper das Unbehagen seiner Frau völlig zu entgehen schien, bemühte Morgan sich, sie zu beruhigen.
»Eines Tages würde ich mich gern einmal mit Ihrem Vater unterhalten, Abby. Ich denke selbst darüber nach, in ein paar Rinder zu investieren, und würde mich freuen, einmal seine Ansichten zu dem Thema zu hören. Hat das Geschäft sich für ihn als erfolgreich erwiesen, wissen Sie das?«
Ihre Miene hellte sich ein wenig auf. »Ich meine, das hat es durchaus. Über derlei Dinge hat er kaum mit mir gesprochen, aber er muss es als lohnenswert betrachtet haben, denn zu keinem Zeitpunkt hat er auf Rinder verzichtet. Wenn Sie möchten, kann ich ihm gern in Ihrem Namen schreiben, Lord Brigston.«
»Wenn ich Sie Abby nennen soll, müssen Sie mich Brigston nennen. Ich würde auch lieber auf Förmlichkeiten verzichten. Und ja, für ein solches Schreiben wäre ich Ihnen sehr verbunden.«
Jasper lehnte sich auf dem Sofa zurück und streckte die Arme, als langweilte er sich.
»Wenn Sie Ihre Fragen zu Papier bringen«, bot Abby an, »könnte ich sie meinem Schreiben gleich beilegen.«
»Vielen Dank. Verraten Sie mir: Hat er auch Bullen gehalten?«
Sie nickte, und einige weitere Locken krochen unter ihrer Haube hervor. Rasch schob sie sich die vorwitzigen Strähnen hinters Ohr und verzog dabei schon das Gesicht. »Zu meinem Leidwesen, ja. Kühe mögen gutmütige Tiere sein, aber Bullen sind es nicht. Einmal, als ich noch ein junges Mädchen war, ist einer auf mich losgestürmt und ich musste hektisch unter dem Zaun hindurchkriechen, um mich vor dem Ungeheuer zu retten. Noch heute sehe ich den grausamen Glanz in seinen schwarzen Augen.«
Ihre Worte mussten Jaspers Interesse geweckt haben, denn er wandte sich der Unterhaltung wieder zu. »Ich bin überzeugt, in solche Kreaturen würde mein Bruder niemals investieren, meine Liebe, zumindest nicht, solange du auf Oakley weilst.«
Nun übertrieb Jasper es aber wirklich mit der Schmeichelei, selbst für seine Verhältnisse. Nur mit Mühe hielt Morgan sich davon ab, die Augen zu verdrehen. »Noch habe ich keine konkreten Pläne, eigenes Vieh zu erwerben, aber wenn es so weit ist, wird ein Bulle leider ein unvermeidliches Übel sein. Ohne lassen die Tiere sich schlecht züchten.«
»Morgan, wie kannst du in Gegenwart einer Dame von derlei Dingen sprechen?«, tadelte ihn seine Mutter.
Und möglicherweise hätte er sogar ein wenig Reue empfunden, hätte er nicht gesehen, wie Abby rasch den Kopf senkte, um ein Lächeln zu verbergen. Gut. Nun war sie nicht mehr die Einzige, die für Empörung gesorgt hatte.
»Verzeiht, Mutter und Abby.«
»Und was ist mit mir?«, neckte ihn Jasper. »Sollte dir nicht auch mein Zartgefühl etwas bedeuten?«
»Das kann ich nicht behaupten«, gab Morgan zurück.
Jasper wischte sich etwas Staub von der Hose und bedachte seine Braut mit einem traurigen Kopfschütteln. »Siehst du nun, welchen Qualen ich hier ausgesetzt bin? Morgan war schon immer ein gefühlloser Bruder. Wäre ich nicht mit einer so engelsgleichen Mutter gesegnet, hätte es mich zweifellos ins Elend getrieben.«
Morgan nickte zustimmend. »Ohne Mutters Einfluss säßest du vermutlich für den Pferdediebstahl bei den Carthrights im Gefängnis – oder dafür, dass du Danny Jones weismachen wolltest, Eichensaft sei Honig.«
Jaspers schadenfrohem Lächeln war anzusehen, dass er stolz war auf diese Missetaten. »Das Pferd habe ich mir nur geliehen, und den Eichensaft hat Danny sich verdient, da er meine Treibholzburg unten am Strand eingerissen hatte.«
»Du meinst die Treibholzburg, die Vater und ich unten am Strand errichtet hatten?«, erkundigte Morgan sich trocken. »Ach, Augenblick, das eine Stück Holz hattest du selbst hingeschleppt, nicht wahr? Als Sitzplatz, von dem aus du uns bei der Arbeit zusehen konntest.«
Mit schief gelegtem Kopf sah Jasper wieder seine Frau an. »Mein Bruder hat ein furchtbar schlechtes Gedächtnis.«
»Und du überschätzt deine Qualitäten maßlos«, sagte Morgan.
»Himmel, hilf«, warf Lady Brigston ein. »Wollt ihr, dass Abby euch beide für Strolche hält?« Dabei versuchte sie, ihre Erheiterung hinter einer strafenden Miene zu verbergen, scheiterte allerdings. Es war unverkennbar, dass sie den Schlagabtausch genoss – vermutlich weil es ein so seltenes Ereignis war. Obgleich die Brüder einander einmal nahegestanden hatten, war mit den Jahren eine wachsende Kluft zwischen ihnen aufgekommen. Morgan hatte stetig mehr Verantwortung übernommen, während Jasper herumgetändelt und sich um niemandes Bedürfnisse außer seinen eigenen geschert hatte.
Es hatte seinen Grund, dass die Brüder einander kaum noch etwas zu sagen hatten.
»Abby, wer hat Sie betreut, wenn Ihr Vater unterwegs war?«, erkundigte sich Lady Brigston – zweifellos, um ihre Schwiegertochter wieder in die Unterhaltung miteinzubeziehen.
»Meine Großtante Josephine. Sie war schon älter und … neigte zu ausgiebigen Nickerchen.«