31,99 €
Zwei Gruppen, die sich nicht kennen, und ein Taxi, das beide für sich beanspruchen. Kurze Zeit später liegt ein Mann schwer verletzt auf dem Boden, ein anderer hat mit voller Wucht auf ihn eingetreten. Später heißt es von dem Täter: »Das passt gar nicht zu ihm.« Auf der Basis von Polizei- und Gerichtsakten rekonstruiert Tobias Hauffe vier Fälle versuchten Totschlags im öffentlichen Raum. Es geht um Fuß- und Stampftritte gegen am Boden liegende Menschen. Dass drei der vier Täter keine gewaltkriminelle Vorgeschichte haben, scheint zunächst überraschend. Allen Fällen ist gemein, dass die brutalen Konfrontationen im Kontext alltäglicher Konfliktsituationen stattfinden und sich kaum zufriedenstellend erklären lassen. Tobias Hauffe rekonstruiert akribisch den jeweils spezifischen Gewaltmoment, indem er die Fälle aus unterschiedlichen soziologischen Perspektiven einkreist. Er integriert Interviews mit Polizeibeamt:innen ebenso in die Analyse wie Videomaterial vergleichbarer Gewalttaten, popkulturelle Darstellungen und literarische Beschreibungen eines plötzlichen Ausbruchs von Gewalt. Diese Studie ist nicht nur mitreißend geschrieben, sie liefert auch wesentliche Impulse für die Gewaltforschung.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 322
Tobias Hauffe
Die Leereim Zentrumder Tat
Eine SoziologieunvermittelterGewalt
Hamburger Edition
Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de
© der E-Book-Ausgabe 2024 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-435-0
E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
© der deutschen Ausgabe 2024 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-380-3
(Das Buch basiert auf der Dissertation des Autors,
vorgelegt 2022 an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der
Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg)
Cover
Titelei
Impressum
Inhalt
Worum es geht
Aufbau des Buches
Worum es nicht geht
Zugänge: Den Moment der Gewalt erfassen
Die Entdeckung relevanter Fragen: Zur Methode der Grounded Theory
Der Versuch, das Momenthafte zu erhalten: Andrew Abbotts Lyrische Soziologie
Die Arbeit konkret machen: Was der Fall ist und wie der Fall wurde, was er ist
Zum Datenmaterial: Möglichkeiten, Probleme, neue Wege
Gewaltsoziologische Studien und weitere Literatur
Literatursoziologische Überlegungen: Zu Albert Camus’ Der Fremde
Weiteres Material: Ethnografische Beobachtungen, Videoaufnahmen, Notizen
Vier Fälle unvermittelter Gewalt
Zur Verdichtung von Deutungen im Material und in den Rekonstruktionen
Forschungspraktische Entscheidungen der Rekonstruktionen
Rekonstruktion Fall 1
Rekonstruktion Fall 2
Rekonstruktion Fall 3
Rekonstruktion Fall 4
Aspekte des Handlungsmodus gewalttätiger A-Sozialität
Aspekte des Handlungsmodus I: Einkapselung der Gewaltausübenden und situative Verschattung des Gegenübers
Aspekte des Handlungsmodus II: Beziehungslosigkeit zwischen Handelnden und Gewalthandlung
Aspekte des Handlungsmodus III: Handlungssprünge und vermittelte Handlungsmuster
Exkurs: »Der Abzug hat nachgegeben« – Mit Albert Camus’ Der Fremde den Moment, in dem es zur Gewalt kommt, erzählen
Conclusio: Die Leere im Zentrum der Tat
Drei Aspekte des Handlungsmodus
Im Handlungsmodus gewalttätiger A-Sozialität
Einige Probleme der Untersuchung und Grenzen der Argumentation
Neue Fragen
Epilog
Danksagung
Literaturverzeichnis
Zum Autor
Cover
Impressum
Textbeginn
Inhalt
Seite 3
Seite 7
Seite 8
Seite 9
Seite 10
Seite 11
Seite 12
Seite 13
Seite 14
Seite 15
Seite 17
Seite 18
Seite 19
Seite 20
Seite 21
Seite 22
Seite 23
Seite 24
Seite 25
Seite 26
Seite 27
Seite 28
Seite 29
Seite 30
Seite 31
Seite 32
Seite 33
Seite 34
Seite 35
Seite 36
Seite 37
Seite 38
Seite 39
Seite 40
Seite 41
Seite 42
Seite 43
Seite 44
Seite 45
Seite 46
Seite 47
Seite 48
Seite 49
Seite 50
Seite 51
Seite 52
Seite 53
Seite 54
Seite 55
Seite 56
Seite 57
Seite 59
Seite 60
Seite 61
Seite 62
Seite 63
Seite 64
Seite 65
Seite 66
Seite 67
Seite 68
Seite 69
Seite 70
Seite 71
Seite 72
Seite 73
Seite 74
Seite 75
Seite 76
Seite 77
Seite 78
Seite 79
Seite 80
Seite 81
Seite 82
Seite 83
Seite 84
Seite 85
Seite 86
Seite 87
Seite 88
Seite 89
Seite 90
Seite 91
Seite 92
Seite 93
Seite 94
Seite 95
Seite 97
Seite 98
Seite 99
Seite 100
Seite 101
Seite 102
Seite 103
Seite 104
Seite 105
Seite 106
Seite 107
Seite 108
Seite 109
Seite 110
Seite 111
Seite 112
Seite 113
Seite 114
Seite 115
Seite 116
Seite 117
Seite 118
Seite 119
Seite 120
Seite 121
Seite 122
Seite 123
Seite 124
Seite 125
Seite 126
Seite 127
Seite 128
Seite 129
Seite 130
Seite 131
Seite 132
Seite 133
Seite 134
Seite 135
Seite 136
Seite 137
Seite 138
Seite 139
Seite 140
Seite 141
Seite 142
Seite 143
Seite 144
Seite 145
Seite 146
Seite 147
Seite 148
Seite 149
Seite 150
Seite 151
Seite 152
Seite 153
Seite 154
Seite 155
Seite 156
Seite 157
Seite 158
Seite 159
Seite 16
Seite 16
Seite 16
Seite 16
Seite 16
Seite 16
Seite 16
Seite 167
Seite 168
Seite 169
Seite 170
Seite 171
Seite 172
Seite 173
Seite 174
Seite 175
Seite 176
Seite 177
Seite 178
Seite 179
Seite 180
Seite 181
Seite 182
Seite 183
Seite 184
Seite 185
Seite 186
Seite 187
Seite 188
Seite 189
Seite 190
Seite 191
Seite 193
Seite 194
Seite 195
Seite 197
Seite 198
Seite 199
Seite 200
Seite 201
Seite 202
Seite 203
Seite 204
Seite 205
Tritt ein Mensch einem am Boden liegenden Menschen gegen und auf Kopf und Körper, liegt der Gedanke nicht fern, dass die Brutalität der Tat auf eine »Außergewöhnlichkeit« des Täters und/oder auf die besondere Situation zurückzuführen ist. Die Tat, so die Annahme, verweist auf eine hohe Gewaltfähigkeit und -bereitschaft des Täters oder, etwa wenn jugendliche Gangmitglieder oder verfeindete Hooligangruppen aufeinander losgehen, auf Konfliktsituationen, die zumindest nicht alltäglich sind. Dass Konfliktsituationen, in deren Verlauf es zu potenziell tödlichen Gewalthandlungen kommt, aus nichtigen Anlässen entstehen, mögen wir uns noch vorstellen können. Dass die brutalen Gewalthandlungen von Menschen ausgeübt werden, die zuvor noch nie oder nur minderschwer gewaltkriminell in Erscheinung getreten sind, wie es in der polizeilichen Terminologie heißt, ist dagegen weniger leicht zu begreifen. Die Gewaltsituationen, die im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen, fordern uns heraus. Die Gewalthandlungen, die strafrechtlich als Fälle versuchten Totschlag verfolgt wurden, wurden von Menschen ausgeübt, die vergleichbare Taten, soweit dies polizeilich erfasst werden konnte, noch nie zuvor ausgeführt hatten.1 Und auch die situativen Kontexte waren nicht außergewöhnlich. Die Situationen ereigneten sich im öffentlichen Raum: auf einem Fußgängerweg, der an einer größeren Straße entlangführt; im Bereich eines Bahnhofs; an einem Taxistand vor einem Veranstaltungsgelände; an einer Passage in der Innenstadt. Zu Beginn kommt es zu kleineren Konflikten: Ein Mann versucht, seinen betrunkenen Freund, der sich auf die Straße gestellt hat und Autos zum Stehen bringt, zu beruhigen. Ein Mann fühlt sich vom Verhalten einer anderen Person gestört und spricht sie an. Zwei Gruppen streiten sich um ein Taxi. Eine nächtliche Begegnung, bei der eine Beleidigung fällt, von der nicht einmal gesagt werden kann, wem sie eigentlich gegolten hatte. Für keine der Gewalttaten konnte ein eindeutiges Motiv wie etwa eine rassistische Ideologie oder ein über einen längeren Zeitraum bestehender Konflikt festgestellt werden. Die Gewalt, so die polizeiliche Terminologie, erfolgte in den Situationen unvermittelt. Die Frage, warum die Gewalt, noch dazu in dieser brutalen Form, ausgeübt wurde, beschäftigt auch die Polizeibeamt:innen, die in den Fällen ermittelten. In Interviews, die ich mit ihnen führen konnte, schildern sie den Ablauf der Situationen und berichten, wie es aus Ermittlungssicht zur Gewalthandlung gekommen ist. Auf den Moment des Gewaltausbruchs kommen sie dabei immer wieder zurück. Auch wenn der individuelle Tatnachweis unstrittig ist, hadern die Polizeibeamt:innen mit den Erklärungsversuchen für den Moment des Sprungs in die Gewalt. Die Tat, sagte ein Polizeibeamter über den von ihm ermittelten Fall in einem Gespräch mit mir, passe irgendwie nicht zum Täter.
Nun gibt es viele Gewalttaten, von denen gesagt werden kann, sie passen irgendwie nicht zu denjenigen, die sie ausgeübt haben. Gewalt, darauf hat Heinrich Popitz eindrücklich hingewiesen, ist eine allzeitige menschliche Handlungsoption.2 Sie kann tausend Gründe haben oder gar keinen. Die Suche nach Erklärungen, das hat Jan Philipp Reemtsma herausgestellt, kann uns sogar davon abhalten zu verstehen, dass sie sich oftmals selbst genügt.3 Es müsse also weniger darum gehen, nach Gründen für die Gewalt zu fragen, um zu begreifen, was da vor sich geht, als darum, Gewalt selbst in den Blick zu nehmen:4 die Situationen, in denen sie ausgeübt wird, ihren Handlungsvollzug, das, was sie mit einem anderen Menschen anrichtet. Erst wenn wir von konkreten Phänomenen der Gewalt ausgehen, kann es möglich sein, auch etwas über das Gesellschaftliche zu sagen, das in ihnen zum Ausdruck kommt.
Das vorliegende Buch ist ein Versuch, einem spezifischen Gewaltphänomen nahezukommen. Wie ist es möglich, dass alltägliche Konfliktsituationen, an denen Menschen beteiligt sind, die über keine oder nur eine minderschwere gewaltkriminelle Vorgeschichte verfügen, derart brutal eskalieren? Wobei die Formulierung unpräzise ist: Die Gewaltsituationen, die der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegen, eskalieren nicht im eigentlichen Sinne. In ihnen wird Gewalt von Personen (relativ) plötzlich ausgeübt. Die Gewalthandlungen sind Teil der Situationsverläufe und wirken zugleich wie ein Bruch in den Geschehen. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, den spezifischen Situationsmoment, in dem plötzlich schwere Gewalthandlungen in Form von Fuß- und Stampftritten gegen den Kopf und Körper einer am Boden liegenden Person ausgeübt werden,5 analytisch dicht zu beschreiben. In der Untersuchung rekonstruiere ich den Situationsmoment, indem ich ihn mit der Frage nach dem Handlungsmodus, in dem sich die Gewaltausübenden, kurz vor und im Moment der schweren Gewalthandlung, befinden, in Bezug setze. Dem Begriff des Handlungsmodus liegen dabei zwei zentrale theoretische Einsichten zugrunde: (1) Im Anschluss an pragmatische Handlungstheorien gehe ich davon aus, dass menschliches Handeln einen konstitutiven Situationsbezug hat.6 Im Kontext der vorliegenden Untersuchung bedeutet dies, dass ich keinen stabilen Handlungstypus herausarbeite, der unabhängig von situativen Kontextbedingungen vorzufinden ist, sondern einen Handlungsmodus, in den sich Personen situativ hineinbewegen beziehungsweise in den sie hineingeraten. Um den Handlungsmodus zu rekonstruieren, und hier schließe ich an Überlegungen Trutz von Trothas an, ist erstens der Körper- und Sinnesbezug der Gewalt in die Gewaltanalyse zu integrieren.7 Die Analyse ist an die konflikthaft und gewaltsam verlaufende Situation und den Gewalthandlungsvollzug zurückzubinden, um der Frage nachzugehen, wie die körperlich-leibliche Involviertheit in die konkreten Geschehen Situationsdeutungen und Handlungsimpulse der Beteiligten beeinflussen kann (körperlich-leibliche Dimension des Handelns). Zweitens hat der konstitutive Situationsbezug eine relationale Seite, die mit der körperlich-leiblichen Dimension des Handelns zusammenhängt: (Gewalt-)Handlungen sind nicht unabhängig von einem konkreten Gegenüber zu begreifen. Und zwar auch gerade dann nicht, wenn, wie ich in der vorliegenden Untersuchung argumentiere, eine radikale Form der Nicht-Orientierung am Anderen für ein analytisches Begreifen der Gewaltsituationen wesentlich ist (soziale Dimension des Handelns).
(2) Von einem konstitutiven Situationsbezug des Handelns auszugehen, heißt aber nicht, dass die Analyse auf präexistente Muster, etwa konkretes und abstraktes Handlungswissen der Beteiligten oder typisierende Wahrnehmungen, verzichten kann. Es bedarf vielmehr eines tentativen Vorgehens, mithilfe dessen Muster des Erfahrens und Wahrnehmens in ihrer Bedeutung für Situationsdefinitionen und Handlungsimpulse beschreibbar gemacht werden können. Auf diesen beiden zentralen Einsichten – dem konstitutiven Situationsbezug des Handelns (in seiner körperlich-leiblichen und seiner sozialen Dimension) und der Frage nach präexistenten und transsituativen Mustern des Erfahrens und Wahrnehmens – basiert die vorliegende Analyse.
In den untersuchten Fällen, so die zentrale These des Buchs, befinden sich die Gewaltausübenden, in unterschiedlicher Weise, im Moment des Sprungs in die Gewalt in einem Handlungsmodus gewalttätiger A-Sozialität.8 Im Handlungsmodus gewalttätiger A-Sozialität scheinen die Gewaltausübenden von einem konkreten Gegenüber abgeschnitten. Sie üben brutale Gewalt aus, aber nicht so, als wäre ihnen das Gegenüber egal. Denn im Wort »egal« steckt bereits ein Zuviel an Handlungsorientierung an anderen. Es wirkt vielmehr, als würde das Gegenüber aus dem Selbst- und Weltbezug der Gewaltausübenden verschwinden. Als wäre der Sprung in die Gewalt ein Moment a-sozialer Gegenwart. Da ist niemand (mehr). In diesem Sinne ist das Zentrum der Tat leer.9 Und es ist diese Beobachtung, die ich im vorliegenden Buch zu erkunden versuche.
Im ersten Teil des Buches werde ich Methodik und Materialgrundlage des Buchs darlegen. Das Kapitel Zugänge: Den Moment der Gewalterfassen ist zweigeteilt. Zuerst werde ich die beiden zentralen Zugänge – Grounded Theory und Andrew Abbotts Lyrische Soziologie – vorstellen, die der Untersuchung zugrunde liegen. Dann werde ich die Arbeitsweise konkret machen, indem ich die Forschung in ihrer Prozesshaftigkeit und als persönliche Tätigkeit reflektiere. Es geht darum, das Finden der Frage und das Ringen um eine dem Gegenstand angemessene Sprache mit der Schwierigkeit in Bezug zu setzen, empirisch überhaupt an den Situationsmoment der Gewalt heranzukommen.
Im Kapitel Vier Fälle unvermittelter Gewalt rekonstruiere ich Fälle versuchten Totschlags, die die Grundlage der Untersuchung bilden. Die dokumentarischen Rekonstruktionen sind eine erste Verdichtung des Materials und bilden den Ausgangspunkt für die Analyse.
Im Kapitel Aspekte des Handlungsmodusgewalttätiger A-Sozialität werde ich drei Handlungsaspekte des Handlungsmodus analytisch dicht rekonstruieren. In einem ersten Schritt werde ich den Moment des Sprungs in die Gewalt hinsichtlich seiner Situiertheit betrachten und den Wirkungszusammenhang von Einkapselung des Gewaltausübenden in einen Zustand gewalttätiger Wut und dem Moment des Zu-Boden-Gehens des Gewaltopfers rekonstruieren (und um die Frage nach Effekten der Alkoholisierung der Gewaltausübenden erweitern). Ich werde argumentieren, dass der Handlungsmodus einen radikal augenblicklichen Aspekt hat. Das Gegenüber ist situativ verschattet, der Selbst- und Weltbezug der Gewaltausübenden ist auf den Gewalthandlungsvollzug geschrumpft. In einem zweiten Schritt werde ich die konkrete Form, in der die Personen gewalttätig handeln, betrachten. Ausgehend von Selbstbeschreibungen der Gewaltausübenden, in denen sie sich als aktiv Handelnde aus den Situationen herausnehmen, und Fremdbeschreibungen eines irgendwie aktiv-rasenden Zustands der Gewaltausübenden werfe ich die Frage auf, was uns die konkrete Form der Gewalt über den Moment der Gewalt und die Bedeutung des Gegenübers zu sagen vermag. Ich werde argumentieren, dass die Gewalthandlung auch einen vandalistischen Aspekt hat. Das Gegenüber wird nicht bekämpft oder vernichtet. Die Gewalthandlung ist am ehesten als ein »Zerstören« (Sofsky) zu beschreiben. In einem dritten Schritt werde ich nach der Bedeutung von popkulturell und medial vermittelten Handlungsmustern für die konkreten Gewalthandlungen fragen. Ich werde argumentieren, dass der Moment der Gewalt, der wie ein abrupter Wechsel von Wirklichkeitsbereichen wirkt, auch einen abbildhaften Aspekt hat, der die Frage nach der körperlich-leiblichen Wirklichkeit der Verletzungsmächtigkeit des Gewaltausübenden und der Verletzungsoffenheit des Gegenübers aufwirft. In einem Exkurs werde ich in Auseinandersetzung mit Albert Camus’ Roman Der Fremde die soziologische Analyse ergänzen: Wie Camus die Gewalttat, die Meursault, der Protagonist des Romans, verübt, als Teil des von Meursaults gelebten Lebens erzählt, wirft die Frage nach Handlungsgrammatiken von Gewalttaten auf.
Das Schlusskapitel der Untersuchung ist in zwei Abschnitte unterteilt: Im ersten Teil werde ich die Handlungsaspekte entlang des Konzepts Handlungsmodus gewalttätiger A-Sozialität und (Nicht-)Status des Gegenübers miteinander in Bezug setzen und in einen Diskussionszusammenhang mit aktuellen gewaltsoziologischen Positionen bringen. Im zweiten Teil werde ich in kurzer Auseinandersetzung mit Überlegungen Günther Anders’ Fragen stellen, von denen ich keine Ahnung hatte, als ich mit der Untersuchung begonnen habe, und die ich als relevant für gegenwärtige und zukünftige (gewalt-)soziologische Forschungen erachte. Ziel ist es, die sich im Konzept des Handlungsmodus gewalttätiger A-Sozialität verdichtete Analyse anhand neuer Fragen aufzubrechen.
Dass Konzepte und Begriffe Wirklichkeit vereindeutigen, trifft auch auf die von mir vorgeschlagene Begrifflichkeit des Handlungsmodus gewalttätiger A-Sozialität zu. Das Entscheidende ist für mich aber der argumentative Weg, der zu Begriffen führt. Wer erwartet, dass ich klare Antworten gebe, wird enttäuscht sein. In einem schönen Text anlässlich des achtzigsten Geburtstags der kürzlich verstorbenen Lyrikerin Louise Glück hat Dietmar Dath in der FAZ über die Arbeitsweise des Dichtens geschrieben: »Im Herzen dieser Arbeit liegen Probleme, die man beim Dichten nicht zuschütten sollte mit einem ›Output‹, wie das eine Maschine macht, sondern handwerklich gewissenhaft freilegen, bis ein verwunderliches Ergebnis da ist. Man macht sich die Hände stutzig.«10 Ersetzen wir »Dichten« durch »soziologische Analyse« trifft Daths Formulierung, was ich mit diesem Text beabsichtige: Ich möchte einen sozialen Moment, den Sprung in die Gewalt, handwerklich gewissenhaft freilegen, um an Aspekte heranzukommen, die nicht augenscheinlich sind, die uns aber zu verstehen helfen, was hier vor sich geht.
(1) Die vorliegende Untersuchung ist keine kriminologische Studie. Fragen, die sich auf die geschichtliche Entwicklung solcher und vergleichbarer Taten, auf strafrechtliche Gesichtspunkte oder auf eine auf Prävention zielende Ursachenforschung beziehen, diskutiere ich nicht. Mein Erkenntnisinteresse zielt auf das Momenthafte der Gewalt.
Nachdem ich eines der Interviews mit ermittelnden Polizeibeamt:innen geführt hatte, begleitete mich ein höherer Polizeibeamter zum Ausgang der Polizeidirektion. Wir sprachen über die Fälle und über den Moment, in dem die schwere Gewalt ausgeübt wird. Es war ein ernstes, von Zweifeln durchzogenes Gespräch. Kurz bevor wir uns verabschiedeten, sagte er, dass er sich angesichts mancher der Gewaltgeschehen schon auch frage, ob es nicht bei jedem Menschen den Moment geben kann, in dem die Sicherungen durchbrennen.11 Es war klar, wie er das meinte. Es ging ihm nicht darum, die Gewaltausübenden zu entschuldigen oder zu entlasten. Es ging ihm um die Frage, inwieweit jeder Mensch sich in eine Situation hineinbewegen, oder in sie geraten, kann, in der er (zumeist ist es dann doch ein Mann) dazu in der Lage ist, eine solche Gewalt auszuüben. Mit dem sehr konkreten Wissen eines leitenden Polizeibeamten, dass es Menschen gibt, die schwer gewalttätig handeln, und andere, die es nie tun, machte er keine kategoriale Trennung. Aus Gesagtem folgt nicht, dass die kriminologische Forschung diese Trennung einzieht. Sie interessiert sich aber vor allem für die Gewalthandlung als Straftat, was eine Trennung in konformes und deviantes Verhalten beinhaltet, und nicht zuerst für die Gewalthandlung selbst: als eine, um erneut mit Heinrich Popitz zu sprechen, allzeit mögliche menschliche Handlungsoption.
(2) Die Frage, inwieweit die ausgeübte Gewalt eine spezifisch männliche Gewalt ist, werde ich in der Untersuchung nur unzureichend thematisieren (können). Im Anschluss an Vorträge und auch in Gesprächen, die ich mit Kolleg:innen und Freund:innen über meine Forschung geführt habe, wurde diese Vermutung immer wieder geäußert: Die Gewalthandlungen, gerade ihre Brutalität und ihr Ausbruchscharakter, hätten doch etwas spezifisch Männliches. Ich glaube, dass dem so ist. Ich kann anhand des empirischen Materials aber nur einige wenige Überlegungen diesen Aspekt betreffend in die Argumentation integrieren. In den Fällen lassen sich etwa Momente beobachten, die auf ein Imponiergehabe gegenüber (weiblichen) Gruppenmitgliedern, die »Verteidigung« männlichen Stolzes oder auf einen Zusammenhang von popkulturell und medial vermitteltem Handlungsmuster und der Gewalthandlung hinweisen (siehe Kapitel Aspekte des Handlungsmodus gewalttätiger A-Sozialität). Der Frage nach dem Zusammenhang von Geschlecht und Gewalt kann ich mich hier aber nur annähern. Dass in den hier untersuchten Fällen die Gewalt von Männern an Männern ausgeübt wird, verweist jedoch auf diese Lücke in der Interpretation.
1 Für einen der hier untersuchten Fälle gilt diese Einschätzung nur eingeschränkt. Der Gewaltausübende dieses Falls war zuvor minderschwer gewaltkriminell in Erscheinung getreten.
2 Popitz, Phänomene der Macht.
3 Reemtsma, »Erklärungsbegehren«.
4 Von Trotha, »Zur Soziologie der Gewalt«.
5 Wenn ich im Text von schweren Gewalthandlungen oder von schwerwiegender Gewalt schreibe, ist damit immer die spezifische Form Fuß- und Stampftritte gegen Kopf und Körper einer am Boden liegenden Person gemeint.
6 Nungesser/Wöhrle, »Die sozialtheoretische Relevanz des Pragmatismus«; Sutterlüty, Gewaltkarrieren, S. 347ff.; Whitford, »Pragmatism«.
7 Vgl. hierzu die Passage in Trutz von Trothas kanonischem Text zu einer genuinen Soziologie der Gewalt: »[…] Die Gewalt ist ein Antun und auf der Seite des Opfers, ein Erleiden [Hervorhebungen im Original]. Antun wie Erleiden haben als primären Gegenstand den Körper des Menschen. Das gilt für alle Formen alltäglicher Gewalt und für einen großen Teil eher außeralltäglicher Gewalt: Wir schlagen, treten, prügeln, ohrfeigen, erschießen, ›hauen in die Schnauze‹, überwältigen, fesseln, brechen den Arm, schlagen das Bein ab, stoßen ein Messer in den Körper, schwingen das Beil. Gewalt ist körperlicher Einsatz, ist physisches Verletzen und körperliches Leid – das ist der unverzichtbare Referenzpunkt aller Gewaltanalyse. Mit unverzichtbarem Referenzpunkt meine ich, daß eine Gewaltanalyse um die Körperbezogenheit der Gewalt, die als Leiblichkeit und Sinnlichkeit der Gewalt zu bestimmen ist, nicht umhinkommt. Die Soziologie der Gewalt schließt immer eine soziologische Anthropologie der Körperlichkeit des Menschen ein.« (ders., »Zur Soziologie der Gewalt«, S. 26f.).
8 Der hier entwickelte Begriff ist nicht normativ und hat keine Nähe zur alltagssprachlichen Verwendung des Begriffs »Asozialität«. Anhand des Begriffes versuche ich, eine besondere Interaktionskonstellation, eine radikale Form der (Nicht-)Orientierung am Gegenüber, zu bezeichnen.
9 Die Studie verdankt ihren Titel einem kurzen Text, in dem Hans Magnus Enzensberger über eine terroristische Handlung nachdenkt, »die auf jede Erklärung verzichtet, jede Rechtfertigung verweigert und ihre eigene Grundlosigkeit durch Schweigen veröffentlicht«. Die hier entwickelte Argumentation steht in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit Enzensbergers Text, aber sein Titel »Die Leere im Zentrum des Terrors« hat mich in Bezug zu der in dieser Untersuchung verhandelten Frage nicht mehr losgelassen (ders., »Die Leere im Zentrum des Terrors«, S. 248).
10 Dath, »Die stutzigen Hände«.
11 Eine ähnlich zweifelnde Einschätzung äußerte auch einer der interviewten Polizeibeamten. Wichtig ist, daran zu erinnern, dass es sich bei den untersuchten Fällen um spezifische Gewaltsituationen – (relative) Gewaltunerfahrenheit in Bezug auf die eigene Verletzungsmächtigkeit in Kombination mit einer schweren Form, in der die Gewalt ausgeübt wird – handelt, die verhältnismäßig selten vorkommen. Dennoch, so scheint mir, kommt in diesen Gewaltsituationen und Gewalthandlungen wie unter einem Brennglas »etwas« zum Ausdruck, das auch auf Handlungsaspekte nichtgewaltsamer Interaktionen verweist.
Die Analyse des empirischen Materials orientiert sich an Verfahren der Grounded Theory. Orientieren ist wörtlich zu verstehen. Grounded Theory ist eine methodische Vorgehensweise der qualitativen Sozialforschung, »die einen Satz von äußerst nützlichen Verfahren […] nicht jedoch starre Anweisungen oder Kochrezepte«12 anbietet. »Doch«, so fahren Strauss und Corbin fort, »in einer tieferen Sichtweise ist die Grounded Theory eine Methodologie, eine besondere Art oder ein Stil, über die soziale Wirklichkeit nachzudenken und sie zu erforschen. Wenn wir dies hervorheben, beabsichtigen wir nicht, den Wert der hier beschriebenen Verfahren herunterzuspielen. Wir möchten Sie lediglich daran erinnern, daß es um mehr als Einzeltechniken geht, wenn Sie unsere Intention richtig verstehen wollen.«13 Bevor ich Grundprozeduren und Einzeltechniken darlege, an denen sich die vorliegende Untersuchung orientiert, möchte ich der Frage nachgehen, was unter »Intention« der Grounded Theory zu verstehen ist – denn dies führt ins methodische Herz der vorliegenden Untersuchung. Grounded Theory zeichnet sich durch Gegenstandsverankerung aus. Sie ist eine induktiv vorgehende Methode. Zugleich sensibilisiert die Vorgehensweise dafür, dass die Erkundung eines Gegenstands nicht vom Himmel fällt. Jede Erkundung wird von Vorannahmen bestimmt, die sich ständig zu vergegenwärtigen und aufzubrechen sind.14 Die Erkundung bedarf »theoretischer Sensibilität«15, die darauf beruht, »Literatur phantasievoll zu nutzen«.16 Bereits das Suchen und Finden eines Forschungsgegenstandes und der Weg zu einer Frage sind von Vorannahmen und von theoretischem Vorwissen geprägt. Außerdem braucht es ein Interesse an der Welt und ihren Problemen, um zu einer Forschungsfrage zu kommen. Dieses Interesse ist Folge und Ausdruck von Erfahrungen, von Lektüre, von Ideen, die sich im Laufe eines Lebens zu Vorstellungen davon verdichten, was wichtig ist – und was nicht.
Die Frage, wie Entdeckungen gemacht werden,17 die für die Grounded Theory zentral ist, veranschaulicht, was mit »Intention« gemeint ist. Es geht um eine Pendelbewegung des Denkens. Um eine methodische Vorgehensweise, in der das Erheben von Daten, die Analyse und die Entwicklung von theoretischen Zusammenhängen ineinander verflochten sind.18 Im Wechselspiel von phänomenologisch-induktiven Verfahren, interpretativen Beschreibungen dessen, was die Arbeit am empirischen Material zu Tage fördert, und schrittweisen theoretischen Abstraktionen konkretisiert sich, was die relevanten Aspekte eines Phänomens sind. Die so herausgearbeiteten Erkenntnisse werfen neue Fragen auf, leiten die Suche nach weiteren empirischen Daten an und fordern zu neuen theoretischen Überlegungen auf.
Eine erste zentrale Prozedur der methodischen Vorgehensweise ist das Theoretische Sampling.19 Theoretisches Sampling bezeichnet »den auf die Generierung von Theorie zielenden Prozess der Datenerhebung, währenddessen der Forscher seine Daten parallel erhebt, kodiert und analysiert sowie darüber entscheidet, welche Daten als nächste erhoben werden sollen und wo sie zu finden sind.«20 Einer solchen wechselseitigen und rückbezüglichen Vorgehensweise liegen zwei zentrale Einsichten zugrunde: Zum einen die oben angeführte Einsicht, dass sich erst im Prozess der Forschung herauskristallisiert, worum es eigentlich genau geht. Ein zirkuläres Modell ermöglicht, auf neu entdeckte Zusammenhänge und Perspektivverschiebungen analytisch reagieren zu können – im Unterschied etwa zu linearen Modellen, bei denen der analytische Bezugsrahmen vorab definiert wird.21 Zum anderen die Einsicht, dass sich oftmals erst im Zuge des Forschungsprozesses zeigt, welches empirische Material ergänzend heranzuziehen ist, um eine Frage zu bearbeiten. In einem zirkulären Modell geht die Theorieentwicklung also aus den Daten hervor und leitet wiederum die Suche nach empirischen Daten an. Die Erhebung weiterer Daten steht in einem sich entfaltenden Zusammenhang mit der Theoriegenerierung, deren Fortschritte zu einem gezielteren Auswählen relevanter Empirie, nicht zuletzt hinsichtlich der Frage adäquater Vergleichsfälle, führen.22
Die Vorgehensweise des Theoretischen Samplings ist mit einer zweiten Grundprozedur der Grounded Theory verknüpft: der Methode des ständigen Vergleichs.23 Diese kommt im gesamten Forschungsprozess zur Anwendung. Kann sich die Analyse bereits auf eine breitere Datenbasis stützen, in der verschiedene, aber vergleichbare Fälle enthalten sind, so werden Kategorien immer auch hinsichtlich ihrer fallübergreifenden Relevanz geprüft – und gebildet. Die Kodiertechniken gewinnen im Zuge der Untersuchung einen mehr und mehr vergleichenden und kontrastierenden Charakter. Beobachtungen können aufeinander bezogen und Konzepte und Kategorien können im Prozess des Vergleichens herausgearbeitet werden. Liegt der Untersuchung zuerst »ein Fall« zugrunde, dann richtet sich, und hier ist die Methode des Vergleichs eng mit der Methode des Theoretischen Samplings verbunden, die Suche nach weiterem empirischem Material auch am Kriterium der Vergleichbarkeit aus. Insgesamt wird zwischen Fällen mit minimaler Kontrastierung und Fällen maximaler Kontrastierung unterschieden.24 Schließlich dient die Methode des Vergleichs auch zur Identifizierung jenes Punktes im Forschungsprozess, an dem die Suche nach weiterem Datenmaterial eingestellt werden kann – da weitere Fälle keine neuen Erkenntnisse für die Kategorienbildung mit sich bringen beziehungsweise die Theoriegenerierung hinreichend abgesichert ist.25
Die von mir durchgeführte Analyse des Datenmaterials geht von dem dreistufigen Kodierverfahren der Grounded Theory aus.26 Sich auf Kodierverfahren der Grounded Theory beziehend hat von Trotha eine Gewaltanalyse vorgeschlagen, die auf »konzeptuellem Kodieren«27 beruhen müsse. Von Trotha versteht darunter »eine phänomenologisch-ethnografische Analyse, die auf die Entdeckung und Benennung soziologischer Grundbegriffe, d.h. auf Begriffe gerichtet ist, die einen hohen Allgemeinheitsgrad (bei gleichzeitig großer Trennschärfe) zu verwirklichen versuchen«.28Auch wenn von Trothas Vorschlag sich nur leicht von Verfahren der Grounded Theory zu unterscheiden scheint, ist er für die die vorliegende Untersuchung aus zwei Gründen ertragreich: Erstens weist von Trotha der dichten Beschreibung von Phänomenen einen zentralen Platz im Forschungsprozess zu: »Ohne dichte Beschreibung gelingen Begreifen und Verstehen nicht. Beschreiben aber heißt ›richtig benennen‹; richtig benennen meint, die Erfahrungswirklichkeit, die beobachtete Welt auf grundbegrifflich relevante Zusammenhänge hin zu beschreiben, und das heißt, die angemessenen Begriffe für die beobachteten Sachverhalte zu finden, Begriffe, die treffen.«29 Gesagtes verweist dabei auf den zweiten Punkt, der für die vorliegende Studie bedeutsam ist: Während die Grounded Theory sich als eine Methodik versteht, die auf Theorieentwicklung zielt und sich von deskriptiven Verfahren abgrenzt30, besteht von Trotha darauf, dass grundbegrifflich angeleitete Beschreibungen und Erklärungen nicht in eine Rangordnung gebracht werden können. Zwar gehe es auch in einer auf konzeptuellem Kodieren beruhenden Gewaltanalyse weder um »reiche Deskription« noch um eine Darstellung der »Wirklichkeit, wie sie von den Handelnden interpretiert wird«, sondern um »die Produktion von soziologischen Grundbegriffen«,31 sie zielt jedoch, zumindest verstehe ich von Trothas Vorschlag dahingehend, nicht auf einen geschlossenen theoretischen Entwurf. Ihr liegt vielmehr die Einsicht zugrunde, dass präzise ausgearbeitete Begriffe und Konzepte mittlerer Reichweite Erklärungskraft besitzen. Beide Aspekte, die Aufforderung zur dichten Beschreibung/Rekonstruktion und eine streng vom Phänomen ausgehende Begriffsarbeit, sind für die vorliegende Untersuchung zentral.
Einer der wichtigsten Aspekte der hier untersuchten Fälle ist die widersprüchliche Beobachtung, dass der Moment, in dem die Gewalt ausgeübt wird, Teil der Konfliktsituationen ist, aber zugleich wie ein Bruch in den Geschehen wirkt. Im Zuge der Forschungsarbeit hat sich herauskristallisiert, dass ich vom Moment des Sprungs in die Gewalt her denken möchte (siehe das nachfolgende Unterkapitel). Ich möchte verstehen, was diesen Moment ausmacht. Nicht nur, weil ich der Überzeugung bin, dass die Frage nach dem Moment die (gewalt-)soziologisch interessante Frage ist, sondern auch deswegen, weil dieser Moment etwas mit mir macht. Die Konfliktsituationen erinnern in ihrer anfänglichen Alltäglichkeit an Situationen, an denen ich selbst beteiligt war oder die ich beobachtet habe. Aber der Moment der brutalen Gewalt verstört. Gerade, weil die Gewalthandlungen plötzlich ausgeübt werden, und noch mehr, weil die Gewaltausübenden zuvor nicht oder nur minderschwer gewaltkriminell in Erscheinung getreten sind. In dieser Hinsicht sind die untersuchten Fälle dann doch außergewöhnlich: Dass die Taten nicht zu den Tätern zu passen scheinen, wie es ein Polizeibeamter in einem Interview formulierte, irritiert und lenkt den Blick auf das Momenthafte der Tat.
Andrew Abbotts Vorschlag einer Lyrischen Soziologie32 hat mir geholfen, eine analytische Haltung einzunehmen, die beide Aspekte, das Momenthafte der Gewalt und die eigene (emotionale) Involviertheit in die Frage, zusammenbringt. Lyrische Soziologie zielt auf das emotionale Erfassen sozialer Momente. Abbott unterscheidet zwischen Grundhaltung und Mechanik der Lyrischen Soziologie. Die Grundhaltung bezieht sich auf die »Einstellung eines Autors zu dem, was er schreibt, und zu seinem Publikum«. Die Mechanik, auf die Mittel der Textgestaltung, die den sozialen Moment nachempfindbar machen sollen. Die Haltung, die lyrisch denkende und schreibende Autor:innen einnehmen, ist »engagiert statt distanziert«, sie zeichnet sich dadurch aus, dass Autor:innen nicht neutralisieren, dass – und wie – der Gegenstand etwas mit ihnen macht, sie versuchen vielmehr das Gefühl für die Leserschaft wachzuhalten. Ein lyrischer Autor »betrachtet die Situation nicht von außen, sondern gibt sich in sie hinein«.33 Ein zweiter Aspekt der Grundhaltung ist die Verortung der Schreibenden. Lyrische Autor:innen haben ein »scharfes Bewusstsein ihrer selbst nicht als Autorin, sondern als die Person, deren emotionale Erfahrung einer sozialen Welt im Mittelpunkt ihres Schreibens steht«.34 Es geht um den Standort, von dem aus Wirklichkeit begriffen wird, und um die Frage, wie dieser unseren Blick prägt. Ein dritter Aspekt ist die Verortung in der Zeit: »Das Lyrische«, so Abbott, »ist momenthaft. […] Es geht nicht um ein Ergebnis. Es geht um etwas, das ist, ein Seinszustand.«35 Diesen festzuhalten, ohne ihn dabei seiner Lebendigkeit zu berauben, versucht die Lyrische Soziologie.36
Das wichtigste Verfahren37 der Mechanik der Lyrischen Soziologie im Unterschied zu narrativen Darstellungsweisen ist, dass Autor:innen in Bildern und nicht in Ereignissequenzen denken. Das Denken und Schreiben in Bildern ermöglicht, einen sozialen Moment »durch verschiedene Linsen« zu betrachten, »um die Quellen der Gefühlsreaktion des Verfassers zu veranschaulichen«. Ziel eines solchen Vorgehens ist, »uns die Realität durch konkrete Gefühle empfinden zu lassen«.38
In dieser Arbeit folge ich Abbotts Lyrischer Soziologie, aber nicht ohne Abweichungen. Sie hat dazu geführt, dass ich den Moment der Gewalt »durch verschiedene Linsen« betrachte. Ich versuche in Bildern zu denken: In einer Einstellung fokussiere ich die Situation. In einer Einstellung fokussiere ich den Gewalthandlungsvollzug. In einer Einstellung fokussiere ich die Situationsdeutung (Kapitel 4). Doch zugleich erzähle ich in den dokumentarischen Rekonstruktionen den Moment der Gewalt. Das Buch hat also auch einen narrativen Teil (Kapitel 3). Und auch wenn mich Abbott darin bestärkt hat, die eigene emotionale Involviertheit in den Gegenstand ernst zu nehmen, und mir ein Instrumentarium an die Hand gegeben hat, wie ich das tun kann, besteht die Hauptabsicht des Buchs nicht darin, wie es Abbott für die Lyrische Soziologie postuliert, »das emotionale Verhältnis einer bestimmten Autorin zu einer bestimmten Art sozialen Moments zu vermitteln«.39 Die Hauptabsicht des Buches ist es, den Moment des Sprungs in die Gewalt analytisch dicht zu beschreiben, wobei ich mir jedoch auch vergegenwärtigen muss, und das habe ich bisher nirgends so klar wie bei Abbott gelesen, was die Erkundung des Momenthaften mit mir zu tun hat. Abbott beschreibt, wie eine Lyrische Soziologie bei Autor wie Leserschaft so etwas wie »menschliches Mitgefühl« erzeugen könne. Er versteht darunter eine menschliche Emotion, die darin gründet, dass wir unsere eigene Wandlungsfähigkeit und Eigentümlichkeit in Raum und Zeit dadurch erkennen, dass wir »uns in bedachten Details die Emotionen und Eigentümlichkeit anderer Menschen zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort [vorstellen]«.40 Damit dies gelingt, darauf weist Abbott deutlich hin, bedarf es der Partizipation der Leserschaft.41 Es gehe darum, ein »lebendiges Bewusstsein« dafür zu entwickeln, »dass sich unser Hier und Jetzt radikal von denen unterscheidet, über die wir lesen«. Und weiter: »Der lyrische Text konfrontiert uns unmittelbar mit der radikalen Kluft zwischen unserem Hier und Jetzt und dem seiner Figuren. Doch während er uns die Kluft zeigt, wird sie zugleich durch unsere moralische Anerkennung der gemeinsamen Menschlichkeit, die wir mit denen teilen, von denen wir lesen, überwunden.«42 Dass das einfacher ist, wenn wir es mit sozialen Momenten zu tun haben, in denen es nicht um Gewalt geht, ist klar. Aber auch in gewalttätigen Momenten handeln Menschen.
Grounded Theory und Lyrische Soziologie verbindet, dass die Einsicht in die Standortgebundenheit des eigenen Denkens – und auch des Empfindens – Voraussetzung dafür ist, der Welt Beobachtungen und Fragen abzuringen. Soziologische Forschung ist keine abstrakte, sondern eine persönliche Tätigkeit. Was das konkret heißt, darum soll es im folgenden Unterkapitel, in dem ich den Weg zur Frage nachzeichne und die Materialgrundlage der Untersuchung kritisch diskutiere, gehen. »Vielleicht«, um Abbott aus dem Zusammenhang zu zitieren, »wird es hier ein wenig knirschen, aber ich denke, es ist es wert.«43
Beginnen wir mit einem Gedankenexperiment.
Szene 1:A trifft um 0.30 Uhr auf B. Er hat eine Flasche Wodka in der Hand. Die Flasche ist halb leer. Noch vor vier Stunden war A.s Leben in Ordnung. Klar, er hat Stress auf der Arbeit, aber wer hat das nicht. Und mit seiner Freundin läuft es gut. Er ist gerne mit ihr zusammen, fühlt sich vielleicht nicht immer verstanden, aber wer kann das schon von sich behaupten. Seine Freundin fühlt sich ab und an bestimmt auch missverstanden. Als ihn ein Freund vor Kurzem fragte, was er sich wünsche im Leben, sagte er, alles laufe gut. Er sei zufrieden. Er ahnte nicht, dass seine Freundin ihm an diesem Abend sagen würde, dass es vorbei ist. Endgültig, kein Hin und Her, kein Lass-es-uns-so-oder-so-Versuchen, kein Lass-uns-Freunde-Bleiben. Sie sagte: Nichts außer einem klaren Schnitt macht Sinn. Dann bat sie ihn zu gehen. Er ging. Er kaufte eine Flasche Wodka setzte sich auf eine Bank in der Innenstadt, starrte vor sich hin und betrank sich. Er kann sich nicht genau daran erinnern, was dann passierte. Saß er stundenlang auf der Bank, oder lief er ziellos umher? Erinnerte er sich an gemeinsam Erlebtes? Dachte er an ihren Körper? Keimte da der Hass, weil ein anderer diesen Körper spüren wird? Steigerte er sich in einen Wahn hinein, von dem er immer geglaubt hatte, er würde ihn nie befallen? Er weiß noch, dass er nach Hause wollte. Er schleppte sich zur nächsten U-Bahnstation. Im Eingangsbereich lehnte ein Typ an der Wand und rauchte. Er rief ihm irgendwas hinterher. A drehte sich um und schrie: »Was willst du, du Hurensohn?« B hob den Kopf, sah A in die Augen und ging auf ihn zu. A kann sich an kaum etwas vor diesem Moment erinnern, aber der Hass, der körperliche Drang, den Typen plattzumachen, steht ihm auch jetzt noch vor Augen. »Junge, du schaust scheiße aus«, sagte B, als er A gegenüberstand. B lächelte, als er das sagte. In diesem Moment brach es aus A heraus: Der Schmerz darüber, verlassen worden zu sein, das Gefühl der Impotenz, eine lange Wut auf sein Leben, in dem er immer nur für andere gearbeitet hatte, der Alkohol, das Adrenalin. A klappte in sich zusammen. Als er wieder zu sich kam, saß er mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf dem gefliesten Boden der U-Bahnstation. B, der ihm aufgeholfen und an die Wand gesetzt hatte, saß neben ihm und trank A.s Wodka. Er fragte: »Bist du ok?«
Szene 2:A trifft um 0.30 Uhr auf B. Er hat eine Flasche Wodka in der Hand. Die Flasche ist halb leer. Noch vor vier Stunden war A.s Leben in Ordnung. Klar, er hat Stress auf der Arbeit, aber wer hat das nicht. Und mit seiner Freundin läuft es gut. Er ist gerne mit ihr zusammen, fühlt sich vielleicht nicht immer verstanden, aber wer kann das schon von sich behaupten. Seine Freundin fühlt sich ab und an bestimmt auch missverstanden. Als ihn ein Freund vor Kurzem fragte, was er sich wünsche im Leben, sagte er, alles laufe gut. Er sei zufrieden. Er ahnte nicht, dass seine Freundin ihm an diesem Abend sagen würde, dass es vorbei ist. Endgültig, kein Hin und Her, kein Lass-es-uns-so-oder-so-Versuchen, kein Lass-uns-Freunde-Bleiben. Sie sagte: Nichts außer einem klaren Schnitt macht Sinn. Dann bat sie ihn zu gehen. Er ging. Er kaufte eine Flasche Wodka setzte sich auf eine Bank in der Innenstadt, starrte vor sich hin und betrank sich. Er kann sich nicht genau daran erinnern, was dann passierte. Saß er stundenlang auf der Bank, oder lief er ziellos umher? Erinnerte er sich an gemeinsam Erlebtes? Dachte er an ihren Körper? Keimte da der Hass, weil ein anderer diesen Körper spüren wird? Steigerte er sich in einen Wahn hinein, von dem er immer geglaubt hatte, er würde ihn nie befallen? Er weiß noch, dass er nach Hause wollte. Er schleppte sich zur nächsten U-Bahnstation. Im Eingangsbereich lehnte ein Typ an der Wand und rauchte. Er rief ihm irgendwas hinterher. A drehte sich um und schrie: »Was willst du, du Hurensohn?« B hob den Kopf, sah A in die Augen und ging auf ihn zu. A kann sich an kaum etwas vor diesem Moment erinnern, aber der Hass, der körperliche Drang, den Typen plattzumachen, steht ihm auch jetzt noch vor Augen. »Junge, du schaust scheiße aus«, sagte B, als er A gegenüberstand. B grinste, als er das sagte. In diesem Moment brach es aus A heraus: Der Schmerz darüber, verlassen worden zu sein, das Gefühl der Impotenz, eine lange Wut auf sein Leben, in dem er immer nur für andere gearbeitet hatte, der Alkohol, das Adrenalin. A packte B und schlug ihn zu Boden. Er hörte erst auf, auf B einzutreten, als er von Passanten von ihm weggerissen wurde.
Während der Ablauf der ersten Szene konstruiert und unglaubwürdig wirkt,44 erscheint der Verlauf der zweiten Szene fast schon folgerichtig. Der in seinem Besitzstolz verletzte Mann, eine spontane, aber doch tiefsitzende Verachtung, der Alkohol, die innere Anspannung, die ein Ventil sucht, ein zufälliges Aufeinandertreffen, ein Blick, ein Wortwechsel, ein Hurensohn, eine Rangelei, ein Faustschlag, der so trifft, dass ein Mensch zu Boden geht, ein Mensch, der auf den am Boden Liegenden eintritt.
Dabei unterscheidet die beiden Geschehensabläufe ein einziges Wort: B lächelt, B grinst. In beiden Szenen ist das Lächeln/das Grinsen entscheidend für den Fortgang des Geschehens. Doch während das Lächeln die konflikthafte Handlungskette unterbricht, indem B Nähe und Mitgefühl zeigt und A es auch so versteht, eskaliert das Grinsen die konflikthafte Handlungskette, indem B A Überlegenheit und Spott entgegenschleudert und A es auch so versteht. Die beiden Szenen, darauf soll die winzige Änderung der Beschreibung des Geschehensablaufs aufmerksam machen, können beliebig variiert werden. Es wäre möglich, die Szene in Hunderte Szenen zu verwandeln, die in manchen Aspekten identisch sind, in anderen nicht. Die Trennung der Freundin kann eine Rolle spielen, muss es aber nicht. A könnte in Begleitung seiner Freundin auf B