Die letzte Französin - Jérôme Leroy - E-Book

Die letzte Französin E-Book

Jérôme Leroy

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Beschreibung

In einer Hafenstadt im Nordwesten Frankreichs hat der rechtsradikale Patriotische Block die Macht übernommen. Der Polizeiapparat wird ausgebaut und militarisiert. Doch weder Ruhe noch Ordnung kehren ein, im Gegenteil: Nahe der Sozialbau-Siedlung »800« wird Capitaine Mokrane Méguelati von der Terrorabwehr, der als Einziger Informationen über ein bevorstehendes Attentat hat, als vermeintlicher islamistischer Terrorist von einem Streifenpolizisten getötet. Der Schnellschuss hat fatale Folgen, denn nun weiß niemand, wo und wie der geplante Anschlag durchgeführt werden soll. Auch am Berufsgymnasium »Charles Tillon« ist die Stimmung angespannt, obwohl sich ein engagierter Lehrer und eine Jugendbuchautorin um Kontakt zu den Schülern bemühen und für Toleranz und ein friedliches Miteinander plädieren. Doch auch diese Idealisten sind angeschlagen. Die Jugendlichen wiederum tragen lieber die sozialen und ideologischen Konflikte der Gesellschaft im Kleinen aus, statt Romane zu lesen. Als die Bombenwarnung die Schule erreicht, muss sich die Klasse verbarrikadieren. Die Polizei durchkämmt fieberhaft die Stadt – doch wer hätte ahnen können, was ein junges Mädchen mit alldem zu tun hat, eine Schülerin, die zu allem bereit ist, damit das Leben noch einen Sinn hat? Jérôme Leroys atemloser Roman ist eine rasante Tour de Force durch die politischen und ideologischen Untiefen der französischen Gesellschaft.

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Seitenzahl: 95

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien unter dem Titel La petite gauloise, © La Manufacture de livres, Paris 2018

Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin.

Die Übersetzung des Zitats von Guy Debord, Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels, folgt der Übersetzung von Wolfgang Kuklies, Edition Tiamat, Berlin 1996/2013.

Die Übersetzung des Zitats von Arthur Rimbaud, Illuminationen, folgt der Übersetzung von Jeanne Mammen, Insel Verlag, Frankfurt/Main 1967.

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49a

D -22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus 2025

Deutsche Erstausgabe März 2025

Umschlaggestaltung:

Maja Bechert

www.majabechert.de

1. Auflage

ISBN EPUB 978-3-96054-388-6

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

»Die folgende Verordnung hat also zum Ziel, in einem einzigen Dokument alle Anordnungen zusammenzufassen, die beschlossen wurden, um der terroristischen Gefahr zu begegnen, und mit dem Plan Vigipirate und den Maßnahmen des Ministeriums zum Krisenmanagement eine Handlungsanweisung zu deren Umsetzung zu geben. Sie setzt die drei oben genannten Rundschreiben außer Kraft. Nur das Rundschreiben 2015-205 vom 25. November 2015 zum Aktionsplan Amok (APA) bleibt in Kraft.«

Offizielles Bulletin des Erziehungsministeriums, 13. April 2017

»Diese so vollkommene Demokratie stellt selber ihren unvorstellbaren Feind her, den Terrorismus. Sie will nämlich lieber, daß man sie nach ihren Feinden und weniger nach ihren Ergebnissen beurteilt.«

Guy Debord, Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels (1988)

»Vielleicht bin ich es, der sich irrt. Aber ich sage weiterhin, dass wir alle in Gefahr sind.«

Pier Paolo Pasolini, das letzte Interview am Vorabend seines Todes, 1. November 1975

Der Grund dafür, dass der Kopf von Capitaine Mokrane Méguelati vom Regionalbüro des Inlandsgeheimdienstes gerade von einer Kugel vom Kaliber 12 mm zerfetzt worden ist, die mit einer Mündungsgeschwindigkeit von 380 m pro Sekunde aus einer Taurus-Pumpgun mit einem 51 Zentimeter langen Lauf abgefeuert wurde, einer Waffe in der Hand von Brigadier Richard Garcia von der Police Municipale, ist zweifellos in den geopolitischen Wirren zu suchen, die sich fernab von dieser unter einer Hitzewelle leidenden Vorstadt abspielen. Die Vorstadt liegt oberhalb einer großen Hafenstadt im Westen, die bekannt ist für ihre aberwitzig hohe Arbeitslosenquote, ihre vor sich hin rottenden Werften und ihren Wiederaufbau in einem elegant stalinistischen Stil nach den Bombardierungen von 1944.

Wie auch immer, nun liegt eine Menge Hirn auf dem nächtlichen Asphalt der abschüssigen Straße, die der erst vor kurzem ins Rathaus eingezogene Patriotische Block in Rue Jean-Pierre Stirbois umbenannt hat, die aber viele Bewohner, die sich nicht um die neue Ordnung scheren, weiterhin beharrlich so nennen, wie sie vorher hieß, Rue Émile Pouget.

»Ich hatte keine andere Wahl, Cindy! Da ist schließlich ein Kanake mit einer Waffe in der Hand auf uns zugelaufen und hat wild gestikuliert, stimmt’s? Und das nach der Schießerei in der 800! Du hast doch auch gesehen, wie der Kanake wild gestikuliert hat, oder? Wir hatten das Recht, zu schießen, oder?«, fragt Brigadier Richard Garcia beunruhigt.

Cindy Lefèvre seufzt vor Erleichterung auf, trotz der Leiche von Mokrane Méguelati und des Schweißgeruchs von Richard Garcia. Cindy Lefèvre hatte schließlich auch Schiss bekommen, als einige Dutzend Meter vor ihnen ein Araber auftauchte, wild gestikulierte und eine Waffe schwang. Ein, wie es scheint, ganz gutaussehender Typ, der nun im Licht der Scheinwerfer des Dacia Duster mit der Aufschrift »Police Municipale« auf der Straße liegt. Sie hat den Duster gefahren, da Brigadier Richard Garcia, der normalerweise nie einem Weibsstück das Steuer überlassen würde, gerade eine Ehekrise hat und dauernd damit beschäftigt ist, entweder mit seiner Frau zu telefonieren oder ihr zu simsen.

Cindy Lefèvre seufzt auch vor Erschöpfung auf.

Seit mittlerweile fünf Jahren verdient sie sich ihren Lebensunterhalt bei der Police Municipale und führt parallel dazu ihr Jurastudium weiter, in der Hoffnung, die Aufnahmeprüfung der Police Nationale in der Kategorie A zu bestehen. Aber wie das so ist, die Zeit vergeht, und Cindy Lefèvre ist oft kaputt und bereits zweimal durch die Aufnahmeprüfung zum gehobenen Dienst gefallen. Dazu kommt, dass, seit der Patriotische Block die Stadt regiert und seine Law-&-Order-Politik durchzieht, Typen wie Richard Garcia eingestellt werden, ehemalige Militärs, die man bei der Armee loswerden will, und die mit einem Abgeordneten verwandt sind oder denen irgendein Ratsmitglied einen Gefallen schuldet. Kurzum, lauter Trottel, die nur ein Klotz am Bein sind. Sie sind noch nicht mal böse, oder jedenfalls nicht unbedingt, aber doch ziemlich bescheuert, so wie Richard Garcia, der sofort losstürzte, als die Zentrale meldete, dass es in der 800 eine Schießerei gab, »um den Kumpels von der Kripo zu helfen«. Dabei halten die »Kumpels von der Kripo« Brigadier Richard Garcia für einen ausgemachten Idioten und Arschkriecher, der ihnen ständig in die Quere kommt.

Inzwischen gehen da und dort in der Rue Jean-Pierre Stirbois (ehemals Rue Émile Pouget) bereits die Lichter an. Hier leben ängstliche Rentner und Durchschnittsarme in schäbigen Einfamilienhäusern, nur wenige hundert Meter unterhalb der »Tours des 800«, einer allseits verrufenen Hochhaussiedlung. Diese ist eine Art Reservat für junge indigene Junkies, radikalisierte Psychopathen, Bezieher von Grundsicherung, turbantragende Frauen, vermeintliche Priestermörder, angehende Attentäter, die mit dem Maschinengewehr in Konzerthallen herumballern, oder zukünftige Massenmörder, die mit einem 19-Tonner an einem Nationalfeiertag über eine Promenade am Meer rasen werden.

Gerade ist es 0:40 Uhr, stellt Cindy Lefèvre fest.

Brigadier Richard Garcia versucht vergeblich, sich in Erinnerung zu rufen, was er laut Protokoll jetzt tun muss. Er ist ein wenig überfordert: Der Ehestreit ist ihm aufs Gemüt geschlagen, die beiden Patronenhülsen seiner Taurus ST-12 Tactical Pumpgun bezeugen, dass er geschossen, aber sein Ziel beim ersten Mal verfehlt hat, und der tote Kanake, dem Cindy Lefèvre sich mit einer PA Unique 7,65 in der Hand gerade vorsichtig nähert, hat nur noch ein halbes Gesicht. Brigadier Richard Garcia war in der Armee bei der Einheit für Nachschub und Versorgung und nicht, wie er seine »Kumpels von der Kripo« glauben lassen möchte und entgegen jeder Wahrscheinlichkeit, bei den Spezialkräften.

Brigadier Richard Garcia, der meint, er verteidige den Westen gegen den Großen Austausch – denn er liest Renaud Camus auf den einschlägigen Websites –, könnte zufrieden sein, dass er einen bewaffneten Araber getötet hat, vermutlich einen islamolinksextremen Terroristen.

Doch er ist irgendwie genervt und irgendwie auch angewidert vom Anblick des zerfetzten Gesichts des Toten im Scheinwerferlicht des Duster. Brigadier Richard Garcia versucht, seine Ängste in Worte zu fassen, so wie die Psychologin, die er auf Wunsch seiner Frau einmal in der Woche aufsucht, es ihm empfohlen hat.

»Ich bin irgendwie genervt und irgendwie auch angewidert«, sagt er laut in die warme Nacht hinein, die nach Salz und Erdöl riecht, ein Geruch, der von den Terminals der großen Hafenstadt weiter unten zu ihnen dringt.

»Was faselst du da?«, fragt Cindy Lefèvre, die sich gerade über den Araber mit dem halben Gesicht beugt.

Brigadier Richard Garcia ist sich nicht sicher, ob Cindy Lefèvre eigentlich das Recht hat, den toten Körper des putativen Terroristen zu betatschen, bevor die Spurensicherung da ist. Aber Cindy Lefèvre wird schon wissen, was sie tut.

Schließlich nimmt Cindy Lefèvre an Aufnahmeprüfungen teil.

»Was ist da los? Das waren doch Schüsse, oder?«, ertönt die Stimme eines paranoiden Rentners aus der Fensterluke eines Hauses aus Bruchsandstein.

»Verlassen Sie sicherheitshalber nicht das Haus, Monsieur«, befiehlt Brigadier Richard Garcia in einem Ton, der männlich klingen soll, dabei kippt seine Stimme vor Angst und klingt lächerlich hoch.

»Machen die in der 800 schon wieder Rabatz? Oder ist es der IS? Oder die Gewerkschaft?«, hakt der paranoide Tattergreis aus der Nummer 424 der Rue Jean-Pierre Stirbois (ehemals Rue Émile Pouget) nach.

Brigadier Richard Garcia antwortet nicht. Brigadier Richard Garcia schaut zu Cindy Lefèvre, die neben dem Toten kniet. Er bewundert den leicht ausladenden Po von Cindy Lefèvre, der sich unter dem marineblauen Drillich abzeichnet. Ein bisschen ausladend, klar, aber ganz nach dem Geschmack von Richard Garcia. Der Brigadier bekommt ein Ständerchen, seine Frau hat ihn seit Monaten aus dem Ehebett verbannt, und Cindy Lefèvre sieht auch sonst nicht schlecht aus und ist sogar ganz nett.

Brigadier Richard Garcia malt sich also aus, wie er sich ihr im Dunkeln nähert und es ihr von hinten besorgt, über dem toten Kanaken und unter den lüsternen Augen des paranoiden Rentners, und all das im Scheinwerferlicht des Duster, mit Blick auf die erleuchtete Hafenstadt, die nach Salz und Erdöl riecht. Manchmal hat Richard Garcia nahezu pasolinihafte Ideen für Filmszenen.

Brigadier Richard Garcia hat jetzt einen richtigen Ständer, aber seine Erektion und sein Wunschtraum, wie Cindy Lefèvre ihm ihren weißen, üppigen Hintern darbietet, verschwinden schlagartig, als Cindy Lefèvre sich aufrichtet, zu ihm umdreht und sagt:

»Richard, ich glaube, du hast einen Polizisten erschossen.«

* * *

Jetzt ist es an der Zeit, dem Leser mitzuteilen, dass er weder Brigadier Richard Garcia noch Polizeibeamtin Cindy Lefèvre wiedersehen wird. Sie haben in dieser Geschichte nur eine Nebenrolle gespielt und sollten lediglich klarmachen, in welcher Zeit und an welchem Ort wir uns befinden, und wie gewalttätig es hier zugeht.

Wenn Sie darauf bestehen, könnte ein allwissender Erzähler Ihnen mitteilen, dass Cindy Lefèvre in einigen Jahren, als sie es satthat, immer wieder durch die Aufnahmeprüfung zum gehobenen Dienst zu fallen, die Hafenstadt verlassen wird, nachdem sie einen zehn Jahre jüngeren Allgemeinmediziner geheiratet hat, mit dem sie sich im Gers niederlassen wird. In den 2020er Jahren wird Cindy Lefèvre zwei Gedichtbände bei Gallimard veröffentlichen und damit einen Achtungserfolg bei Lyrikliebhabern erzielen.

Brigadier Richard Garcia wird relativ ungeschoren davonkommen, nachdem er Capitaine Mokrane Méguelati weggepustet hat. Dennoch wird der vom Patriotischen Block dominierte Stadtrat, der an seiner Entdämonisierung arbeitet, Brigadier Richard Garcia wenige Monate später aus dem Polizeidienst entlassen. Seine Frau wird ihn verlassen. Er wird Türsteher im »Blue Note« werden, einem dieser Clubs am Hafen im angesagten Zeughaus-Viertel. Bei einer Studentenparty wird Türsteher Richard Garcia eine Frau, die im Masterstudiengang Internationales Recht studiert, vor einer Vergewaltigung durch besoffene Studenten einer Business School retten, deren Sexualität von früher Jugend an durch YouPorn und Tukif geprägt wurde. Richard Garcia wird ihnen übel die Fresse polieren und der jungen Frau, die weinend und mit blutender Lippe zwischen zwei Abfallcontainern hindurchkriecht, dabei helfen, sich wieder anzuziehen.

Die junge Frau, die sich entgegen aller Wahrscheinlichkeit trotz des Klassenunterschieds in ihn verliebt, wird den geschiedenen Türsteher Richard Garcia zu einem neuen Mann machen. Richard Garcia wird dabei zwanzig Kilo und seine rechtsextreme Gesinnung verlieren. Er wird seiner neuen Liebe, inzwischen Anwältin und auf NGO-Recht spezialisiert, bei ihren diversen humanitären Missionen quer durch die Welt folgen. Letzten Informationen nach soll sich Richard Garcia in einem Durchgangslager für Flüchtlinge in Idomeni, in der griechischen Provinz Makedonien, um Nachschub und Versorgung kümmern.

Hingegen ist es für unsere Geschichte nicht überflüssig zu erwähnen, dass Mokrane Méguelati, Capitaine beim Inlandsgeheimdienst, an einem Juniabend, so sanft wie die erste Liebe in einem Chanson von Charles Trénet, in der Cité 800 im Einsatz war, bevor er eine Kugel vom Kaliber 12 mm in die Visage bekam und posthum vom Präfekten und dem Innenminister mit der Ehrenlegion ausgezeichnet wurde, bei einer bewegenden Zeremonie, bei der ein Grußwort des Präsidenten der Republik verlesen wurde, der nicht selbst teilnehmen konnte, da er gerade auf Dienstreise in einer Ölmonarchie war.

* * *

Der Grund dafür, dass Capitaine Mokrane Méguelati vom Regionalbüro des Inlandsgeheimdienstes an jenem Abend ein Treffen mit einem Spitzel hatte, ist zweifellos ebenfalls in den fernen geopolitischen Wirren zu suchen, aber vor allem in der Art und Weise, wie diese im Allgemeinen zu uns und im Besonderen in diese große Hafenstadt im Westen des Landes importiert wurden.