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Ein vierhändiger Kriminalroman aus der Feder von zwei Meistern des politischen Noir: In Lyon wird ein deutsches Ehepaar ermordet, ehemalige Mitglieder einer linksextremen Gruppe. Christine, hartgesottene Kommissarin in einer Antiterroreinheit und nach einer blutigen Aktion gerade erst rehabilitiert, findet am Tatort ein altes Foto: Es zeigt sie selbst als Kind, mit ihrer Mutter, die vor kurzem Selbstmord begangen hat – und einen »Wolfgang«. Bei ihren Nachforschungen stößt sie auf eine Mail desselben Wolfgang im Postfach ihrer Mutter, kurz vor deren Selbstmord. Kurz darauf in der Nähe von Leipzig. Das Haus von Wolfgang und Elke am Rand einer Kiesgrube steht kurz vor dem Abriss. Es ist Zeit, einige im Garten versteckte Relikte aus der Vergangenheit auszugraben, zumal Wolfgang wegen seiner antifaschistischen Twitter-Posts massiv bedroht wird. Christine ahnt nicht, dass in dieser Nacht noch andere auf dem Weg dorthin sind – und dass sie schon bald nichts mehr unter Kontrolle haben wird…
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Seitenzahl: 146
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JÉRÔME LEROY, geboren 1964 in Rouen, ist Autor, Literaturkritiker und Herausgeber. Er hat zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht, die mehrfach ausgezeichnet wurden. Auf Deutsch erschienen Der Block (2017), Die Verdunkelten (2018) und Der Schutzengel (2020), alle bei Edition Nautilus. Jérôme Leroy lebt in Lille.
MAX ANNAS, geboren 1963, lebt als Schriftsteller in Berlin. Er hat vor 2014 etwa ein Dutzend dokumentarischer Bücher veröffentlicht und seither sieben Romane, die in Südafrika, der DDR, der BRD, dem sogenannt wiedervereinigten Deutschland und in einem Deutschland der Zukunft spielen. Er wurde mehrfach mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien Der Hochsitz (Rowohlt 2021).
CORNELIA WEND, geboren 1965 in Detmold, studierte Französisch und Germanistik in Hannover, Hamburg und Rouen. Seit 1994 arbeitet sie als freie Übersetzerin, u. a. von Elisabeth Filhol, Patrick Pécherot, Paul Colize, Chloé Mehdi und natürlich Jérôme Leroy.
Dieses Projekt entstand auf Initiative des internationalen Festivals Quais du Polar im Rahmen einer Zusammenarbeit mit dem Institut Français Leipzig und den Verlagen Points und Edition Nautilus. Es wurde unterstützt vom Institut Français, der Stadt Lyon und dem Deutsch-Französischen Bürgerfonds.
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a
D - 22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte vorbehalten
© Edition Nautilus 2022
Deutschsprachige
Originalveröffentlichung
Erstausgabe März 2022
Umschlaggestaltung:
Maja Bechert
www.majabechert.de
Satz: Jorghi Poll
Autorenporträts auf S. 2:
© Pascal Ito für Jérôme Leroy
© privat für Max Annas
1. Auflage
E-Book-ISBN: 978-3-96054-283-4
EDITORISCHE NOTIZ
ERSTES KAPITEL
ZWEITES KAPITEL
DRITTES KAPITEL
VIERTES KAPITEL
FÜNFTES KAPITEL
SECHSTES KAPITEL
SIEBTES KAPITEL
ACHTES KAPITEL
Der Roman Terminus Leipzig ist das Ergebnis einer Kooperation zwischen zwei Autoren aus zwei Ländern, Max Annas aus Deutschland (auf Französisch bei Belfond veröffentlicht) und Jérôme Leroy aus Frankreich (auf Deutsch bei Edition Nautilus), nach einer Idee des Festivals Quais du Polar und des französischen Verlags Points. Ein ganz neues gemeinschaftliches Schreibprojekt, ein Krimi mit zwei Hauptfiguren, einer französischen und einer deutschen, die zwischen den Zeilen auch die kulturellen Unterschiede beider Länder thematisieren, für ein besseres gegenseitiges Verständnis. Zwei Meister des politischen Noir schreiben in einer Art »Cadavre-exquis«-Spiel gemeinsam einen Roman, immer abwechselnd jeder ein Kapitel. Terminus Leipzig erscheint unter demselben Titel gleichzeitig bei Points in Frankreich.
Unser Dank gilt Hélène Fischbach und Cécile Dumas von Quais du Polar, Natalie Beunat von Points und allen Beteiligten, vor allem aber den Autoren und den Übersetzerinnen Mathilde Julia Sobottke und Cornelia Wend.
In Erinnerungan Marianne Annas (1932-2021) undLucia Siemienski (1939-2021)
Innerhalb einer Woche bekam Christine Steiner, Commissaire bei der Antiterroreinheit DGSI, drei Kugeln aus einer AK47 mitten in die Brust und erfuhr vom Selbstmord ihrer Mutter.
Das geschah im Februar, dem kürzesten und fiesesten Monat. Zwischen beiden Ereignissen gab es keinen Zusammenhang, aber im Nachhinein kam Christine Steiner nicht umhin, eine Verbindung zwischen beiden zu sehen. Welche das war, fand sie nie heraus, höchstens, dass es im Leben Zufälle gibt, die nichts beweisen, außer die Absurdität des Daseins.
Die drei Kugeln aus der AK47 wurden an einem Montag im Morgengrauen abgefeuert. Einem blau- und rosafarbenen, eisigen Morgengrauen in der Picardie, nicht weit von der Somme-Bucht. Es lag eine salzige Note in der Luft.
Commissaire Steiner hatte am Sonntagnachmittag kurzfristig die drei Kollegen zusammengerufen, auf die sie in der DGSI immer zählen konnte, zwei Männer und eine Frau. Sie waren jung, ehrgeizig, treu, immer verfügbar und bereit, sich über Gesetze hinwegzusetzen: die Lieutenants Lucien Cazal und Fadila Amrani und Major Dominique Forma. Sie brachten Christine eine Art von Bewunderung entgegen, die wohl mit ihrem Alter zu tun haben musste. Sie war 51, bald 52 Jahre alt. Sie hatte sich nie dazu berufen gefühlt, für andere die Mutter oder den Guru zu spielen. Sie fühlte sich alt, einsam, von einer latenten Verzweiflung erfüllt, die sie seit Jahren mit einem Übermaß von Beruhigungsmitteln bekämpfte, gegen ihre Panikattacken, und mit Kokain, um einen klaren Kopf zu behalten.
Das Treffen fand bei ihr zu Hause statt, in einer Drei-Zimmer-Wohnung im 14. Arrondissement, die eingerichtet war wie die Suite eines Luxushotels und genauso unpersönlich, am Couchtisch im Wohnzimmer. Sie hatte für Cazal und Forma Kaffee gekocht und für Amrani Pfefferminztee.
»Ich weiß, wo Boulinier ist«, sagte Christine Steiner. »Er ist gestern Abend in einem Bauernhof in der Nähe von Routhiauville eingetroffen, in der Somme-Bucht. Der Bauernhof ist, um genau zu sein, ein Ferienhaus, das ihm ein reicher Freund zur Verfügung gestellt hat. Besagter Freund hat es vorgezogen, ihn an mich zu verpfeifen. Boulinier wird offenbar lästig. Schließlich muss einer, der die Überlegenheit der weißen Rasse predigt, auf seinen guten Ruf achten.«
»Und wie heißt dieser reiche Freund, Commissaire?«, fragte Lieutenant Cazal, ein kleiner, muskulöser Dunkelhaariger mit wachem Blick.
»Meine Quellen behalte ich lieber für mich, wenn du erlaubst, Cazal. Das ist Teil des Deals. Er darf weiter seine ultrarechte Bewegung finanzieren, ich gebe seinen Namen nicht an die Presse, und im Gegenzug überlässt er mir Boulinier.«
Boulinier wurde seit vierzehn Tagen gesucht. Der ehemalige Fremdenlegionär führte die Action Europe Blanche an, eine ultrarechte Prepper-Gruppe, die Anschläge auf Moscheen und Wohnheime von Arbeitsmigranten in Südfrankreich verübt hatte. Wie durch ein Wunder gab es dabei keine Toten. Das Verrückte daran war, dass einige Medien es fertigbrachten, diese Attentate zu relativieren, indem sie auf die viel größere islamistische Gefahr hinwiesen. Sie riefen die Soldaten in Erinnerung, die dabei ihr Leben gelassen hatten. Die rechtsextremen Parteien waren kurz davor, die Angriffe zu entschuldigen. Schließlich gab es dann doch noch eine Razzia der Antiterroreinheit. Man überraschte die Mitglieder der Action Europe Blanche am frühen Morgen bei sich zu Hause. Da schlummerten die braven Familienväter noch friedlich. Sie wurden alle geschnappt, bis auf Boulinier, dem die Flucht gelang.
»Seid ihr grundsätzlich einverstanden?«, fragte Christine Steiner. »Wir überschreiten damit allerdings unsere Kompetenzen, nur, dass ihr das wisst …«
»Das wäre ja nicht das erste Mal«, antwortete Dominique Forma, dem seine Brille mit den kleinen runden Gläsern und sein sorgsam gestutzter Dreitagebart eine gewisse Nonchalance verliehen.
»Wir könnten diesen Mistkerl doch auch einfach abknallen …«, murmelte Fadila Amrani, eine hochgewachsene Kabylin mit hellen Augen. »Seit Monaten verbreitet er Hassbotschaften in den sozialen Netzwerken, ruft zu fremdenfeindlichen Ausschreitungen und zum Rassenkrieg auf. Schnappen wir ihn lebend, dürfen wir dabei zusehen, wie er sich anschließend auf allen Kanälen wichtigmacht, und die Faschos jeglicher Couleur ihn mehr oder minder offen unterstützen. Davon habe ich echt die Schnauze voll. Ich möchte, dass zur Abwechslung mal die anderen Angst haben, und sei es nur für meine Familie …«
Es trat Stille ein in Christine Steiners Wohnzimmer.
In der Ferne hörte man die Sirene eines Krankenwagens. Christine Steiner hätte antworten können, die Polizei sei keine Todesschwadron, denn wenn man sich so verhalte wie die Gegenseite, sinke man damit auf deren Niveau. Doch sie glaubte selbst nicht mehr daran.
»Fadila, dazu kann ich dir nur sagen, dass wir kein Risiko eingehen werden, falls Boulinier bewaffnet ist, und davon ist auszugehen.«
Um fünf Uhr morgens am Montag also hielt der schwarze SUV mit ihren drei Kollegen vor Commissaire Steiners Haus. Als sie ihn durchs Fenster sah, prüfte sie ein letztes Mal, ob ihre Sig Sauer vollständig geladen war, steckte sie in das Gürtelholster unter dem streng geschnittenen Blazer ihres schwarzen Hosenanzugs, und zog sich mit Hilfe ihrer Kreditkarte eine Linie Koks auf dem Küchentisch.
Eine Eiseskälte breitete sich in ihren Nebenhöhlen aus, und sie wurde schlagartig von diesem Gefühl von Stärke und Optimismus erfüllt, das sie so liebte. Es war sogar das Einzige, das sie an diesem Beruf noch liebte.
Fadila Amrani, die bei sämtlichen Fahrtests der Polizei immer als Beste abschnitt, saß am Steuer. Um diese Uhrzeit war der normalerweise irrsinnige Pariser Verkehr flüssig, und sie waren schnell auf der A16.
Fadila Amrani schenkte den Tafeln mit den Warnhinweisen in Leuchtschrift, die Glatteis ankündigten, keine weitere Beachtung. Mit traumwandlerischer Sicherheit wich sie diesen Stellen aus. Steiner schickte währenddessen Cazal und Forma, die auf der Rückbank saßen, den Grundriss des Bauernhofs, in dem Boulinier sich gerade befand, auf ihre Handys.
Endlich kam der SUV in Routhiauville in der Nähe des Kriegerdenkmals zum Stehen. Der Hof war keine fünfhundert Meter entfernt. Christine Steiner und ihre drei Begleiter holten ihre Ausrüstung aus dem Kofferraum. Sie zogen ihre schusssicheren Westen an, nahmen ihre kompakten Sturmgewehre des Typs HK53 an sich, und befestigten ein paar Blendgranaten an ihren Gürteln. Zu guter Letzt warf Fadila Amrani ihre langen Haare nach hinten und band sie mit einem Haargummi in Polly-Pocket-Rosa zusammen, eine Reminiszenz an ihre Mädchenzeit, die noch nicht allzu lange zurücklag.
Christine Steiner wusste, dass es falsch war, aber sie liebte dieses im Angesicht der Gefahr besonders intensive Gefühl, Teil einer Schicksalsgemeinschaft zu sein. Wenn ihr verpfuschtes Leben einen Sinn hatte, dann wegen dieser Momente, in denen das Adrenalin es mit jeder Droge aufnehmen konnte.
Der Hof bestand aus zwei rechtwinklig zueinander angeordneten Bauernhäusern aus Backstein.
Fadila Amrani und Dominique Forma kamen von hinten, Christine Steiner und Lucien Cazal von vorne.
Niemand konnte ahnen, dass Boulinier gerne draußen pinkeln ging.
Das wäre an sich kein Problem gewesen, doch ging er gerne mit seiner umgehängten AK47 draußen pinkeln. Er trat hinter einem Busch hervor und knöpfte sich den Hosenschlitz zu. Er sah Christine und Cazal, bevor Christine und Cazal ihn sahen.
Die erste Salve der AK47 schoss Cazal den Kopf weg. Die zweite traf mit der instinktiv abgegebenen Salve aus Christine Steiners Sturmgewehr zusammen. Zum Trost konnte sie noch sehen, wie Boulinier zusammenbrach, während zeitgleich drei Kugeln in ihre Weste einschlugen.
Die Wucht schleuderte sie rückwärts zu Boden. Sie hatte das Gefühl, ihre Brust würde von einem tonnenschweren Gewicht niedergedrückt, es war kaum zu ertragen. Sie versuchte sich aufzurichten, erkannte in einem roten Nebel schemenhaft Fadila Amrani und Dominique Forma, die auf sie zuliefen. Forma blieb bei Boulinier stehen, während Amrani sich neben ihr niederkniete.
»Das wird schon wieder, Commissaire Steiner, das wird schon wieder …«
Dann wurde alles schwarz.
Christine verließ das Krankenhaus Georges Pompidou am Mittwoch am späten Vormittag, nachdem man sie achtundvierzig Stunden zur Beobachtung dabehalten hatte. Man gab ihr ein Rezept für ein Schmerzmittel mit. Sie verzichtete darauf, der jungen diensthabenden Ärztin zu erklären, dass sie zu Hause einen ganzen Schrank voll Kodein hatte.
Niemand hatte sie besucht.
Weder Familie noch Freunde, denn sie hatte weder das eine noch das andere. Ihre letzte Liebesbeziehung lag auch mindestens drei Jahre zurück, falls man eine mehr oder minder befriedigende schnelle Nummer mit einer Zufallsbekanntschaft Liebe nennen wollte. Sie beklagte sich nicht darüber, sie stellte es nur fest. Auf gewisse Art kam ihr das entgegen. Schon möglich, dass das in ein paar Jahren anders sein würde, aber für den Notfall hätte sie eine einfache Lösung parat, schließlich trug sie ihre Dienstwaffe immer bei sich.
Komisch war, dass keiner ihrer Kollegen gekommen war. Klar, Amrani und Forma hatten wahrscheinlich ein Disziplinarverfahren am Hals oder waren sogar vorübergehend suspendiert, und der arme Cazal ruhte im Leichenschauhaus. Die anderen ließen sich aber sicher aus einem anderen Grund nicht blicken: Sie musste quasi als radioaktiv verstrahlt gelten. Bei der DGSI, ja sogar im Innenministerium an der Place Beauvau, dürfte es ein Riesendonnerwetter gegeben haben. Im Einsatz bewiesen die Mitglieder der Antiterroreinheit schon ab und an mal Mut, im Büro benahmen sie sich jedoch wie typische Beamte. Machten ein Kollege oder eine Kollegin eine Dummheit, ging man lieber in Deckung.
Christine ging auf ihrem Handy die diversen Nachrichtenportale durch. Die Schießerei auf dem Hof bei Routhiauville beherrschte zwar die Schlagzeilen, aber ihr Name wurde nicht genannt. Man erwähnte nur, dass ein sechsundzwanzigjähriger Polizist bei der Spezialoperation ums Leben gekommen war, und Boulinier, nachdem er das Feuer eröffnet hatte, getötet worden war. Das entsprach den Tatsachen. Auf dem Bauernhof selbst hatte man weitere Waffen und Munition sowie den Grundriss eines Erstaufnahmelagers für Asylsuchende in der Nähe von Lille gefunden. Ob das stimmte oder frei erfunden war, um diese in jeder Hinsicht illegale Operation zu rechtfertigen, konnte Christine nicht beurteilen.
Kaum hatte sie das Krankenhaus verlassen, erhielt sie eine SMS: »Komm Punkt 14 Uhr in mein Büro.«
Ein Absender erübrigte sich.
Es war die Nummer des Großen Chefs.
Und nun stand ihr der Große Chef in seinem weitläufigen Büro in der Avenue de Villiers in Levallois-Perret gegenüber. Sie hatte gerade noch genug Zeit gehabt, nach Hause zu fahren, das riesige Hämatom, das ihre Brüste grün und blau färbte, zu inspizieren, etwas Kodein zu nehmen, und nach kurzem Zögern eine Linie Koks, um den abstumpfenden Effekt der Schmerzmittel auszugleichen. Umgezogen hatte sie sich auch.
»Setz dich.«
Sie waren im gleichen Alter, hatten beide an der Polizeihochschule in Saint-Cyr-au-Mont-d’Or studiert. Im letzten Jahrhundert waren sie sogar mal ein Liebespaar gewesen. Christine fragte sich, wie er sie jetzt wohl sah: Eine Frau um die fünfzig, die ziemlich ausgemergelt wirkte, ihre Haare zum Knoten gebunden hatte und einen streng wirkenden Hosenanzug trug.
»Du gehst mir auf die Nerven, Christine. Du gehst mir verdammt auf die Nerven. Du hast jeglichen Sinn für das rechte Maß verloren, und scherst dich nicht um Hierarchien. Stattdessen hast du dir deine kleine, persönliche Zelle aufgebaut und führst deinen eigenen Krieg. Das ist nicht hinnehmbar. Einer deiner Schützlinge musste dabei dran glauben. Nur damit du es weißt, ich habe die beiden anderen aufgefordert, einen Antrag auf Versetzung zu stellen.«
»Ich …«
»Halt die Klappe. Du bist eine gute Polizistin, aber total neben der Spur. Ich kenne dich. Es geht dir nicht gut. Du siehst aus wie ein Skelett. Du warst seit zwei Jahren nicht mehr bei der Polizeipsychologin und leitest weiter Einsätze. Es ist mir scheißegal, ob nur das Adrenalin dich pusht oder etwas anderes. Dein Job ist, Dinge zu koordinieren, und nicht an der Somme bei irgendwelchen Aushilfsnazis den Cowboy zu spielen. Also, hör zu. Du nimmst dir die nächsten sechs Wochen Urlaub, und währenddessen überlege ich, was ich in Zukunft mit dir anfangen werde. Und damit fährst du noch sehr gut, Commissaire, du …«
Christines Smartphone vibrierte in der Tasche ihres Blazers. Automatisch zog sie es hervor und las die SMS. Der Große Chef wollte angesichts dieser Ungeniertheit gerade losbrüllen, als er sah, wie Christine in Tränen ausbrach.
»Um Gottes willen, was ist denn los?«
»Meine Mutter … meine Mutter hat sich das Leben genommen.«
Es war Anfang April, eine für die Jahreszeit ungewöhnliche Wärme hielt sich in Frankreich und Europa, und wie jedes Jahr wurden die von Météo France aufgezeichneten bisherigen Temperatur-Rekorde für diesen Monat erneut übertroffen.
Christine Steiner saß in einem Wagen erster Klasse im TGV Paris–Lyon und fragte sich, was sie da eigentlich zu suchen hatte. In einer knappen Stunde würde sie in der Hauptstadt der Gallier sein. Sie kannte Lyon nicht besonders gut. Sie war seit Beendigung ihrer Ausbildung an der Polizeihochschule in Saint-Cyr-au-Mont-d’Or nicht mehr dort gewesen. Sie wollte auf andere Gedanken kommen und das Festival Quais du Polar besuchen, ein Krimifestival, zu dem Autoren und Autorinnen aus der ganzen Welt kamen.
Es war das erste Mal seit der Boulinier-Affäre, dem Selbstmord ihrer Mutter Petra und ihrem Zwangsurlaub, dass sie eine Reise unternahm. Abgesehen vom Großen Chef wusste niemand davon. Er rief sie alle zwei Tage an, um zu hören, wie es ihr ging. Schon erstaunlich. Er schien sich ernsthaft um sie zu sorgen. Wegen ihrer früheren Liebesbeziehung? Oder weil er Angst hatte, eine exzellente Mitarbeiterin zu verlieren? Vermutlich von beidem ein bisschen.
»Das ist eine ausgezeichnete Idee, Christine, das Quais du Polar. So kommst du mal unter Leute. Genau das empfiehlt dir doch deine Psychologin, oder?«
Als wüsste sie nicht, dass die Polizeipsychologin ihn nach jedem Gespräch über ihren Zustand informierte. Die Psychologin war eine junge, sympathische Frau. Christine war ein alter Hase und wusste, was sie hören wollte. Sie hatte ihr nicht gestanden, dass sie von Kokain und Beruhigungsmitteln abhängig war.
Sie hatte ihr auch nicht besonders viel über ihre Mutter erzählt, eine pensionierte Krankenschwester, die vor vierundsiebzig Jahren in Kiel zur Welt gekommen und im Februar in Rouen gestorben war, beim Sturz aus dem Fenster ihrer Wohnung in der vierten Etage im Saint-Sever-Viertel.
Was hätte sie ihr auch groß erzählen sollen?
Christines Kindheit und Jugend in Rouen waren ein einziges großes Schweigen gewesen, mit regelmäßigen depressiven Phasen ihrer Mutter. Sie wurde als kleines Mädchen oft bei Kolleginnen ihrer Mutter untergebracht. Ihre Mutter war immer liebevoll zu ihr, wurde nie wütend, nur ein einziges Mal, als Christine in der Schule Deutsch als zweite Fremdsprache wählen wollte. Als ob Petra Steiner jede Erinnerung an ihre Herkunft auslöschen wollte. Nur ein leichter, kaum wahrnehmbarer deutscher Akzent war ihr geblieben.
Christine, die als Polizistin bei der Antiterroreinheit gewohnt war, alles über ihre Zielpersonen in Erfahrung zu bringen, hatte paradoxerweise nie das Bedürfnis, mehr über ihre Mutter zu erfahren, als ihr bekannt war. 1947 in Kiel geboren, 1971 mit Christine nach Frankreich gezogen, da war Christine knapp drei Jahre alt. Als Grund dafür gab ihre Mutter Liebeskummer an, den Wunsch nach einem Tapetenwechsel, und Frankreich und die französische Sprache, die sie in der Schule gelernt hatte, hätten sie schon immer fasziniert. Es stimmt, ihre Mutter liebte das Französische. In ihrem Bücherschrank im Schlafzimmer standen ausschließlich Bücher französischer Dichter und Romanciers. Als Christine zur Vorbereitung der Beerdigung zwei Nächte in ihrem früheren Jugendzimmer in Rouen verbracht hatte, hatte sie in einem Gedichtband von Aragon geblättert und war dabei auf ein Gedicht gestoßen, bei dem Petra Steiner mehrere Zeilen unterstrichen hatte.
Sa vie elle ressemble à ces soldats sans armes
Qu’on avait habillés pour un autre destin
À quoi peut leur servir de se lever le matin
Eux qu’on retrouve au soir désœuvrés incertains
Dites ces mots ma vie et retenez vos larmes
Il n’y a pas d’amour heureux.*