Die Letzte macht das Licht aus - Bethany Clift - E-Book

Die Letzte macht das Licht aus E-Book

Bethany Clift

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Beschreibung

Das Ende der Welt ist ihr Anfang

Im Dezember 2023 geht die Welt unter: Innerhalb kürzester Zeit löscht ein extrem aggressives neuartiges Virus die ganze Menschheit aus. Die ganze Menschheit? Nein. Mitten in London, aus unerfindlichen Gründen, überlebt eine einzige Frau. Eine Frau, die ihr Leben lang versucht hat, ihre eigenen Gefühle zu verstecken und sich an andere Menschen anzupassen. Wie soll sie ganz alleine zurechtkommen? Nur mit einem Hund als Begleitung macht sie sich in einem postapokalyptischen Land auf die Suche nach Überlebenden. Und findet dabei immer mehr zu sich selbst.

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Das Buch

Was für ein Mensch wird man, wenn es niemanden gibt, für den es sich zu leben lohnt?

In rasantem Tempo löscht ein neuartiges tödliches Virus im Jahr 2023 die gesamte Menschheit aus. Eine einzige Frau in London überlebt. Sie weiß nicht, wieso, sie weiß nicht, wie lange noch. Verwirrt und verängstigt macht sie sich auf den Weg durch das Horrorszenario. Ihr Bürojob hat sie nicht gerade auf diesen Fall vorbereitet. Stück für Stück durchkämmt sie London auf der Suche nach anderen Überlebenden, nach Verpflegung und Unterkunft. Und nach Antworten. Doch die scheint es nicht zu geben. Wie soll es nun weitergehen, ohne Mitmenschen, wenn man sich bisher immer auf andere verlassen und nach ihnen gerichtet hat? Nach dem Partner, der besten Freundin, dem besten Freund, dem Chef? Unerwartete Gesellschaft findet sich in einem Hund, einem liebenswürdigen Labrador, der sich nicht nur als Begleiter, sondern als wahrer Freund herausstellt. Mit ihm geht es weiter – durch London und schließlich durch den Rest von Großbritannien. Und auf der endlosen Suche in dieser postapokalyptischen Welt findet sie mit der Zeit das, was sie als Letztes vermutet hätte: sich selbst.

Die Autorin

Bethany Clift hat die Northern Film School absolviert und besitzt eine eigene Filmfirma, in der sie als Regisseurin und Produzentin tätig ist. Zudem arbeitet sie als Produzentin für andere namhafte Filmunternehmen. Die Letzte macht das Licht aus ist ihr Debütroman.

Bethany Clift

Die

Letzte

macht

das Licht

aus

Roman

Aus dem Englischen von

Lilith Winter

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Last One at the Party bei Hodder & Stoughton, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 by Bethany Clift

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Martina Vogl

Herstellung: Mariam En Nazer

Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München,

unter Verwendung von Motiven von Getty Images (Fu Yi Lee, EyeEm),

Shutterstock.com (Eric Isselee, IR Stone, VH-studio)

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-26855-8V001

www.heyne.de

8. Februar 2024

»Arschloch!«

Das waren die letzten Worte, die ich zu einem lebenden Menschen sagte.

Hätte ich gewusst, dass es die letzten waren, hätte ich mich wohl etwas gewählter ausgedrückt.

Etwas gebildeter, dramatischer.

»Arschloch!« ist einfach nur vulgär und unhöflich und weit entfernt von dem sprühenden Witz, den ich immer hoffte zu besitzen.

Aber leider kann ich es nicht mehr ändern.

Der letzte Mensch, mit dem ich persönlich gesprochen habe, glaubte, ich bin so eine Frau, die einen anruft, wüst beschimpft und dann »Arschloch!« brüllt, bevor sie einfach auflegt.

Es waren außergewöhnliche Umstände, die zu meinem Wutausbruch geführt hatten – zum Beispiel die absolute Weigerung dieses Menschen, der Bestatter war, meinen kürzlich verstorbenen Ehemann zu begraben –, aber das ist wohl keine Entschuldigung.

Also, es tut mir leid, Tom Forrest. Der Anruf sagt nichts darüber aus, wer ich bin oder vielmehr, wer ich war.

Inzwischen ist das natürlich sowieso egal.

Denn inzwischen ist Tom Forrest tot, und was er über mich denkt, hat keine Bedeutung mehr.

Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich ein Journal oder ein Tagebuch schreiben soll.

Ich weiß aber auch gar nicht genau, worin der Unterschied besteht oder ob es überhaupt einen gibt, doch googeln kann ich es auch nicht. Das Internet existiert nicht mehr.

Wie auch immer, ich schreibe das hier, weil ich denke, dass es einiges gibt, was irgendwo aufgezeichnet werden sollte, und ich bin – oder war – Schriftstellerin und Journalistin, von daher fühle ich mich verpflichtet, es zu tun.

Außerdem bin ich die Einzige, die es noch kann.

Weil ich die Einzige bin, die es noch gibt.

In diesem Land.

Und wahrscheinlich auf der ganzen Welt.

Doch vielleicht sollte ich besser von vorn anfangen.

23. Oktober 2023

Das Virus wurde 6DM genannt, und es begann nicht in China oder einem winzigen Dorf in Afrika, sondern fast genau in der Mitte der USA.

In Andover, Kansas, einem kleinen Vorort von Wichita mit einer Bevölkerung von etwa zwölftausend Menschen.

Niemand, den ich kannte, hatte bis September 2023 jemals von Andover gehört, aber Ende Oktober gab es keinen einzigen Menschen mehr, der den Ort nicht auf der Karte hätte finden oder von der rapide abnehmenden Bevölkerung Andovers hätte erzählen können.

Es gibt keine Informationen über eine Erstinfektion, keinen offiziellen Patienten Null, denn 6DM mutierte und verbreitete sich viel zu schnell, als dass man das Virus hätte zurückverfolgen können. Laut allgemeiner Übereinkunft wurden die ersten Fälle am 23. Oktober 2023 registriert, und bis Halloween waren (ironischerweise für meine amerikanischen Freundinnen und Freunde) alle zwölftausend Einwohner von Andover entweder tot oder lagen im Sterben. Der Tod war schmerzhaft, aber schnell.

Da das Virus in einem weißen Vorort seinen Ursprung nahm, hätte man es eigentlich nicht für möglich gehalten, dass die rechte Presse das Virus mit Immigranten oder einem fremden Land in Verbindung bringen könnte, aber genau das passierte. Es hieß, Patient Null sei wahrscheinlich eine Highschool-Schülerin gewesen, die ehrenamtlich in Westafrika gearbeitet und 6DM von dort eingeschleppt hatte.

Als der Artikel erschien, war die Schülerin natürlich längst tot und konnte die Story weder bestätigen noch dementieren.

Das war aber auch völlig egal – die Menschen hatten längst andere Sorgen, als jemandem die Schuld zu geben oder einander zu hassen.

Die amerikanische Regierung handelte beeindruckend schnell. Man war entschlossen, die Krise zu stoppen.

Niemand wollte die gleichen Fehler machen wie 2020.

Diesmal war man vorbereitet.

Andover wurde innerhalb von fünf Tagen nach dem ersten Todesfall unter Quarantäne gestellt, und die Virologen begannen sofort mit der Identifizierung des Virus und der Entwicklung eines Medikaments und eines Impfstoffs.

Doch sie kämpften eine bereits verlorene Schlacht.

Als Andover unter Quarantäne gestellt wurde, gab es bereits erste Fälle in New York und San Francisco, mehr als zweitausend Kilometer von Andover entfernt.

6DM konnte nie gründlich erforscht werden, daher weiß ich bis heute nicht, wo es wirklich seinen Ursprung nahm und wie es sich verbreitete.

Am 2. November, weniger als zwei Wochen nach dem ersten dokumentierten Fall, verhängte die US-Regierung das Kriegsrecht, schloss die Flughäfen und untersagte internationale Reisen.

Massenpanik und Hysterie brachen aus. Die Aufforderung des Präsidenten, Ruhe zu bewahren, wurde überall in den USA komplett ignoriert. Die Menschen kämpften um Essen, Wasser, Transportmittel und sämtliche Medikamente, die sie in die Finger bekamen, ohne zu wissen, ob sie halfen.

Es war der reinste Wahnsinn. Die Reaktionen auf Covid-19 waren dagegen gemäßigt gewesen.

Am 14. November war Amerika bereits fast ausgestorben. Die wenigen verbliebenen internationalen Journalisten berichteten von entsetzlichen Bildern – verlassenen Großstädten, komplett in Flammen stehenden Orten und Massengräbern mit Hunderten hineingeworfener Leichen.

Am 18. November berichteten die Medien vom Tod des Präsidenten und am 22., genau einen Monat nach dem ersten dokumentierten Fall von 6DM, vom Zusammenbruch der Regierung.

Im letzten Bericht vom 23. November hieß es, da wenig bis gar keine Vertreter der Regierung mehr übrig seien, wären die Bürger jetzt auf sich selbst gestellt.

Seitdem gab es aus Amerika keine überprüfbaren Nachrichten mehr.

3. November 2023

Während Amerika zugrunde ging, nahm die britische Regierung 6DM scheiß verdammt ernst.

Es war zwar nicht viel über das Virus bekannt, doch was bekannt war, war entsetzlich.

Niemand wusste, wie lang die Inkubationszeit war. Die Krankheit begann mit erkältungsartigen Symptomen, dann folgten Fieber, Erbrechen, Durchfall. Innerhalb von zweiundsiebzig Stunden fingen die lebenswichtigen Organe an, sich aufzulösen. Nicht abzubauen oder zu versagen, nein: sich aufzulösen. Wer Glück hatte, bei dem verabschiedeten sich das Herz oder das Gehirn zuerst und er starb an einem Herzinfarkt oder Schlaganfall. Wenn man kein Glück hatte, dann war es die Lunge – also Ertrinken. Wer richtig Pech hatte, wurde praktisch von der eigenen Magensäure gefressen, weil die Magenwände verrotteten.

An 6DM zu sterben war kein sanfter oder vornehmer Tod, es war ein Moloch von Schmerz und Leiden. Die meisten Leute litten Todesqualen und flehten darum, von ihrem Elend befreit zu werden.

Six Days Maximum. Maximal sechs Tage. Länger hatte niemand nach den ersten Anzeichen der Infektion bis zum Tod, daher der Name: 6DM.

Die Zahl der Todesfälle war erschütternd.

Das Virus breitete sich derart schnell aus und war so tödlich, dass es unmöglich war, die Todesrate aktuell zu halten, und da es keine Berichte von Überlebenden gab, lag die offizielle Todesrate bei hundert Prozent.

Gesamte Bevölkerungen waren bereits ausgelöscht. In Amerika gab es schätzungsweise zweihundert Millionen Tote, Japan verlor in nur drei Wochen fast siebzig Millionen Menschen, und Russlands letzte Zählung lag bei einhundertzehn Millionen.

In bevölkerungsreichen Ländern wie China und Indien wurde die Zahl auf je etwa eine Milliarde geschätzt, bevor der Nachrichtenfluss aufhörte.

Megastädten erging es besonders schlecht. Delhis Bevölkerung von fünfundzwanzig Millionen wurde Berichten zufolge innerhalb von nur neunzehn Tagen ausgelöscht.

Um die dünn besiedelten und weiter entfernten Länder (Neuseeland, Australien, Teile Kanadas) schien es besser zu stehen. Es hieß, das Virus hätte sie noch nicht erreicht oder würde erfolgreich aufgehalten.

Natürlich machten sich die Menschen, sobald sie das hörten, mit allen möglichen Verkehrsmitteln auf in die »sicheren Zonen«.

Und brachten 6DM mit sich.

Die sicheren Zonen versuchten, sie abzuwehren, doch sie waren zu schlecht vorbereitet, um große Mobs zu bekämpfen. Schon mal von Kanadas Armee gehört? Die Kanadier auch nicht. Australien wurde am schlimmsten getroffen. So ein riesiges Land, so viel Küste, so viele flache Gegenden, in denen illegal Flugzeuge landen konnten. Australiens Lage änderte sich innerhalb rund eines Monats von ganz okay zu vernichtet.

Für uns, das Vereinigte Königreich, sah die Lage anders aus. Unser Land war eigentlich wie dafür geschaffen, die Sache zu überleben. Klein, begrenzt, eine überschaubare Bevölkerung, gute Infrastruktur, eine lange Tradition des Nahrungsmittelanbaus und der Lebensmittelproduktion, eine starke Armee, gute Gesundheitsversorgung. Und, seit dem Debakel mit dem Brexit, weniger »Freunde«, um die man sich kümmern musste.

Außerdem hatte unsere Regierung aus dem Desaster 2020 extrem wertvolle Lektionen gelernt.

Theoretisch konnten wir die Grenzen schließen, alle Flüchtlinge abweisen – die jetzt beinah ausschließlich aus den reichen Oberschichten stammten und versuchten, mit ihren Superjachten an unseren Küsten zu landen – und unbegrenzte Zeit selbstständig leben.

Am 3. November 2023 wurden die Menschen, die innerhalb eines Radius von einhundertfünfzig Kilometern um Dover lebten, um zwei Uhr morgens durch eine gigantische Explosion geweckt. Ohne das Parlament konsultiert zu haben, hatte der Premierminister das britische Ende des Eurotunnels einstürzen lassen.

Um neun Uhr morgens gab er vor der Tür von Downing Street Nummer 10 eine Erklärung ab, die live von allen Fernsehsendern übertragen wurde.

Unsere Grenzen waren geschlossen und wurden von bewaffneter Polizei kontrolliert, die den Befehl hatte, auf jeden zu schießen, der versuchte, ins Land einzudringen oder hinauszugelangen.

Wer zu diesem Zeitpunkt im Ausland war, tja, Pech gehabt, man hätte halt besser früher zurückkommen sollen.

Schulen und Geschäfte waren ab sofort geschlossen, und es gab eine Ausgangssperre von sieben Uhr am Abend bis sechs Uhr morgens. Möglichst alle sollten zu Hause bleiben. Angestellte des Gesundheitssystems würden von der Polizei zur Arbeit gebracht. In den Lebensmittelgeschäften würde das Militär die gerechte Verteilung überwachen. Die Polizei würde patrouillieren, um sicherzustellen, dass alle in Sicherheit waren.

Kein Grund zur Panik.

Es gab wenige bis gar keine Proteste oder Klagen. Freiheit und ausländische Staatsangehörige kümmerten niemanden, wenn es eine sehr reale Gefahr gab, das eigene fünfjährige Kind qualvoll sterben sehen zu müssen.

Doch den Aufwand mit der Polizei und dem Militär hätte man sich auch sparen können. Es wollte eh niemand raus. Niemand wollte die Sicherheit der eigenen vier Wände verlassen.

Die Menschen blieben zu Hause, sahen sich im Kreise ihrer Liebsten schreckliche Bilder im Fernsehen an und dankten Gott für unsere winzig kleine Insel.

Die Regierung setzte das Vorhaben, die Kontrolle über unsere neue, begrenzte Welt zu übernehmen, schnell um.

Es hieß, die Verteilung von Lebensmitteln solle noch strenger kontrolliert werden, es gäbe Pläne zur Steigerung der Produktion und der Bevölkerung solle die Möglichkeit zur Selbstversorgung gegeben werden. Wie das konkret aussehen sollte, war noch nicht bekannt gegeben worden. Sämtlicher Onlinehandel war geschlossen – es gab kein Amazon, kein eBay und keine Supermarktlieferungen mehr. Gerüchte breiteten sich aus, dass bewaffnete Soldaten manche der größeren Lagerhäuser bewachten.

Alle kommerziellen Fernsehsender hatten die Arbeit eingestellt (verständlicherweise), und BBC1 und BBC2, die einzigen noch laufenden Sender, waren von der Regierung übernommen worden. Statt des normalen Programms strahlten sie jetzt von der Regierung abgesegnete Nachrichtensendungen in Kombination mit endlosen Natursendungen und Wiederholungen von Sitcoms aus – es geht schließlich nichts über die beruhigende Stimme von David Attenborough in seinen Tierdokus und ein paar Folgen von Der Vikar von Dibley, wenn man das bevorstehende eigene Elend vergessen will.

Das Internet funktionierte noch, wenn auch langsam. Twitter allerdings gab es nicht mehr, seit der Eurotunnel zerstört war. Angeblich bloß Zufall. Wer negative oder »kontroverse« Meinungen und Geschichten auf Facebook oder auch nur auf der eigenen Website postete, musste bald feststellen, dass sein Profil oder seine Seite ohne Vorwarnung gelöscht worden war.

Die Menschen fürchteten, es wäre schon ein Vorgeschmack auf die restriktive Welt, die uns bevorstand.

Doch wie sich noch herausstellen würde, sollte das die geringste unserer Sorgen sein.

Zwei Wochen nach dem Schließen der Grenzen gab es in Großbritannien immer noch keinen dokumentierten Fall von 6DM, und die Arbeitgeber wurden langsam unruhig, weil sie weiterhin die Angestellten bezahlen sollten, die zu Hause saßen und sich fragten, wann und wie sie endlich anfangen konnten, sich einen Lebensmittelvorrat anzulegen.

Die Regierung hatte keine Vorgehensweise zur Lohnfortzahlung verkündet, und weil Geld immer noch Wert hatte, waren Arbeitgeber, Angestellte und bestimmte Kabinettsmitglieder ganz erpicht darauf, dass alle wieder zur Arbeit gingen.

Es gab versuchsweise so etwas wie eine Rückkehr zur Normalität. Geschäfte öffneten (wenn auch mit Kaufbeschränkungen – diesmal durfte niemand Toilettenpapier hamstern), die öffentlichen Verkehrsmittel fuhren wieder, und die meisten Leute kehrten zur Arbeit zurück.

Die Menschen nahmen schnell ihre alten Pandemie-Gewohnheiten wieder auf – Gesichtsmasken und Social Distancing wurden zur Norm, ohne irgendwelche Anweisungen oder Richtlinien der Regierung.

Bald wurde offensichtlich, dass uns einige große Veränderungen bevorstanden, jetzt, wo wir vom Rest der Welt buchstäblich abgeschnitten waren.

Zunächst einmal konnten wir nur essen, was wir selbst anbauten und herstellten. Brot, Milch, Fleisch, Wurzelgemüse und Eier waren natürlich leicht zu bekommen, aber die Preise von Zucker, Obst, Salat und Gewürzen schossen sofort in die Höhe.

Als bekannt wurde, dass es gegenwärtig nur eine Teeplantage im ganzen Vereinigten Königreich gab, kam es zu Unruhen, aber die Regierung unterdrückte sie schnell, indem sie versicherte, es gäbe genug Vorräte, bis wir mehr angepflanzt und geerntet hätten.

Fürs Protokoll: Ich glaube, selbst ohne Kaufbeschränkungen hätte es nie irgendeinen Mangel an Essen oder Wasser gegeben, nicht mal an Toilettenpapier.

6DM tötet den Appetit sofort – und ziemlich schnell danach einen selbst, von daher war es ab Anfang Dezember nicht mehr nötig, die Bevölkerung weiter zu versorgen.

Am 19. November ging ich wieder zur Arbeit.

Schon während der ersten Stunde im Büro wurde mir klar, dass ich mich in den nächsten Wochen nach einem neuen Job umgucken müsste, und dass dieser neue Job körperliche und viel schlechter bezahlte Arbeit bedeuten würde.

Die Wirtschaft war zwar noch nicht völlig am Boden, aber die meisten Branchen, die die Wirtschaft stützten, würden es bald sein.

Ich arbeitete bei einer Rückversicherungsfirma in der Neukundengewinnung. Unsere Firma versicherte andere Unternehmen, besonders solche, die große Schiffe versicherten, Transportschiffe, Fähren oder Kreuzfahrtschiffe. Die jetzt alle in den Docks lagen, leer oder voller Leichen.

Als ich das Büro betrat, wurde ich von einem Raum voller Leute begrüßt, die mit leerem Blick auf Computermonitore starrten und absolut nichts zu tun hatten.

Ich schaltete meinen Computer an, öffnete das E-Mail-Programm und … fand nichts vor. Es gab keine Abwesenheitsnotizen auf zwei Wochen vorher gesendete Nachrichten, niemand hatte nach Arbeit, die längst hätte erledigt sein müssen, gefragt, es gab noch nicht einmal Hilferufe oder Bitten um Unterstützung. Nicht ein einziger unserer internationalen Kunden ging ans Telefon. Unsere inländischen Kunden waren sehr direkt. Sie sagten, niemand versicherte mehr irgendetwas, wenn Geld in einer Woche vielleicht gar nicht mehr existierte.

Einer der Firmenchefs hielt eine Rede vor dem versammelten Leitungsteam: »Das ist nur ein kurzfristiger Einbruch, wir sitzen das aus. Konzentrieren wir uns auf die inländischen Kunden, die Pharmaindustrie wird uns brauchen, wenn das Medikament erst einmal eingeführt wird, in ein paar Wochen ist alles wieder normal.«

Wirtschaftsjargonmüll.

Nachdem ich drei Tage lang meinen Posteingang und meinen Schreibtisch aufgeräumt und es »ausgesessen« hatte, traf ich mich mit Ginny – meiner besten Freundin – zum Mittagessen (was jetzt sehr teuer war).

Ginny war der stärkste und selbstbewussteste Mensch, den ich kannte. Sie hatte ungefähr zur gleichen Zeit mit demselben Gehalt bei uns angefangen wie ich und war jetzt in einer größeren und angeseheneren Firma in einer leitenden Position, die sie erreicht und behalten hatte, während sie ein Kind bekommen und ihre eigene Netzwerkgruppe für schwarze Frauen im Bankwesen ins Leben gerufen hatte und nebenbei noch ein erfolgreiches Mentoring-Programm organisierte.

Sie buckelte vor niemandem und hatte vor nichts Angst.

Bis jetzt.

Normalerweise waren unsere Mittagessen ziemlich lustig, wir lästerten über Kolleginnen und Kollegen, und sie zeigte mir tausend neue Fotos von ihrer sechs Monate alten Tochter Radley.

An diesem Tag nicht.

Ginny stillte, daher hatte ich sie seit über einem Jahr keinen Alkohol mehr trinken sehen. An diesem Tag bestellte sie die zwei teuersten Flaschen Wein auf der Karte und exte während unseres anderthalbstündigen Mittagessens vier große Gläser.

Ginny hatte Angst.

Sie wollte nicht über die Arbeit oder Kollegen reden. Sie sagte, mit etwas Glück würde ich meinen aktuellen Job noch eine Woche behalten. Das war mir bereits klar, daher überraschte es mich nicht besonders. Sie sagte, diesmal würde es kein Rettungspaket der Regierung geben. Sie bezweifelte, dass es in ein paar Monaten überhaupt noch eine Regierung geben würde – zumindest keine, wie wir sie kannten.

Aber damit war sie noch nicht am Ende.

Sie fing an, mich nach meinen Überlebensplänen auszufragen. Ob ich mir bewusst sei, wie wenig ich auf das Leben, wie es werden würde, vorbereitet war. Ob ich mein eigenes Essen anbauen könne. Brot backen. Ob ich Hühner besäße. Eine Kuh melken könne. Kleidung nähen. Ob ich irgendwelche anderen Fähigkeiten hätte.

Natürlich war die Antwort auf jede dieser Fragen nein.

In der Wohnung in Central London, in der ich mit meinem Mann James lebte, waren keine Haustiere erlaubt, Hühner und Kühe waren also ausgeschlossen. Wir besaßen auch keinen Garten, nur ein Fenstersims mit einer sterbenden Topfpflanze und einem Kräutertopf, und sofern das nicht als Essen anbauen zählte, hatten wir auch in dieser Hinsicht Pech. Und was den Rest anging, hatte ich, wie Millionen andere, viel Geld, aber keine Zeit, und so bekam ich mein Essen, meine Kleidung und alles andere, was ich brauchte, von denen, die sehr viel weniger Geld verdienten als ich.

Ginny sagte, Geld würde schon bald keinen Wert mehr besitzen. Wir würden in Zukunft in einer Welt der natürlichen Selektion leben – versorg dich und deine Lieben mit allem, was du bekommst, und dann erbettel, leih oder stiehl alles andere.

Ginny sagte, ich solle mir eine Pistole besorgen. Ich lachte.

Ginny nicht.

Sie goss den restlichen Wein in eine leere Plastikwasserflasche und erklärte, sie habe bereits einen Tag, nachdem der erste Fall von 6DM in Andover bekannt geworden war, angefangen, Vorräte an Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten anzulegen. Ihr Mann Alex hatte Familie mitten im Nirgendwo oben in Yorkshire, und in drei Tagen würden sie dorthin aufbrechen.

Sie hatten sich für die Reise zwei Pistolen gekauft.

Als ich James am Abend davon erzählte, lachte er und sagte, Ginny würde so weit von Selfridges entfernt nie überleben. Er versprach, dass alles gut gehen würde, dass er sich um uns kümmern würde, wie er es immer tat.

Doch später sah ich, wie er unsere Wohnung auf dieselbe Art betrachtete, wie ich es getan hatte, seit ich nach Hause gekommen war, und als ich später auf sein Handy blickte, hatte er »einfacher Gemüseanbau« gegoogelt.

Letztendlich hatte Ginnys schreckliche Prognose gar keine Zeit, wahr zu werden. Die Wirtschaft und die Regierung hatten keine Zeit, komplett zusammenzubrechen, wir hatten keine Zeit anzufangen, unser eigenes Essen anzubauen, und es war auch gar nicht notwendig, eine Pistole zu kaufen.

Ginny und ihre Familie sind einige von den vielen mir bekannten Menschen, über deren Schicksal ich nichts weiß.

Ich stelle mir gern vor, dass sie es in die Wildnis von Yorkshire geschafft haben. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass dem nicht so ist.

24. November 2023

Der erste Fall von 6DM wurde in England am 24. November gemeldet. Wir haben nie erfahren, ob jemand Infiziertes es geschafft hatte, sich ins Land zu stehlen, oder ob die Inkubationszeit länger war als angenommen und das Virus die ganze Zeit schon hier gewesen war.

Schottland und Wales versuchten sofort, sich von England abzuschotten. Wales jagte alle Brücken über dem Severn in die Luft – niemand wusste, woher Wales überhaupt solche Vernichtungswaffen hatte –, und Schottland schloss und patrouillierte alle Straßen an der Grenze zu England.

Natürlich war es zu spät.

Ich war bei der Arbeit, als der erste Fall bekannt wurde.

Es war ein Donnerstag, und inzwischen war uns mitgeteilt worden, dass Freitag unser letzter Tag sein würde. Die meisten Leute waren geblieben, um so viel Geld wie möglich zu verdienen, aber ungefähr ein Viertel der Angestellten war nach der Mitteilung gar nicht noch mal aufgetaucht.

Es gab bereits erste Anzeichen, dass Ginnys Katastrophenszenario Realität werden würde: Die Lebensmittelpreise stiegen unaufhörlich, und die meisten Tankstellen hatten keinen Treibstoff mehr.

Ich war nicht wegen des Geldes geblieben (ich war überzeugt, dass es schon bald keinen Wert mehr haben würde), sondern weil ich versuchte, das Unvermeidbare hinauszuzögern. Den Moment hinauszuzögern, in dem das bequeme schöne Leben, das ich mir erschaffen hatte, völlig obsolet geworden war.

Ungefähr um fünfzehn Uhr am 24. November öffnete die Leiterin der Abteilung Neukundengewinnung ihre Bürotür. Ich glaube, zuerst bemerkten es nur ein paar Leute, doch nach und nach wurden sich alle der siebenundachtzig Angestellten in dem riesigen Raum der zunehmend bedrückenden Stille um sich herum bewusst und blickten widerstrebend auf.

Wir sahen ihre gräuliche Blässe, ihre verzweifelte, hoffnungslose Miene, als sie dort in ihrer Tür stand, und wussten sofort Bescheid.

Ein paar Leute sprangen auf und gingen, der Rest von uns wartete auf das Unvermeidliche.

»Sie sollten alle nach Hause gehen.«

Niemand bat um eine Klarstellung.

Das Büro teilte sich in zwei Lager. Die mit Familie waren innerhalb von Sekunden draußen. Diejenigen von uns ohne Kinder, oder in manchen Fällen auch ohne irgendwen, hingen weiter herum, unsicher, was wir jetzt tun sollten.

Das hier fühlte sich anders an als 2020. Es fühlte sich irgendwie nach dem Ende an. Wenn diesmal alles schloss, wussten wir, die Läden, Restaurants und Pubs würden nicht wieder öffnen.

Ich glaube, George schlug es zuerst vor, aber ich bin mir nicht sicher.

Auf jeden Fall sagte jemand: »Besaufen wir uns.«

Ehrlich gesagt kann ich mich nicht mehr an viel von dem Abend erinnern.

Ich weiß noch, dass wir in einem Pub anfingen, in eine Bar weiterzogen und dann in einen Club gingen, um zu tanzen, und ab da werden die Erinnerungen undeutlich.

Irgendwann war ich bereit, nach Hause zu gehen, aber auch ziemlich leicht zu überreden gewesen, noch weiterzuziehen.

Dann wurde alles zunehmend verschwommen, bis ich gegen halb fünf morgens mit dem Gesicht voran auf mein Bett fiel.

Schon seltsam, dass die Pubs und Bars und Clubs an dem Abend noch offen blieben, oder? Und dass wir ausgingen und uns die Kante gaben, statt uns zu Hause zu verschanzen.

Tja.

Aber die Stadt war in der Nacht der Wahnsinn.

Es schien nicht nur so, als wäre halb London unterwegs, um zu saufen, zu vögeln und sich völlig abzuschießen. Halb London war tatsächlich unterwegs, soff, vögelte und schoss sich ab.

Dieses Mal würde es kein Ende des Lockdowns geben.

Die Menschen wussten, dies war der letzte Widerstand der Menschheit und unsere letzte Nacht der Freiheit.

Und in wahrer Blitz-Manier taten wir Briten unser Bestes, um den Anlass mit Bier, Erbrochenem und anderen Körperflüssigkeiten zu feiern.

Am 25. November wachte ich um 11:30 Uhr auf und hatte 6DM.

Okay, ich hatte kein 6DM, aber es fühlte sich sehr danach an.

Wie sich herausstellte, war es ein dreitägiger Kater.

Die ersten achtundvierzig Stunden konnte ich kaum das Bett verlassen. Ich entleerte den Inhalt meines Magens heftigst über beide Enden des Verdauungstrakts, und mein Gehirn wurde von dem hämmernden WUMM, WUMM, WUMM in meinem Kopf langsam aus Augen und Ohren gepresst.

Der Tod wäre eine süße Gnade gewesen.

Doch am dritten Tag konnte ich die Augen wieder öffnen, und an Tag vier ging es mir auf einmal besser. Ich hatte tierischen Hunger und brauchte dringend Huhn in irgendeiner Form.

Wenn ich jetzt auf diese drei Tage zurückblicke, schäme ich mich. Nicht wegen meines Katers, sondern wegen der Folgen für James. Vielleicht hätten sich die Dinge anders entwickelt, wenn ich in der Lage gewesen wäre, aufzustehen.

Vielleicht auch nicht.

Wie auch immer, als ich mich geduscht und mir die Zähne geputzt hatte und rosig und munter am Tisch saß und mir Hähnchensaft das Kinn runterlief, war die Welt nicht mehr dieselbe.

Ende November 2023

Die letzten zwei Wochen der Zivilisation können am besten durch folgende Schlagzeilen zusammengefasst werden:

22. November 2023 – Wir müssen standhaft bleiben: UK weist Flüchtlinge weiterhin ab. Halten wir unser Land 6DM-frei.

24. November 2023 – ERSTERFALLVON 6DM. BLEIBENSIEZUHAUSE. VERMEIDENSIEJEDENKONTAKTMITANDEREN.

27. November 2023 – Regierung gibt bekannt: 6DM-Medikament kurz vor dem Durchbruch. Unterdessen steigen Fallzahlen auf über 2,6 Millionen.

29. November 2023 – Eltern schockiert. Regierung gesteht, dass es kein Mittel gegen 6DM gibt, und bietet stattdessen T600-»Todespille« an.

1. Dezember 2023 – »Gebt uns T600«, rufen verzweifelte Eltern. »Unsere Kinder sterben qualvoll.«

2. Dezember 2023 – Trauernde Familien müssen Angehörige in Massengräbern verbrennen. Todesrate erreicht 22 Millionen.

3. Dezember 2023 – God Save the Queen … und uns alle.

Das war die letzte Zeitung, die gedruckt wurde.

Am 1. Dezember machte die Regierung T600 ohne Rezept verfügbar. T600 war schnell und schmerzlos. Zwei Tabletten, dann ein tiefer Schlaf und der Tod.

Zuerst war geplant, die Tabletten nach Bedarf auszugeben, doch innerhalb von zwei Tagen überstieg der Bedarf die Kapazitäten, und da die Apotheken andere Sorgen hatten, legten sie die Packungen auf den Verkaufstresen und in den Eingang, damit die Leute sie sich einfach nehmen konnten.

Eins der guten Dinge dieser letzten Woche ist, dass niemand die T600-Situation missbraucht oder versucht hat, einen Vorteil daraus zu schlagen. Niemand hamsterte oder klaute die Tabletten und verkaufte sie weiter. Als ich meine holen ging, gab es immer noch mehr als genug, und die Leute nahmen alle nur ein oder zwei Packungen und nicht mehr. Vielleicht waren sie nur zu krank, um die Situation auszunutzen. Mir kam es allerdings eher wie eine bewusste Entscheidung vor und zwar eine, die mich unter anderen Umständen hätte glauben lassen, dass es doch noch Hoffnung für die Zukunft der Menschheit gab.

Wenn wir eine Zukunft gehabt hätten, versteht sich.

Es schien, als hätte rund ein Viertel der Einwohner Londons, als sie am 24. vom ersten Fall erfuhren, sich geschnappt, was es zu greifen gab, und sich in ihren Wohnungen und Häusern eingeschlossen, um danach nie wieder aufzutauchen. Den Eindruck hatten wir zumindest von Wohnung Nummer 11 auf unserer Etage. Ein paar Tage lang hörten wir von dort die gleichen Geräusche wie immer, Radio, Fernsehen, Kochgeräusche, sogar Lachen. Einige Tage später hörten wir ein langes, leidvolles Wehklagen. Dann ein paar Tage Stille, bevor das übliche Stöhnen anfing. Wir wohnten in der obersten Etage, hatten also keine Wohnung über uns und auch keine weitere nebenan, doch während die Lautstärke und Häufigkeit des Stöhnens aus Nummer 11 zunahm, bemerkten wir ähnliche Geräusche auch aus anderen Wohnungen unter uns, und so fingen wir an, die ganze Zeit Musik oder den Fernseher laufen zu lassen.

Diejenigen, die sich nicht zu Hause einschlossen, wurden zu Gespenstern. Die Menschen gingen nicht länger die Straßen entlang, sie huschten und schlichen mit gesenktem Haupt umher und vermieden jede Berührung oder auch nur Blickkontakt mit anderen.

2020 hieß es, zwei Meter seien ein sicherer Abstand, doch der hatte sich jetzt ganz von allein auf drei bis vier Meter ausgedehnt. Wenn man jemandem doch näher kam, reagierten die Leute empört, schnauzten einen an und suchten das Weite. Diesmal wollte niemand ein Risiko eingehen. Alle trugen irgendeine Art von Gesichtsmaske, manche den üblichen Mund-Nasen-Schutz, andere improvisierten mit Gasmasken, Staubschutzmasken, selbst ein über Mund und Nase gebundenes Halstuch war besser als nichts. Viele Menschen trugen jetzt Bioterror-Schutzanzüge, Staubschutzanzüge oder etwas Selbstgemachtes aus Plastik-Overalls – im Notfall sogar Müllsäcke.

Es war wirklich absurd. Ohne Informationen, wie das Virus übertragen wurde, war es unmöglich, sich davor zu schützen. Wir hatten keine Ahnung, vielleicht wurde das Virus durch Plastik oder Stoff übertragen.

Während ich im Bett gelegen/mich übergeben hatte, hatte James für unsere Zukunft gesorgt.

Da wir kein Auto besaßen, hatte er unsere beiden Koffer vom Schrank genommen und war damit einkaufen gegangen.

Na ja, einkaufen stimmt nicht ganz, in Wirklichkeit war er »höflich klauen«.

Am Morgen nach dem Tag, als 6DM bei uns angekommen war, stand James, nachdem ich ins Bett gefallen war, auf und ging zum Supermarkt. Es war sechs Uhr morgens, und der Laden sollte um sieben öffnen. Bereits fünfzig Leute standen schweigend im Abstand von drei Metern im Dauernieselregen, wie ihn das britische Wetter so gut kann.

Niemand kam, um den Laden zu öffnen.

Gegen acht wurde die Schlange, in der inzwischen mindestens hundert Leute standen, allmählich unruhig.

Schließlich ging eine durchnässte Frau in schwarzen Müllsäcken zum Anfang der Schlange, womit sie bei den anderen Wartenden aufgebrachtes Murmeln hervorrief. Sie sah auf die geschlossene Automatiktür, dann nahm sie ruhig einen Stein aus ihrer Einkaufstasche und warf ihn durch die Glasscheibe. Vorsichtig stieg sie durch die Scherben und nahm sich einen Einkaufskorb.

James sagte, die anderen in der Schlange warteten vielleicht fünf Sekunden, und dann gingen auch sie höflich hinein. Er sagte, es gab kein Drängeln, kein Schubsen, alle hielten den Abstand ein, und ein paar Leute führten sogar höflichen Small Talk.

Es war alles schrecklich britisch.

James ging an dem Morgen in fünf Läden. In zwei war eingebrochen worden, zwei hatten die Tür offen gelassen, und bei einem musste das Fenster noch eingeschlagen werden, also übernahm James das selbst.

Er sagte, er hatte ein richtiges Hochgefühl, doch dann bekam er Angst, verhaftet zu werden, also kehrte er danach sofort nach Hause zurück.

James befreite unser Gefrierfach von Eiscreme, Eiswürfeln und dem gefrorenen Ingwer, den ich nie schaffte zu verwenden, und füllte es mit Milch, Brot, Käse, Obst und Gemüse. Er hatte Baked Beans, Reis und Nudeln, Kerzen und Streichhölzer besorgt und große Plastikwannen, um einen Wasservorrat anzulegen.

Und ja, er hatte Klopapier bekommen.

Er hatte alles herangeschafft, was wir zum Überleben brauchten, wenn die Gesellschaft komplett zusammenbrach.

Er hatte für uns vorgesorgt.

Während ich drei Tage lang im Bett lag, hatte er mit nur einer Stoffmaske zum Schutz immer wieder die Wohnung verlassen.

Er hatte sich um mich gekümmert und, genau wie immer, dafür gesorgt, dass es mir besser ging.

Wie er es von Anfang an in unserer Beziehung getan hatte.

Ich hatte James kennengelernt, als ich noch als Journalistin arbeitete.

Na ja, Journalistin, ich arbeitete als Berufseinsteigerin für eine der nationalen Musikzeitschriften, schrieb Besprechungen von Konzerten und interviewte Bands, die sonst niemanden besonders interessierten, es beinhaltete also nicht viel Recherche oder Undercover-Arbeit.

Ich hatte den Job Ende der Nullerjahre ergattert, als die britische Musikpresse noch tapfer weitermachte, es noch Jobs und Geld zu verdienen gab. Ich war jung, einigermaßen blond, einigermaßen hübsch, einigermaßen schick und hatte ein paar Artikel für die Uni-Zeitung geschrieben, die jemand gelesen hatte, dessen Bruder bei der nationalen Musikzeitschrift arbeitete. Das reichte aus.

Man schickte mich zum Probearbeiten zu einem Konzert von The Pain Beneath in einem kleinen Club in Windsor. Ich hatte nicht genug Geld fürs Taxi und den Eintritt, also gab ich vor, ein Roadie zu sein, um reinzukommen. Man kann sich den Spaß vorstellen, den das mit sich brachte. Ich schrieb einen Dreitausend-Zeichen-Artikel, wovon nur hundertfünfzig Zeichen über die Band waren (Die Jungs waren gut, aber sie sollten öfter mal den Blick vom Boden lösen und ins Publikum sehen. Von den Songs gefiel mir besonders der über den Hut.) Die Redaktion fand die Besprechung großartig. Ich beendete die Uni und fing direkt an, Vollzeit für die Zeitung zu schreiben.

Und so verbrachte ich die nächsten vier Jahre meines Lebens.

Ich war nicht die beste Schreiberin, schaffte es nie, mich von oberflächlichen Berichten über Tournee-Eskapaden und Band-Entstehungsgeschichten zu lösen und tiefer zu gehen (weswegen ich nach vier Jahren auch immer noch als Berufseinsteigerin galt), aber die Bands und die Leute, die sich um diese kümmerten, mochten mich. Ich war höflich und nett (aber nicht so nett, dass ich mit allen vögelte oder länger mittourte, als ich willkommen war), ich trank (aber nicht so viel, dass ich zu einer Belastung wurde), ich nahm keine Drogen (verurteilte diejenigen, die es taten, aber nicht), und meine Interviews konnten zwar spitz sein, aber ich war nie gemein.

Ich reiste um die Welt, schlief in Hotels, Villen, herrschaftlichen Wohnhäusern, Tourbussen und anfangs auch auf ein paar Fußböden. Ich trank den besten Alkohol und aß das ausgezeichnetste Essen.

Ich nutzte jede freie Minute, um an meinem ersten Roman zu arbeiten, der entfernt auf meinen eigenen Erfahrungen beruhte: Es war die Geschichte einer jungen Frau, die sich in einen Rockstar verliebt, aber schon bald lernt, dass ein Luxusleben im Rampenlicht ganz anders ist, als sie es sich vorgestellt hat. Die Geschichte war lustig, voller interessanter Details aus der Zeit, die ich mit Bands verbracht hatte, mit einer starken Protagonistin. Ich war überzeugt, ich könnte schon bald »Romanautorin« auf meinen Lebenslauf schreiben.

Diese vier Jahre waren frei von Verpflichtungen und Sorgen. Ich konnte nicht Auto fahren, besaß nichts, was zu groß gewesen wäre, um in einen Koffer zu passen, und keine meiner Beziehungen dauerte mehr als ein paar Wochen, weil ich ständig auf dem Sprung zu meinem nächsten Auftrag war. Es machte mir nichts aus, ich war absolut glücklich in meiner eigenen kleinen Welt.

Doch als die Nullerjahre zu Ende gingen, änderten sich die Dinge. Der Feminismus war überall präsent, und eine neue Welle weiblicher Autorinnen kam auf. Autorinnen mit Ideen und besonderen Stimmen. Ich war jetzt Mitte zwanzig, alt genug, um meine eigene Meinung zu haben, und mein spitzer, respektloser Stil war nicht mehr genug: Die Leute wollten wissen, was ich über andere Themen dachte, nicht nur, welche Band als Nächstes ganz groß rauskommen würde.

Ich wurde mir zunehmend der anderen Frauen bewusst, die starke Texte über Gender und Sexismus schrieben und darüber, was es bedeutete, eine Frau in der modernen Welt zu sein. Natürlich hatten Frauen schon immer solche Texte geschrieben, doch jetzt fühlte es sich an, als müsste auch ich sie schreiben. Was waren meine Ansichten? Warum trug ich Make-up? Trug ich Röcke, weil ich es wollte oder weil es von mir erwartet wurde?

Auf nichts davon wusste ich eine Antwort. Ich wusste nicht, wie man eine Zündkerze wechselt, und hatte absolut keine Ahnung, ob ich Lippenstift tragen und trotzdem Feministin sein konnte. Mein Bedürfnis zu definieren, wer ich war, und das zu Papier zu bringen, wurde immer stärker. Aber ich war nicht bereit, mich derart festzulegen. Ich war nicht bereit, mich auf irgendetwas festzulegen.

Zur selben Zeit, als ich merkte, dass meinen Artikeln und vielleicht auch mir wirkliche Substanz fehlte, wurde mein Roman von Literaturagenturen in ganz London aus genau diesem Grund abgelehnt. Ihnen gefiel die Welt, in der der Roman spielte, sie stellten fest, dass ich mit lebendigen Details das Leben auf Tour beschrieb, fanden aber auch, die Protagonistin habe (buchstäblich) »keine Substanz« und würde »ohne eigene emotionale Entwicklung durch die Handlung treiben«. Ein Absageschreiben, das mir besonders im Gedächtnis blieb, erklärte: »Sie lernt während des Romans nichts über sich selbst.«

Sie waren höflich, aber deutlich – keine einzige Agentur wollte mich vertreten.

Innerhalb von ein paar Monaten fing meine leichte, sorgenfreie Welt an zu bröckeln. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, was mit mir passierte, mit den wechselnden Gefühlen und den neuen Zweifeln, die meine Gedanken überfluteten. Ich hatte noch nie vorher über den Sinn meines Lebens oder Schreibens nachdenken müssen. Ich wusste nicht, wie ich das anstellen sollte.

Tatsächlich hätte ich ernsthaft darüber nachdenken sollen, was ich wirklich sagen, worüber ich wirklich schreiben wollte. Ich hätte über mein Ich nachdenken sollen, über meine Entwicklung, ich hätte darüber schreiben sollen, dass ich noch nicht bereit war, mich selbst zu definieren, dass ich jedoch Druck verspürte, sagen zu müssen, wer ich war, bevor ich es selbst wusste. Ich hätte merken müssen, dass ich nicht die Einzige war, der es so ging, dass ich nicht die Einzige war, die mit fünfundzwanzig noch nicht meinte, auf alles eine Antwort zu wissen.

Stattdessen fing ich an, an mir selbst und allen Entscheidungen, die ich jemals getroffen hatte, zu zweifeln. Klar, ich reiste durch die Welt und erlebte Dinge, über die andere Leute nur lasen (und zwar in meinen Artikeln), aber ich hatte noch nie richtig Miete oder Rundfunkgebühren bezahlt. Ich war aus dem Zuhause meiner Kindheit direkt ins Studentinnenwohnheim und dann wieder zurück zu meinen Eltern gezogen. Ich hätte wahrscheinlich ausziehen sollen, aber wozu, wenn ich kaum da war?

Ich hatte mich immer für stark und unabhängig gehalten. Ich war immer glücklich damit gewesen, wer ich war, ohne die Bestätigung anderer zu brauchen. Ich kam auch ohne eine Schar von Freundinnen aus, mit denen ich meine neuesten Klamotten oder Eroberungen diskutieren konnte. Ich war nicht besonders aktiv auf Facebook oder Instagram oder Twitter, ich postete nicht für Likes.

Aber jetzt fragte ich mich, ob all das eine freie Entscheidung gewesen war. War ich allein und unabhängig, weil ich es wollte oder weil ich keine anderen Möglichkeiten hatte?

Ich fing an, anderer Leute Facebook-Profile zu studieren. Leute, die ich aus der Schule oder der Uni kannte, wurden spießig, heirateten, bekamen Kinder. Sie waren Brautjungfern und organisierten Baby-Shower-Partys. Mein bester und eigentlich auch einziger Freund war schwul und glaubte nicht an die Ehe oder Kinder, so bald würde ich also nicht darum gebeten werden, ihm einen derartigen Freundschaftsdienst zu erweisen.

Ich schlief schlecht, trank mehr als sonst und hatte vor lauter Angst ständig einen Knoten im Magen. Ich wollte mein Leben ändern, war aber wie gelähmt von meiner Unentschlossenheit, was ich zuerst angehen sollte.

Es dauerte ungefähr drei Monate, bis sich der Angstknoten zu leichten Panikattacken entwickelte, und dann noch mal ein paar Monate, bis diese Panikattacken mich so zermürbt hatten, dass ich dachte, ich müsse irgendjemandem von meinen Problemen, morgens mein Zimmer zu verlassen, erzählen.

Und genau da trat James in meine seltsame, dunkle Welt.

James war der neue Anzeigenleiter für die Musikzeitschrift, und innerhalb von einer Woche wurde er zum Büroliebling. Gut aussehend, aber nicht unverschämt gut aussehend, auf sarkastische Weise zum Wegwerfen komisch und dabei selbstbewusst, aber auch total selbstironisch, gut in seinem Job, aber nicht so gut, dass er andere dadurch schlecht dastehen ließ, der Geschäftsführung gegenüber freundlich, aber nicht so freundlich, dass er sich nicht über sie lustig machen konnte.

Er war zehn Jahre älter als ich, verkörperte alles, was ich nicht war, und hatte alles, was mir fehlte: eine Karriere, ein Haus, ein Auto und eine Waschmaschine, die ständig kaputtging. Er redete von langfristigen Zielen in seinem Leben, Karrierelaufbahnen, vom Ansparen eines Eigenbetrags für eine Hypothek, von zweiwöchigen Sommerurlauben, die die Hälfte meines Jahresgehalts kosteten. Außerdem hatte er eine langjährige Beziehung mit einer Frau, mit der er zusammenwohnte und die darauf aus war, dass er ihr einen Antrag machte, aber ich entschied mich, diesen Teil seines beneidenswerten Lebens nur flüchtig mit ihm abzuhandeln.

Seine bodenständige und erwachsene Welt ließ meine Welt nur noch bodenloser und unreifer erscheinen. Was sollte ich mit meinem Leben anstellen? Wenn irgendjemand darauf eine Antwort hatte, dann James.

Ohne es mir einzugestehen, wurde James für mich zum einzigen Grund, täglich das Haus zu verlassen. Zumindest an den Werktagen.

Er war der Ausgleich zu meinem Chaos, das beruhigende Zentrum von Normalität und Routine.

Irgendwann stellten wir fest, dass wir mit derselben Bahn zur Arbeit fuhren, und so fingen wir an zusammenzusitzen.

Auf diesen Bahnfahrten passierte es, dass ich mich in ihn verliebte.

Eine Dreiviertelstunde lang saßen wir dicht nebeneinander und redeten über alles – die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Wir erzählten uns von unserer Kindheit und Schulzeit, den ersten Malen, als jemand uns das Herz brach, von unseren Jobs, unseren Träumen von einem Zuhause. Wir redeten über die Arbeit, und dass er etwas Kreativeres machen wollte. Ich erzählte von meinem abgelehnten Roman – wovon bisher noch nicht einmal meine Eltern wussten.

Es gab absolut keine Gemeinsamkeiten zwischen uns. James hatte mit sechzehn angefangen zu arbeiten, er wollte die Karriereleiter emporklettern und dann in Immobilien investieren. Ich lebte natürlich immer noch bei meinen Eltern, hatte meinen ersten und bislang einzigen Job nur zufällig bekommen und gab all mein Geld fürs Feiern und Reisen aus.

Aber … irgendwie … funktionierte es – wir funktionierten.

Ich erzählte ihm nicht von den Panikattacken oder den Depressionen, die immer leicht auf meinen Schultern lasteten. Ich wollte nicht, dass er mich für verrückt hielt.

Ich prägte mir jedes körperliche Detail von ihm ein. Die Länge seiner Wimpern und die Falten, die sich um seine Augen bildeten, wenn er lächelte. Wie die Sonne seine helleren rötlichen Haarsträhnen und das erste Grau in den Koteletten betonte. Dass er mittwochs einen Stoppelbart hatte, bevor er sich am Donnerstag wieder rasierte. Seine gebräunte Haut nach dem Sommerurlaub. Seinen Duft am Morgen, noch von der Dusche, sein Aftershave elegant und zitronig. Seinen Duft auf dem Nachhauseweg, eine leichte Schweißnote, die Rückstände des Büros noch auf seiner Haut. Die Wärme, die von ihm ausging, wenn wir nebeneinandersaßen.

Ich lebte für unsere Bahnfahrten. James stieg drei Stationen nach mir ein, und ich hielt ihm den Platz neben mir frei, entschuldigte mich wie wild bei den Leuten, die sich setzen wollten. Manchmal setzte sich trotzdem jemand auf seinen Platz, manchmal stieg James nicht in meinen Wagen, manchmal nahm er eine andere Bahn. Das waren dunkle Tage. Doch an den Tagen, an denen er neben mir saß, ging es mir dank ihm besser. Durch ihn löste sich der Knoten in meinem Bauch, und der Nebel lichtete sich etwas. Wenn ich mit ihm zusammen war, musste ich nicht über mich nachdenken, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, über ihn nachzudenken. Wenn ich mit ihm zusammen war, fühlte ich mich gut. Ich fühlte mich normal. Ich fühlte mich sicher.

Wie gesagt, James hatte von Anfang an dafür gesorgt, dass ich mich besser fühlte.

James hatte dafür gesorgt, dass es mir besser ging.

Warum bekam James 6DM und ich nicht?

Lag es daran, dass er während dieser drei Tage rausging? Verpasste ich ein seltsames Ansteckungszeitfenster? Vielleicht hatten wir das Virus auch beide, aber meine widerlichen Katersymptome hatten es aus meinem Körper ausgestoßen? Wenn medizinisches Personal im Anfangsstadium der Erkrankung extremes Erbrechen eingeleitet hätte, wären dadurch vielleicht alle vom Virus befreit worden?

Vielleicht bin ich wirklich die absolute Anomalie, der einzige Mensch auf der Welt, der gegen das Virus immun ist. Vielleicht bin ich tatsächlich das Gegenmittel.

Wie auch immer.

Um 4:36 Uhr am 3. Dezember nieste James, und ich wusste, er würde sterben.

3. Dezember 2023

Ich hasse Uhren.

Ich hasse die flimmernden Zahlen und das ständige Leuchten von Digitaluhren, die unheimliche Omnipräsenz und das konstante Tick, Tick, Tick von Standuhren, das schrille Klingeln, mit dem immer der beste Moment des Schlafs unterbrochen wird; die allgegenwärtige Erinnerung daran, dass Uhren die ganze Zeit beobachten, wie unser Leben langsam, Sekunde für Sekunde verrinnt.

Ich hasse Uhren in der Wohnung, aber am schlimmsten finde ich sie im Schlafzimmer. Als hätte man einen Gefängniswärter neben dem Bett – geh jetzt schlafen, steh jetzt auf, hör auf, dich zu schminken, verbring nicht zu viel Zeit im Bad, schlaf in den nächsten neun Minuten ein oder du bekommst nicht die empfohlenen acht Stunden Nachtruhe.

James war total besessen davon, pünktlich zu sein, und mochte es, wenn alle Uhren in der Wohnung zehn Minuten vorgingen, damit er noch einen Puffer hatte. Am Morgen des 3. Dezember stand die Uhr also tatsächlich auf 4:46, aber ich zog automatisch die zehn Minuten, die sie vorging, ab, und da war es: 4:36 Uhr.

Das Niesen.

Wir zuckten beide zusammen, versteiften uns, und dann machten wir eine große Show daraus, uns zu entspannen und so zu tun, als würden wir schlafen.

Nie habe ich eine Uhr so sehr gehasst wie diesen Leuchtteufel und die Ewigkeit, die der Wecker brauchte, um sich durch die nächsten drei Stunden zu klicken, bevor ich, ohne Verdacht zu erregen, aufstehen konnte.

Selbst 7:30 Uhr war früh für mich, aber da war James schon zwei Stunden lang auf, und ich konnte nicht noch länger warten.

Vor der Wohnzimmertür ordnete ich meine Gesichtszüge zu einem normalen, nichtssagenden Früh-am-Morgen-Blick.

Ich hatte noch nie im Leben so viel Angst gehabt wie in dem Moment, als ich die Tür öffnete.

Er sah auf und schenkte mir ein strahlendes Lächeln.

»Ich glaube, ich habe eine Erkältung. Kommt wohl daher, dass ich ohne meinen dicken Mantel draußen war.«

»Ich hab doch gesagt, du sollst eine Mütze aufsetzen, du Dummkopf. Willst du einen Tee?«

Ich weinte im Badezimmer. Leise.

Dann machte ich den Tee.

Wir verbrachten den Tag auf dem Sofa, guckten Filme und ignorierten geflissentlich James’ Erkältung, die stündlich schlimmer wurde.

Um drei Uhr nachmittags glühte er und hatte Schüttelfrost. Wir guckten gerade Stirb langsam, weil James den Film liebte und es ihm davon immer besser ging, als plötzlich seine ersten Magenkrämpfe losgingen. Er krümmte sich vor Schmerzen, und ich drückte seine Hand so fest, dass er aufschrie.

»Entschuldige!«

Wir hatten es die letzte Stunde vermieden, einander anzusehen, und uns ganz auf Bruce Willis’ Mission konzentriert, statt uns mit dem bevorstehenden Tod in unserem eigenen Wohnzimmer zu konfrontieren.

»Brich mir doch nicht noch die Hand!«

Ich schaute ihn an.

Seine Augen waren weit aufgerissen und voller Angst. Mein sechsundvierzigjähriger Mann sah aus wie ein kranker, verschwitzter, zwölfjähriger Junge. Er versuchte zu lächeln und brach in Tränen aus.

Während er weinte, hielt ich ihn. Den Mann, den ich seit elf Jahren geliebt und mit dem ich ebenso lange zusammengelebt hatte. Den Mann, von dem ich einmal dachte, ich würde mit ihm Kinder kriegen, gemeinsam alt werden und für immer zusammen bleiben.

Und letztendlich war ich auch für immer mit ihm zusammen.

Nur war es sein für immer, nicht meins.

Die nächsten vierundzwanzig Stunden waren das Schlimmste.

James lag im Delirium. Aber er war nicht weggetreten genug, um seine Schmerzen und sein Leiden nicht mitzubekommen. Er warf sich zitternd im Bett umher und musste ständig kotzen und scheißen. Ich wischte ihm die Stirn, hielt ihm den Eimer hin, schleppte ihn zur Toilette und zurück und wechselte das durchgeschwitzte Bettlaken.

Ich zerdrückte jede Schmerztablette, die ich in der Wohnung fand, löste sie in Wasser auf und tröpfelte ihm die Lösung in den Mund. Ich hatte Sorge, dass ich ihm mehr als die empfohlene Dosis gab, aber dann wurde mir klar, dass es wahrscheinlich inzwischen egal war.

Um vier Uhr nachmittags am 4. Dezember schlief er schließlich ein, und ich ging hinaus, um Hilfe zu suchen.

Es war das erste Mal, dass ich seit dem Ausbruch das Haus verließ, und ich hatte panische Angst.

Dabei hatte ich es gar nicht absichtlich vermieden rauszugehen, es hatte nur keinen Grund dafür gegeben. James hatte uns alles besorgt, was wir brauchten, und die Empfehlung war, zu Hause zu bleiben.

Ich brauchte fast zwanzig Minuten, mir aus einem alten Halstuch eine Gesichtsmaske zu binden, bis mir die Sinnlosigkeit meiner Aktion bewusst wurde. Ich hatte Flecken von James’ Schweiß, seinem Erbrochenen, seiner Scheiße im Gesicht, in den Haaren und in der Nase. Wenn ich 6DM bekam, dann nicht, weil ich rausging.

Filme und Fernsehsendungen über das Ende der Welt zeigen immer Menschen, die massenhaft auf die Straße gehen, randalieren, plündern, fliehen und gegen den Untergang der Menschheit demonstrieren – ziemlich genau, wie es in Amerika passiert war.

Hier passierte das nicht.

Es gab keine Massenflucht aus London, keine Autos, die Stoßstange an Stoßstange die Straßen blockierten, keinen Verkehrskollaps auf der M25. Niemand versuchte zu fliehen – wo sollten die Leute auch hin? In Amerika hatten sie es versucht. Es hatte nicht funktioniert.

6DM war überall, man konnte dem Virus nicht entkommen.

Die erste halbe Stunde wanderte ich ziellos durch die Straßen, unfähig zu begreifen, wie ausgestorben London war.

Auch wenn ich schon vorher einen Lockdown miterlebt hatte, fühlte sich das hier komplett anders an, unwirklich, als wäre die gesamte Bevölkerung Londons mal eben übergangsweise weggezogen und würde bald wiederkommen. Die Lichter waren an, Weihnachtsdekoration funkelte in Schaufenstern, Werbung für anlaufende Kinofilme lächelte glänzend von Reklametafeln, Tische und Stühle standen erwartungsvoll vor Cafés und Bars. Alles wartete darauf, dass die Menschen wiederkamen, so wie sie es letztes Mal auch getan hatten.

Ich sah kaum Leute, noch weniger Autos, überhaupt keine Busse oder Laster – öffentliche Verkehrsmittel und der Lieferverkehr waren mit dem ersten Fall von 6DM sofort eingestellt worden. Die einzigen Menschen auf der Straße waren Leute wie ich, die mit Gesichtsmasken und gesenktem Blick an ihr Ziel und schnell wieder nach Hause eilten.

Es war ruhig, aber nicht absolut still. Ich hörte Restgeräusche aus den Gebäuden, in denen die Generatoren noch funktionierten, Luftbewegungen aus U-Bahn-Schächten, summende Straßenlampen, sanfte Musik aus offenen Türen verlassener Geschäfte.

Das Fernsehen hatte die letzten Tage immer wieder Bilder von riesigen Armeelastern gezeigt, die Leichen zu Massengräbern fuhren. Die Laster wurden von leidgeprüften Verwandten begleitet, die bereits selbst erkrankt, aber noch lebendig genug waren, um den Tod eines geliebten Menschen und die Ungerechtigkeit des unpersönlichen Abtransports zu seiner letzten Ruhestätte zu betrauern. Doch jetzt sah ich keine Laster, und als ich so darüber nachdachte, fiel mir auf, dass innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden nichts mehr über die Begräbnisse berichtet worden war.

Die Geschäfte waren menschenleer, aber in den meisten gab es immer noch Waren. Bei einigen waren die Fenster eingeschlagen oder die Türen aufgebrochen, andere hatten die Tür einfach offen gelassen, damit man nehmen konnte, was man wollte. Waren und Geld hatten inzwischen keinen Wert mehr.

Vor der Kirche auf der Hauptstraße hielt ich inne. An der Eingangstür stand ein großer Weidenkorb mit einfachen, handgefertigten Kreuzen. Auf einem Schild neben dem Korb stand: Gedenkt der Toten.

Ich ging um die Kirche herum. Der Rasen und der Friedhof dahinter waren übersät von diesen Kreuzen. Manche waren kunstvoll verziert und liebevoll beschriftet, auf andere mit Kugelschreiber gekritzelt. Viele trugen nur einen Namen, andere drei oder vier. Auf einem Kreuz standen ganze sechzehn Namen mit Altersangaben von sieben Monaten bis zweiundachtzig Jahren – eine gesamte Familie von vier Generationen. Es waren Hunderte, vielleicht sogar Tausende Kreuze. Jedes einzelne war von jemandem, der einen geliebten Menschen hatte sterben sehen und der jetzt selbst auch starb, dort hingelegt worden.

Vor Entsetzen gelähmt blickte ich auf den Friedhof, bis ich auf einmal ein Husten hinter mir hörte. Ein alter Mann stand vor Schmerzen gekrümmt und mit einem Kreuz in der Hand da und sah mich mit scharfem Blick und tränenden Augen an. Aus seiner Nase lief der Rotz.

Ich machte den Fehler, so zu reagieren, wie ich es vor 6DM getan hätte.

Ich lächelte.

»Sind Sie gar nicht krank?«

Achselzuckend wich ich zurück, unsicher, was für eine Antwort er von mir erwartete.

»Sind Sie gar nicht krank?«, wiederholte er lauter.

Ich drehte mich um und entfernte mich.

»SIESINDNICHTKRANK!«

Diesmal schrie er seine Anklage, und ich lief los, aus Angst, was er als Nächstes tun würde oder was andere tun könnten, wenn sie ihn hörten.

Das Gesicht im Schal vergraben hielt ich mich im Schatten der Gebäude.

Ich ging zuerst zur Apotheke und war unglaublich erleichtert, dass die Tür offen war, weil ich so nicht versuchen musste einzubrechen. Es gab immer noch jede Menge teure Gesichtscremes und so, aber die Regale mit den Erkältungs-, Grippe- und Magen-Darm-Medikamenten waren leer. Alle Medikamente für Kinder waren weg. Die Antibiotika hatte niemand gewollt – einen Atomkrieg kann man nicht mit einer Wasserpistole bekämpfen.

In einer bereits aufgebrochenen Schublade hinter dem Tresen fand ich Morphintabletten, die einzigen Schmerzmittel, die es noch gab, also steckte ich sie alle ein.

Am Eingang lagen Schachteln mit T600. Ich nahm keine.

Unsere Arztpraxis hatte geschlossen, und auf einem handgeschriebenen Schild an der Tür stand, dass man niemandem helfen könne und es T600 in der Apotheke gäbe.

Ziemlich endgültig.

Zuerst dachte ich, das Krankenhaus wäre offen.

Der Parkplatz war brechend voll, und vor der Notaufnahme standen die Rettungswagen Schlange. Hinter einem der Rettungswagen saß ein Sanitäter und rauchte. Als ich vorbeiging, blickte er auf, sagte aber nichts. Trotzdem munterte seine Anwesenheit mich auf und gab mir etwas Hoffnung.

Die Automatiktür der Notaufnahme funktionierte, doch sobald sie aufging, wusste ich, das bisschen Hoffnung war vergebens.

Ich hatte noch nie vorher den Tod gerochen, aber ich hätte mein gesamtes Vermögen verwettet (das ziemlich beträchtlich ist, da ich jetzt die Herrscherin der gesamten Welt sein dürfte), dass der Tod riecht wie der warme Luftschwall, der mir in dem Moment, als die Tür aufging, entgegenschlug.

Es roch nach Erbrochenem und Fäkalien und Desinfektionsmittel und – etwas, das ich bis dahin noch nie gerochen hatte, woran ich inzwischen aber ziemlich gewöhnt bin – langsam verwesendem Fleisch.

Ein kurzer Blick verriet, dass alle in der Notaufnahme entweder tot waren oder kurz davor zu sterben, es kein medizinisches Personal gab und dass, wenn ich mir 6DM holen wollte, dies der richtige Ort dafür war.

Als ich mich umdrehte, um zu gehen, hörte ich von irgendwo im Raum leises Stöhnen, das mich bis heute in meinen Albträumen verfolgt. Etwas, das einmal ein Mensch gewesen war, versuchte, seine Schmerzen und sein Leid zu kommunizieren. Einen Augenblick lang glaubte ich fast, ich hätte eine Welt betreten, wo die Toten bald wieder zum Leben erwachen und versuchen würden, mich zu verspeisen. Doch dann wurde das Stöhnen zu einem Husten und dann zu einem Würgen und dann zu dem hinnehmbareren Geräusch von jemandem, der starb. Ich schlug mir die Hände auf die Ohren und lief zurück auf den Parkplatz.

Der Sanitäter draußen übergab sich.

Selbstverständlich hätte ich sofort nach Hause zu James laufen sollen, aber ich hatte noch nie im Leben so dringend Alkohol gebraucht, und wenn ich ehrlich bin, wusste ich nicht, ob ich es nüchtern ertragen würde, James sterben zu sehen, also ging ich in eine Bar.

Ich ging zu meiner Lieblingsbar.

Ich rechnete eigentlich nicht damit, dass sie offen war, doch das war sie, und auf einem Schild an der Theke stand: Bedienen Sie sich. Wäre es nicht ohnehin schon meine Lieblingsbar gewesen, hätte sie das dazu gemacht.

Trotzdem sah es aus, als wäre überhaupt nichts getrunken oder mitgenommen worden. Ein weiteres Anzeichen für den Tod der Nation.

Ich trank einen Whiskey. Ich hasse Whiskey, aber ich brauchte etwas, das mich sofort betrunken machte. Also trank ich einen Whiskey und dann eine Flasche Bier.

Ich saß im hinteren Bereich, weit weg von den Fenstern, damit ich nicht gesehen wurde, falls jemand vorbeiging. Doch es ging niemand vorbei.

Ich trank noch ein paar Whiskey und noch ein Bier, dann rief ich jemanden an, und dann, nach einer Weile, kam noch jemand in die Bar.

Es war offensichtlich, dass auch er starb.

Später, auf dem Weg nach Hause, ging ich noch mal zur Apotheke und nahm zwei Packungen T600 mit.

Am nächsten Morgen sagte James, er fühle sich besser. Er glühte nicht mehr so, fühlte sich nicht mehr krank und konnte aufstehen und aufs Sofa umziehen. Er sagte, sein Kopf fühle sich an, als würde er explodieren, doch abgesehen davon ginge es ihm gut. Er trank eine Tasse Tee und aß eine Banane.

Er wankte in die Dusche, und als er wieder rauskam, wechselte ich gerade das Bettlaken. Ich stand vornübergebeugt, und er näherte sich mir von hinten und rieb seine Erektion an meinem Arsch. Da ich unter meinem Nachthemd keinen Slip trug, war er innerhalb von Sekunden in mir. Eigentlich mochte ich es, so überrascht zu werden, aber es war unser erster Sex nach sechs Monaten, und dass er das Vorspiel einfach komplett ausließ und mich möglicherweise mit seinem 6DM-Sperma ansteckte, kotzte mich an.

Bis mir klar wurde, dass er nicht mit mir schlief, sondern mich fickte, um zu beweisen, dass er es konnte, als ob sein Leben davon abhing.

Und vielleicht tat es das auch.

Also spielte ich ihm einen Orgasmus vor, griff nach hinten und massierte seine Eier, damit er kam. Nach neunzig Sekunden war das Ganze vorbei. Trotzdem sah er ziemlich zufrieden mit sich selbst aus.

Ich duschte gerade, als James aus dem Wohnzimmer nach mir rief. Nackt und tropfnass eilte ich zu ihm, ich rechnete mit dem Schlimmsten.

Er saß auf dem Sofa und zeigte auf den Fernseher.

Das Fernsehen war zu diesem Zeitpunkt schon auf allen Sendern auf Notprogramme umgestellt, die zu jeder vollen Stunde eine fünfminütige aufgezeichnete Nachrichtensendung von BBC wiederholten.

Das hier war anders.

Moira Stewart saß schwitzend und unkontrolliert zitternd im Nachrichtenstudio. Sie war vor ein paar Jahren in Rente gegangen, aber zurückgekehrt, nachdem alle anderen Nachrichtensprecher nach und nach krank geworden waren.

Das hier war keine Aufnahme, sie war live.

Sie war schockierend offen.

Die Queen und alle Mitglieder der königlichen Family waren tot oder lagen im Sterben. Der Premierminister war vor zwei Tagen gestorben. Seit vier Tagen hatte es keinen Kontakt mehr mit dem Ausland gegeben. Vermutlich starb die gesamte Welt an 6DM, und das Leben, wie wir es kannten, wü