Die letzten Tage von Rungholt - Kari Köster-Lösche - E-Book

Die letzten Tage von Rungholt E-Book

Kari Köster-Lösche

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Friesland im Jahr 1361. Der Statthalter des dänischen Königs Waldemar IV. ist besessen von Macht und vor allem Geld, das er sich durch illegalen Salzhandel verschaffen will. Allein der nordfriesische Salzsieder Arfast erkennt, daß die Marsch durch exzessiven Salzabbau in Gefahr gerät. Er kommt in Konflikt mit Statthalter und Kirche und legt sich mit uneinsichtigen Bauern an. Nur die Fischer glauben ihm – und die Kaufmannstochter Anna, die ihn liebt. Doch kann das Arfast vor Unheil bewahren …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Friesland im Jahr 1361. Der Statthalter des dänischen Königs Waldemar IV. ist besessen von Macht und vor allem Geld, das er sich durch illegalen Salzhandel verschaffen will. Allein der nordfriesische Salzsieder Arfast erkennt, daß die Marsch durch exzessiven Salzabbau in Gefahr gerät. Er kommt in Konflikt mit Statthalter und Kirche und legt sich mit uneinsichtigen Bauern an. Nur die Fischer glauben ihm – und die Kaufmannstochter Anna, die ihn liebt. Doch kann das Arfast vor Unheil bewahren …

Die Autorin

Kari Köster-Lösche, 1946 in Lübeck geboren, veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Bücher, bevor sie mit ihren historischen Romanen ein begeistertes Publikum fand. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet sie in ihrer Wahlheimat Nordfriesland als Tierärztin.

Kari Köster-Lösche

Die letzten Tage von Rungholt

Roman

List Taschenbuch

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen,wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung,Speicherung oder Übertragungkönnen zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Neuausgabe bei Refinery Mai 2016

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2007/2016

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Titelabbildung: © FinePic®

E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96048-038-9

Namenverzeichnis

Arfast Ketelsen: Salzsieder

Eyde Andreas Reventlows Tochter: Arfasts Mutter

Haye Harksen: Arfasts Vetter

Hark Arfastsen: Hayes Vater, Arfasts Onkel

Benedikt Knoop: adeliger Kaufmann

Anna Knoop: seine Tochter

Henneke Westerflete: Kaufmann aus bäuerlichen Verhältnissen

Agge Jessen, auch Agge Salz genannt: Salzbudenbesitzer

Kresken Agge Jessens Tochter: Agges Tochter

Waldemar: Kreskens Sohn

Knut Wogensson: Burgherr der Trojburg

Knutsson: Knuts Sohn

Backe Osing: Dienstmann auf der Trojburg

Ingemar Stampe: Stabularius, Staller des Königs

Nicolaus Brun: Bischof von Schleswig

Friedrich von der Wisch: Propst von Strand und Föhr

Harre Gunneson: Hardesvogt

Babe Aghesson: Ochsenhändler

Monny Sibingh: Getreidebauer und Bonde

Ibbe, Sivert, Synneke: Salzarbeiter

Pastor Nommensius: Pastor von Rungholt

Rode Wunksen: Bauer und Bonde

Momme: Junge in Rungholt

Robert Lorenzen: Baumeister

Lars Estridsen: Frachtschiffer

Tüki: Armenhäuslerin

Waldemar IV., genannt Atterdag: dänischer König 1340–1375

Waldemar Zappy: Staller und General des Königs

Niels Ebbesen: Knappe des Königs

Gesine: Küchenmädchen im Schloß von Tondern

Worterklärungen

Ausdeichen: Land dem Meer preisgeben

Bonde: freier Bauer auf eigenem Besitz

Cotehardie: niederländisches (u. franz.) Kleidungsstück

Ditten: Brennmaterial aus getrocknetem Dung

Fall, Sielzug, Priel: Gewässer im Wattenmeer

Fenne: Hausweide

Geest: höher gelegenes Land

Glübb: Netz zum Schieben auf dem Wattenboden

Graft: Wassergraben um einen Hof

Gugel: mittelalterliche Kopfbedeckung

Harde: Verwaltungseinheit im dänischen Herrschaftsbereich, auch Rechtsbezirk

Heergewette: Kriegsausrüstung von Panzer, Schild, Schwert, Speer, Stechmesser, Armbrust, dazu bei Rittern ein Pferd

Hirdmannen: Leibwache des dänischen Königs (oft Friesen)

Inne, Stud, Ledingsteuer: ordentliche Steuern

Insten: Dienstleute bei Bauern

Jyske Lov: Jütische (dänische) Gesetzessammlung

Kajedeich: Schutzdeich um das Abbaugebiet von Salztorf

Knutt: eine Art von Strandläufern

Koog: von Deich umgebenes Gebiet

Kratt: Buschwald

Kuhl: tiefer gelegener Teil alter Schiffe, zwischen dem erhöhten Vorschiff und dem erhöhten Achterschiff

Lüttfischer: Fischer mit eigenem kleinen Boot

Manndränke: Namen für die zwei größten Flutkatastrophen in Nordfriesland, 1362 und 1634

Motte, Turmburg, Herrenmannenhof: Hof eines Adeligen

Neffninge, Sandmänner: zu den Schöffen gehörend

Pflugschatz: außerordentliche Steuer, abhängig von Landbesitz

Plicht: tiefer als das Deck gelegener Teil des modernen Schiffes, Sitz- und Arbeitsraum

Püttlöcher: Entnahmestellen von Kleierde beim Deichbau

Rummelpott: luftgefüllte Harnblase, mit der Lärm zum Vertreiben der Geister gemacht wurde (heutzutage an Silvester)

Salzbude: Hütte, in der das Salz aus der Mischung von Salzasche und Wasser herausgekocht wurde

Schar liegender Deich: gefährdeter Deich ohne Vorland

Send: Visitation des Kirchspiels durch den Propst

Sood: Brunnen, Trinkwasserzisterne

Staller: Stabularius oder Vogt (in Schleswig: einer Harde)

Stock: Holzsteg über einen Halligpriel

Sudden: Meerstrandwegerich

Warf: aus Kleiboden errichteter Hügel, auf dem im Marschengebiet Häuser und Ställe stehen

Watt: Flächen aus Schlick und Sand, die zweimal täglich überflutet werden

Ziborium: Aufbewahrungsgefäß für Hostien

»Heute bin ich über Rungholt gefahren,Die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren«

Detlev von Liliencron,»Trutz, Blanke Hans«

Prolog

Schwarze Wolkengebirge wälzten sich über Amrum und Sylt, und gewaltige elektrische Spannungen entluden sich durch grelle Lichtblitze. Aber das Krachen über ihren Köpfen war inzwischen fernem Grummeln gewichen; die Böen des Gewittersturms kamen weniger häufig und wurden merklich schwächer.

Ketel Arfsten, Fischer und Besitzer eines kleinen Motorbootes, klemmte das Steuerrad mit dem Körper fest und steckte sich im Windschutz seiner Hand eine Zigarette an. »Da draußen möchte ich jetzt nicht mehr sein«, sagte er laut, damit ihn sein junger Neffe verstehen konnte.

Thies nickte und zuckte mit den Schultern. So groß war die Gefahr wohl nicht gewesen, und sie hatten es ja geschafft. Er machte sich wieder daran, die Strandkrebse aus dem Fang zu klauben und in hohem Bogen ins Wasser zu werfen. Der Ertrag war nicht schlecht gewesen. Noch am gleichen Tag würden Ketel und er mit dem Auto auf Langeneß von Warf zu Warf fahren und die gekochten Krabben verkaufen.

Arfsten packte das Steuerrad fester. Die Hallig Hooge hatte dem Boot eine Weile Schutz geboten, und sie waren auf achterlichen Wellen von Amrum hereingefahren; jetzt trafen sie auf die Wogen, die sich aus südlicher Richtung von Pellworm heranwälzten und eine unangenehme Kreuzsee aufwarfen.

Thies hielt die Körbe fest, während das Boot im Seegang rollte. Sein Gehör sagte ihm, daß Ketel dem Diesel Höchstleistungen abforderte. Endlose Minuten vergingen, bis das Schaukeln endlich schwächer wurde.

Als die Warfen Trojberg und Norderhörn auf Langeneß in Deckung kamen, zündete sich Arfsten eine neue Zigarette an, während er mit der anderen Hand den Bug immer wieder in die seitlich anlaufenden Wellen drückte. Zwanzig Minuten noch, dann würden sie an der Schleuse festmachen. Es wurde höchste Zeit, das Wasser lief schon seit zwei Stunden ab, und sie lagen näher an Land, als ihm lieb war. »Thies, was ist das da? Hab ich noch nie gesehen.«

Obwohl Arfsten schon fast jeden Stein der Steinkante, die die Hallig schützte, erkennen konnte, ging er mit der Fahrt herunter und fuhr vorsichtig einen Bogen, der sie näher an zwei aufeinander zulaufende Reihen von Holzpfosten brachte.

Thies kroch nach vorne in den Bugkorb. Während Ketel im Rückwärtsgang so viel Gas gab, daß sein Boot sich auf der Stelle hielt, gaben die Wogen Hölzer frei, die ungleich hoch und an den Oberkanten wie abgenagt waren. Einige schienen zu fehlen, andere waren jedoch durch waagerechte Planken miteinander verbunden. An beiden Enden waren die Vierkanthölzer besonders kräftig. »Das sind Spanten!« rief Thies. »Ist ja toll! Hier liegt ein Wrack!«

»Und wir liegen gleich auf. Wir müssen weg!« Langsam zog die Schraube das Boot in das tiefere Wasser zurück, und Thies kroch zurück in die Plicht. »Ich habe noch niemals gehört, daß einer von den Alten von einem untergegangenen Schiff an dieser Stelle gesprochen hätte. Vorn und hinten spitz.«

»Dann ist es wohl älter als die Erinnerung«, vermutete Arfsten und gab Vollgas. »Vielleicht hat es hier früher einmal einen Priel gegeben, von dem niemand weiß. Bei der Länge muß das Schiff mindestens anderthalb Meter Tiefgang gehabt haben. Aber wenn wir noch länger hiergeblieben wären, hätten die Archäologen des nächsten Jahrhunderts von einem regelrechten Schiffsfriedhof berichten können.«

»Wer weiß, vielleicht ist es ja schon einer.« Thies lachte.

»Wir können morgen bei Niedrigwasser wiederkommen und das Wrack untersuchen«, schlug Ketel vor. »Mit Fotoapparat und Maßband.«

»Prima! Stell dir vor, wir hätten den Hafen der alten Trojburg gefunden. Den muß es doch gegeben haben. Oder den von Rungholt …«

Ketel lächelte in sich hinein. Hier gab es viel mehr als das. Dort, wo sie jetzt fuhren, war einst Land gewesen, so weit das Auge blickte.

I

Du, Kerl! Komm her und gib mir eine Auskunft!« Arfast drehte sich um und betrachtete den schwarzhaarigen baumlangen Mann von oben bis unten. Er stand am Ufer des Schluth, als ob er den Priel vom Festland her entlang gekommen wäre. Schon wieder einer von diesen dreisten Fremden, dachte er. Mit einer so frischen roten Narbe quer über dem Kinn und einem Wams, dessen Lederbesatz eine dicke Panzerung ergab, konnte er nur ein Söldner sein. Die Hand hatte er am Kurzschwert wie einer, der demnächst ziehen will.

»Wo ist die Trojburg?« fragte der Mann mit sichtbarer Ungeduld, wieder in plattdeutscher Sprache.

Der Salzsieder war unbewaffnet. Er blieb gelassen, aber das hatte nichts damit zu tun, daß er selber groß und gewandt im Kampf war. Die Leute von der Trojburg kannte er. Wie alle Halbwüchsigen von Langeneß und Nordmarsch hatte er sich gelegentlich nachts dorthin geschlichen und sich mit den Männern angelegt, aber als Erwachsener, der zu Vernunft gekommen war, nicht mehr. Die Trojburger waren unfriedliche Leute, deren Gewerbe zwischen Seeräuberei im eigenen und Küstenschutz in des Königs Auftrag schwankte. Arfast stützte Hände und Kinn auf den Pfahl, den er gerade einschlagen wollte, und deutete mit den Augen auf die höchste Erhebung hinter den violett blühenden Büscheln des Halligflieders. »Dort liegt sie. Folge dem Priel bis zum Stock und jenseits des Stockes dem Trampelpfad. Die Burg ist nicht zu übersehen.«

Ohne dem Mann noch einen Blick zu gönnen, hob Arfast die schwere Handramme wieder auf und ließ sie dröhnend auf den Pfahl fallen, der sich tief in den Kleiboden senkte. Es war der letzte Pfahl, der den Verlauf des Sommerdeiches um das künftige Abbaugebiet von Salztorf markierte. So konzentriert war er bei der Arbeit, daß er beinahe das Sirren des Pfeils überhört hätte, der an ihm vorbeiflog und sich eine Manneslänge neben ihm in das Gras bohrte. Sein Instinkt ließ ihn zur Seite springen, aber er war sich klar darüber, daß er jetzt auch hätte tot sein können.

»Knut Wogensson nimmt niemanden auf, der so schlecht schießt«, rief Arfast erbost, aber der Fremde war schon von der Graskante auf den Schlick am Priel hinuntergesprungen und außer Sicht. Sein höhnisches Lachen mischte sich mit dem Gurgeln des schnell strömenden Wassers.

Arfast starrte ihm verdrossen hinterher. Immer öfter tauchten sie auf, diese Dänen und Holsteiner, und ob der König sie schickte, die Grafen oder der Bischof: Sie machten Rechte geltend, die niemand kannte, und nahmen sich, was sie wollten. Und je mehr von ihnen kamen, desto öfter gab es Streit.

In sicherer Entfernung kroch der Fremde wieder auf das Halligufer und formte die Hände zu einem Schalltrichter. »Mich wird er nehmen, ich bin sein Sohn. Nimm dich in acht, wenn wir uns wieder begegnen, Friese!«

Arfast trabte mit dem eisenschweren Schlagklotz am abgewinkelten Arm locker der Salzsiederei entgegen, einer der beiden, die er im Auftrag des Kaufmanns Benedikt Knoop bewirtschaftete. Trotz seiner jungen zwanzig Jahre leitete er beide Siedereien nach eigenem Ermessen, und sechs ältere Männer gehorchten ihm.

Um diese hier auf Langeneß mußte er sich keine Sorgen machen, sie war die ertragreichere von beiden. Der Salztorf lag in dicker Schicht auf Land, das für gewöhnlich nicht in Gefahr war, überflutet zu werden. Sie konnten im Frühjahr zeitig mit dem Abbau beginnen und spät im Herbst aufhören.

Aber für die Salzsiederei an der Nordwestseite von Nordmarsch plante er bereits eine Warf und höhere Kajedeiche zum Schutz gegen Sturmfluten, um das Gebiet ähnlich lange wie auf Langeneß bewirtschaften zu können.

Leider war Knoop unbeweglicher als eine Wellhornschnecke im Ufersand, und seine Gedanken hinterließen noch weniger Spuren. Arfast war es leid, auf seine Entscheidung zu warten.

Er wechselte im Laufen den Arm und übersprang einen der schmalen Halligpriele, an dessen Seitenwänden das silbergraue Flohkraut in Büscheln wuchs. Die Priele, die bei Flut Wasser führten, bei Ebbe aber nur Schlick enthielten, waren die einzige Abwechslung in diesem buschlosen, flachen und grünen Halligland. In der Ferne erhob sich die Geest wie ein dunkles Wolkenband.

Kurze Zeit später stand Arfast mit einem einzigen Satz auf der Krone des Sommerdeiches, der die Salztorfgrube vor Hochwasser schützte. Zwei seiner Männer waren gerade dabei, mit langen Stangen eine abgestochene Kleischolle umzubrechen, unter der der Torf lag. Vor dem Schuppen stieg fetter schwarzer Rauch auf, um sich als stinkende Schicht über alles in der Nähe Befindliche zu legen. An windstillen Tagen hatte der Mann Pech, der die Torfsoden zu Asche verbrennen mußte. So wie heute.

Als Arfast heran war, maß er den vierschrötigen Salzbrenner von oben bis unten. Er lachte und klopfte ihm auf die Schulter. Ibbe war geschwärzt wie der Teufel in der Hölle, aber arglos wie ein Säugling, und Arfast mochte ihn gern. Als Ibbe sich die verschmierten Haarsträhnen aus den Augen strich, hinterließ er vier helle Spuren von der Stirn bis in den Ansatz seiner Haare. Er grinste gutmütig zurück.

Arfast drehte sich um. Hinter ihm setzten Sivert und Synneke keuchend die Trage ab, auf der die Brocken von nassem Torf zu einem Berg aufgehäuft waren. An Siverts Seite polterten sie herunter. »Paß doch auf«, murrte Synneke verdrossen.

»Bist du auch endlich wieder da?« fragte Sivert gereizt.

»Ja.« Arfast wunderte sich. Es mußte die Hitze sein, die sie aus den letzten Jahren nicht mehr gewohnt waren. Er überging die unausgesprochenen Vorwürfe wegen seines langen Ausbleibens. Er hatte seine Arbeit sorgfältig getan. Aber es war nicht Siverts Sache, sich darum Gedanken zu machen.

Arfast holte tief Luft. Sein Blick ging über den schmalen Meeresarm, den sie den Schluth nannten, nach Strand. Im klaren Abendlicht sah er die Westerwoldter Kirche, daneben die schwarzen Umrisse des Waldes, der der Siedlung den Namen gegeben hatte. Im wichtigsten Hafenort der Insel, Rungholt, hatte Benedikt Knoop seine Handelsniederlassung. Wenn die Tage kürzer wurden, fand der Herbstmarkt statt, da legten im Sielhafen die Schiffe aus Hamburg, Bremen, Ripen und Flandern an, brachten Wein, Mühlsteine, Schuhe und Tuche, luden Getreide, Ochsen und Salz. In den Herbstwochen wurde Rungholt eine der Drehscheiben des nordischen Handels. »Ich bringe morgen eine Ladung Salz nach Rungholt«, verkündete er entschlossen. »Den neuen Kajedeich habe ich für euch abgesteckt. Ihr könnt anfangen, ihn aufzuwerfen.«

»Du hältst uns wohl für deine Gespannochsen.« Sivert ließ sich mit der Trage unter dem Arm den Abhang hinunterrutschen und machte sich zwischen den keilförmigen Kleischollen davon.

Arfast sah ihm mit zusammengepreßten Lippen nach. Sivert hatte sechs Finger an der linken Hand und galt als schwierig. Aber er hatte keine Lust, ihn zur Rede zu stellen.

Er drehte sich zum Wasser um. Seine Verdrossenheit verlor sich mit dem lauter werdenden Schnattern der Vögel, die sich mit der auflaufenden Flut näher ans Ufer treiben ließen. Und dahinter wartete Rungholt auf ihn.

Der schwarzhaarige junge Mann, Knut Wogenssons Sohn, stapfte pfeifend in die Wallanlage der Trojburg hinein. Er war noch nie hier gewesen, und die Mannen seines Vaters kannten ihn nicht, aber das war für ihn kein Grund zu falscher Bescheidenheit. Er donnerte mit dem Schwertknauf an das offenstehende Tor, bis oben an der Treppe des zweistöckigen Wohnturms ein Gesicht erschien, gerötet und mit unstetem Blick. Es dauerte eine Weile, bis die Augen den Gast gefunden hatten.

»Was willst du, Mann?« schrie er hinunter.

»Sag meinem Vater, daß ich da bin!«

»Bist du Knutsson?« Er klang jetzt schon merklich bescheidener und zog sich wortlos zurück, als der Schwarzhaarige nickte.

Kurze Zeit später polterte eine mächtige Gestalt die Treppe hinunter. Knut schloß seinen Sohn in die Arme und drückte ihm herzhaft seinen krausen Bart auf beide Wangen. Lebhaft zog er ihn hinter sich her. »Komm mit zu einem Begrüßungsschluck.«

Knutsson grinste verächtlich. Während er sich den Ritterschlag verdient hatte, war sein Vater anscheinend fett und kriegsmüde geworden. »Ihr begrüßt euch wohl schon eine Weile.«

Der Burgherr wandte sich abrupt um und musterte ihn aus blutunterlaufenen Augen. »Wenn ich es gestatte – warum nicht? Du bist hier willkommen. Aber vergiß nicht, daß dies mein Hühnerhof ist. Wenn du auf einen eigenen aus bist, such ihn dir woanders! Dort kannst du krähen, so laut du willst.«

Sein Sohn gab sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. Diese kleine Räuberburg zu befehligen, war gewiß nicht sein Ziel. »Nun geh schon«, sagte er ungeduldig.

Knut stapfte vorweg und machte auf der halben Höhe zwischen erstem und zweitem Stock dem Jüngling Platz, mit dem Knutsson zuerst gesprochen hatte. Inzwischen hatte seine Trunkenheit einen Grad erreicht, der ihn schneller hinuntertaumeln ließ, als auf der steilen Stiege zuträglich sein konnte. »Paß auf«, knurrte Knut und hielt den Mann am Arm fest, als er über eine Trittstufe hinausrutschte.

»Mutter findet übrigens, daß du dich mal wieder sehen lassen könntest. Die Burgmauern sind kalt, und ihr Bett ist es auch«, plauderte Knutsson, indes er sich umdrehte und dem Betrunkenen mit dem Ende seines Bogens einen harten Stoß versetzte.

Der Mann kippte vornüber und rutschte nach unten. Am Fuß der Treppe blieb er mit verdrehtem Hals liegen.

Der Burgherr drehte sich jäh um und betrachtete seinen Gefolgsmann verunsichert aus hervorquellenden Augen. »Ist er tot?«

Knutsson nickte. »Bestimmt. Schade, er war schon zu weit unten, als daß ich ihn noch hätte festhalten können.«

»Er war ein guter Mann«, sagte Knut betrübt.

»Zu betrunken, um gut zu sein.« Knutsson erfuhr nicht, ob sein Vater die Andeutung verstanden hatte, denn in diesem Moment wurden sie vom Johlen der Mannen empfangen.

Das asketische Gelehrtengesicht von Nicolaus Brun verzog sich kaum merklich, als der Kantor des Domkapitels von Schleswig durch das lange Schiff des Doms rauschte, ohne Scheu die erhabene Stille des hohen Raums mit dem scharfen Klappen seiner Ledersohlen störend. Hier drinnen war nichts vom Marktgeschrei der Fischer und dem Lärmen der Handwerksburschen in den Gassen zu hören. Nur die ungedämpften Schritte trugen den Kampf der Welt um Macht und Geld in diesen hohen Raum herein.

Seufzend wandte der Bischof sich von der Holzstatue des Erlösers ab und sah seinem Kantor entgegen. Rangmäßig dem Dompropst und dem Archidiakon folgend, kam Friedrich von der Wisch als Leiter der Domherren ein unverhältnismäßig großer Einfluß innerhalb des Domkapitels zu. Jeder tat das Seine im Dienst des Herrn, aber um den jungen Adeligen zu ertragen, benötigte der Bischof immer wieder aufs neue den Gleichmut seiner bäuerlichen dänischen Vorfahren.

Der Kantor, gleichzeitig Propst von Strand und Föhr, sah den Bischof herausfordernd an, bevor er sich auf sein Knie niederließ. Er konnte es sich leisten, denn Nicolaus Brun war blind wie ein Maulwurf im Tageslicht. Um so besser war sein Gehör. »Pontifex! Euer Gnaden! Es geht das Gerücht, Ihr plantet, Sankt Johannis von Föhr zur Kollegiatskirche zu erheben. Wäre ich nicht der erste, mit dem Ihr dergleichen besprechen müßtet?« fragte er in sanftem Ton.

»Zweifellos, Fredericus. Ihr solltet Gerüchten keinen Glauben schenken.« Der Bischof faltete seine Hände und blinzelte in den Lichtstrahl, der durch den runden Fensterbogen tanzende Flecke auf die Bodenplatten warf.

»So stimmt es also nicht, daß der König seine Macht in Friesland mit des Erzbischofs Hilfe zu stärken versucht?« Der Propst verbarg mit Mühe seinen lodernden Zorn. Seitdem der Däne im Amt war, waren schon zwei verstorbene Domherren aus dem Holsteinischen durch dänische Adelige ersetzt worden, ohne daß er es hatte verhindern können. Und jetzt drohte ihm selber der Entzug seiner wichtigsten und reichsten Kirche.

»Seine Gnaden hat ausschließlich die Herrlichkeit der Mutter Kirche im Sinn und weiß sich dabei mit seiner Heiligkeit in Rom einig. Und mit mir. Dieses Mal wird es nicht nötig sein, daß ein Strander Propst sich nach Lund um Hilfe wenden muß.«

Der Kantor war nicht weniger hellhörig als der Bischof. Es bahnte sich also doch ein neuer Konflikt zwischen Deutschen und Dänen innerhalb des Lunder Erzbistums an. »Und Seine Gnaden König Waldemar?« fragte er seidenweich. Daß der König sich selbst eingeschaltet hatte, bewies die außerordentliche Bedeutung der Angelegenheit.

Nicolaus Brun lächelte verhalten. Der Propst war klug genug, um seinen brennenden Ehrgeiz wenigstens äußerlich zu zügeln. Daß er der Umwandlung von St. Johannis in eine Kollegiatskirche Widerstand entgegensetzen würde, war vorauszusehen gewesen. Es würde seine Hausmacht beträchtlich schwächen und seine Pfründe schmälern. Aber König Waldemar IV., genannt Atterdag, benötigte dringend die Friesen im Rücken der machthungrigen holsteinischen Grafen und des schleswigschen Herzogs, um diese in Schach halten zu können. Er hatte den Erzbischof in Schonen um Unterstützung gebeten und dieser, der noch nicht lange dänischer Untertan war, jedoch seine Loyalität unter Beweis stellen wollte, den dänischen Bischof in Schleswig.

Die Kollegiatskirche auf Föhr war sein eigener Vorschlag gewesen: Sie würde die alte starke Bindung der Friesen an Kirche und König wieder aufleben lassen. »Herr Prälat, der König ist sehr zufrieden mit dem Sieg des Generals Zappy über die Bökingharde und die Horsbyharde«, antwortete der Bischof ausweichend. »Allein die Edomsharde macht ihm noch Sorgen. Die Kaufleute dort sind sehr selbstherrlich. Waldemar hat zu erkennen gegeben, daß seine Geduld am Ende ist.«

Ein verwegener Gedanke schoß dem Kantor durch den Kopf. Eine Kollegiatskirche in Nieblum auf Föhr paßte ihm nicht – vor allem nicht als Dom des künftigen Bistums Friesland. »Vielleicht sollte man die Rungholter Kirche zur Kollegiatskirche ausbauen?« schlug er vor, wobei es ihm tadellos gelang, seine Erregung zu verbergen. »Das würde die Edomsharder enger an Dänemark binden als je zuvor, und die Nachhilfe des Generals würde sich erübrigen. Ich fürchte sogar, daß die Edomsharder die holsteinischen Grafen zu Hilfe rufen könnten, falls sie sich vom König bedroht fühlten.«

Der Bischof runzelte die Stirn und schaute zum Altar. Von dort kam keine Hilfe, aber auch kein Widerspruch. »In Anbetracht dessen, daß die Veränderung der Kirche zu Nieblum ein Gerücht ohne jeden Hintergrund war, kommt Euer Vorschlag sehr überraschend für mich. Ich werde zu unserem Herrn um Erleuchtung beten«, murmelte er. »Vielleicht sollten wir wirklich den Vorschlag auf der Synode vortragen.«

Das Gespräch war zu Ende, und der Kantor fiel auf die Knie. Flüchtig streifte er die magere Hand des Bischofs mit den Lippen und sah dann mit glühenden Augen dem durchgeistigten Mann nach. Mit zögernden Schritten trat dieser in den tiefen Schatten und tastete sich an der Cathedra entlang.

Der Propst wandte den Kopf zum Herrn Jesus Christus über dem Altar und lächelte ihn fast ungläubig an. Auf überraschende Weise war er seinem Ziel näher gekommen. Nicolaus Brun pflegte lieber Kompromisse zu schließen als Auseinandersetzungen auszutragen. Wenn er keinen offensichtlichen Nachteil in Rungholt sah, würde er zustimmen.

Und dieser Kompromiß würde zum Verlust der Propstei Strand aus dem Bistum Schleswig führen.

Selbst der Mann in Rom war der Weihe nach nichts als ein Bischof. Wer konnte schon voraussagen, wohin ihn sein eigener Weg als Bischof in Rungholt führen würde?

Friedrich von der Wisch küßte den Daumen, an dem zukünftig sein Bischofsring sitzen würde, raffte sein langes Gewand mit der anderen Hand und sprang auf. Während er den Dom mit jugendlicher Zuversicht verließ, hörte er eine Glocke dünn den Tod verkünden. In seinen Ohren klang es wie das Totengeläut für das alte Bistum Schleswig, und es war ihm recht so, denn es hatte längst ausgedient. Aus seinen Trümmern würde das neue Bistum Strand aufsteigen.

Draußen sah er seinen Amtsbruder des Wiedaugebietes im Gespräch mit einigen Domvikaren. Er ging zu ihnen hinüber. Seine kämpferische adelige Familie hatte es vorgezogen, ihn in den Dienst der Kirche zu geben; seitdem waren Worte seine Waffen: Er hatte sie nicht freiwillig gewählt, aber er konnte sich ihrer bedienen.

Die Geest im Osten wurde schon von einem rötlichen Streifen Licht erhellt, als Arfast am nächsten Morgen aus der Tür trat. Noch war die Sonne nicht aufgegangen, aber es würde ein strahlender, wolkenloser Tag werden. Über Ketelsbüll, dem größten Ort der Hallig Langeneß, lag noch die Dunkelheit der Nacht.

Arfast belud das Boot mit den letzten beiden Salztonnen. Das Wasser lief auf, und der Wind wehte frisch von Föhr herüber. Die ersten Sonnenstrahlen fielen schon auf die Mastspitze, als er das Segel auswehen ließ, den Festmacher vom Pfahl schüttelte und sich abstieß. Die Rah schlug nach Backbord aus, und er nahm Kurs auf den Schluth durch den Priel, der Langeneß von Nordmarsch trennte.

Er fluchte leise, als er über das gleißende Wasser hinweg die drei Wogensmannen sah, die das große Boot der Trojburg klar zum Auslaufen machten. Noch hatten ihn die Männer nicht gesehen, aber im derzeit noch schmalen Strombett gab es nicht die geringste Möglichkeit unbemerkt vorbeizukommen.

Arfast steuerte angespannt den kürzesten Weg durch den gewundenen Priel. Er spürte, wie der flache Bootsboden über den Schlick holperte. Mit etwas Glück würde er an den Trojburgern vorbei sein, bevor ihr Boot ganz freischwamm.

Er war querab, als sie ihn sahen und mit höhnischen Bemerkungen kommentierten. Der Schwarzhaarige vom Vortag war dabei.

Arfast war mehrere Schiffslängen voraus, als die Männer ihr Boot endlich in ausreichende Wassertiefe geschoben hatten. Befehle wehten über das Wasser. Die Hast, mit der sich Knutsson über das Heck in das Boot warf, das Wirbeln der Ruderblätter und die abschätzenden Blicke, die dem Abstand zwischen beiden Booten galten, sagten Arfast alles. Sie waren hinter ihm her.

Im Schluth mußte er anluven; der härter setzende Flutstrom lief gegen die Windwellen an und minderte seine Fahrt. Die Wogensmänner holten auf. In ihrem Gebrüll lag bereits Schadenfreude.

Arfast stemmte die Füße auf den Schiffsboden und setzte das Vorliek durch. Die Falte im schweren Tuchsegel verschwand, und das Rauschen am Heck wurde um eine Kleinigkeit heller. Er lachte vor sich hin: anderthalb Schiffslängen gutgemacht. Unter gewöhnlichen Umständen hätte ihm diese Wettfahrt Spaß gemacht. Aber sechs Tonnen Salz an Bord waren keine gewöhnlichen Umstände, und er trug die Verantwortung für die teure Fracht.

Der Salzsieder wandte sich um. Er sah nicht, wer steuerte. Aber er sah ganz deutlich, daß der Schwarze im Bug kauerte, den Bogen in den Händen. Das Boot der Trojburger war länger, also würden sie ihn über kurz oder lang einholen. Fieberhaft überlegte er, wo er ihnen entkommen konnte. Zwei Vorteile hatte er auf seiner Seite: Sein Boot ging flacher, und er kannte das Gewässer besser, zumindest nahm er das an.

An der Backbordseite zog Südermarsch vorüber. Die Hallig war niedriger gelegen als Langeneß und lief an ihrer Westseite im Südersand aus, der bei diesem Wasserstand gut vier Fuß unter Wasser liegen mußte. Unauffällig nahm Arfast Kurs auf den Schaumstrich, der die Untiefe sichtbar machte.

In ihrem Siegestaumel folgten ihm die Wogensmannen blindlings. Plötzlich nickte der Mast des Trojburgbootes heftig nach vorne. Arfast wußte noch eher als seine Verfolger, daß sie festsaßen. Lachend winkte er ihnen zu, als sein Ever sich in einer Bö rauschend entfernte.

Die Männer hängten sich über die Bootskante und starrten ungläubig ins Wasser. Bis sie sich mit dem Staken davon überzeugt hatten, daß sie die nächste Zeit hoch und trocken sitzen würden, war Arfast der Reichweite ihrer Pfeile entkommen.

Einige Stunden später bog er nach Rungholtfall ein. Die Fahrrinne führte nach Norden, aber der Wind hatte nachgelassen, so daß er gegenan rudern konnte. Es war schwere Arbeit, und ihm lief der Schweiß von den Schläfen, als er endlich im neuen Hafen vor der großen Schleuse die Ruder einholen konnte.

»Auch wieder da, Arfast?« rief der Hafenmeister und wies ihm im Vorbeilaufen einen bequem nahe am Deich gelegenen Platz vor einer Bremer Kogge ein. Auf der anderen Hafenseite benötigte ein Schiff nach flandrischer Bauart Hilfe beim Ablegen.

Es dauerte eine Weile, bis die Leinen mehrerer längsseits liegender Schiffe unter Geschrei und unsinnigen Ratschlägen von zuschauenden Bauern klargemacht waren und sich der Holländer aus dem Knäuel der Boote gelöst hatte.

Inzwischen hatte Arfast in aller Stille angelegt, die Rah heruntergeholt, das Segel angebändselt und war auf den Riper Damm hochgestiegen. Er sog begierig den Duft von Rungholt ein, eine seltsame Mischung aus Hafenschlick und Kräutergärtchen, die er liebte. Er war wieder einmal zu Hause.

Der Deich unter seinen Füßen trennte Rungholt vom Hafen und vom Vorland. In einiger Entfernung war nach Süden hin der Deich des Halgenäser Salzkoogs zu erkennen, der von Benedikt Knoops schärfstem Konkurrenten betrieben wurde. Durch nicht öffentlich diskutierte Umstände hatte der Besitzer vor einigen Jahren erreicht, daß seine Salzbude in den Deichschutz gekommen war, und diese Tatsache bot ihm unendliche Vorteile. Agge Salz war mit dem Statthalter des Königs gut bekannt, hieß es.

Arfast machte sich auf den Weg zum Haus des Kaufmanns. Ein gutes Jahrzehnt lebte er hier, aber in dieser Zeit hatte sich Rungholt von einem unscheinbaren Dorf zu einem stattlichen Ort mit gut ausgebautem Hafen entwickelt. Früher hatte es hier keinen Deich gegeben und keine Warfen. Und obwohl er nur einige Wochen fortgewesen war, gab es schon wieder neue Buden zwischen den Häusern der Rungholter. Das Ping-Ping eines Schmiedes hallte wider; auf der anderen Seite des Sielzuges, der die Siedlung in zwei Ortsteile teilte, drehte jetzt ein Reepschläger seine Taue zwischen einem Brettergestell und einer Winde. Agges großer Salzspeicher war inzwischen fast fertiggestellt. Die vom Festland angeworbenen Maurer arbeiteten noch, aber die Reetbunde für das Dach waren schon am Boden aufgeschichtet worden.

Das Haus des Kaufmanns stand am Lüttfischerhafen, allein auf einer niedrigen Warf, nach Westen von windgeschorenen Bäumen beschützt. Vor schwankenden Masten sah Arfast schon Benedikt Knoop stehen. Der gewichtige Kaufmann in seiner violett und schwarz gestreiften Kleidung wirkte in der grünen friesischen Marsch fremd. Wie ein Schweinsohr in der Fischsuppe, hätte sein Vetter Haye gesagt. Darüber mußte Arfast selbst lachen, als er sich mit langen Schritten den Fischerstegen näherte.

Knoop sprach im Befehlston mit einem grauhaarigen Fischer, der in seinem Boot saß und Aale abzog. Möwen stürzten den Köpfen und Häuten schreiend ins Wasser nach. Eine ältere Frau mit Witwenhaube hielt dem Fischer wortlos einen Korb hin. Ein junges Mädchen begutachtete jeden Fisch, den der Fischer in den Korb warf, und an ihren Lippen sah Arfast, daß sie sie zählte.

Das Mädchen sah Benedikt Knoop eigentlich nicht ähnlich, aber Arfast wußte sofort, daß sie seine Tochter sein mußte. Ihre blonden Zöpfe lagen wie ein Kranz um ihren Kopf, und der Wind wirbelte ihr lose Locken in die Augen. Als sie ihre blauen Augen fragend auf Arfast richtete, schlug ihm das Herz bis zum Hals.

»Moin«, preßte er heraus.

Der Kaufmann drehte sich um. »Ach, Arfast«, grüßte er mit einer Mischung aus Ungeduld und Erleichterung. »Es paßt gut, daß du gekommen bist, hoffentlich mit einer tüchtigen Ladung Salz. Ein gewisser Jan de Valkenere wünscht alles aufzukaufen, was an Salz vorhanden ist, und er bietet einen guten Preis.«

Arfast zog seine Mütze vom Kopf und nickte. »Ihr habt vermutlich schon gehört, daß in diesem Jahr die Salzausbeute nirgends groß ist. Ich habe weniger als im vorigen Jahr. Wir konnten den Torf kaum trocken bekommen.«

»Auch das noch! Anna, du bleibst hier und überprüfst die Schollen!« Knoop wandte sich gereizt um und strebte seinem Haus zu, ohne sich darum zu kümmern, ob Arfast ihm folgte.

Unschlüssig blieb er stehen, bis er einen aufmunternden Stoß in die Rippen spürte. »Geht, Herr Arfast«, flüsterte das Mädchen bestimmt. »Mein Vater will ganz sicher sofort mit Euch sprechen …«

»Woher wißt Ihr das denn?« Arfast war zu erstaunt, um besonders höflich zu sein.

Anna lächelte verschmitzt, und doch spürte er einen Anflug von Besorgnis in ihren Augen. »Ich weiß alles über das Geschäft. Ich führe die Rechnungsbücher.«

Während Arfast darauf wartete, daß der Kaufmann sich für ihn Zeit nahm, wunderte er sich immer noch über Anna Knoop. Er war ihr vorher noch nie begegnet. Ein Staller pflegte einen Schreiber zu haben, aber daß ein Kaufmann sich seiner Tochter als Schreiberin bediente, hatte er noch nie gehört. Möglicherweise konnte sie sogar rechnen, denn das war zum Führen eines Wechselbuches notwendig.

Benedikt Knoop rief Arfast herein. Er hatte seinen Rock anbehalten, obwohl die Fleischfülle um seine Mitte beinahe die Knopfreihe sprengte. Nur die Gugel hatte er wegen der Wärme abgelegt. Nachdenklich faltete er einen Brief zusammen, den er gründlich studiert hatte. Dann zog er das dicke Buch zu sich herüber, in das er Eintragungen zu machen pflegte. »Wie viele Tonnen?« fragte er knapp und ließ den Gänsekiel über dem Pergament wie ein Fallbeil schweben.

»Sechs. Zwanzig insgesamt«, fuhr Arfast fort, während der Kaufmann noch rechnete. Er hatte seine Liefermengen stets im Kopf. Dafür brauchte er keine Rechnungsbücher. Und ein kaufmännisches Stirnrunzeln konnte ihn gewiß nicht einschüchtern.

»Im Jahr davor war es doppelt so viel«, knurrte Knoop und warf die Feder hin, daß die Tinte spritzte. Seine grünen Augen waren eisig. »Mit sechs Salzsiedern und einem Aufseher! Deine Rechnung lautete anders, als wir uns vor zwei Jahren einig wurden. Hast du etwas für dich abgezweigt? Oder dich mit den Trojburgern zusammengetan?«

Sein Verdacht ließ Arfasts Herz hämmern. Knoop gehörte dem Hardesgericht an. Ein einfacher Mann verlor leicht seinen Kopf, wenn einer aus den vornehmen Familien sich betrogen glaubte. »Wie soll ich beweisen, daß etwas Fehlendes nie da war?« fragte er hitzig. »Ich bin ein ehrlicher Mann. Ihr könnt Euch überall erkundigen.«

»Das werde ich auch!« bellte Knoop. »Und wenn nur ein Quentchen an Unsicherheit zurückbleibt, bist du entlassen! Was auf Diebstahl steht, weißt du ja.«

Arfast schob die Daumen in den Gürtel und verlagerte sein Gewicht. Er stand, denn Knoop pflegte ihm nie einen Sitzplatz anzubieten, aber erstmals merkte er, daß es dem Kaufmann auch um Erniedrigung ging. Der Zorn ließ sein Gesicht dunkelrot werden. »Hättet Ihr die Nordmarscher Salzsiederei auf eine Warf versetzt, wie ich es vorschlug, hätten wir gut vier Wochen länger brennen können. Statt daß die Torfsoden unten in den Gräben vom Hochwasser durchtränkt wurden, hätten sie auf dem Warfabhang trocknen können. Wir hätten im Gegensatz zu allen anderen durcharbeiten können. Unser Problem war weniger das Wasser von oben als das Salzwasser!«

Benedikt Knoop schob den Unterkiefer vor und mahlte mit den Zähnen, während er einmal mehr wahrnahm, daß der Salzsieder ein flinkes Mundwerk hatte und sich nicht einschüchtern ließ, wie überhaupt die Friesen sich wenig bieten ließen. Das Versäumnis des Herzogs über lange Jahre mußten nun die Kaufleute ausbaden, die hierher gerufen wurden, um Reichtum zu erwirtschaften. »Eine Warf zu bauen ist teuer«, entgegnete er nach einer Weile langsam.

Arfast angelte mit dem Fuß nach einem Hocker und setzte sich. Seine Wut verflog wie immer schnell. Hier handelte es sich darum, etwas zu besprechen, über das er schon oft nachgedacht hatte. »Wir haben in den letzten Jahren öfter Sommerhochwasser«, sagte er bedächtig. »Die Ausfallzeiten beim Salzabbau häufen sich. Bald wird man nur noch hier eine Tonne und da eine Tonne verkaufen können. Wer aber auf einer Warf Salz kocht, kann seinen Ertrag steigern, besser berechnen und geschickte Verträge abschließen. Ihr könntet die gesamte Jahresproduktion eines kommenden Jahres in eine Hand verkaufen und hättet dabei niedrigste Transportkosten. Das wäre eines Mannes würdig, der sich Kaufmann nennt und nicht Krämer!«

Verblüffung malte sich auf des Kaufmanns breitem Gesicht, die jäh erneut in Wut überging. Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Krümel eines zerbrochenen Siegels tanzten. »Ich habe hier eine Anfrage aus Flandern, wieviel wir im nächsten Jahr liefern können. Ich habe dem Mann gerade geraten, gefälligst im nächsten Jahr anzufragen.«

Arfast ließ jede Vorsicht außer acht. »Das war übereilt. Ich kann es jetzt schon für Euch berechnen«, schlug er eifrig vor. »Mit der Nordmarscher Warf.«

»Wirklich?« fragte Knoop ungläubig. »Du weißt wohl mehr über Salz, als ich dachte.« Indes der Salzsieder ohne falsche Bescheidenheit nickte und zu einer Erklärung ansetzte, klopfte es, und Anna schaute in das Zimmer herein.

»Vater, die Interessenten sind da«, flüsterte sie.

Knoop erhob sich mit beflissener Geschwindigkeit und griff zu seiner Gugel. Noch während er sie zu einem Turban um den Kopf wickelte, deutete er mit dem beringten Daumen auf den Salzsieder. »Es bleibt bei der Überprüfung! Niemand betrügt Benedikt Knoop!« Mit einem flüchtigen Wink entließ er Arfast und widmete sich dem Sitz seiner Beinkleider.

Arfast nickte mit zusammengebissenen Zähnen. Ein Mann, der so argwöhnisch war, würde nichts Großes vollbringen. Sein Plan, ihn für die Salzwarf zu begeistern, war ausgeträumt. Er verließ das Haus.

Von den Männern, die sich neben dem Brunnen leise besprachen, kannte Arfast den Hardesvogt der Edomsharde, einer aus der weitverstreuten Familie der Gunne von Pellworm, und den heimtückischen Babe. Neugierig musterte Arfast die Männer, die Anna Knoop als Interessenten bezeichnet hatte. Daß der Ochsenhändler Babe Aghesson dabei war, bedeutete, daß ihr Interesse nicht dem Salz galt. Er grüßte höflich, als des Hardesvogts Blick ihn streifte, aber dieser nahm den Salzsieder nicht zur Kenntnis.

Knoop erschien im Türbogen und winkte seine Gäste betont jovial herein. Die vier Männer setzten sich, immer noch diskutierend, nach einer Weile langsam in Bewegung. Ein zugewanderter Kaufmann wie Knoop durfte dankbar sein, wenn die Bonden der Harde seine Gastfreundschaft in Anspruch nahmen. Knoops lächelnde Miene verlor nichts an Herzlichkeit, während er geduldig wartete.

In der Stube achtete Knoop besonders darauf, daß die Bonden und Männer die ihnen entsprechend ihrem Rang zustehenden Sitzgelegenheiten erhielten, der Hardesvogt den einzigen Sessel mit Armlehnen.

Gunneson ordnete die Falten seines braunen Rocks und lehnte sich weit zurück, die Hände um die Armlehnen des Sessels. Er wartete, bis Ruhe eintrat. Seine Tätigkeit als Amtmann im Namen des Königs verlieh ihm eine herausragende Stellung in der Harde, und ihm stand das erste Wort zu. Ein selbstgefälliges Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er verschiedene Ereignisse der letzten Jahre zusammenfaßte: »Die übrigen Harden haben inzwischen alle ihren Denkzettel vom König bekommen. An den Rechten der Edomsharde zu rütteln, traut sich auch Waldemar Atterdag nicht.«

»Und so soll es auch bleiben«, ergänzte der Hardesbonde Monny Sibingh und grätschte raumgreifend seine Beine. »Wir müssen nur Festigkeit zeigen, Vogt.«

Harre Gunneson nickte und ließ sich von seinem schmächtigen Helfer und Schreiber einige Dokumente herüberreichen. »Die Bökingharder und die Horsbüllharder zahlen dem König nun sogar wieder die Salzsteuer. Wir sind anscheinend die einzigen, die sich an die alten Bündnisse innerhalb der Utlande halten. Die Holsteiner Grafen wußten es vor drei Jahren sehr zu schätzen, daß wir ihnen aus Treue Hilfe gegen die übrigen Strander Harden versprachen.«

»Und gegen Morsum.«

»Gegen Morsum auch.« Der Hardesvogt furchte seine Stirn. Er hatte den Verrat des Kirchspiels an der Harde nicht vergessen. Nachdenklich wedelte er eine Fliege mit dem Schreiben fort, an dem das Hamburger Siegel hing. »Und doch haben einige unserer Handelspartner Angst bekommen, daß auch wir abfallen könnten. Die Hamburger ersuchen uns um Erneuerung des Abkommens, und Graf Robert von Flandern bittet uns im ersten Teil seines Schreibens nochmals um Bestätigung, daß seine Kaufleute unseren Hafen ungehindert besuchen können – unter welcher Herrschaft auch immer, fügt er hinzu.«

Babe Aghesson, der sich selten äußerte, lachte spöttisch. Der Schreiber zuckte erschrocken zusammen und war dankbar, daß der König die aufrührerischen Worte und das respektlose Lachen nicht hören konnte. Sein Dienst unter diesen wilden Edomsharder Friesen fiel ihm von Tag zu Tag schwerer.

»Die Hamburger zu beruhigen sollte uns nicht schwerfallen«, fuhr Gunneson fort. »Bei dem Flamen sieht die Sache anders aus. Offensichtlich gilt seine Besorgnis weniger der Sicherheit seiner Kaufleute als der Sicherheit unserer Salzlieferungen. Mir ist nicht ganz klar, warum.«

Benedikt Knoop fuhr hoffnungsvolle Erregung bis in die Fingerspitzen. Unbewußt trommelte er mit ihnen auf die Tischplatte und lenkte die Aufmerksamkeit aller auf sich. Er ergriff die Gelegenheit beim Schopf. »Es gibt Informationen, Hardesvogt, die Euch interessieren werden. Flandern ist mit den Engländern verbündet und steht den Franzosen feindlich gegenüber. Die Flamen können ihr Salz also entweder aus Bündnistreue nicht in Frankreich kaufen, oder sie sind zu schlau, um sich von einer feindlichen Macht abhängig zu machen. Dürfte ich den Brief selber mal lesen?« Er mußte sich gewaltig zusammennehmen, damit er dem Vogt das Schreiben nicht entriß. Dies konnte die Chance seines Lebens sein.

Harre Gunneson stieß einen unmelodischen Pfiff aus, während Knoop anfing zu lesen. Er war Sproß einer alten friesischen Familie und hatte immer geschickt verborgen, daß er selber manchen holsteinischen Kaufmann nach Rungholt geholt hatte. Aber immer öfter sah er seine heimliche Hardespolitik belohnt. Ein Kaufmann mit Verbindungen zu den Schauenburger Grafen war über die Jahre gewinnbringender als eine Ochsenherde auf dem Rungholter Vorland. Die Schauenburger warben in den letzten Jahren geradezu um die Edomsharde. Und die Edomsharde – das war er. »Dann verstehe ich die Sorge des Grafen«, sagte er, als Knoop ihm das Schreiben zurückgab.

Monny Sibingh lehnte sich zurück und lachte unbekümmert. »Wir sollten dem kleingläubigen Grafen gehörig antworten! Selbstverständlich kann die Edomsharde liefern. Wer ist er denn schon, daß er so zu fragen wagt!«

Der Hardesvogt verzog seine Lippen zu einem schmalen Strich und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Wir werden antworten, wie es sich einem Grafen gegenüber gehört. Aber wieviel Salz können wir ihm zusichern? Nach den Erfahrungen der letzten Jahre könnten wir leicht vertragsbrüchig werden. Was dann? Vor allem: Wer zahlt die Brüche, wenn es hart auf hart kommt?«

»Schicken wir ihm doch Ochsen als Buße«, schlug Babe vor, dessen helle Stimme zu seinem spitzen Fuchsgesicht paßte. »Oder schicken wir ihm überhaupt nur Ochsen. Das Geschäft ist verläßlicher.«

Knoop sah zum Hardesvogt hinüber und hatte das Gefühl, daß dieser den Ochsenhändler genauso unverschämt fand, wie er selber. Die Gelegenheit, Gunneson zum Eintreten für den Salzhandel zu bringen, war so günstig wie nie. Er holte tief Luft. »Salz macht fetter als Ochsen, wie man unschwer an mir sehen kann«, machte er einen schwachen Scherz. »Und Salz kann zu einem ganz großen Geschäft für die Edomsharde werden, wenn man es richtig anpackt! Vor allem mit einem potenten Abnehmer und beizeiten festgelegten Liefermengen, die der Edomsharder Fernkaufleute würdig sind. Schließlich sind wir keine Krämer! Deshalb bin ich dafür, daß wir eine Delegation nach Brügge schicken, die in aller Form und mit der gebotenen Würde die Bedingungen aushandelt.« Knoop ließ den Hardesvogt nicht aus den Augen.

»Genau meine Meinung! Wackere Männer werden den Grafen leicht von unserer Lieferfähigkeit überzeugen«, stimmte Monny zu, der in Erwartung des Knoopschen Bieres eine schnelle Übereinkunft wünschte. Er leckte sich die wulstigen Lippen.

»Wacker reicht nicht, wenn sie ihn überzeugen sollen. Da muß einer schon mehr vom Salz verstehen, als daß Ochsen Salzlecksteine brauchen«, widersprach Gunneson unzufrieden.

Der Ochsenhändler verzog keine Miene. Seitenhiebe beantwortete er, wenn sie am meisten schmerzten.

»Pah! Das Wort eines Mannes sollte genügen.«

»Beim Handel mit Ochsen und Getreide habt Ihr sicher recht, Bonde Sibingh«, stimmte Benedikt Knoop diplomatisch zu und konnte seiner Aufregung kaum mehr Herr werden. »Was das Salz betrifft, gebe ich Seiner Gnaden recht. Ich schlage deshalb vor, nach Brügge einen Salzsieder mitzunehmen. Solche Leute kennen ihre Stellung und werden den Mund nur auftun, wenn sie gefragt werden. Gleichzeitig kann der Mann sich um das Gepäck und dergleichen kümmern.« Mit angehaltenem Atem wartete er. Salz war ein lukratives Geschäft, und unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen konnte es sich zum Geschäft seines Lebens entwickeln. Aber als geborener Ritter hatte er sich in sein Leben als Kaufmann erst hineinfinden müssen. Vom Salzhandel verstand er nur so viel, daß der Graf von der Seriosität der Offerte überzeugt werden mußte, sonst würde er sich nach einem anderen Großlieferanten umsehen. Und wer wäre seriöser als eine ganze Harde? Er benötigte die Mithilfe des Hardesvogts. Aghesson und Sibingh waren unwichtig; Bauern waren gar nicht in der Lage, die Tragweite der flandrischen Anfrage zu überblicken.

Babe hörte dem Kaufmann verstimmt zu. Die Erweiterung der Delegation gefiel ihm nicht. Monny zuckte mit den Schultern.

Harre Gunneson ließ mit hochgezogenen Augenbrauen die Daumen umeinander kreisen. »Zweifellos sprecht Ihr von Arfast Ketelsen.« Er grübelte eine Weile, wobei ihn keiner zu stören wagte. Salz konnte in der Tat die Entscheidung in der Hardespolitik bringen. Der einzige andere Hardesangehörige mit Kenntnissen über Salz war Agge aus Morsum: Seine Verbindungen zum Staller waren undurchschaubar, und als Mitwisser wäre er untragbar. Daß der Kaufmann annahm, Arfast Ketelsen würde sich zum Knecht machen lassen, belustigte ihn. Aber in der Tat gab es keine Wahl. »Er ist immerhin aus guter Familie«, sagte er anscheinend nachgiebig.

Knoop entspannte sich langsam. »Ich bin auch der Meinung, daß wir eine Geschlechtertrinkstube in Rungholt gründen sollten«, sagte er heiter. »Anderswo ist es unter Kaufleuten neuerdings üblich, sich dort zu Besprechungen zu treffen. Sie würde die wachsende Bedeutung von Rungholt unterstreichen. Und sie hält neugierige Frauensleute aus dem Geschäft.« Er brach in Gelächter aus.

In diesem Augenblick brachte die Frau, die Knoop den Haushalt führte, mehrere Krüge mit Hamburger Importbier herein. Die Bonden nahmen sie mit ausgestreckten Händen entgegen. Nach dem ersten langen Zug sagte Monny Sibingh: »Ach was, so einen Kram brauchen wir nicht. Wir sind, wer wir sind.«

Knoop leckte sich bedächtig die Lippen und schlug die Augen nieder, um seine funkelnde Freude nicht erkennen zu lassen. Es lohnte nicht, Sibingh zu widersprechen. Es würde noch lange dauern, bis die Edomsharder den Wert ihres Sielhafens ermessen konnten. Aber er hatte heute einen wichtigen Schritt getan und obendrein das Gefühl, daß Harre Gunneson ein ähnliches Ziel wie er selber verfolgte. Der Unterstützung des Salzsieders konnte er sicher sein.

Arfast Ketelsen streckte die Beine weit unter den Tisch und strich sich die hellblonden Haare aus den Augen, bevor er zu seinem Becher griff. Geduldig schlürfte er den heißen Holundersaft, den seine Mutter Eyde ihm vorgesetzt hatte, als er überraschend nach Hause gekommen war. Ob Winter oder Sommer, Fliederbeersaft war immer nützlich, fand sie, gut gegen Erkältung, Liebeskummer und schlechte Träume.

Nachdem Eyde die Glut für die Nacht sicher verwahrt hatte, sank sie dankbar neben ihren Sohn auf die Bank unterhalb der Fenster. Sie lächelte ihn an; wenn er hier war, war sie glücklich. »Und nun erzähle. Wie ist es dir ergangen? Wie geht es Hark auf Ketelswarf? Und Haye und den anderen Kindern? Und in den Salzkögen, natürlich.«

»Nicht alles auf einmal, Mutter«, bat Arfast. Durch den Dampf hindurch sah er, daß seine Mutter müde schien. Aber immer noch war sie eine schöne Frau. Anna Knoop fiel ihm ein, und er seufzte leise.

»Bisher hast du immer gern vom Salz gesprochen, und geseufzt hast du dabei nie«, sagte Eyde leise. »Ich fürchte, daß du gar nichts erzählen willst.«

Arfast blinzelte ihr zu, was so gut wie ein Eingeständnis war. Zärtlich betrachtete Eyde ihren Sohn. Er hätte längst verheiratet sein sollen. Aber die Verabredung mit dem Bonden aus Bupsee war plötzlich hinfällig geworden, als dieser entdeckte, daß Arfast nicht Ackerbauer, sondern Salzbauer werden wollte. Dies war eine verständliche Begründung des Bauern ohne leiblichen Sohn, doch wäre ihr Mann noch am Leben gewesen, hätte er wohl die Abmachung respektiert. Übergangslos sah sie plötzlich Arfast als Kleinkind im Sand am Schluth sitzen: Eine ganze Reihe Muschelschalen war vor ihm aufgereiht, er leckte an jeder einzelnen und sortierte sie dann nach einer nur ihm bekannten Ordnung. »Zur Geest hin liegen die süßen, zum Meer hin die salzigen Schalen.« Nach einer Weile hatte sie verstanden, daß er die Schalen nach ihrem abgestuften Salzgeschmack abgelegt hatte.

Endlich rang Arfast sich eine Mitteilung ab, von der er dachte, daß sie seine Mutter erfreuen konnte. »Ich bin mit Herrn Knoop ganz gut zurechtgekommen. Ich soll ihm jetzt die Salzmenge des nächsten Jahres für Nordmarsch berechnen. Er hat es mir so gut wie zugesagt.«

»Berechnen«, wiederholte sie erleichtert und dankte Gott im stillen, daß Arfast es so gut getroffen hatte. »So hat er erkannt, wie tüchtig du bist.«

Die Haustür wurde gegen die Holzwand geschmettert, und ein kleiner Junge stürmte herein. »Arfast, du sollst zum Kaufmann Knoop kommen. Schnell, es eilt!« schrie er mit seiner hellen, aufgeregten Kinderstimme.

Arfast schrak hoch. So schnell war sein Traum ausgeträumt. In Gedanken hatte er bereits begonnen, das Aufwerfen der Warf zu organisieren. »Was hat er gesagt, Momme?«

»Nichts«, brüllte der Bote und platzte fast vor Wichtigkeit.

Eyde sah ihren Sohn mit angstgeweiteten Augen an. »Hast du mir etwas zu erzählen vergessen, Arfast?«

»Nur daß Herr Knoop mich fast entlassen hätte«, antwortete Arfast und ließ seine Mutter sprachlos zurück. Draußen bereute er seine Grobheit sofort; aber ihre Angst, wenn von Personen von Stand die Rede war, ärgerte ihn immer wieder aufs neue. Er wußte, es hing mit dem Tod seines Vaters zusammen, sie weigerte sich jedoch, darüber zu sprechen.

Die Gräser auf dem Riper Deich schimmerten im letzten Sonnenlicht, aber die Hausgärten der niedrig gelegenen Hütten wurden nicht mehr von den Strahlen erreicht. Hier unten hatte die Nachtruhe bereits begonnen, als Arfast vorüberhetzte, die Kinder waren hereingerufen worden, und die Enten kauerten mit den Köpfen unter den Flügeln an einer Wehle. Nur auf dem Kirchhof jätete jemand mit krummem Rücken ein Grab.

Aus dem Reetdach des Knoopschen Hauses sickerten friedlich Rauchfähnchen, und der Geruch von gebratenem Fisch kam Arfast im Flur zwischen Stube und Hauswirtschaft entgegen. Sein Herz beruhigte sich langsam. Von einem Knecht des Hardesvogts mit klirrenden Ketten war nichts zu sehen.

Benedikt Knoop winkte Arfast sofort herein, als er in der Tür erschien. Ungnädig wirkte er immer noch, aber seine Augen schlossen sich genießerisch, als er einen tiefen Zug aus einem Bierkrug getan hatte. »Ich bin bereit, die Untersuchung einstweilen zurückzustellen«, schnarrte er unversehens. »Unter einer Bedingung.« Während er sich den Schaum aus dem Bart wischte, wappnete Arfast sich gegen das, was kommen mußte. »Wir werden deine Hilfe bei unseren Verhandlungen mit dem Grafen von Flandern brauchen. Du wirst vor seinen Augen ausrechnen, wie viele Tonnen Salz die Edomsharde im nächsten Jahr liefern wird. Und gnade dir Gott, wenn du uns vertragsbrüchig machst.«

Arfast holte tief Luft. Das friesische Salz wurde dringend in Schonen gebraucht, und deshalb kauften die Riper ganze Schiffsladungen davon auf und verfrachteten es nach Südschweden. Für die fetten schonischen Heringe war das bittere braune Riper Salz der Friesen geradezu ein Glücksfall. Und seitdem immer mehr Heringe in den Sund drängten, wurde Salz dort immer kostbarer. König Waldemar, dem das Wohlergehen aller seiner Untertanen am Herzen lag, auch das der Schonen, hatte ein wachsames Auge auf den Salzhandel.

»In vier Tagen legen wir mit der Morgenflut ab. Jan de Valkenere wird uns mitnehmen. Halte dich also bereit!« Für den Kaufmann war die Unterredung beendet, während Arfast immer noch an einen Irrtum glaubte.

»Ist ein fester Vertrag der Edomsharde mit Flandern über Salzlieferungen nicht gegen unseren König Waldemar gerichtet?« fragte Arfast heiser vor Aufregung.

Die braunen Augen von Knoop waren von den schweren Lidern annähernd überdeckt, aber da er es nicht für nötig hielt, seine Empfindung zu verbergen, konnte Arfast ohne Mühe in ihnen lesen. Die irisierenden gelben Punkte in den Pupillen des Kaufmanns erinnerten ihn an eine alte Möwe, die ihre Beute gegen kräftige Jungvögel verteidigt.

»Bedenke, wer du bist, Kerl!« zischte Knoop und stützte sich halb aufgerichtet auf den Tisch. »Über Salz lasse ich mit mir reden, aber nicht über Hardesangelegenheiten! Du hast weiter nichts zu tun, als zu rechnen und dem Grafen Rede und Antwort zu stehen. Wenn nicht – schnell ist einer aufs Rad geflochten …« Seine letzten Worte blieben wie die Staubkörner im letzten Licht der untergehenden Sonne schweben.

»Schon gut, Herr Knoop«, brachte Arfast heraus und ging, bevor seine Erbitterung ihn zu unvorsichtigen Worten verleiten konnte. In den letzten Stunden liefen ihm Feinde zu wie die Enten dem Lockvogel.

II

Während Arfast den Warfabhang mit langen Schritten verließ, rief der Kaufmann seine Tochter zu sich. Sie hörte in seiner Stimme flammende Wut und lief in den Wirtschaftsraum, um einen weiteren Krug Bier abzuzapfen, Hopfenbier, verstand sich; denn Gagelbier wirkte auf ihres Vaters Gemüt nie besänftigend. Während sie die letzten Tropfen auffing, fiel ihr ein, daß ihr Vater sich nun an einem einzigen Tag schon zweimal über den Salzsieder geärgert hatte.

Knoop bereute seinen voreiligen Vorschlag bereits. Der Friese war anmaßend, und es wäre klüger gewesen, mit seinen Berechnungen statt mit dem Mann selber auf die Reise zu gehen. Er nahm den Krug entgegen, den seine Tochter ihm reichte und wischte den Salzsieder mit entschiedener Handbewegung aus seinen Gedanken. Er war zu unbedeutend, um sich überhaupt um ihn zu sorgen.

Zufrieden betrachtete er Annas schlanke Figur. Man hätte seine Tochter fast schön nennen können. Leider schlug sie mit den vielen Sommersprossen nach seiner verstorbenen Frau, der er wegen ihrer Widerspenstigkeit nicht gerade nachtrauerte. Man würde die Sommersprossen überdecken und Anna im ganzen ein wenig stutzen müssen. Er hatte sie vernachlässigt, und dabei war sie verwildert wie ein Füllen ohne Mutterstute. »Ich habe beschlossen, daß du nach Brügge mitfährst. Keine Widerrede! Ich brauche ein Protokoll, auf das ich mich verlassen kann.«

»Jawohl, Vater«, sagte sie.

»Den Edomshardern ist nicht zu trauen, vor allem, wenn die Liefermengen nicht eingehalten werden. Sie würden alle zusammenstehen, wenn es eine Schuldfrage zu klären gäbe. Gegen mich. Ich sitze hier noch nicht fest genug im Sattel.«

»Ja, Vater.«

Annas Nachgiebigkeit reizte Benedikt Knoop. Er hob die Stimme. »Und außerdem werde ich mich dort nach einem passenden Ehemann für dich umsehen. So wie du aussiehst, muß etwas Besseres zu erreichen sein als einer unserer grobschlächtigen holsteinischen Nachbarn aus unbedeutendem Rittergeschlecht.« Sie schwieg, und er betrachtete sie argwöhnisch. »Du wirst erkennen, daß ich es gut mit dir meine. Ich erwarte, daß du mich dabei unterstützt.«

Annas Nasenflügel weiteten sich. Sie würde nicht nicken, und er würde es nicht bemerken. Bisher hatte sie ein abwechslungsreiches Leben an der Seite ihres Vaters geführt, der sie lieber bei sich haben wollte, als sie zu Hause unter der Obhut einer Magd zu lassen. Im Vergleich zu anderen adeligen Töchtern war sie in großer Freiheit aufgewachsen. So frei, daß sie keine Lust hatte, sich diese Freiheit durch einen aufgezwungenen Ehemann beschneiden zu lassen. Mit siebzehn Jahren konnte sie sich noch zwei, drei Jahre Zeit lassen.

Knoop hatte den Gedanken an eine Heirat lange Zeit weit von sich geschoben: Annas Schreib- und Rechenkenntnisse waren für einen ehemaligen Ritter ideal. Sie war zuverlässig, verschwiegen und kostete ihn nichts. In letzter Zeit erst war er darauf gekommen, daß sie ihm sogar etwas einbringen konnte.

Er tastete nach dem Brief des Flamen in seiner Tasche. Es fügte sich glücklich, daß er die Information zu den sich abzeichnenden Fronten vor einigen Tagen erhalten hatte. Der Schauenburger Graf Heinrich stand auf der Seite der Engländer. Notfalls würde man um seine Hilfe gegen König Waldemar ersuchen müssen, der es mit den Franzosen hielt. Er lächelte zufrieden. Er hatte alles bestens in die Wege geleitet.

Anna sah es an der Zeit, die Unterredung zu beenden und schlüpfte aus der Tür, während die Augen ihres Vaters vom großen Bierhumpen verdeckt wurden. Sie mußte ohnehin noch seine Sachen für eine mehrtägige Reise vorbereiten.

In der Nacht drehte der Wind auf Ost. Arfast spürte, wie er auffrischte und auf die ungeschützte Ostseite des Daches drückte, während er an den hohen Ulmen an der Westseite rüttelte und ihre Blätter rauschen ließ. Als der Sturm plötzlich nachließ und Regen einsetzte, schlief Arfast endlich ein.

Am Morgen war der Weg von der großen Kirche zum Hafen so aufgeweicht, daß Arfast sich zum Deich aufmachte, obwohl er einen Umweg bedeutete. Es nieselte immer noch, und die Regenwolken hingen tief über der weiten Wattfläche, in deren Mitte das Wasser des Rungholtfalls blinkte. Nachdenklich sah er sich um. An dieser Stelle ungefähr hatte er als Junge im Vorland seine Aalreuse in einem der Priele ausgelegt; jetzt gab es kein Vorland mehr, das Wasser hatte alles abgenagt und weggetragen.

Gleichzeitig hatte sich das Bett des Falls weiter westlich verlagert, und der alte Schiffsanleger war verschlickt. Zum Ausgleich hatte man den Sielzug inmitten von Rungholt begradigt und tiefer gegraben und an seinem südlichen Ende den neuen Fischerhafen angelegt. Aber das Siel war breiter und reißender geworden; deshalb mußte man es mit zwei Schleusen regulieren.

An der Stelle, an der er stand, lag der Deich an der Prielseite sogar schar. Eigentlich hätte der Hardesvogt dafür sorgen sollen, daß die Rungholter ihn mit Hilfe der Hardesleute wieder in Ordnung brachten, und wenn sie dies aus eigener Kraft nicht konnten, mußte der Staller eingreifen. Aber der Staller war weit weg, in vielen Angelegenheiten ließ er sich von seinem Verwandten auf der Trojburg vertreten. Und der Hardesvogt interessierte sich mehr für den Ausbau der Handelsverbindungen als für den Erhalt der Handelswege, hieß es.

Kurze Zeit später mußte Arfast einem Wagen mit Kornsäcken ausweichen, bevor der wütende Bauer ihn mit seinen wilden Peitschenhieben traf. Die Ochsen zogen angestrengt, aber der Wagen war so schwer beladen, daß die Räder die Grasnarbe durchbrachen und sich in den zähen Klei wühlten.

Vom Hafen her war Geschrei zu hören. Neugierig überholte Arfast den Getreidebauern und spähte zum Hafen hinüber, von dem er nur die Mastspitzen der Schiffe sehen konnte. Die Deichtore waren schon geschlossen, weil das Wasser auflief; er mußte sich beeilen.

Arfast stoppte oberhalb der Tore. Unten stand eine wilde Meute von Männern im Lederharnisch. Trojburger, natürlich, aber er kannte keinen von ihnen. Wachsam behielten sie die Rungholter Befrachter und Hafenarbeiter im Auge, die ihre Arbeit unterbrochen hatten. Und in ihrer Mitte wand sich Agge aus Morsum in den Händen zweier Knechte wie ein Aal. Arfast erkannte ihn an der dürren Gestalt; sein Gesicht hatte jemand schon fast zu Brei geschlagen.

»Ich habe Brief und Siegel über mein Besitzrecht!« schrie Agge, indes zwei Männer ihre Säcke stehenließen und langsam näher kamen. »Die Salzbude gehört mir!«

»Andere sind anderer Meinung«, sagte der eine von den Trojburgern. »Die Bude ist beschlagnahmt.« Seine ruhige Stimme machte Eindruck auf die Rungholter.

»Mit welchem Recht denn, mit welchem …?« wimmerte Agge, als ihm in diesem Moment der Knecht den Arm mit einer schnellen Bewegung auf den Rücken drehte. Sein Kopf schnellte nach unten, aber er entkam dem Schmerz nicht.

»Mit dem Recht des Stallers.«

Die Schauerleute grinsten und wuchteten sich die Lasten wieder auf den Rücken. Ein Statthalter des Königs war immer im Recht.

Agge war kein tapferer Mann, aber das war kein Grund, ihn zu mißhandeln. Arfast sprang in einem Satz vom über mannshohen Deich auf den Ladeplatz und blieb vor den beiden Trojburgern stehen, die Agge im Schwitzgriff hatten. Er hütete sich, mit den Händen in die Nähe seiner Waffen zu kommen, um sie nicht zu provozieren. »Hat Seine Gnaden, Staller Ingemar, euch beauftragt, den Mann zu quälen?«

Der Ruhige warf einen gleichgültigen Blick auf Arfast und zuckte die Schultern. »Was geht dich das an?«

Arfast hatte spontan gehandelt. Nun wurde ihm klar, daß er kein Mittel hatte, um die Männer aufzuhalten. Er brauchte die Hilfe der untätigen Zuschauer. »Wir Leute aus den Utlanden mögen uns nicht von den Geestfriesen schikanieren lassen. Befehle nehmen wir nur vom König entgegen«, sagte er laut und nachdrücklich.

Das Rumpeln einer Tonne, die ein Mann fortrollte, störte die plötzliche Stille. Ein Rungholter nach dem anderen verschwand. Auf einmal befand Arfast sich mit den Trojburgern und dem Gefangenen allein am Hafen.

»Siehst du, niemand hier hält uns für Geestfriesen«, stellte der Mann zufrieden fest. »Womöglich bist du derjenige, der in Rungholt fremd ist.« Als Arfast sich ungläubig umsah, schlug er ihm mit der Faust hart in den Magen.

Arfast blieb die Luft weg, und ihm wurde schwarz vor Augen.

Als er wieder aufwachte, lag der Hafen verlassen da, bis auf einen Schiffer in einem dänischen Boot. Der Mann lümmelte in seiner Plicht, die Augen forschend auf Arfast gerichtet.

Arfast rieb sich seinen dröhnenden Schädel, bis er entdeckte, daß er in seinem eigenen Ever saß. Der Däne mußte ihn hineinverfrachtet haben. Vielleicht war es seine Art zu zeigen, auf wessen Seite er stand. Dem Wortwechsel in friesischer Sprache hatte er vermutlich nicht folgen können.

»Mange tak«, rief Arfast und winkte hinüber.

Der Däne nickte und grinste gutmütig.

Arfast fühlte sich nicht besonders gut, als er sich aufrappelte, um sein Boot zum Ablegen klarzumachen. Aber erst recht nicht wollte er unter den Augen der Rungholter zum Haus seiner Mutter zurücktaumeln. Man würde ihr alles haarklein erzählen, und sie würde vermutlich beruhigter sein, wenn sie wüßte, daß er aus eigener Kraft hatte abfahren können.

Er hatte Zeit verloren, aber noch lief das Wasser auf. Über den Dreilanden von Utholm, Everschoop und Eiderstedt war der Himmel hell, und auch über Rungholt begann es aufzuklaren. Mit vorsichtigen Bewegungen stieß er sich am Bollwerk ab und hangelte sich an den nächsten Booten entlang. Der Däne kam gemächlich auf die Füße, nahm den Bug von Arfasts Ever in Empfang und führte ihn am Want an dem seinen vorbei, bevor er ihm einen tüchtigen Schubs versetzte, so daß er in das Fahrwasser glitt.

»Vielleicht kann ich es dir eines Tages vergelten«, sagte Arfast, diesmal in Plattdeutsch, das der Sprache der Südjüten sehr ähnlich war. »Ich bin Arfast aus Langeneß. Und du?«

»Lars Estridsen aus Ribe, Frachtschiffer. Gib acht auf deinem Heimweg. Die Leute waren nicht gut auf dich zu sprechen. Das ist ihr Boot.« Er zeigte auf das kleinste der drei Trojburger Schiffe, das Arfast neben dem Schleusentor nicht aufgefallen war.

»Ich kenne es«, rief Arfast mißmutig hinüber, während er seine Riemen ins Wasser tauchte, und das Boot gegen den Flutstrom mühsam Fahrt aufnahm. »Leb wohl.«

Als Arfast in das Gewässer einbog, das die Hever mit dem Schluth verband, kam leichter Wind auf. Prüfend ging sein Blick an den Horizont: eine schwarze Wolkenwalze. Und über seinem Kopf sah er die Windwolken vor dem blauen Himmel wie gezupfte Wollflöckchen ziehen. Das bedeutete für die nächsten Stunden viel Wind. Er ließ das Segel herunter und belegte die Leeschot, die Luvschot fuhr er aus der Hand.