Die Liebe des Kartographen - Petra Durst-Benning - E-Book

Die Liebe des Kartographen E-Book

Petra Durst-Benning

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Beschreibung

Eine aufregende Liebesgeschichte im 16. Jahrhundert Der Kartograph Philip Vogel durchwandert ganz Württemberg, um im Dienst des Herzogs Land und Wälder zu vermessen. Als er in einer Gewitternacht von seinem Pferd stürzt, findet ihn eine ungewöhnliche Frau: Xelia, die sich in einer Höhle versteckt, weil man ihr einen Mord anhängen will. Sie pflegt Philip gesund und zwischen den beiden sprießt eine zarte Liebe. Doch die Verfolger Xelias sind ihnen auf den Fersen und die einzige Fluchtmöglichkeit zerschlägt sich …

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Das Buch

Württemberg im 16. Jahrhundert: Der Kartograph Philip Vogel durchwandert mit seinem Pferd das ganze Land, um es im Dienst des Herzogs zu vermessen. Auf seiner Reise begegnet er Xelia, einer ungewöhnlichen Frau. Sie versteckt sich in einer Höhle, da ihr Vater den Sohn des reichen Tuchhändlers Blaustein im Affekt erschlagen hat. Und nun will er ihr den Mord anhängen.

Die junge Frau findet den verwundeten Philip, den sein Pferd in einer Gewitternacht abgeworfen hat, und schleppt ihn in ihre Höhle. Sie pflegt ihn gesund und nach und nach entwickelt sich zwischen den beiden eine zarte Liebe. Doch die Verfolger Xelias sind ihnen auf den Fersen, und die einzige Fluchtmöglichkeit – zu dem Spitalarzt Adalbert Hyronimus – hat sich zerschlagen.

Die Autorin

Petra Durst-Benning, 1965 in Baden-Württemberg geboren, ist Autorin, Übersetzerin und Dolmetscherin. Sie lebt südlich von Stuttgart auf dem Land. Die Gesamtauflage ihrer Bücher liegt inzwischen bei zwei Millionen. Mehr über Petra Durst-Benning und ihre Romane erfahren Sie unter www.durst-benning.de oder auf ihrem Fanforum unter www.durst-benning-fanforum.de.

Von Petra Durst-Benning sind in unserem Hause bereits erschienen:

Die Glasbläserin

Die Amerikanerin

Das gläserne Paradies

Antonias Wille

Das Blumenorakel

Die Salzbaronin

Die Samenhändlerin

Die Silberdistel

Die Zuckerbäckerin

 

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Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen,

wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung,

Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Mai 2008

2. Auflage 2009

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2004

© 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München

© 1998 by Econ Verlag München – Düsseldorf

Umschlaggestaltung: HildenDesign, München

Titelabbildung: © Portrait of a Young Woman,

Stuart Gilbert/Indianapolis Museum of Art, USA,

Gift of Mr and Mrs H. Ball/The Bridgeman Art Library

Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

eBook-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in Germany

eBook ISBN 978-3-8437-0410-6

Für Bertram – alles ist gut

~ 1 ~

Das Schnaufen des Mannes wurde schneller, lauter. Die Augen zugekniffen, die Hände ins Leinentuch gekrallt, versuchte das Mädchen, sich an einen anderen Ort zu wünschen. Durch seine dichten Wimpern drang silbernes Mondlicht, dessen Glanz in höhnischem Kontrast zu dem stand, was in der stinkenden Hütte geschah. ›Mach, dass er bald fertig ist‹, flehte die junge Frau im Stillen, ohne ihre Bitte an jemand Bestimmten zu richten. Was immer der Pfarrer ihnen auch erzählen mochte – seit ihre Mutter so jämmerlich verrecken musste, war es mit ihrem Glauben an den Herrgott sowieso geschehen. Außerdem, wenn es wirklich einen Gott gäbe, würde er doch hierbei nicht seelenruhig zugucken, oder? Oder es gab ihn doch und er hatte Wichtigeres zu tun.

Ihre langen Zöpfe hatten sich unter ihren Rücken geschoben und zerrten schmerzhaft an ihrer Kopfhaut. Sie konnte nichts dagegen tun. Mit einem letzten Grunzen erschlaffte der Körper des Mannes schließlich, und sein Gewicht drückte sie schwer in die dünne Strohmatratze. Nach einem kurzen Moment wälzte er sich von ihrem Leib herunter, zog die Nase hoch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann gab er ihr einen leichten Schlag auf die Wange. »Schlaf ja nicht mehr ein, faules Luder, ’s ist eh bald Zeit, deine Schwestern zu wecken.«

Erst als der Mann aus der Hütte getreten war, um dahinter seine Notdurft zu verrichten, öffnete Xelia die Augen. Sie fühlte sich so tot wie die zum Trocknen aufgehängten Tierhäute, die sie erst gestern aus den Gerberbottichen gezogen hatten. Unter den Trockengestellen hatten sich feuchte Pfützen gebildet, die sauer rochen. Sie biss die Zähne zusammen, sonst hätte sie laut aufgeschrien.

»Er war heut’ Nacht wieder bei dir.« Ob es sich dabei um eine Frage oder lediglich um eine Feststellung handelte, war Annas Tonfall nicht zu entnehmen.

Xelia zuckte mit den Schultern. Was hätte sie darauf auch antworten sollen. Mit einer Kopfbewegung holte sie die lose aus ihrem Zopf hängenden Haare nach vorne, so dass sie wie ein lichter Vorhang vor ihrem Gesicht hingen. Seltsamerweise fühlte sie sich hinter diesem Schleier besser.

Für einen Moment war nur das Schaben ihrer Werkzeuge zu hören. Seit dem frühen Morgen waren die beiden Schwestern schon unterwegs, um Eichenrinde zu sammeln. Aus dieser wurde die Gerblösung hergestellt, in der die abgezogenen Tierhäute fast ein Dreivierteljahr eingeweicht wurden, bevor sie weiterbearbeitet werden konnten. Ein Sack war bereits randvoll mit den rauen Stücken, ein zweiter zur Hälfte gefüllt. Weitere drei Säcke lagen noch zusammengefaltet daneben. Es war eine mühsame und langwierige Arbeit, denn sie konnten von jeder Eiche nur eine bestimmte Menge Rinde abschälen, wollten sie den Baum nicht tödlich verwunden. Eichen waren rar, und die wenigen, die es in der Nähe von Leinstetten gab, standen weit auseinander. Doch so mühevoll die Arbeit auch sein mochte, die Mädchen taten sie gern. Hauptsache, sie waren weg vom Haus und seinen stinkenden Fellen und Tierhäuten. Und vom Gerber.

»Bald jede Nacht kommt das Schwein zu dir. Ich wart’ nur drauf, dass er sich auch noch an Sybille vergreift.« Anna zog geräuschvoll die Nase hoch. »Dem Himmel sei Dank, dass ich so hässlich bin.« Ihr Atem malte kleine Wolken in die Märzluft. Im Gegensatz zu Xelia hatte sie ihre Haare zu einem straffen Zopf um den Kopf gelegt, was ihrem Gesicht einen schutzlosen und gleichzeitig strengen Ausdruckverlieh. Sie steckte ihr Werkzeug in die Schürzentasche und rieb sich die klamm gewordenen Hände. Von lauer Frühlingsluft war hier oben auf der Alb noch nichts zu spüren.

Wieder blieb Xelia stumm. Je weniger sie über das sprach, was nachts in ihrer Hütte geschah, desto weniger hoffte sie, den Ekel und die Abscheu davor zu spüren.

»Und unsere Mutter selig hat nichts Besseres zu tun, als uns mit diesem Teufel allein zu lassen.«

»Anna!« Xelias Gesicht war plötzlich aus seiner Starre erwacht, Entsetzen über Annas grobe Worte mischte sich mit dem Kummer, so unerwartet an ihre Mutter erinnert zu werden. »Versündige dich nicht!«

»Versündigen, dass ich nicht lache! Wenn der Pfarrer wüsst, was bei uns los ist, würd’ er uns eigenhändig aus der Kirche jagen! Wir sind schon so mit Sünde besudelt, da brauch’ ich nichts mehr dazutun. Nicht, dass es mir was ausmachen tät’, wenn mir der Kirchgang verboten würde«, fügte sie noch trotzig hinzu. Sie knotete das wie eine Schürze um ihre Hüfte gewickelte Tuch auf und band es sich um den Kopf, um ihre ausgekühlten Ohren und Wangen zu wärmen.

»Ich geh’ gern in die Kirche. Ohne Kirchgang würden wir doch gar nichts mehr davon mitkriegen, was im Dorf geschieht! Es ist doch jetzt schon so, als würden wir am anderen Ende eines breiten Flusses leben, über den es keine Brücken gibt!«, kam es heftig und laut von Xelia. Dann ließ auch sie den Eichenrindenschäler sinken, um sich kurz die Hände unter ihrer Schürze zu wärmen. »Und außerdem«, fügte sie leise hinzu, »es ist nicht recht, wenn du so über Mutter sprichst.« Es war einfacher, sich über die Einsamkeit ihres Alltags aufzuregen, als über den Verlust der geliebten Mutter nachzudenken. Sechs Jahre war sie nun schon tot. Wie wäre ihr Leben wohl verlaufen, wenn sie damals bei der Geburt des langersehnten Sohnes überlebt hätte? Sie und das Kind?

»Warum hat sie sich von ihm wieder schwängern lassen? Wenn sie wirklich eine so gute Heilerin war, wie manche Leute behaupten, dann hätt’ sie doch wohl etwas dagegen machen können.« In Annas Stimme schwang plötzlich die ganze Verlorenheit einer unfreiwillig Zurückgebliebenen mit.

Xelia biss sich auf die Lippen. Sie wusste nicht, ob es ihr lieber war, wenn Anna zornig oder wenn sie traurig war. Mit der Anna, die immer einen bissigen Spruch auf den Lippen hatte und deren Blick so verschlossen war wie das Tor vom Gut des Markgrafen, konnte sie umgehen, an die war sie gewöhnt. Dass jedoch hinter der verbitterten Miene ihrer jüngeren Schwester eine verletzte Seele steckte, verdrängte Xelia gern. Es reichte ihr, den ganzen Tag Sybilles Leidensmiene zu sehen, sie umsorgen zu müssen, nur weil sie die Jüngste war.

»Gegen das Schwangerwerden ist noch kein Kraut gewachsen, aber wenn Mutter das Kind nicht hätt’ austragen wollen, dann hätt’ sie’s wohl zu verhindern gewusst. Aber du weißt doch, wie der Gerber immerzu auf sie eingeredet hat wegen einem Buben.« Schon mehr als einmal hatte Xelia selbst gezittert, wenn die monatliche Blutung auf sich warten ließ. Ohne Worte hatten Anna und sie sich jedes Mal angeschaut, jede die Gedanken der anderen gekannt, als wären es die eigenen. Schon mehr als einmal hatte Xelia schließlich mit einer ihrer Kräutermischungen nachhelfen müssen.

Anna lachte bitter auf. Als hätte es keine Redepause gegeben, fuhr sie fort: »Schon bei Sybilles Geburt ist sie fast draufgegangen! Wieso hat sie es bloß nochmals versuchen müssen?«

Dasselbe hatte sich Xelia schon oft gefragt. »Mutter hat doch nie über so etwas gesprochen.« Eigentlich hatte sie ihre Mutter gar nicht richtig gekannt, hatte kaum etwas von ihr gewusst. Im Haus war sie still gewesen, da waren nur die nötigsten Sätze gesprochen worden. Aber wenn sie zusammen draußen in den Wiesen gewesen waren, kam alles, was sich in der dunklen Hütte aufgestaut hatte, aus ihr herausgeplätschert wie ein rauschender Bach. Sie hatte stundenlang über die Wirkung verschiedener Heil kräuter erzählen können und mit unendlicher Geduld jede von Xelias Fragen beantwortet. Nur über sich selbst hat sie nie etwas gesagt. Warum hatte Eulalia, die Heilerin, ausgerechnet den Gerber Xaver Feltlin geheiratet? Wie hat sie ihr Leben ausgehalten? Warum hat sie sich nicht gegen seine Grobheiten gewehrt? Viele Fragen, die Xelia nie gestellt hatte und für die es jetzt zu spät war. Sie wusste noch nicht einmal, woher ihre Mutter stammte! Dass sie keine Leinstettenerin gewesen war, hatten die Leute sie allerdings mehr als einmal spüren lassen.

Xelia zog das Messer aus der Tasche und arbeitete weiter. Sie mussten sich beeilen, sonst würde es nachher ein Donnerwetter geben. Sybille würde wahrscheinlich schon mit weinerlicher Miene auf ihre Rückkehr warten. Keiner von ihnen war es besonders wohl dabei, mit dem Gerber allein zu sein. Doch bevor es nach Hause ging, musste Xelia zum Bach, komme, was wolle. Sie konnte es kaum erwarten, das klebrige Harz von ihren Fingern zu bekommen. Mit aller Macht würde sie schrubben müssen, ein wenig Seifenkraut würde ihr dabei helfen, sich reinzuwaschen vom Schmutz der Arbeit. Sie seufzte. Wenn sich nur alles so einfach bereinigen ließe …

~ 2 ~

Es war die Nacht vor seiner Abreise. Die Straßenlaternen waren längst erloschen. Kein Hundegebell, kein Lärm heimkehrender Zecher drangen mehr von Tübingens Gassen durch das Fenster in seine Kammer. Die Stadt hatte sich zur Ruhe gelegt. Und das wollte Philip Vogel auch. Doch je dringender er sich den Schlaf wünschte, desto weniger lullte die Müdigkeit ihn ein. Die Arme hinterm Nacken verschränkt, versuchte er, sich zu entspannen. Wie zum Trotz strahlte der Mond die zwei großen Bündel Gepäck an, die neben seiner Schlafstatt lagen. Die gleißende Helligkeit des Lichtstrahls durchdrang seine geschlossenen Augen, und seine Lider begannen zu brennen, bis er sie unfreiwillig öffnete. Sein Blick blieb an der Leinentasche hängen. Er hatte sie so sorgfältig gepackt, dass er nicht nur jedes Packstück ohne Nachdenken nennen konnte, sondern auch seine ganz genaue Lage: Zuunterst lag Kleidung zum Wechseln, sollte er in einen Regenguss kommen, darauf zusammengerollt eine mittelschwere Decke, die er bei schlechtem Wetter auch als Umhang benutzen konnte. Sein Essgeschirr samt Löffel und Messer hatte er zusammen mit einem Laib Brot in ein dünnes Tuch gewickelt. In ein weiteres, dickeres Tuch eingeschlagen und mit Riemen zugebunden war ein Stapel Bücher. Philip wollte nicht einmal daran denken, was er tun würde, sollten diese durch irgendwelche äußeren Einflüsse auf der Reise Schaden nehmen! Ein Feuerstein und andere nützliche Dinge füllten die Lücken aus, die zwischen den größeren Packstücken entstanden waren. Geld und die Reiseerlaubnis des Herzogs, die ihm auf allen Wegen eine freie Passage erlaubte, wollte er in einem Brustbeutel direkt am Leib tragen. Im zweiten Bündel befanden sich ein Kompass, ein Polimetrum, mit dessen Hilfe er Winkelmessungen durchführen konnte, eine dicke Rolle Pergamentbögen, eine blecherne Dose mit Griffeln, mehreren Tuschefedern und einem Tintenfass. In einer weiteren Blechdose bewahrte er kleine Leinenbeutel auf, die verschiedene Pulver enthielten, aus denen er mit Essig und anderen Flüssigkeiten Farben jeder Schattierung anmischen konnte. An der Außenseite des Sacks war mit mehreren Lederbändern ein schmaler lederner Schlauch befestigt. Darin steckte der Kupferstich einer Landkarte, die in Philips Augen bis dato das bedeutendste Werk württembergischer Landvermessung darstellte. Das ganze Land war darauf in einem Kreis abgebildet, der Kartenrand wurde von Jagdszenen geschmückt und wies auf Gebiete hin, die jenseits der Landesgrenze lagen. Seit der Fertigstellung der Karte waren 22 Jahre vergangen, und noch immer war man, was die Identität ihres Verfassers anging, keinen Deut schlauer als im Jahr 1558, als dieser sein Werk lediglich mit den Initialen I.T.S. unterzeichnet hatte. Es wurde zwar gemunkelt, dass sich der Ulmer Johann Sizlin dahinter verbarg, doch Genaues wusste man nicht. Philip konnte nicht verstehen, wie sich jemand jahrelang einer so mühevollen Arbeit widmen konnte, um am Ende weder den Lohn noch die Ehre dafür einstreichen zu wollen. Er würde es da anders halten. Doch im Grunde genommen war es ihm gleich, wer die Karte gezeichnet hatte, die ihm lediglich im Zweifelsfall als Grundlage für seine eigenen Vermessungen dienen sollte. Was er wissen musste, hatte er im Kopf – lang genug hatte er alles studiert, was es an Kartenmaterial über Württemberg und seine Ländereien gab. Deshalb hatte er auch das Angebot Herzog Ludwigs dankend abgelehnt, er möge einen Satz Karten seines Kollegen Schweickhers mitnehmen. Zugegeben, der Atlas von 54 Tafeln, auf denen Heinrich Schweickher die einzelnen Ämter Württembergs verewigt hatte, war für sich gesehen beeindruckend. Doch das Wissen, wo das Stuttgarter Amt aufhörte und das Cannstatter Amt begann, war für Philips Plan, die württembergischen Forstgebiete zu vermessen, von geringerer Bedeutung: Bäume bzw. Wälder hatten die Gewohnheit, sich nicht an von menschen Gesetzte Grenzen zu halten, sondern diese zu überschreiten, wann und wo es Mutter Natur passte. Und er hatte dasselbe vor, schoss es ihm durch den Sinn. Grenzen überschreiten.

Er warf sich von einer Seite zur anderen. Als Herzog Ludwig ihm Ende letzten Jahres den Auftrag erteilt hatte, einen vollständigen Überblick aller Forsten und Wälder im Land zu erarbeiten, hatte er sein Glück nicht fassen können. Er, einer der jüngsten Kartographen in Stuttgart, sollte auf die große Reise gehen, die ihn kreuz und quer durchs ganze Land führen würde. Was für eine Aufgabe! Ein Lebenswerk. Und doch nicht genug für ihn. Denn im gleichen Moment hatte er den ehrgeizigen Plan gefasst, dass seine Karten mehr sein sollten als nur eine Darstellung aller Wälder. Dass er alles erfassen würde: Forsten und Wälder natürlich, aber daneben auch Städte und Dörfer, Flüsse und Seen, Berge und Hügel. Er würde detailgetreu arbeiten und Straßen, Wege und Brücken einzeichnen, Klöster, Kirchen und andere wichtige Bauwerke. Es konnte ihm niemand verbieten, auch einen Blick auf die Landschaft außerhalb der Wälder zu werfen und das, was er sah, festzuhalten. Sein Auftraggeber, der Herzog, würde mehr bekommen, als er gewünscht hatte.

Philips Füße zuckten unruhig auf der harten Strohmatratze, als könnten sie es keine weitere Stunde untätig aushalten. Was seine Messungen anging, würde Philip sich nur mit allergenauesten Zahlen zufrieden geben – lieber würde er einen Punkt zu viel anpeilen als einen zu wenig. Je mehr er über sein Vorhaben nachdachte, desto aufgeregter wurde er. Welcher Mensch hatte schon das große, das übermenschliche Glück, seine Leidenschaft zum Beruf machen zu können?

Hatte es eigentlich je eine Zeit in seinem Leben gegeben, in der die Kunst, Land zu vermessen und diese Messungen auf Karten festzuhalten, ihn nicht fasziniert hatte? Er konnte sich nicht daran erinnern. Von klein auf, wann immer er seinen Vater, einen hohen Verwaltungsbeamten, im Stuttgarter Amt besuchen durfte, hatte er die Möglichkeit genutzt, um mit den Kartenmalern zu reden und ihre Werke zu bestaunen. Wie allwissend und mächtig ihm diese Männer damals vorgekommen waren! Und wie sehr er es bedauert hatte, dass sein eigener Vater nur einer derjenigen war, die Zahlen auf Papier hin- und herschoben. Als es an der Zeit war, mit seinem Studium zu beginnen, widmete er den allergrößten Teil davon der Kartographie. Keine Berechnungsmethode, keine Zahlenreihe war ihm zu aufwendig. Der Kompass wurde sein ständiger Begleiter, und bald konnte er keinen Schritt mehr tun, ohne ihn im Geiste schon in eine Karte eingezeichnet zu sehen. Mochten andere Studenten tief schürfende Diskussionen über den Sinn des Lebens nach dem Vorbild Melanchthons und Luthers führen, er steckte seine Nase in alte Bücher über die Geographie des Ptolemäus, setzte sich mit den Schriften antiker Schriftsteller auseinander und zeichnete alte Karten nach. Sogar in der Kunst des Kupferstechens hatte er sich zeitweise geübt! Bei der Erinnerung an seine unregelmäßigen Sticheleien auf der rutschigen Kupferplatte musste Philip grinsen. Nein, nein, darin hätte er wohl nie dauerhafte Erfüllung gefunden. Was ihn fesselte, war die Arbeit, die vor dem Stechen stattfand, das eigentliche Erarbeiten einer Landkarte. Und das war von Anfang an so gewesen. Während seine Kameraden den Mädchen schöne Augen gemacht hatten, war er durch Tübingens Auen marschiert, einen Kompass in der einen, einen Bogen Pergament samt Griffel in der anderen Hand, und hatte einfache Wegvermessungen durchgeführt. Statt wie andere das Studium zu unterbrechen und die Abenteuer eines Feldzugs mitzumachen, hatte er kleine Aufträge für seinen Vater erledigt. Ein wenig hatte er die Heimkehrer schon um ihre aufregenden Geschichten über gewonnene Schlachten und eroberte Landstriche beneidet – als er jedoch mitbekam, wie schwer es den Männern fiel, sich wieder in den geordneten Studentenalltag einzufügen, war er froh, erst gar nicht aus dem Schritt gebracht worden zu sein. Nach Beendigung seines Studiums war er in der Verwaltung Stuttgarts mit allerlei Sonderaufgaben betraut gewesen, bei denen sein großes technisches Wissen gefragt war. Sein unermüdliches Arbeiten hatte sich gelohnt. Bald sprachen sich sein Fleiß und wohl auch sein Können bis zum Herzog herum. Jetzt war er kurz davor, sein Wissen anzuwenden. Was der berühmte Kartograph Philipp Apian für Bayern erreicht hatte, nämlich ein lückenloses Werk von 40 Karten zu schaffen, das würde ihm auch gelingen. Dank seiner Arbeit würde Württemberg dem Nachbarland in nichts mehr nachstehen. Seine Karten würden einmalig werden! Diesem Anliegen – und nichts anderem – würde er sein Leben widmen.

Philip setzte sich auf und starrte aus dem Fenster direkt in das raue Gesicht des Mondes, als würde er eine Reaktion von ihm erwarten. An Schlaf war nun nicht mehr zu denken.

~ 3 ~

Am nächsten Tag war Philip beim ersten Lichtstrahl auf den Beinen. Nach einer kurzen Morgenmahlzeit schulterte er ungeduldig sein Gepäck und ging über den Hof zum Reitstall. Dort sollte er das vom Herzog zur Verfügung gestellte Pferd abholen. Lange Zeit war er gar nicht sicher gewesen, ob er es überhaupt wollte, vor allem angesichts der Tatsache, dass er gar nicht reiten konnte – was der Herzog natürlich nicht wusste. Hatte er in der Vergangenheit hin und wieder längere Distanzen zu überwinden gehabt, dann hatte er die Passage in einer Kutsche vorgezogen. Weder im elterlichen Haus in Stuttgart noch während des Studiums hier in Tübingen hatte sich die Gelegenheit geboten zu lernen, wie man ein Pferd beherrscht. Bisher hatte Philip auch keine Notwendigkeit dazu gesehen. Sich hoch zu Ross fortzubewegen galt in Studentenkreisen – und zu denen hatte er schließlich vor noch gar nicht allzu langer Zeit gehört – als hochnäsig, das Mitfahren in einer Kutsche als unmännlich. Was blieb, war der Marsch zu Fuß. Das Laufen war Philip gewohnt, seine Beine waren kräftig, und auch mit der Ausdauer hatte er keine Probleme. Würde ein Tier ihn also nicht eher stören als ihm nützlich sein? Letztendlich hatte er sich dann aber doch für das Pferd entschieden. Es sollte sein Gepäck tragen und ihm gleichzeitig bei der Abmessung von Distanzen behilflich sein. Indem er zählte, wie oft der Gaul seinen rechten Vorderfuß aufsetzte, konnte er sehr genau berechnen, welche Entfernung er zurücklegte. Große Abweichungen waren hierbei nicht zu befürchten, es hieß, ein gesunder, kräftiger Gaul könne sein Schritttempo wie auch seine Schrittlänge über weite Distanzen unverändert beibehalten, während ein Mensch bergauf oder auch bei Ermüdung eher kürzere Schritte tat.

Der Reitstall lag direkt hinter der Herberge. Dort präsentierte er die herzögliche Anweisung, man möge ihm ein gutes Reitpferd samt Zaum und Sattel übergeben. Auf die Frage, ob er denn schon mit Pferden zu tun gehabt habe und reiten könne, antwortete Philip wahrheitsgemäß mit Nein. Nach einigem Hin und Her zwischen dem Reitstallbetreiber und seinem Knecht bekam er die Zügel eines braunen mittelgroßen Tieres in die Hand gedrückt. »Wann immer Sie einen Bach oder Teich finden, lassen Sie den Gaul saufen. Alle paar Stunden lassen Sie ihn grasen, ’s ist ja schon wieder genügend Grün auf den Wiesen, so dass Sie nicht extra Hafer für tagsüber mitnehmen müssen.«

Philip nickte ungeduldig. Was hielt der Mann ihn mit Lappalien auf? Und was glaubte er eigentlich von ihm? Der Gaul würde schon nicht verhungern oder verdursten.

»Abends sollten Sie schon einen Schöpfer Hafer für ihn bezahlen, Sie haben schließlich eine weite Strecke vor sich. Wenn er schwitzt, reiben Sie ihn mit einem Bündel Gras oder Stroh trocken, damit er bei Gesundheit bleibt. Und wenn er …«

»Haben Sie vielen Dank für Ihre Erklärungen«, unterbrach Philip, »aber so genau brauch’ ich das alles nicht zu wissen. In jeder Herberge und auch in den Klöstern oder großen Haushalten, in denen ich nächtigen werde, wird es wohl jemanden geben, der sich mit Pferden auskennt.« Er schaute dem Gaul, dessen Kopf in seiner Augenhöhe hing, kritisch ins Gesicht. Seine Augen waren dunkelbraun und wach. Versuchsweise klopfte er ihm auf den Hals. Keine Regung folgte. Gut, es schien vom Wesen her nicht sonderlich schwierig zu sein. Dann ging er um das Tier herum und schaute es von allen Seiten kritisch an. Es schien einen guten Eindruck zu machen, trotzdem konnte sich Philip des Gefühls nicht erwehren, den ältesten Gaul im ganzen Stall ausgehändigt bekommen zu haben. Aber was blieb ihm anderes übrig, als zu hoffen, dass die herzögliche Anordnung genügend Eindruck auf den Stallbesitzer gemacht hatte, so dass er ihn nicht übers Ohr haute?

Mit Hilfe des Mannes band er sein Gepäck fest, nahm den Führzügel in die Hand und marschierte vom Hof. Das Pferd trottete folgsam hinter ihm her.

Auf den Straßen Tübingens herrschte jetzt schon reges Treiben. Marktleute waren mit mehr oder weniger beladenen Karren unterwegs, Mägde, die die Tageseinkäufe für die feinen Häuser machen sollten, Studenten, die sich angeregt unterhielten. Die Blicke der jungen Frauen, die Philips stattlicher Figur, seinem kantigen Kinn und seinen dunkelgrünen Augen galten, bemerkte er gar nicht. Ihr Seufzen, als er an ihnen vorbeimarschierte, ohne sie eines Blickes zu würdigen, hörte er nicht. Aus den Häusern war der Lärm der Handwerker zu hören, die dort ihrem Tagwerk nachgingen.

Bald hatten sie das städtische Treiben hinter sich gelassen und passierten das westliche Stadttor. Links von Philip erhob sich das Schloss Hohentübingen, das im Morgenlicht düsterer aussah als zu anderen Tageszeiten. Als er es hinter sich gelassen hatte, hielt er das erste Mal an. Um ihn herum waren Weinberge, durch die sich der Neckar südwärts schlängelte. Als wäre die Landkarte seines unbekannten Vorgängers in seinem Kopf eingebrannt, hatte er sie vor Augen: Ungefähr einen Tagesmarsch entfernt lag in südöstlicher Richtung Reutlingen, sein nächstes Ziel. Von Reutlingen aus würde er die gleiche Richtung beibehalten und nach einigen Tagesmärschen Urach erreichen. Von dort würde sein Weg ihn in südöstlicher Richtung weiterführen bis zu dem Ort Blaubeuren. Urach wie auch Blaubeuren lagen beide schon auf der Alb, einer teilweise unwegsamen Berglandschaft, weshalb Philip sich mit einer Einschätzung der benötigten Tagesmärsche zurückhielt. Von dort würde er weitergehen bis nach Ulm, dort einen Richtungswechsel vornehmen und in südwestlicher Richtung die Donau entlangmarschieren, bis er letztendlich am Neckarursprung ankommen wollte. Von dort aus sollte es nach Tübingen zurückgehen. Nach dieser Strecke würde er den größten Teil des südlichen Württembergs wie die Schenkel eines Dreiecks abgewandert haben. Danach kam die eigentliche mühselige Arbeit: das Ausfüllen der noch weißen Fläche innerhalb dieses Dreiecks. Doch ein Schritt kam nach dem anderen, sagte er sich. Mochten die Ausmaße seiner Aufgabe andere vielleicht abschrecken – ihn scheute es keinen Augenblick davor.

Dass seine Reise ihn für lange Zeit von Stuttgart und seinem Elternhaus fern halten würde, machte ihm nicht im Geringsten etwas aus. Genauso wenig faszinierte ihn die Reise selbst. Das Unterwegssein war für einen Kartographen nun einmal so notwendig wie das Amen für die Kirche. Außerdem würde er jedes Jahr den Winter in Stuttgart verbringen, denn in der dunklen Jahreszeit, wenn Schnee jeden Grenzstein versteckte, war es für einen Kartographen unmöglich, Messungen durchzuführen. Dafür konnte er in den Wintermonaten seine Notizen und Skizzen ins Reine zeichnen.

Ja, er sah alles schon ganz genau vor sich: Gute Gesundheit und Gottes Wohlwollen vorausgesetzt, würde er zügig und vor allem planvoll seines Weges gehen. Schließlich wurde er vom Herzog weder für eine Lust- noch für eine Abenteuerreise bezahlt.

Bei dem Gedanken griff er sich an die Brust. Erleichtert spürte er durch den Leinenstoff seines Hemdes den Lederbeutel, in dem er seine Gulden aufbewahrte. Darauf und auf die Reiseerlaubnis würde er höllisch aufpassen müssen – es wäre ärgerlich und kostspielig zugleich, wenn etwas davon in die Hände von Wegelagerern oder Tagdieben geräte!

Philip schaute sich prüfend um, bis sein Blick an einer kleinen Kapelle auf einem Hügel hängen blieb. Laut Kompass war seine Richtung Nordnordwest. Dann konnte es ja losgehen! Er zog am Zügel seines Pferdes, das die Pause genutzt hatte, um zu grasen, und marschierte zielstrebig auf die Kapelle zu, immer auf den Hufschlag seines Pferdes achtend. Nachdem er dreihundert Schritte gezählt hatte, standen sie direkt vor dem winzigen Gotteshaus, das aus der Nähe betrachtet einen jämmerlichen Eindruck machte. Philip kämpfte kurz mit sich, ob er es überhaupt in seine Karte aufnehmen sollte. So, wie es aussah, würde es sicherlich bald verfallen sein. Der Griffel kratzte stumpf über den rauen Papierbogen, als er die erste Linie zog, an deren Ende er schließlich doch mit wenigen Strichen die kleine Kapelle andeutete. Als nächsten Punkt für seine Messungen peilte er eine Gruppe von drei Tannen in östlicher Richtung an. Ihr dunkles Grün stach angenehm aus der braunen Umgebung hervor, die noch auf das Farbenspiel des Frühlings warten musste. Nach zweihundertdreißig Schritten hatte er sie erreicht und malte auch diesen Punkt auf den mit hellgrauen Quadraten überzogenen Bogen Papier, der die Vorlage für seine Karte geben sollte. Aus seinen beiden ersten Messungen und deren Richtungsverlauf ergab sich nun logischerweise die Strecke zwischen den drei Tannen und seinem Ausgangspunkt, der kurz hinter dem Stadttor lag.

Auf diese Art bewegte er sich langsam in Richtung Reutlingen fort, immer wieder das Gelände in Dreiecke aufteilend, deren Schenkel er abschritt. Stets suchte er markante Punkte, die er in seine Karte einzeichnen wollte: hier eine leichte Steigung, dort ein Bach, auf dessen linker Seite sumpfiger Boden ihn und sein Pferd knöcheltief einsinken ließ, etwas weiter zu seiner Rechten ein bäuerliches Anwesen, das aus zwei größeren Häusern und einem kleineren Haus bestand. All dies malte er in seine Karte ein. Sie wurde von Stunde zu Stunde dichter. Am frühen Nachmittag dachte er an den Rat des Reitstallbesitzers und ging zu dem Bach zurück, um sein Pferd ausgiebig zu tränken. Dann setzte er sich auf einen Baumstumpf und packte den Brotlaib aus, um das lauter werdende Rumpeln in seinem Bauch zu beruhigen. Das Pferd begann, sofort zu grasen, und machte keinerlei Anstalten davonzulaufen. Wohlwollend tätschelte Philip seinen Hals.

Während er auf einer dicken Scheibe Brot kaute, schaute er zufrieden sein bisher geschaffenes Werk an, das er vor sich auf dem Boden ausgebreitet hatte. Ein gutes Stück Arbeit für einen Tag! Es war sicherlich kein schlechter Gedanke, nach seiner Rast auf dem kürzesten Wege nach Reutlingen aufzubrechen, um dort noch bei Tageslicht anzukommen. Übernachten würde er in einem Gasthof, den ihm sein Tübinger Wirt empfohlen hatte. Hoffentlich bekam er dort eine Kammer für sich, dann konnte er in aller Ruhe seine Notizen ins Reine zeichnen. Und mit seinem Tagebuch wollte er auch beginnen. Wenn er am nächsten Morgen von Reutlingen aus die zweite Hälfte der Strecke sozusagen rückwärts vermaß, konnte er am Tag darauf schon …

Das Pferd hatte plötzlich aufgehört zu grasen und eine sonderbare Haltung eingenommen. Noch ehe Philip wusste, was geschah, begann das Tier, sich mit einem plätschernden Strahl zu lösen, der restlos alles, was sich in seiner Umgebung befand, mit säuerlicher gelber Pisse bespritzte.

~ 4 ~

Nachdem Xelia sich von Anna getrennt hatte, die für ihre Badegewohnheiten nichts übrig hatte, ging sie ein gutes Stück an der Muhr entlang, bis sie zu einer Stelle kam, wo sich der Bach wie eine Schleife um einen kleinen Hügel wand. Hinter diesem Hügel zog Xelia sich aus und stieg ins Wasser. Die Leute aus dem Dorf holten ihr Wasser aus dem Brunnen in der Dorfmitte, deshalb war Xelia hier vor neugierigen Blicken sicher. Wann immer sie sich davonstehlen konnte, kam sie hierher, um sich zu waschen. Sie rubbelte sich von oben bis unten mit einem Büschel Gräser ab, bis ihre Haut fast wund war. Ihr Körper begann zu prickeln wie von tausend Nadeln gestochen, dann wurden Arme und Beine ganz lahm, was Xelia nicht als unangenehm empfand. In diesem Zustand überkam sie regelmäßig das Gefühl, als würden sich in ihr tausend Kammern öffnen, deren letzte Winkel im kalten Wasser ausgespült wurden, bis nur noch saubere, reine Luft darinnen war. Im Sommer tauchte sie zu guter Letzt jedes Mal mit dem ganzen Kopf unter Wasser, in der kalten Jahreszeit verzichtete sie jedoch darauf.

Auch heute wartete sie auf das zufriedenstellende Gefühl am Ende ihres Bades. Doch umsonst. Sie konnte sich noch so lange mit dem weich gewordenen Grasbüschel abreiben – den säuerlichen Geruch, der an ihr haftete wie Pech, bekam sie nicht aus der Nase.

Wer von innen her beschmutzt ist, dem hilft auch das gründlichste Bad nichts, schoss es ihr durch den Kopf, bevor sie den Gedanken verhindern konnte. Was der Gerber nachts mit ihr tat, war unrecht, dessen war sie sich sicher. Doch wenn es vorbei war, schaute er sie immer so hasserfüllt an, als trüge sie die Schuld an seiner Lust. Vielleicht war es ja so? Schließlich benutzte er nur ihren Körper, nicht aber den ihrer Schwestern. Xelia schlug mit beiden Händen heftig auf das vorbeirauschende Wasser, als müsse sie es für etwas bestrafen, dann tauchte sie doch noch mit dem Kopf unter und kam erst wieder hoch, als ihr schwindlig wurde.

Als sie aus dem Wasser steigen wollte, blieb ihr die Luft ein zweites Mal weg. Vor ihr stand ein hoch gewachsener Junge.

»Was willst du hier? Hau sofort ab, sonst …« Mit der flachen Hand spritzte sie Wasser in seine Richtung. Dann zwang sie sich, ruhig weiterzuatmen. Noch nie war sie hiervon jemandem überrascht worden!

Der Junge schien mindestens so entsetzt zu sein wie Xelia. Er machte zwar einen Schritt nach hinten, ansonsten aber keine Anstalten zu verschwinden. Stumm starrte er sie an.

Langsam wurde es Xelia kalt. Während ihres Baderituals hatte das eisige Wasser ihr nichts ausgemacht, aber jetzt wollte sie nur noch in ihre Kleider schlüpfen und sich auf dem Weg zur Gerberei warmlaufen. »Worauf wartest du? Hast wohl noch nie ein nacktes Weib gesehen? Hau ab, sonst mach’ ich dir Beine«, schrie sie mit mehr Überzeugung, als sie empfand. Was sollte sie tun, wenn der Kerl nicht freiwillig ging? Was wollte er? Sie spritzte erneut Wasser ans Ufer und diesmal gelang es ihr, seine linke Seite nass zu machen. »Wenn du noch eine Ladung willst, dann bleib ruhig stehen!« Wieder tauchte sie ihre Hand ein.

»Halt, warte! Ich such’ doch nur jemanden.« Seine Stimme klang erstaunlich dunkel für sein knabenhaftes Aussehen. »Ich soll nach Xelia, der Heilerin, fragen, hat man mir im Dorf gesagt. Und dass ich sie an manchen Tagen hier draußen bei der Kräutersuche finden kann. Vielleicht kannst du mir ja sagen, wo ich sie finde.« Und dann drehte er sich endlich um.

Hastig kletterte Xelia das Ufer hoch. Als sie endlich ihre Kleider erreicht hatte, war sie bis auf die Knochen durchgefroren. So lange war sie noch nie im Wasser gewesen. Wenn sie jetzt wegen dieses Trottels krank wurde, dann … Wer war er überhaupt?

»Was willst du von Xelia?«, fragte sie mit ungnädiger Stimme. Von nahem sah er älter aus, als sie zuerst angenommen hatte. Und anders als die Männer, die sie kannte. Ein Bauer konnte er nicht sein, deren Hände waren von der Arbeit auf den Flachsfeldern zerschnitten, ihre Gesichter von der kalten Albluft rau, und ihre Haare dünn. Der junge Mann vor ihr war in feinstes Tuch gekleidet, seine Hände zart, sein Gesicht hellhäutig.

»Ich komme, weil meine Mutter Hilfe braucht«, sagte der Fremde, der sich ihr nun wieder zugewandt hatte.

»Und warum kommt sie nicht selber, wenn sie was will?« Xelia hatte nicht vor, es ihm leicht zu machen.

»Weil sie nicht kann. Sie ist an ihr Lager gefesselt, seit Jahren schon. Kannst du mir jetzt sagen, wo ich die Heilerin finde, oder nicht?« Seine Stimme klang ungeduldig.

Es geschah nur noch selten, dass jemand aus dem Dorf sie ihrer Heilkünste wegen ansprach. Nach dem Tod von Eulalia waren die Leute wie selbstverständlich zu ihr gekommen, um nach Rat oder einer Salbe zu fragen. Jeder wusste, dass Eulalias älteste Tochter die gleichen Heilkräfte besaß wie ihre Mutter. Doch nach einiger Zeit hatte Xaver Feltlin den Besuchen der Leute einen Riegel vorgeschoben. Dass sie zum Kräutersammeln ging, passte ihm ganz und gar nicht. Statt froh über ihr Wissen zu sein, beschimpfte er sie als »Kräuterhex’« und warf ihr vor, ihre Zeit zu vergeuden, statt beim Gerben zu helfen. Doch manchmal, während sie nach Kräutern suchte, kam auch heute noch jemand aus dem Dorf zu ihr und bat sie in der Verschwiegenheit des Waldes um Hilfe. Wann immer Xelia Rat wusste, half sie weiter. Aber alles musste heimlich geschehen, das wussten die Dorfbewohner. Trotzdem hatte einer von ihnen einem Fremden ihren Namen verraten. Das hatte sie nun von ihrer ganzen Hilfsbereitschaft! Aber neugierig war sie inzwischen schon.

Und dann war ihr auf einmal schlagartig klar, wer vor ihr stand: Es musste der Sohn des Tuchhändlers Aaron Blaustein sein. Der edle Stoff, sein feines Aussehen und die bettlägerige Mutter! Seit vielen Jahren hatte Sarah Blaustein niemand mehr gesehen, jeder im Dorf wusste, dass sie schwer krank war und ihr großes Haus hinter den dichten Tannen nie verließ.

»Ich bin Xelia.« Sie zog ihr dünnes Tuch enger um die Schultern. »Was ist mit deiner Mutter?«

»Du bist die Heilerin?«, fragte Samuel Blaustein ungläubig nach. Statt zu antworten, klapperte Xelia vor lauter Kälte nur mit den Zähnen.

»Irgendwie habe ich mir jemand ganz anderen vorgestellt«, fuhr er lahm fort. Eine Kräuterhexe war doch alt und hatte Warzen und Haare im Gesicht! Doch das Mädchen hier war jung und schön und … Unvermittelt strich er ihr über die Wange, was für ihn mindestens so überraschend klang wie für Xelia, die nicht einmal Zeit hatte zurückzuweichen. Erstaunlicherweise war seine Berührung nicht unangenehm, sondern warm und weich wie die Schnauze eines jungen Kalbes. Und genauso harmlos.

»Samuel Blaustein ist mein Name.« Verlegenes Schweigen. Dann sagte er: »Du kennst dich also mit den Kräutern aus.« Er versuchte, sich zu erinnern, weswegen er gekommen war, doch Xelias nackter Körper tauchte immer wieder vor seinem inneren Auge auf. Sein Gesicht lief rot an.

»Ja, und wenn dir das nicht passt, solltest du dir jemand anderen suchen, der deiner Mutter hilft.« Xelia wollte ärgerlich klingen, war jedoch über den fremden Klang ihrer Stimme überrascht. Die Verwirrtheit des Tuchmachersohnes irritierte sie. Seine Familie war die reichste weit und breit – das ganze Dorf stand bei Aaron Blaustein, dem Juden, in Arbeit, von ihrer eigenen Familie einmal abgesehen – und Samuel guckte sie an wie der Dorfdepp, der nicht bis drei zählen konnte. Xelia wandte sich zum Gehen ab.

»Nein! So warte doch!« Er hielt sie am Ärmel fest. »Ich brauche dich.« Seine Stimme hatte einen so flehentlichen Ton angenommen, als ginge es um sein Leben.

Als würde sie ihm damit eine große Gnade erweisen, drehte Xelia sich langsam wieder um und schaute ihn an. Etwas an ihrer Situation war seltsam: Eigentlich hätte sie, das nackte Weib, sich wehrlos und ungeschützt fühlen müssen, während der Blaustein-Sohn seine Überlegenheit ihr gegenüber ausspielen konnte. Dem war aber nicht so, ganz im Gegenteil: Fast schien es, als hätte ihr Gegenüber Angst vor ihr. So eine Torheit! Sie musste lachen. Ohne zu wissen, worüber sie sich amüsierte, fiel er in ihr Lachen ein. Seine Augen waren groß und verwundert, arglos und so klar wie ein Bergsee. Plötzlich entdeckte Xelia eine verheißungsvolle Welt darin – und sie wünschte sich nichts mehr, als Samuel wiederzutreffen.

~ 5 ~

Mit gerunzelter Stirn saß Philip Vogel am hintersten Tisch des Wirtshauses und versuchte, sich auf sein Tagebuch zu konzentrieren. Alle Bänke um die anderen Tische waren bis auf den letzten Platz besetzt, viele Männer tranken ihr Bier sogar im Stehen. Gleich vier Schankmädchen beeilten sich, den Gerstensaft in Steinkrügen so schnell wie möglich an die Tische zu bringen. Die Ankunft jedes neuen Kruges wurde von den Gästen mit einem Aufjohlen gefeiert. Hätte Philip gewusst, was sein Tübinger Wirt unter einem »empfehlenswerten« Gasthof verstand, hätte er sich um eine andere Bleibe für die Nacht bemüht. Nicht einmal eine eigene Kammer hatte er im Gasthof zum Grünen Baum bekommen! Stattdessen würde er warten müssen, bis die Zecher genug hatten und die Wirtsleute die Tafeln aufheben konnten, um Decken auszurollen. Immerhin war er der einzige Übernachtungsgast. Trotzdem, so hatte er sich die erste Nacht seiner langen Reise eigentlich nicht vorgestellt. Das nächste Mal, nahm er sich vor, würde er gleich bei der Ankunft in einem Gasthaus die Übernachtungsmöglichkeiten genauer inspizieren. Vor allem in größeren Städten wie Reutlingen gab es mehr als genug Gasthöfe, so dass der Reisende eigentlich nur die Qual der Wahl hatte. Aber nein, er hatte sich wahrscheinlich den schlechtesten aufschwätzen lassen! Genau wie bei der Missgeburt von Pferd, schoss es ihm durch den Kopf. Philip war froh, es erst einmal los zu sein: Je weniger er mit dem Biest zu tun hatte, desto besser. Kaum war er mit dem Braunen in den Hof des Gasthofes einmarschiert, hatte ein eilfertiger Stallknecht ihm die Zügel aus der Hand gerissen und das Tier ins Stallgebäude geführt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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